JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N 35. JAHRGANG / NR. 142 à“ôùú äðùä ùàø 18. SEPTEMBER 2020 åáúëú äáåè äðùì Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 1
Der Landesverband Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern wünscht zum Neujahrsfest 5781 dem Staat Israel, seiner diplomatischen Vertretung in der Bundesrepublik, der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, den Rabbinern und allen Mitgliedern der Gemeinden ein gesundes Jahr voll Frieden und Segen! Dr. Josef Schuster Präsident Ilse Danziger Anna Zisler Vizepräsidentin Vizepräsidentin Karin Offman Geschäftsführerin ST OL PE R ST E I N E I N M I LT E N BE RG OSKAR MORITZ ROSA MORITZ JG. 1887 MANFRED MORITZ GEB. KÖNIGSBERGER VERHAFTET 1933 JG. 1921 JG. 1892 DACHAU DEPORTIERT 1941 DEPORTIERT 1942 DEPORTIERT 1942 RIGA KRASNICZYN KRASNICZYN ERMORDET ERMORDET ERMORDET Unser Titelbild: „Ungewissheit“, Kofferbild Acryl 100 x 70 cm, Marion Bathen 2011 (siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 30). Bilder Rückseite: Nr. 1: Einweihung einer neuen Tora in Berlin. Aus der Ausstellung – L’Chaim, Jüdisches Museum Franken, Foto: KIgA. Nr. 2: Wackelfigur Mother Boyle, Intervention Museum Augsburg, Foto: JKMAS. Nr. 3: Tag der Befreiung in München, Foto: Rainer Butzmann. Nr. 4: Die Alte Synagoge in Kitzingen. Foto: Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen. Nr. 5: Gymnastik- gruppe Gemeinde Bamberg. Nr. 6: Pessach-Paket Gemeinde Amberg. 2 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
EDI TOR I A L Liebe Leserinnen, liebe Leser, gebot beachten. Andere Gemeinden mit den passenden Räumlichkeiten machen zur Pessach-Haggada gehört die Kindes- das auch. frage „Was ist an diesem Abend anders als sonst?“ Jetzt, in Corona-Zeiten, ist das Auch das sorgfältige Händewaschen und keine rhetorische Frage. Unsere Hohen das Tragen von Alltagsmasken sollte nicht Feiertage in diesen Wochen können in wirklich ein Problem sein, wenn es um den Synagogen nicht wie gewohnt durch- Verantwortung für die Gesundheit der geführt werden. Hier in Würzburg, aber Mitmenschen geht. auch in anderen Orten, hat sich gerade die Situation durch gestiegene Infektions- Wir werden jetzt nach den Gottesdiens- zahlen weiter verschärft. Die Stadt hat ten keine Mahlzeiten anbieten und wir am 11. September eine neue Allgemein- bitten unsere Besucher um vorherige An- verfügung erlassen, auch „für Privatver- meldung. Wir müssen ja im Infektionsfall anstaltungen unter freiem Himmel und die Kontakte angeben können. Alles das in geschlossenen Räumen“. ist notwendig, um ein hohes Maß an Gesundheitsschutz unserer Mitglieder und Anders als zu Pessach können wir jetzt Mitmenschen zu ermöglichen. Auch in aber unter klar geregelten „Hygiene-Be- den anderen Gemeinden wird es ähnliche dingungen“ Gottesdienste durchführen. Schutzmaßnahmen geben und ich weiß, Ich bin unseren Gemeinden sehr dank- dass meine Vorstandskollegen in den baye- bar, dass sie in der Lockdown-Zeit viel rischen jüdischen Gemeinden höchst ver- Kreativität entwickelt hatten, sich um antwortlich mit der Situation umgehen. ihre Mitglieder zu kümmern. Statt des gemeinsamen Gemeinde-Seders zu Pes- Weil die verantwortlichen Institutionen, Ich werde als Arzt oft gefragt, wann es sach brachten viele Gemeinden ihren die zuständigen Wissenschaftler und die wieder normal würde. Dann muss ich Mitgliedern „Pessach-Pakete“ nach Hau- Bürgerinnen und Bürger, jedenfalls mehr sagen: In der Pandemie ist das normal se, mit unterschiedlichen Inhalten. Aber als 90 % von ihnen, gelernt haben, mit und es schützt uns. immer waren Matzen dabei, auch Matze- der Pandemie zu leben, sind wir jetzt in ei- mehl, auch Pessach-Wein und häufig ner besseren Situation. Deshalb müssen Bleiben Sie gesund und achten Sie auf auch gefillte Fisch und die Pessach-Hag- wir, trotz gerade steigender Fallzahlen, sich, auf Ihre Familie und auf alle Men- gada. unsere Gemeinden jetzt nicht komplett schen in Ihrer Umgebung. schließen. Aber wir müssen uns schützen. Es gab auch individuelle soziale Betreu- Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und ungen von Mitgliedern im hohen Alter, Um den Fortschritt nicht zu gefährden, Leser, ein gutes und gesundes neues Jahr Besuche und Versorgungen mit Lebens- ist es wichtig, sich nach der „AHA-For- 5781. mitteln. Und einige Rabbiner meldeten mel“ zu richten: Abstand, Hygiene, All- SCHANA TOWA sich über das Internet oder telefonisch zu tagsmasken. So sorgen wir für möglichst Ihr besonderen Anlässen, von der Paraschat viel Schutz bei möglichst viel Normalität. HaSchawua bis zur Hawdala über Zoom. In unserer Würzburger Gemeinde haben Dr. Josef Schuster In den Berichten aus den Gemeinden ab wir deshalb alle Gottesdienste an den Präsident Seite 40 finden Sie einige interessante Feiertagen in den großen David-Schuster- des Zentralrats der Juden in Deutschland und Beiträge dazu. Saal verlegt. So können wir das Abstands- des Landesverbandes der IKG in Bayern Rosch Haschana 5781 Nachrichten aus Frankreich IMPR ESSUM Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 22 JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4 erscheint im April zu Pessach, im September Zwei Ziegenböcke Gedenken zu Rosch Haschana, im Dezember zu Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Neues Denkmal in Würzburg Chanukka und in diesem Heft mit Beiträgen Von Nathalie Jäger . . . . . . . . . . . . . . . 30 von: Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren, Roland Flade, Angela Genger, Miryam Kultur Der DenkOrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Gümbel, Daniel Hoffmann, Gaby Pagener- Jüdisches Museum Augsburg – Avraham Barkai (1921–2020) Neu, Benno Reicher, Monika Richarz, Stefan Mother Boyle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 Ein Nachruf von Monika Richarz . . . 36 W. Römmelt, Julia Schneidawind und Israel Schwierz. Jüdisches Museum Franken – L’Chaim Bayern Redaktionsleitung: Benno Reicher, Von Miryam Gümbel . . . . . . . . . . . . . . 12 redaktion@berejournal.de Würzburger Gemeinde-Jubiläen Es war einmal in Jerusalem . . . . . . . . 13 Von Stefan W. Römmelt . . . . . . . . . . . 38 www.bayerisch-jüdisch.de Antisemitismus melden . . . . . . . . . . . 39 Herausgeber: Landesverband Israelitischer Schneeberger ist nach Kitzingen Kultusgemeinden in Bayern K.d.ö.R, gewandert Effnerstraße 68, 81925 München Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . 15 Aus den jüdischen Gemeinden in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40 Gesamtherstellung: Druckerei Höhn, Von Würzburg nach Hollywood Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14, Von Roland Flade . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 50 69514 Laudenbach Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 3
