JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...

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JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
M I T T E I L U N G S B L AT T D E S L A N D E S V E R B A N D E S I S R A E L I T I S C H E R K U LT U S G E M E I N D E N I N B AY E R N

35. JAHRGANG / NR. 142                                  à“ôùú äðùä ùàø                                                18. SEPTEMBER 2020

                                          åáúëú äáåè äðùì
                                                                                                      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020   1
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
Der Landesverband
                                                  Israelitischer Kultusgemeinden in Bayern
                                                                   wünscht

                                                     zum Neujahrsfest 5781

                                                  dem Staat Israel,
                             seiner diplomatischen Vertretung in der Bundesrepublik,
                                   der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland,
                                                 den Rabbinern und
                                          allen Mitgliedern der Gemeinden
                                     ein gesundes Jahr voll Frieden und Segen!

                                                           Dr. Josef Schuster
                                                                  Präsident
                  Ilse Danziger                                                              Anna Zisler
                    Vizepräsidentin                                                          Vizepräsidentin
                                                              Karin Offman
                                                              Geschäftsführerin

                                     ST OL PE R ST E I N E I N M I LT E N BE RG

                                                                OSKAR MORITZ
            ROSA MORITZ
                                                                   JG. 1887                         MANFRED MORITZ
          GEB. KÖNIGSBERGER
                                                               VERHAFTET 1933                           JG. 1921
                JG. 1892
                                                                   DACHAU                           DEPORTIERT 1941
           DEPORTIERT 1942
                                                               DEPORTIERT 1942                           RIGA
             KRASNICZYN
                                                                 KRASNICZYN                           ERMORDET
              ERMORDET
                                                                  ERMORDET

Unser Titelbild: „Ungewissheit“, Kofferbild Acryl 100 x 70 cm, Marion Bathen 2011 (siehe dazu auch den Beitrag auf Seite 30).

Bilder Rückseite: Nr. 1: Einweihung einer neuen Tora in Berlin. Aus der Ausstellung – L’Chaim, Jüdisches Museum Franken,
Foto: KIgA. Nr. 2: Wackelfigur Mother Boyle, Intervention Museum Augsburg, Foto: JKMAS. Nr. 3: Tag der Befreiung in München,
Foto: Rainer Butzmann. Nr. 4: Die Alte Synagoge in Kitzingen. Foto: Förderverein ehemalige Synagoge Kitzingen. Nr. 5: Gymnastik-
gruppe Gemeinde Bamberg. Nr. 6: Pessach-Paket Gemeinde Amberg.