R O S C H H A S C H A N A 57 81 Rosch Haschana 5781/2020 Von Landesrabbiner a.D. Dr. Joel Berger soph, Rechtsgelehrter und Arzt im 12. Jahr- das den Schofarton versteht, oh Herr, im hundert war, betont, dass man den Men- Lichte Deines Angesichts wandeln sie.“ schen daran erkennen sollte, dass er seine Fehler und Verfehlungen vor Gott be- Den Mittelpunkt der synagogalen Litur- kennt und dann auch zur Umkehr bereit gie des Rosch-Haschana-Tages bildet die ist. Zeremonie des Schofarblasens. Das Er- tönen des Schofars hatte eine vielseitige Unsere Meister der Lehre wollten die Funktion: Es kündigte in der biblischen Teschuwa an der Schwelle eines Neuen Zeit den Ruf zu den Waffen an und war Jahres nicht als so eine exakte Pflichter- auch der Alarm vor jeglichen Bedrohun- füllung wissen, wie z.B. die Einhaltung gen. Der Schall des Schofars gab in Frie- der Gebote des Schabbats, der Kaschrut denszeiten der Gemeinschaft das Signal oder sogar der Nächstenliebe. Sie wollten sich zu versammeln. Vor allem aber er- zum Ausdruck bringen, dass die Teschu- innern die Töne des Schofar an die Offen- wa alle Bereiche des Lebens umfasst. In barung am Berge Sinai. Damals erklang den „Sprüchen der Väter“, den Pirke der Schofar aus einer dichten Wolke her- Rabbiner Joel Berger Awot, den Lehrensammlungen und Aus- aus und ließ die Israeliten vor Ehrfurcht sagen ethischer Maximen verschiedener erzittern. Und solch ein Klang wird auch Rosch Haschana, der Name des Festes früherer Gelehrten, werden wir ermahnt: eines Tages die messianische Zeit verkün- bedeutet Haupt des Jahres, ist der erste „Kehre einen Tag vor deinem Tode um.“ den. Der Schall des Schofars symbolisiert und auch der zweite Tag des jüdischen (Spr.d. Väter 2:10) Da aber niemand sei- die Seele unseres Volkes. Er drückt so- Kalenderjahres. Das Fest dauert sowohl nen Todestag im Voraus kennt, solle man wohl unsere Verzweiflung, aber auch un- im wie auch außerhalb des Heiligen Lan- zeitlebens zur Umkehr bereit sein. sere Buße, unsere Hoffnung und unsere des zwei Tage. In der Tora ist über Rosch vertrauensvolle Erwartung aus. Haschana folgendes zu lesen: „Im sieben- Den Menschen, der in seinem täglichen ten Monat, am ersten Monatstag, sei für Leben stets zur Teschuwa bereit ist, den Die im Rosch-Haschana-Talmud-Traktat euch ein besonders feierlicher Ruhetag, nannten die Weisen „Baal Teschuwa“. Der zusammengefassten Diskussionen unse- mahnendes Hörnerblasen und heilige Begriff bedeutet: ein Mensch, der die rer Weisen haben zu sehr genauen Vor- Versammlung. Da dürft ihr keinerlei Bereitschaft entwickelt, seine Fehler zu schriften hinsichtlich der Strukturierung Arbeit tun und sollt dem Herrn ein Brand- bereuen und einen neuen Weg einzu- des Schofarblasens geführt. Während des opfer darbringen.“ (3.B.M. 23: 24–25) schlagen. Dieser ist aber keineswegs ein gesamten Rosch-Haschana-Gottesdiens- Heiliger oder ein Zaddik, ein Gerechter, tes wird der Schofar in einer festgelegten Infolge der Zerstörung des Tempels in sondern vielleicht eher ein Chassid, ein Reihenfolge geblasen, was insgesamt zu Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z. ist seit der Frommer. Unsere Ahnen erkannten in 100 Klängen führt. In jedem Zyklus folgt nachbiblischen Zeit kein Tempelopfer dieser menschlichen Haltung die Ver- auf „Tekia“ ein langer Klang, der ur- mehr möglich. So wandelte sich auch der wirklichung der Lehre des Meisters Mai- sprünglich im Kampf als Ruf zu den Inhalt des Festes unter Mitwirkung un- monides: „Da jeder Mensch über sich Waffen verwendet wurde und der galop- serer Schriftgelehrten. Der Inhalt dieser selbst bestimmt“, wir würden sagen, je- pierende Ton „Schewarim“ (wörtlich: „ge- Festtage ist in unserer Zeit der Mitmensch- der von uns die freie Willensentschei- brochen“), das sind drei schluchzende lichkeit gewidmet. Die Umkehr und die dung besitzt, „bemühe sich der Mensch Klänge, die uns an unsere Verfehlungen Reue der eigenen Missetaten stehen im Teschuwa zu tun, um sich seiner Ver- erinnern. Dann kommt die „Terua“, neun Mittelpunkt dieser ernsten Tage. Viele fehlungen zu entledigen.“ (H. Tschuwa kurze Stakkato-Klänge. Und der Zyklus von uns verbringen den letzten Monat des 7:1) des Blasens endet mit der langen, klagen- Jahres vor Rosch Haschana, den Monat den „Tekia Gedola“, dem geraden „langen Elul, im Gebet und in der Vorbereitung Das Gebot der Tora schreibt uns für die Ton“. auf die Hohen Feiertage Rosch Haschana Tage des Neujahrsfestes vor, in den Scho- und Jom Kippur. Während dieser Zeit far, das aus dem Widderhorn gefertigte Die Rosch-Haschana-Tage gelten als die wollen wir vergangene Fehler wieder Naturinstrument, zu blasen. Der Prophet Gerichtstage des Herrn über uns. Unsere gut machen und unser Herz Gott zu- Amos, der im 8. Jahrhundert v.d.Z. lebte, Handlungen des vergangenen Jahres wer- wenden. bezeichnete die Töne des Schofar als den „gewogen“, – und über unsere Zu- furchterregend. Diese Furcht treibt jedoch kunft wird eine Entscheidung getroffen. Die weisen alten Meister unseres Volkes die Israeliten zur Reue ihrem Gott gegen- Die Gleichnisse der Chassidim haben diese wussten genau, dass sehr oft menschliche über und zur Vergebung ihrer Nächsten. „Gerichtsverhandlungen“ mit leicht nach- Trägheit und Faulheit der Teschuwa, der In der großen volkstümlichen Bewegung vollziehbaren, irdischen Motiven und Umkehr, im Wege stehen können, des- der Chassidim im Osten Europas entwar- Elementen ausgestattet. Eine Gerichts- halb bemühten sie sich, jedem von uns fen die Rabbiner vielerlei Gedanken und verhandlung auf Erden benötigt einen auf einfachste und schlichte Art zu erläu- Lehrbeispiele das Schofarblasen betref- Ankläger und einen Verteidiger. Die Rolle tern, wie man diese Umkehr bewerkstelli- fend. Ihr Ausgangspunkt war eine Aus- des allmächtigen Richters wird naturge- gen sollte. Der rationale Gelehrte Ram- sage des Psalmdichters (89:16), der sinn- mäß dem Herrn, Gott, übertragen. Der bam, genannt Maimonides, der Philo- gebend verkündete: „Selig ist das Volk, Ankläger erscheint, gemäß der ursprüng- 4 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
lichen Bedeutung dieses hebräischen Manchmal nützen die mildernden Um- gen, wie eifrig wir den Geboten der Tora Wortes, im Bilde des Satans. Dieser pflegt stände leider auch nicht. Daher meint der nachkommen wollen.“ Und ein bekannter die Israeliten vor dem Stuhl des Richters Volksglaube, dass das Schofarblasen auch chassidischer Rabbi ergänzte noch: „Wir anzugreifen: Sie halten den Schabbat den Sinn haben könnte, den Satan, den Menschen auf dieser Erde sind nach so nicht ein, verletzen die ethischen Verhal- Ankläger, zu verwirren, damit er seine vielen Wirren und Leiden oft desorien- tensgebote des Herrn, sie machen sich unheilvollen, unheilbringenden Ankla- tiert. Wir hoffen daher stets auf die Barm- ihre Götzen. gen nicht zu Ende bringen kann. herzigkeit Gottes, dass Er gegen uns Menschen aus Fleisch und Blut keine har- Die Verteidigung, das sind die Boten des Raschi (1040–1105), der volkstümliche ten Klagen gelten lassen wird.“ Deshalb Herrn, bemühen sich, die Anklagen zu Kommentator, der eine Weile in Worms werden die von der Tora vorgeschrie- widerlegen und zu entkräften. Jedoch wirkte, fügte noch hinzu: „Man muss mit benen Schofartöne den Ankläger des müssen manche harten Fakten der An- den für Rosch Haschana angeordneten Volksglaubens, den Satan, verstummen kläger sie in die Verzweiflung treiben. hundert Schofartönen dem Ankläger zei- lassen. Zwei Ziegenböcke Eine Betrachtung zu Jom Kippur von Yizhak Ahren Seit der Zerstörung des Heiligtums zu darf der Erklärung: Was für ein Inte- ordnungen übet und meine Gesetze Jerusalem dürfen die in der Tora im Wo- resse könnte der Kohen Gadol haben, um hütet, um in ihnen zu wandeln“ (3. Buch chenabschnitt Pinchas vorgeschriebenen das Ergebnis der Auslosung zu manipu- Mose 18,4). Was sind Rechtsordnungen, täglichen Tieropfer nicht dargebracht lieren? Es dürfte ihm doch völlig egal Mischpatim? „Das sind diejenigen Ge- werden und der Hohepriester, der Kohen sein, welcher Bock wo landet. Raschi setze, die, wenn sie nicht geschrieben Gadol, kann am Jom Kippur seinen im erläutert die Antwort des Talmuds: Ohne worden wären, sie doch geschrieben Wochenabschnitt Achre Mot (3. Buch Umrühren in der Urne könnte der Kohen werden müssten: Verbote von Götzen- Mose, Kap. 16) beschriebenen Dienst, Avo- Gadol die Wahl dahingehend beeinflus- dienst, Unzucht, Blutvergießen, Raub und da, nicht mehr verrichten. In Vergessen- sen, dass das Los ,für Gott‘ in seiner Lästerung des göttlichen Namens.“ Was heit geraten sind die im Heiligtum prakti- Rechten landet – dies wäre ein gutes sind Gesetze, Chukim? „Das sind diejeni- zierten Rituale aber nicht: Im Mussaf-Ge- Zeichen! gen Vorschriften, gegen die Satan und die bet erwähnen jüdische Beter an jedem Völker der Welt Einwendungen erheben: Schabbat und an jedem der biblischen Fei- Durch diese Erläuterung begreifen wir, Essen von Schweinefleisch, Tragen von ertage, was im Zeitalter des Tempels an dass es bei der Lose-Zeremonie nicht nur Mischgewebe, die Chaliza an der Schwä- diesem Tag dort gemacht wurde. darum ging, das Schicksal der zwei gerin, die Reinigung der Aussätzigen, der Ziegenböcke festzulegen. Die Zuschauer fortzuschickende Bock.“ (Joma 67b) Ein fester Bestandteil der Avoda am Jom achteten auf Zeichen und Wunder! Von Kippur war die feierliche Zeremonie, bei einem Wunder kann deshalb die Rede Das Sündenbock-Ritual zählt also zu den der der Kohen Gadol zwei Lose zog, die sein, weil im Talmud berichtet wird: Chukim. Warum der Ewige dieses Gebot über das Schicksal der zwei Ziegenböcke „Während der 40 Amtsjahre Simon des erlassen hat, wissen wir nicht, denn die entschieden, die sich im Vorhof befanden Gerechten geriet das Los ,für Gott‘ stets Tora hat uns keine Begründung gegeben. (Joma 37a). Ein Bock wurde im Heilig- in die Rechte; von dann ab geriet es Wohl aber können wir uns mit der nahe- tum als Sündopfer, Chatat, dargebracht; zuweilen in die Rechte und zuweilen liegenden Frage beschäftigen: Was lehrt der zweite Bock, oft Sündenbock genannt, in die Linke. 40 Jahre vor der Zerstörung uns das Ritual mit den zwei Ziegen- wurde kurze Zeit danach in die Wüste des Heiligtums geriet das Los ,für Gott‘ böcken? Eine symbolische Deutung des fortgeschickt. niemals in die Rechte.“ (Joma 39a und b) Zeremoniells hat Don Yizhak Abravanel (1437–1509) in seinem Tora-Kommentar Wie die Auslosung erfolgte, schildert die Dass der Kohen Gadol 40 Jahre hinter- vorgeschlagen. Mischna wie folgt: „Der Kohen Gadol einander dasselbe Los in die rechte Hand rührte in der Urne um und holte die zwei bekommt, ist so unwahrscheinlich, dass Nach Abravanels Meinung sind beide Lose hervor. Auf dem einen Los stand ,für sogar Skeptiker die Erscheinung eines Ziegenböcke ein Hinweis auf das Volk Gott‘, auf dem anderen stand ,für Azazel‘. Wunders nicht bestreiten werden. Der Israel. Sie symbolisieren die Alternative, Der Priesterpräses stand zu seiner Rech- israelische Mathematiker Eli Merzbach vor der Israel steht: der Bock, der im Hei- ten und der Obmann der Familienwache hat die statistische Wahrscheinlichkeit bei ligtum als Opfer dargebracht wird, steht zu seiner Linken. Geriet das Los ,für Gott‘ der Auslosung am Versöhnungstag durch für eine Lebensführung gemäß den An- in seine Rechte, so sprach der Priester- das folgende Beispiel verdeutlicht: Würde weisungen des Ewigen, die zu einer An- präses zu ihm: Kohen Gadol, erhebe Dei- der Kohen Gadol nicht nur am Jom Kippur näherung an Gott führt; wandelt Israel ne Rechte; geriet das Los ,für Gott‘ in sei- Lose ziehen, sondern an jedem Tag des aber nicht auf dem richtigen Weg und ne Linke, so sprach der Obmann zu ihm: Jahres, und zwar jeweils nicht nur einmal, entfernt sich von Gottes Weisungen, so Kohen Gadol, erhebe Deine Linke. Als- sondern 1000 Mal – dann bräuchte er nach wird es fortgeschickt werden wie der dann legte er die Lose auf beide Ziegen- dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit 3 Mil- Sündenbock. Das Ritual am Jom Kippur böcke“ (Joma 39a). lionen Jahre, um dasselbe Ergebnis 40 Mal erinnert demnach an die uns gegebene hintereinander zu erzielen. Wahlfreiheit und an die Möglichkeit des Der Talmud will wissen, warum das Exils. Umrühren in der Urne notwendig war. Die Mitzwot der Tora haben unsere Wei- Die sogleich gegebene Antwort: „damit sen in Auslegung eines Tora-Verses in Dass der fortzuschickende Bock das Volk er nicht ziele und dann hervorhole“ be- zwei Gruppen eingeteilt: „Meine Rechts- Israel in einer bestimmten Verfassung Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 5