2      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
EDI TOR I A L

Liebe Leserinnen, liebe Leser,                                                                                           gebot beachten. Andere Gemeinden mit
                                                                                                                         den passenden Räumlichkeiten machen
zur Pessach-Haggada gehört die Kindes-                                                                                   das auch.
frage „Was ist an diesem Abend anders
als sonst?“ Jetzt, in Corona-Zeiten, ist das                                                                             Auch das sorgfältige Händewaschen und
keine rhetorische Frage. Unsere Hohen                                                                                    das Tragen von Alltagsmasken sollte nicht
Feiertage in diesen Wochen können in                                                                                     wirklich ein Problem sein, wenn es um
den Synagogen nicht wie gewohnt durch-                                                                                   Verantwortung für die Gesundheit der
geführt werden. Hier in Würzburg, aber                                                                                   Mitmenschen geht.
auch in anderen Orten, hat sich gerade
die Situation durch gestiegene Infektions-                                                                               Wir werden jetzt nach den Gottesdiens-
zahlen weiter verschärft. Die Stadt hat                                                                                  ten keine Mahlzeiten anbieten und wir
am 11. September eine neue Allgemein-                                                                                    bitten unsere Besucher um vorherige An-
verfügung erlassen, auch „für Privatver-                                                                                 meldung. Wir müssen ja im Infektionsfall
anstaltungen unter freiem Himmel und                                                                                     die Kontakte angeben können. Alles das
in geschlossenen Räumen“.                                                                                                ist notwendig, um ein hohes Maß an
                                                                                                                         Gesundheitsschutz unserer Mitglieder und
Anders als zu Pessach können wir jetzt                                                                                   Mitmenschen zu ermöglichen. Auch in
aber unter klar geregelten „Hygiene-Be-                                                                                  den anderen Gemeinden wird es ähnliche
dingungen“ Gottesdienste durchführen.                                                                                    Schutzmaßnahmen geben und ich weiß,
Ich bin unseren Gemeinden sehr dank-                                                                                     dass meine Vorstandskollegen in den baye-
bar, dass sie in der Lockdown-Zeit viel                                                                                  rischen jüdischen Gemeinden höchst ver-
Kreativität entwickelt hatten, sich um                                                                                   antwortlich mit der Situation umgehen.
ihre Mitglieder zu kümmern. Statt des
gemeinsamen Gemeinde-Seders zu Pes-                         Weil die verantwortlichen Institutionen,                     Ich werde als Arzt oft gefragt, wann es
sach brachten viele Gemeinden ihren                         die zuständigen Wissenschaftler und die                      wieder normal würde. Dann muss ich
Mitgliedern „Pessach-Pakete“ nach Hau-                      Bürgerinnen und Bürger, jedenfalls mehr                      sagen: In der Pandemie ist das normal
se, mit unterschiedlichen Inhalten. Aber                    als 90 % von ihnen, gelernt haben, mit                       und es schützt uns.
immer waren Matzen dabei, auch Matze-                       der Pandemie zu leben, sind wir jetzt in ei-
mehl, auch Pessach-Wein und häufig                          ner besseren Situation. Deshalb müssen                       Bleiben Sie gesund und achten Sie auf
auch gefillte Fisch und die Pessach-Hag-                    wir, trotz gerade steigender Fallzahlen,                     sich, auf Ihre Familie und auf alle Men-
gada.                                                       unsere Gemeinden jetzt nicht komplett                        schen in Ihrer Umgebung.
                                                            schließen. Aber wir müssen uns schützen.
Es gab auch individuelle soziale Betreu-                                                                                 Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und
ungen von Mitgliedern im hohen Alter,                       Um den Fortschritt nicht zu gefährden,                       Leser, ein gutes und gesundes neues Jahr
Besuche und Versorgungen mit Lebens-                        ist es wichtig, sich nach der „AHA-For-                      5781.
mitteln. Und einige Rabbiner meldeten                       mel“ zu richten: Abstand, Hygiene, All-                                   SCHANA TOWA
sich über das Internet oder telefonisch zu                  tagsmasken. So sorgen wir für möglichst                      Ihr
besonderen Anlässen, von der Paraschat                      viel Schutz bei möglichst viel Normalität.
HaSchawua bis zur Hawdala über Zoom.                        In unserer Würzburger Gemeinde haben                                 Dr. Josef Schuster
In den Berichten aus den Gemeinden ab                       wir deshalb alle Gottesdienste an den                                          Präsident
Seite 40 finden Sie einige interessante                     Feiertagen in den großen David-Schuster-                     des Zentralrats der Juden in Deutschland und
Beiträge dazu.                                              Saal verlegt. So können wir das Abstands-                       des Landesverbandes der IKG in Bayern