repräsentiert, beweist Abravanel durch folgenden Vers: „Aharon stützt seine beiden Hände vereinigt auf den Kopf des lebendigen Bockes und bekennt auf ihm alle Sünden der Kinder Israels und alle ihre Verbrechen in Beziehung zu allen ihren Verirrungen und gibt sie auf den Kopf des Bockes und entsendet ihn durch einen dazu bereiten Mann in die Wüste.“ (3. Buch Mose 16,21) Symbolisierte der Bock nicht das Volk Israel, so machte das Stützen der Hände auf den Kopf des Tieres beim Sündenbekenntnis keinen Sinn. In seinem Kommentar zum eben zitierten Vers bemerkt Rabbiner Samson R. Hirsch (1808–1888), dass bei der Formulierung ,und gibt sie auf den Kopf des Bockes‘ „sicherlich nicht an irgendein magisch- mystisch konkretes Legen der Sünden auf das Haupt des Ziegenbocks zu denken ist. Es heißt nichts anderes, als dass durch das Sündengeständnis auf das Haupt des Ziegenbocks dieser lebendige Bock die verfehlte Lebensrichtung ins Bewusstsein Der neue jüdische Kalender aus dem Hentrich & Hentrich Verlag enthält 16 Mo- rufen soll, in welcher alle Sünden, Cha- nate, von September 2020 bis Dezember 2021. Das ist praktisch, kann man ihn taim, Verfehlungen, Avonot, und Frevel, doch noch nach einem Jahr hängen lassen. Er zeigt alle jüdischen Feiertage an, Peschaim, wurzeln und auf welcher sie auch alle gesetzlichen Feiertage in Deutschland. Der Wandkalender mit he- beruhen.“ bräisch-deutschen Bezeichnungen für die Monate und Wochentage lässt etwas Platz für Notizen. Die Monatsfotos, teilweise von Michaela Weber, sind hervor- Im Mussaf-Gebet am Jom Kippur rezi- ragend. Positiv wäre noch anzumerken: Der Kalender verzichtet vollständig auf tieren Vorbeter und Gemeinde, was der die üblichen israelisch-jüdischen Klischee-Bilder. ISBN: 978-3-95565-394-1, 15 €, Kohen Gadol einmal im Jahr im Heilig- www.hentrichhentrich.de bere. tum sprach: „O Gott! Gesündigt, gefehlt und gefrevelt hat vor Dir Dein Volk, das Haus Israel. O bei Deinem heiligen Na- Kann so etwas möglich sein? Wie bereits Bock eine Sühne für ganz Israel. Wie ist men rufe ich: Vergib die Sünden, Ver- erwähnt, der Sündenbock zählt zu den unsere Situation heute, die wir die fehlungen, Frevel, durch die gesündigt, Chukim. Gegen alle Logik gibt es, wie der Avoda nur im Gebet erwähnen? Die Ant- gefehlt, gefrevelt vor Dir Dein Volk, das vom Kohen Gadol zitierte Vers eindeutig wort von Moses Maimonides auf diese Haus Israel! Wie geschrieben steht in der beweist, am Jom Kippur Sühne sogar für Frage lautet: „Jetzt, da das Heiligtum Lehre Mosches, Deines Knechtes, aus Frevel. Weil im Heiligtum nie ein Chatat- nicht mehr besteht und der Altar uns dem Munde Deiner Herrlichkeit: ,Denn Opfer für absichtlich begangene Untaten keine Sühne bringen kann, gibt es nur an diesem Tage wird Er euch sühnen, dargebracht wurde, durfte der Sünden- die Umkehr, Teschuva. Die Teschuva euch zu reinigen von all euren Sünden bock nicht im Tempel geschlachtet werden bringt Sühne für alle Gesetzesüber- vor dem Ewigen‘.“ (3. Buch Mose 16,30) wie sein Partner bei der Auslosung. tretungen. Das Wesen des Versöhnungs- Es ist bemerkenswert, dass es Sühne gibt tages besteht darin, dass er denen, die auch für Übertretungen, die mit voller Ab- Als die Avoda am Jom Kippur noch prak- umkehren, Sühne bringt.“ (Hilchot Te- sicht begangen worden sind. Wir staunen: tiziert wurde, brachte der fortgeschickte schuva 1,3) Folgen einer unbeabsichtigten Kränkung Von Yizhak Ahren Tora kann man überall studieren, und Ehefrau verlässt zusammen mit ihrem Ehemann also jahrelang in einer anderen doch hat Rabbi Nehorai empfohlen: „Wan- Mann die Heimat für die Dauer des Stadt studieren. dere nach einem Ort der Torawissen- Studiums. In der Zeit der Tannaiten schaft.“ (Sprüche der Väter 4,18). An ei- und Amoräer gab es diese Möglichkeit Der Fall von Rav Rechumi, einem baby- nem solchen Ort wird es hervorragende offensichtlich nicht. In einer Mischna, in lonischen Amoräer der vierten Genera- Lehrer geben und auch gleichstrebende der es um die ehelichen Pflichten des tion, ist nur auf dem Hintergrund der Genossen, mit denen man über den Lehr- Mannes geht, steht: „Die Jünger dürfen damaligen Praxis zu verstehen. Seine stoff diskutieren kann. zum Studium der Tora 30 Tage ohne tragische Geschichte erzählt der Talmud Einwilligung fortbleiben.“ (Ketuwot 61b) in wenigen Zeilen, die erklärungsbedürf- Was sollte ein Jünger machen, der bereits Der Talmud will wissen: „Wie lange mit tig sind: „Rav Rechumi, der bei Raba in verheiratet ist? In unseren Tagen würde Einwilligung? So lange er will.“ Wenn Machoza studierte, pflegte an jedem man eine einfache Lösung finden. Die die Frau einverstanden ist, darf der Rüsttage des Versöhnungstages nach 6 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
Hause zu gehen. An jenem Tag aber zog pretation kritisiert die talmudische Er- nicht wie in den Vorjahren zu Jom Kippur ihn die Lehre in ihren Bann. Seine Frau zählung Rav Rechumis unjüdische Hal- erscheinen werde, vergoss sie eine Träne. erwartete sein Kommen: Jetzt kommt er! tung. Wir verstehen, dass Gott den gelehrten Jetzt kommt er! Er kam nicht. Da ward sie Mann wegen Verletzung der Gefühle sei- niedergeschlagen, und eine Träne floss Eine ganz andere Lesart der Geschichte ner Gattin bestraft. Aber wir wundern aus ihrem Auge. Rav Rechumi saß auf hat Rabbiner Esriel Ariel vorgetragen. uns. Wurde die Frau, die jetzt ihren Mann dem Dach des Lehrhauses; da brach das Seiner Ansicht nach macht gerade Jom verloren hat, nicht ebenfalls bestraft? Dach unter ihm zusammen, und er starb.“ Kippur uns darauf aufmerksam, dass die Rabbiner Chaim Schmulewitsch erklärte, (Ketuwot 62b) Liebe zu Gott und die Liebe zur Ehefrau dass man Rav Rechumis Tod keinesfalls einander ergänzen. Der Kohen Gadol, der als eine Art Wiedergutmachung ansehen Es drängen sich sofort mindestens zwei den Dienst im Heiligtum am Versöh- darf. Vielmehr zeige der Vorfall in plakati- Fragen auf. Warum pflegte Rav Rechumi nungstag zu verrichten hatte, musste un- ver Weise, dass jede Person, die einen an- ausgerechnet am Rüsttag von Jom Kippur bedingt verheiratet sein (Joma 2a). Und deren Menschen kränkt, automatisch sich nach Hause zurückzukehren? Bekannt- die Mischna (Taanit 4,8) berichtet, dass selbst einen Schaden zufügt! Anzumerken lich ist, wie die Mischna in Joma (73b) Jom Kippur als Tag für die Eheanbah- ist, dass Rabbiner Michael Abraham diese feststellt, am Versöhnungstag nicht nur nung gesehen wurde. Rav Rechumis Deutung des Todes von Rav Rechumi als das Essen und das Trinken verboten, son- Termin für seine Rückkehr deutet an, sehr problematisch bezeichnet hat. dern auch der eheliche Verkehr. Admiel dass er die Beziehung zu seiner Frau auf Kosman hat die kühne These vertreten, die höchste Stufe stellen wollte, und zwar Was lehrt uns Rav Rechumis Geschichte, dass Rav Rechumi von einer christlichen durch eine Kombination beider Formen die übrigens von der israelischen Gimzu Auffassung beeinflusst war, nach der ein der Liebe. Gescheitert ist Rav Rechumi, Blues Band als Ballade gesungen wurde? Mensch Gott nur durch sexuelle Enthalt- weil er an seinem letzten Tag vor lauter Dass sogar ein beflissener Tora-Gelehrter samkeit nahekommen könne. Kosman Gottes- und Tora-Liebe die menschliche einen anderen Menschen verletzen kann, vermutet sogar, dass Rav Rechumi nicht Seite vergessen hat. wenn er nicht sehr achtsam ist. Man kann nur wegen des bedeutenden Lehrers Raba gar nicht vorsichtig genug sein! Die Träne in Machoza lebte, sondern auch deshalb, Eine andere Frage, die einige Interpreten der Gekränkten bleibt nicht unbeachtet: weil er dort ein Leben ohne Geschlechts- beschäftigt hat, betrifft Rav Rechumis „Die Pforten der Tränen sind nie ver- verkehr führen konnte. Nach dieser Inter- Strafe. Als die Frau begriff, dass ihr Mann schlossen.“ (Berachot 32b) G R U S S W O R T E Z U R O S C H H A S C H A N A 57 81 Zum Neujahrsfest ei- sondern ist ein Angriff auf uns alle. Er ist neue Kraft für die kommenden Heraus- nen herzlichen Gruß eine Bedrohung unserer freiheitlichen und forderungen zu schöpfen. Den jüdischen an alle jüdischen Bür- demokratischen Ordnung. Die Bayerische Bürgerinnen und Bürgern alles Gute im gerinnen und Bürger Staatsregierung geht energisch gegen alle neuen Jahr! Es soll ihnen persönlich Ge- unseres Landes! Formen dieser menschenverachtenden sundheit, Glück und viel Erfolg bringen, Haltung vor. Zugleich sind alle Institu- aber auch ein gelingendes Zusammen- Sie pflegen ein rei- tionen und gesellschaftlichen Kräfte auf- leben ihrer religiösen Gemeinschaft. ches religiöses und gerufen, diesen Strömungen unmissver- kulturelles Leben und ständlich Einhalt zu gebieten. nehmen mit ihren Ge- meinden einen festen Platz inmitten un- Rosch Haschana ist für die Juden ein Fest serer Gesellschaft ein. Antisemitismus der Besinnung und der Einkehr. Es geht Dr. Markus Söder richtet sich daher nicht nur gegen sie, darum, persönliche Bilanz zu ziehen und Bayerischer Ministerpräsident „Pikuach Nefesch“ – der Bundesrepublik gestellt – unser Ge- zu Beginn des Schabbat einen schützen- in gewisser Weise hat sundheitssystem, unsere Wirtschaft, un- den Ring um die Synagoge am St.-Jakobs- dieser zentrale jüdi- sere Gesellschaft. Platz in der Landeshauptstadt zu bilden. sche Grundsatz in Aber es gab im letzten Jahr nicht nur Ich war dort, um zu zeigen, dass wir zu- den letzten Monaten Corona. Mit dem bevorstehenden Jom sammengehören, dass unsere jüdischen auch die bayerische Kippur rücken schockierende, bedrü- Bürgerinnen und Bürger im Unterschied und deutsche Politik ckende, beschämende Erinnerungen ins zur Vergangenheit nicht mit ihren Sorgen bestimmt. Wir haben Bewusstsein. Der antisemitische Anschlag und ihrem Schmerz alleine sind. den Schutz und die auf die Betenden in der Synagoge in Halle, In Bayern hat der Schutz der jüdischen Rettung des einzel- bei dem zwei Menschen ermordet wur- Menschen und Einrichtungen oberste nen Lebens allem anderen übergeordnet. den, hat uns einmal mehr vor Augen Priorität. Aber auch im Freistaat mussten Auch das religiöse Leben war davon be- geführt, wie bedroht das jüdische Leben wir erkennen, dass wir das historische troffen. Gottesdienste konnten nicht statt- hierzulande ist. Mir war es eine Her- Versprechen „Nie wieder!“ nicht umfas- finden. Die Synagoge, das Haus der Ver- zenssache, mich wenige Tage später dem send halten konnten. Das Gift des Anti- sammlung, blieb leer. Die Sederabende Aufruf der damaligen Regionalbischöfin semitismus wird in unterschiedlichen Ge- waren stiller als sonst. Corona hat uns vor Breit-Keßler anzuschließen und mit Hun- fäßen in den Verkehr gebracht – rechts, die größte Herausforderung seit Bestehen derten Münchnerinnen und Münchnern links, muslimisch, christlich, israelbe- Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 7
zogen, verschwörungsideologisch, ge- hunderte unsere Kunst und Kultur, un- musik nicht überhört. Aber ich bin sicher: schichtsvergessen, revisionistisch, leug- sere Wirtschaft, unsere Politik, unsere Die überwältigende Mehrheit in unserem nend, ignorant, oder „gar nicht so ge- Wissenschaft, unser Leben mitgestaltet Land ist zusammengerückt. Wir sind ge- meint“. Und doch: In jeder Form ist er un- und geprägt. Wir wollen das Jubiläums- wachsen. Wir haben erlebt, dass wir vereinbar mit den Werten unserer frei- jahr nutzen, um das Jüdische in unserer einander brauchen und dass Solidarität heitlichen Demokratie! Judenhass ist Heimat zu feiern. Leben rettet. nicht „nur“ eine Bedrohung für Jüdinnen Und, um das Versprechen „Nie wieder!“, Rosch Haschana ist verbunden mit Hoff- und Juden. Er vergiftet unsere Gesell- das mit der Erinnerung an die Opfer der nung, Mut und Zuversicht. Ganz in die- schaft. Er bedroht uns alle. Er geht uns Shoa untrennbar verbunden ist, zu er- sem Sinne wünsche ich allen jüdischen alle an. Deswegen benenne und bekämp- neuern. Der Kampf für Freiheit und Bürgerinnen und Bürgern in Bayern: fe ich Judenhass in all seinen Formen. Demokratie beginnt im Kleinen, im All- Shana tova u-metuka – ein gutes, süßes Unser Ziel muss es sein, dass jüdisches täglichen und hört auch im Landtag nicht und glückliches neues Jahr! Leben ohne Polizeischutz unbeschwert, auf. Es ist traurig, dass auch dieser Neu- selbstverständlich und sicher stattfinden jahrsgruß nicht ohne das Thema Anti- kann. semitismus auskommen konnte. Ich wün- Im kommenden Jahr ist jüdisches Leben sche mir, dass ich in künftigen Jahren das auf dem Boden des heutigen Deutsch- Heitere, die Freude in den Mittelpunkt lands 1.700 Jahre urkundlich dokumen- stellen kann. Ich bin überzeugt, dass tiert. In Bayern blicken wir auf eine über Corona uns als Gesellschaft geeint und 1.000-jährige jüdische Geschichte zurück. gestärkt hat. Nein, ich habe die Demon- Ilse Aigner MdL, Präsidentin Jüdinnen und Juden haben über die Jahr- strationen mit antisemitischer Begleit- des Bayerischen Landtags Als ob der Terroran- man eigentlich nicht einmal aussprechen. ßiger öffentlicher Zeichen untermauert. schlag auf die Syna- Und doch ist es nötiger denn je, sich mit Etwa mit unserer Fachstelle für Demokra- goge in Halle an Jom ihnen auseinanderzusetzen. Denn auch tie, die seit nunmehr zehn Jahren das Kippur im letzten Jahr im letzten Jahr ist die Zahl der antisemiti- städtische Handeln gegen Rechtsextre- die hässliche Fratze schen Straftaten in Deutschland erneut mismus, Rassismus, Antisemitismus und des Antisemitismus gestiegen. Es darf uns keine Ruhe lassen, Menschenfeindlichkeit koordiniert. In bei uns nicht schon in dass auch 75 Jahre nach der Shoa Juden- diesem Sinne möchte ich die Jüdische ihrer ganzen barbari- hass hierzulande weit verbreitet ist und Gemeinde Münchens hier nochmals aus- schen Menschenver- mehr als die Hälfte der jüdischen Be- drücklich der unumstößlichen Solidarität achtung gezeigt hätte, völkerung antisemitische Erfahrungen der gesamten demokratischen Münchner nutzen Rechtsextreme und Islamisten machen muss. Stadtgesellschaft versichern. Und in eben- heuer die Corona-Pandemie, um mit ge- Antisemitische Äußerungen, Beschädi- diesem Sinne wünsche ich allen jüdi- zielten Verschwörungstheorien den Ju- gung jüdischen Eigentums und Angriffe schen Bürgerinnen und Bürgern unserer denhass weiter anzuheizen, im Internet auf Jüdinnen und Juden sind leider auch Stadt zum Neujahrsfest Rosch Haschana ebenso wie auf der Straße. Da sind Schmä- in München keine Seltenheit. Umso wich- ein gutes, glückliches und friedliches hungen wie „Coronavirus heißt Juden- tiger ist es, dieser Entwicklung jetzt Ein- Jahr 5781! kapitalismus“, gelbe Davidsterne auf halt zu gebieten, indem wir sofort ein- Ärmeln mit dem Wort „Ungeimpft“ auf schreiten, wenn Jüdinnen und Juden be- sogenannten Hygiene-Demos oder ganz leidigt, bedroht oder angegriffen werden. allgemein die Verleumdung von Juden als Die Stadt München hat ihre klare Haltung bewusste Verbreiter und Profiteure der dazu immer wieder mit Nachdruck be- Dieter Reiter, Oberbürgermeister Krise. Solche Unmenschlichkeiten will kräftigt und durch eine Vielzahl regelmä- der Landeshauptstadt München Liebe jüdischen Corona-Pandemie: Unsere Religionsge- Brüder bei einer gemeinsamen Suche Schwestern und meinschaften waren erstmals in der nach einer besseren Welt“ sein sollen. Brüder, Situation, sich nicht mehr zum gemein- Lassen Sie uns diese Partnerschaft und schaftlichen Gebet in ihren Sakralraumen Geschwisterlichkeit auch im kommenden ereignisreiche Monate versammeln zu können, und wir haben Jahr weiter leben und vertiefen. liegen hinter uns: Das alle gespürt, wie sehr uns das gemein- Jahr 5780 begann mit schaftliche Beten und Feiern fehlt. Ich wünsche Ihnen ein friedvolles und dem hinterhaltigen Ter- Zugleich wissen wir als gläubige Men- gesegnetes Neues Jahr! roranschlag in Halle schen, dass der treue G’tt auch in diesen mit zwei Toten, der ur- schwierigen Zeiten bei uns ist und uns SCHANA TOWA! sprünglich gegen die jüdische Gemeinde zur Solidarität untereinander aufruft. gerichtet war, die gerade Jom Kippur Das ist auch die Botschaft, die uns die feierte. Der Antisemitismus in Deutsch- erste gemeinsame Fachtagung der Ortho- land hat damit eine neue, furchtbare doxen Rabbinerkonferenz Deutschlands Stufe erreicht und zeigt, dass wir nicht mit der Deutschen Bischofskonferenz vom nachlassen dürfen, gemeinsam dieses November 2019 mitgibt. Anlass war die Gift des Hasses zu bekämpfen. jüdische Erklärung „Zwischen Jerusalem Reinhard Kardinal Marx Die letzten Monate standen wir alle ge- und Rom“ von 2017, die davon spricht, Erzbischof von München und meinsam vor den Herausforderungen der dass wir „Partner, enge Verbündete und Freising 8 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
Ein gutes und gesegne- wir vor den Fragen: Was ist unser Anteil neun Jahren gebaut: Zuerst konnte die tes neues Jahr wün- daran? Was müssen und was können wir jüdische Gemeinde ihre Synagoge in der sche ich Ihnen im Na- dagegen tun? Die Fragen sind zwar nicht Westenrieder Straße einweihen, wenig men der Evangelisch- neu und es gibt auch schon erfolgreiche später folgte die evangelische Gemeinde Lutherischen Kirche in Antworten, gleichzeitig stellen sich diese mit ihrer Matthäuskirche in der Sonnen- Bayern und auch per- Fragen mit neuer Dringlichkeit. straße. sönlich zu Rosch Ha- Im kommenden Festjahr werden zahl- Mir ist es wichtig zu erkennen, dass un- schana und den Hohen reiche Veranstaltungen und Begegnun- sere Geschichten eng miteinander verwo- Feiertagen! gen überall in Deutschland hoffentlich ben sind, trotz der Feindseligkeiten, die einen kraftvollen Gegenakzent setzen, vor allem von der christlichen Seite aus- Das abgeschlossene Jahr wird uns noch der nachwirkt. Wir werden 1.700 Jahre gegangen sind. Und besonders wichtig ist lange beschäftigen. Da sind die Abgrün- jüdisches Leben in Deutschland feiern. mir, dass wir Seite an Seite in die Zukunft de, die die Terroranschläge von Halle und Diese erste urkundliche Erwähnung von gehen. Es gibt unendlich viel aus den 1.700 Hanau offengelegt haben, und die Men- Juden ist sogar älter als die frühesten Jahren, was das nichtjüdische Deutsch- schen, die sie traumatisiert haben. Da Belege für christliches Leben. Das Fest- land Jüdinnen und Juden verdankt. Das sind die Erfahrungen, die alle Religions- jahr bietet hoffentlich viele Gelegenhei- Festjahr bietet eine besondere Chance zu gemeinschaften während der Pandemie ten, jüdische Kultur und Geschichte aus solchen Entdeckungen und trägt hoffent- gleichermaßen gemacht haben. Viele per- 1.700 Jahren zu entdecken und zu feiern. lich dazu bei, die Zivilcourage und Ver- sönliche Begegnungen konnten nicht Auch das Bayerische Bündnis für Toleranz, bundenheit in unserer Gesellschaft zu stattfinden. Gottesdienste, Konzerte, Bil- dem 76 Organisationen aus der Mitte der stärken. dungsangebote sind nach wie vor nur mit bayerischen Gesellschaft angehören, hat Einschränkungen möglich. Zugleich ha- sich dieses Thema als Jahresthema ge- SCHANA TOWA UMETUKA ben sich im digitalen Raum neue Formen wählt. für den Austausch und die Bildung, aber Wenn wir in der bayerischen Landes- wünscht Ihnen auch für interreligiöse Begegnungen ent- hauptstadt München auf die Anfänge der wickelt. jüdischen und der evangelischen Gemein- Leider haben etliche Menschen in dieser den schauen, dann liegen diese zwar erst Krise auch das Gift ihres Verschwörungs- etwas mehr als 200 Jahre zurück, aber es glaubens verbreitet und zu einem Klima gibt Parallelen: Beide sind vom Hof der beigetragen, in dem antijüdische und an- Wittelsbacher Kurfürsten aus entstanden, Dr. Heinrich Bedford-Strohm dere Gewalt zunimmt. Als Teil der nicht- die erste Synagoge und die erste evange- Landesbischof der Evangelisch- jüdischen Mehrheitsgesellschaft stehen lische Kirche wurden im Abstand von nur Lutherischen Kirche in Bayern Sehr geehrte Damen Straße. Antisemitismus ist im rechtsradi- kämpfung und Prävention von Antisemi- und Herren, liebe kalen Spektrum verbreitet –aber keines- tismus und israelfeindlicher Agitation er- Freunde, wegs nur dort. Die Mehrzahl der regist- reicht haben. Ich glaube ebenso an den zum jüdischen Neu- rierten Fälle und Täter ließen sich poli- Zusammenhalt und die innere Stärke der jahrsfest Rosh Hasha- tisch nicht klar zuordnen. Wir beobach- jüdischen Gemeinden in Bayern, die be- nah sende ich Ihnen ten, wie sich eine ohnehin schwierige reits zahlreiche Krisen überstehen muss- meine besten Wün- Situation gegenwärtig verschärft; Juden ten und überstanden haben. Wir, das Ge- sche und Grüße. Auch fühlen sich auch in Bayern angefeindet neralkonsulat und Israel, stehen zusam- dieses Jahr, das uns und sogar bedroht. men an der Seite der Jüdischen Gemein- vor außergewöhnliche Was können wir tun? Und wieviel können den, als eng verbündete Partner im ge- Herausforderungen stellt, gab Anlass auch die Gemeinden und Individuen über- meinsamen Kampf gegen den Antisemi- zum Feiern. haupt tun, um sich den Anfeindungen zu tismus. Vor 55 Jahren, am 12. Mai 1965, nahmen erwehren? Auf welcher Grundlage kann Zum Neujahrfest möchte ich deswegen Israel und Deutschland diplomatische Be- man mit Antisemiten argumentieren, die auch zuversichtlich in das kommende ziehungen miteinander auf, die heute so ihrerseits keine Fakten für Ihre Verschwö- Jahr blicken in der Hoffnung, dass wir eng und vielfältig sind wie nie zuvor. rungstheorien benötigen? Gesellschaft- auch aus diesen Herausforderungen ge- Zahlreiche Veranstaltungen und Initia- licher Zusammenhalt und Empathie las- stärkt hervorgehen können, wenn wir sie tiven begehen das Jubiläum feierlich, sen sich schwerlich politisch verordnen, gemeinsam konfrontieren und bewälti- auch viele jüdische Gemeinden hier in Vorurteile werden früh, im familiären gen. Bayern engagieren sich für die deutsch- und Freundeskreis eingeübt und fest ver- In diesem Sinne wünsche Ich Ihnen und israelische Freundschaft und machen ankert. Wohl aber kann früh gegenge- Ihren Familien ein süßes, glückliches, ein ihre Verbindung zu Israel sichtbar. steuert werden, durch schulische, aber gesundes und erfülltes Jahr 5781. Dieses Engagement ist nicht selbstver- auch außerschulische Bildung eines zivi- ständlich, denn es ist nicht immer leicht. lisatorischen Bewusstseins und einer de- SHANA TOVA U-METUKA. Mit Sorge blicken wir derzeit auf die mokratischen Haltung. Durch Begegnun- KETIVA VE-CHATIMA TOVA! jüngsten gesellschaftlichen und politi- gen und den Dialog gesellschaftlicher schen Entwicklungen, die nicht zuletzt Gruppen die Vorurteile mit der Realität durch die Corona-Krise verstärkt wurden. konfrontieren. Verschwörungstheorien gegen Juden und Ich vertraue den starken gesellschaft- gegen Israel finden immer weitere Ver- lichen und politischen Institutionen hier Sandra Simovich, Generalkonsulin breitung, sei es im Netz oder auf der in Bayern, die bereits vieles bei der Be- des Staates Israel in Süddeutschland Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 9
K U LT U R Museum und Corona AUGSBURG. Covid-19 hat das Jüdische die Hälfte der jährlichen Besucher, und angestoßenen Erneuerungsprozess wei- Museum Augsburg Schwaben wie jede der Erwachsenenführungen macht dem ter voranzutreiben. andere Kulturinstitution stark getroffen. Museum wirtschaftlich schwer zu schaf- Am 16. März wurden beide Museums- fen. Neben der inhaltlichen Arbeit, die in standorte und alle Veranstaltungen ab- diesem und kommenden Jahr unter dem gesagt, das Team ins Homeoffice ge- Dennoch bleibt das Museum optimistisch. Thema „Feminismus“ steht, gehören zu schickt. Am 18. Mai öffnete das Mu- Die Ausstellung „Die unsichtbare Frau“ in dieser Erneuerung auch ein komplett seum wieder unter Einhaltung der vor- der Ehemaligen Synagoge Kriegshaber neues Erscheinungsbild und der Ausbau geschriebenen Hygiene-Maßnahmen. Füh- und die Intervention „Unsere Werte“ in des digitalen Museums. Die beiden Stand- rungen können jetzt nur für fünf Perso- der Dauerausstellung konnten im kleinen orte Innenstadt und Ehemalige Synagoge nen stattfinden, und gerade der Wegfall Rahmen eröffnet werden. Zugleich wur- Kriegshaber wurden gescannt, man kann der Schulklassen, immerhin betrifft das de die Zeit intensiv genutzt, um den 2019 sie nun in einer 3D-Tour selbst virtuell er- kunden. Auch die Präsenz des Museums auf Facebook und Instagram konnte neu gestaltet werden. Die Social Media waren schon vor Corona eine wichtige Möglich- keit, um mit den Besuchern zu kommuni- zieren. Mit dem Wegfall der direkten Kommuni- kation beim Museumsbesuch oder bei Ver- anstaltungen wurden diese Kanäle umso wichtiger. Die Lesung von Erinnerungen Augsburger Juden, die als US-Soldaten in ihre „Heimat“-Stadt zurückkehrten, wur- de in der Ehemaligen Synagoge Kriegs- haber aufgezeichnet und ist auf dem You- Tube-Kanal des Museums abrufbar. Bei den Aufrufen wird eine Besonderheit des Museums deutlich. Fast 40% der Zuschauer haben das Video mit engli- schen Untertiteln angesehen. Zu verdan- ken ist das wohl den in aller Welt leben- den Nachkommen „Augsburger Juden“, mit denen das Museum gute Kontakte pflegt. Alle Links zu den digitalen Medien auf www.jkmas.de. bere. Mother Boyle AUGSBURG. Gert Boyle in Portland, USA, nähte das erste Exemplar selbst auf ihrer Nähmaschine. Ihre neue Weste für Angler hatte ganz viele kleine Taschen und war damit sehr praktisch. Die „Erfinderin“ die- ser neuartigen Bekleidung, die am 6. März 1924 in Augsburg geborene Gertrud Lam- fromm, wuchs mit ihren Schwestern Hilde- gard und Eva in der Werderstraße 16, im bürgerlichen Bismarckviertel auf. Ihr Vater Paul Lamfromm war Mitinhaber der „Wäschefabriken Augsburg AG“, eine der damals größten Wäschefabriken Süd- deutschlands. Mit den Nazis begann 1933 die schrittweise Entrechtung der Juden, und auch Paul Lamfromm war mit seiner Facebook: Eröffnung der Ausstellung „Die unsichtbare Frau“ in kleinem Rahmen im Juni. Familie betroffen. 1937 konnten sie mit © JMAS Hilfe einer Bürgschaft von Verwandten in 10 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
Amerika in die USA fliehen. Der NS-Staat bürgerte die Familie am 6. Oktober 1939 aus. Paul Lamfromm kaufte in Portland eine kleine Hutfabrik und nannte sie nach dem dortigen Fluss „Columbia Hat Com- pany“. Seine Frau und die Töchter waren auch in der Firma tätig, und Gertrud studierte noch Soziologie in Arizona. 1948 heiratete sie Neal Boyle, der auch in die väterliche Firma eintrat. Später wurde die Produktion auf Outdoor-Beklei- dung umgestellt und der Name in „Colum- bia Sportswear Company“ geändert. Mit der Weste für Fischer wurde die „Colum- bia Sportswear Company“ dann berühmt. Paul Lamfromm starb 1964, ihr Mann Neal Boyle, mit dem sie drei Kinder hatte, 1970. Gert Boyle übernahm mit ihrem Sohn Tim die Firma und baute sie zu einer Weltmarke für Outdoor-Kleidung aus. Sie leitete die Geschäfte bis 1988 und Familie Lamfromm, Ausflug 1935 nach Bad Wörishofen. Foto: JMAS/Eva Lamfromm Labby wurde in den 1980er Jahren, auch als Wackelfigur „Mother Boyle“ (siehe dazu das Foto auf der letzten Umschlagseite) die das Museum bis zum 11. April 2021 tätigkeit und Gerechtigkeit. Die Mother und als „Tough Mother“ zur Werbeikone. in der Dauerausstellung zeigt. Das neue Boyle-Geschichte steht in der Interven- 2005 erschien ihre Autobiografie „One Ausstellungformat „Intervention“ versteht tion für die „Gleichberechtigung“ und für Tough Mother. Success in Life, Business sich als ein „Hinzufügen“ zu einer be- die „starke Frau“. Benno Reicher and Apple Pies”. Gert Boyle starb am stehenden Ausstellung. Sie wird dadurch 3. November 2019 im Alter von 95 Jahren. neu kommentiert, hinterfragt oder auch Bis zu ihrem Tod blieb sie die Vorsitzende berichtigt. Die neue Gestaltung könnte des Aufsichtsrates. auch eine andere Wahrnehmung der Aus- stellung bewirken. Ihre Schwester Eva Lamfromm besuchte 2011 das Jüdische Museum Augsburg und „Die Intervention hat ihre eigene Erzäh- erzählte in der vom Museum und dem lung, sie bietet aber auch die Möglichkeit, Sensemble Theater organisierten Reihe die Dauerausstellung neu zu betrachten LEBENSLINIEN ihre Familiengeschichte. oder Überlegungen mit in den eigenen Daraus entstand danach die im Museum Alltag zu nehmen“, schreibt das Museum erhältliche Publikation „… wie glücklich in einer dazugehörigen Publikation. Mit können wir sein, dass die Kinder in Sicher- „wechselnden“ Exponaten in der Dauer- heit sind. Der Weg der Familie Lamfromm ausstellung kann das Museum auch auf aus Augsburg“. „wechselnde“ Werte verweisen. Die Lamfromm-Familiengeschichte mit Inhaltlich bezieht sich die Intervention der Wackelfigur „Mother Boyle“ gehört auf die „Gemeinsamen Werte“ Gemein- Gert Boyle als Titelbild der Zeitschrift auch zur „Intervention UNSERE WERTE“, schaft, Familie, Gleichberechtigung, Wohl- Women. Foto: JMAS Firmenanzeige. Foto: Columbia Sportswear Company Intervention UNSERE WERTE. Foto: JMAS Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020 11
L’Chaim Von Miryam Gümbel FÜRTH. Noch bis zum 10. Januar 2021 Diese Relation verdeutlicht, dass Juden umso eindringlicher, wie es ihr in Berlin zeigt das Jüdische Museum Franken in und Judentum weitgehend unbekannt kurz vor dem Abitur ergangen ist: „Ich Fürth eine ganz besondere Ausstellung sind. „Die Ausstellung soll das ändern“, war nachher die einzige Jüdin auf der mit dem Titel „L’Chaim. Auf das Leben. unterstreicht Zentralrats-Präsident Josef Schule, und da sagte dann mein Klassen- Die Vielfalt jüdischen Lebens entdecken“. Schuster im Grußwort des Katalogs: „Sie lehrer, der reinkam, Inge, wir dürfen kein Das Projekt ist in mehrfacher Hinsicht zeigt anhand verschiedener Biografien jüdisches Kind mehr auf der Schule ha- außergewöhnlich. Schon von der Art der von Jung bis Alt wie divers jüdisches ben. Ich hab natürlich Koffer gepackt und Präsentation weicht es von gewohnten Leben heutzutage ist. Sind alle Juden reli- Mappe gepackt und geflennt. 39 hätte ich Ausstellungsformaten ab. Die Exponate giös? Wie leben sie ihr Judentum aus? Abitur gemacht.“ sind digital, die Räume mit Monitoren Was ist jüdische Kultur?“ Die Videostationen, die sich im Unter- und Lautsprechern, beziehungsweise An- Die ausgewählten Frauen und Männer geschoss des Museums fortsetzen, sind schlüssen für Kopfhörer ausgestattet. geben dabei ganz individuelle Antwor- gegliedert nach den Themenbereichen Bunte Sitzwürfel vor den einzelnen Screens ten, so vielfältig, wie die jeweiligen Leben Jüdisches Leben heute, Vielfalt religiöser erlauben dem Besucher eine entspannte sind. Da geht es ebenso humorvoll ab wie Richtungen des Judentums in Deutsch- Konzentration auf die Inhalte der einzel- ernst, Erfahrungen werden berichtet, land nach 1945, Jüdische Identität, Per- nen Stationen. Situationen geschildert. Auf die Vergan- sönliche Einblicke. Das einzige nicht digitale Objekt ist eine genheit wird eindrucksvoll eingegangen, Der Kurator der Ausstellung, Joachim Sein- Infotafel mit den einzelnen Protagonisten ohne Anklage, ohne erhobenen Zeigefin- feld, Jahrgang 1962, hat Malerei studiert. des Projekts, Berliner aller Altersgruppen ger. Da ist zum Beispiel Avraham Kotljar, Der Träger des Augsburger Heinrich-Hei- und verschiedener Provenienz, sämtlich der in Taschkent zur Welt kam und als ne-Preises war unter anderem 1994–95 jüdische Menschen, die aus und über ihr Kind nicht verstanden hat, wenn ihn für das Tempus-Projekt „Civil Society and Leben erzählen. Mit einem großen an seine religiöse Babuschka immer rüde Social Change in Europe after Auschwitz“ eine Wand projizierten Film wird zudem weggeschickt hat, wenn er hebräische tätig. Seit 2016 arbeitet er für die Kreuz- über die verschiedenen Berliner Syna- Buchstaben sehen wollte. „Als ich groß berger Initiative gegen Antisemitismus gogen und Bethäuser berichtet. An allen war, konnte ich verstehen, warum sie so und für die gezeigte Ausstellung. anderen Stationen kann der Besucher reagierte. Sie hat Angst gehabt.“ Als Wanderausstellung ist sie im Jüdi- sich individuell den Video-Berichten wid- Zu den besonders eindrucksvollen Schil- schen Museum Franken das erste Mal in men. derungen der Nazizeit in Deutschland Bayern zu sehen. Eine Besonderheit hier: Eine weitere Besonderheit ist die Wahl- gehört die kurze Schilderung von Inge Die regionalen Aspekte jüdischen Lebens möglichkeit der Sprachen: Deutsch, Eng- Marcus. 1922 in Berlin-Steglitz geboren, kann der Besucher im Fürther Museum lisch – und Arabisch. Das Ziel des Aus- schickten sie ihre Eltern kurz vor dem erleben. Dafür wurden Juden aus Nürn- stellungsbesuches soll sein, jüdisches Le- Abitur nach Großbritannien, wie in dem berg und Fürth interviewt, darunter auch ben kennenzulernen, das Leben einer Begleitheft zu erfahren ist. 1947 ging sie der Fürther Rabbiner Jochanan Guggen- Minderheit, die in Zahlen ausgedrückt nach Paris, heiratete dort ihre Berliner heim, die gebürtige Ansbacherin Ruth nicht einmal 0,2 Prozent der deutschen Jugendliebe. Die junge Familie kehrte Ceslanski, Vorsitzende der Nürnberger Bevölkerung ausmacht. 1951 nach Berlin zurück, wo sie sich im Gesellschaft für christlich-jüdische Zu- jüdischen Gemeindeleben und in der sammenarbeit, die Studentin Lena Pry- WIZO engagierte. 2017 starb sie im Alter tula und der aus der ehemaligen Sowjet- Museum Franken von 95 Jahren in Berlin. union stammende Religionslehrer Ger- Während der Corona-Pandemie hat das Sie berichtet im Video sachlich und damit man Djanatliev. Jüdische Museum Franken und das Mary S. Rosenberg Café in Fürth von Donnerstag bis Sonntag, von 10 Uhr bis 17 Uhr geöffnet. Zur Wechselaus- stellung können Besucher*innen ihren eigenen Kopfhörer mitnehmen (An- schluss mit 3,5 mm Klinke) und in der Ausstellung benutzen. Jeden ersten Sonntag im Monat, um 14 Uhr, werden an allen drei Stand- orten des Jüdischen Museums Franken, in Fürth, Schnaittach und Schwabach, Stadtführungen oder Führungen über die Jüdischen Friedhöfe angeboten. Im Museum und zu den Stadtführun- gen gelten Maskenpflicht und die üb- lichen Abstandsregeln. Jüdisches Museum Franken in Fürth, Königstraße 89, Telefon 0911-950 9880, geöffnet Do–So 10–17 Uhr info@juedisches-museum.org www.juedisches-museum.org. Blick in die Fürther Ausstellung. Foto: KIgA Boris Bocheinski 12 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
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