  Rosch Haschana 5781                                       Nachrichten aus Frankreich                                   IMPR ESSUM
                                                            Von Gaby Pagener-Neu . . . . . . . . . . . . 22              JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN
  Von Landesrabbiner Dr. Joel Berger . . 4
                                                                                                                         erscheint im April zu Pessach, im September
  Zwei Ziegenböcke                                          Gedenken                                                     zu Rosch Haschana, im Dezember zu
  Von Yizhak Ahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5    Neues Denkmal in Würzburg                                    Chanukka und in diesem Heft mit Beiträgen
                                                            Von Nathalie Jäger . . . . . . . . . . . . . . . 30          von: Rabbiner Joel Berger, Yizhak Ahren,
                                                                                                                         Roland Flade, Angela Genger, Miryam
  Kultur                                                    Der DenkOrt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33     Gümbel, Daniel Hoffmann, Gaby Pagener-
  Jüdisches Museum Augsburg –                               Avraham Barkai (1921–2020)                                   Neu, Benno Reicher, Monika Richarz, Stefan
  Mother Boyle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10   Ein Nachruf von Monika Richarz . . . 36                      W. Römmelt, Julia Schneidawind und Israel
                                                                                                                         Schwierz.
  Jüdisches Museum Franken – L’Chaim                        Bayern                                                       Redaktionsleitung: Benno Reicher,
  Von Miryam Gümbel . . . . . . . . . . . . . . 12                                                                       redaktion@berejournal.de
                                                            Würzburger Gemeinde-Jubiläen
  Es war einmal in Jerusalem . . . . . . . . 13             Von Stefan W. Römmelt . . . . . . . . . . . 38               www.bayerisch-jüdisch.de
                                                            Antisemitismus melden . . . . . . . . . . . 39               Herausgeber: Landesverband Israelitischer
  Schneeberger ist nach Kitzingen
                                                                                                                         Kultusgemeinden in Bayern K.d.ö.R,
  gewandert                                                                                                              Effnerstraße 68, 81925 München
  Von Benno Reicher . . . . . . . . . . . . . . . 15        Aus den jüdischen Gemeinden
                                                            in Bayern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40   Gesamtherstellung: Druckerei Höhn,
  Von Würzburg nach Hollywood                                                                                            Inh. Martin Höhn, Gottlieb-Daimler-Str. 14,
  Von Roland Flade . . . . . . . . . . . . . . . . . 16     Buchbesprechungen . . . . . . . . . . . . . 50               69514 Laudenbach

                                                                                                                                Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020   3
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
R O S C H H A S C H A N A 57 81

                                                  Rosch Haschana 5781/2020
                                                   Von Landesrabbiner a.D. Dr. Joel Berger

                                                      soph, Rechtsgelehrter und Arzt im 12. Jahr-   das den Schofarton versteht, oh Herr, im
                                                      hundert war, betont, dass man den Men-        Lichte Deines Angesichts wandeln sie.“
                                                      schen daran erkennen sollte, dass er seine
                                                      Fehler und Verfehlungen vor Gott be-          Den Mittelpunkt der synagogalen Litur-
                                                      kennt und dann auch zur Umkehr bereit         gie des Rosch-Haschana-Tages bildet die
                                                      ist.                                          Zeremonie des Schofarblasens. Das Er-
                                                                                                    tönen des Schofars hatte eine vielseitige
                                                      Unsere Meister der Lehre wollten die          Funktion: Es kündigte in der biblischen
                                                      Teschuwa an der Schwelle eines Neuen          Zeit den Ruf zu den Waffen an und war
                                                      Jahres nicht als so eine exakte Pflichter-    auch der Alarm vor jeglichen Bedrohun-
                                                      füllung wissen, wie z.B. die Einhaltung       gen. Der Schall des Schofars gab in Frie-
                                                      der Gebote des Schabbats, der Kaschrut        denszeiten der Gemeinschaft das Signal
                                                      oder sogar der Nächstenliebe. Sie wollten     sich zu versammeln. Vor allem aber er-
                                                      zum Ausdruck bringen, dass die Teschu-        innern die Töne des Schofar an die Offen-
                                                      wa alle Bereiche des Lebens umfasst. In       barung am Berge Sinai. Damals erklang
                                                      den „Sprüchen der Väter“, den Pirke           der Schofar aus einer dichten Wolke her-
Rabbiner Joel Berger                                  Awot, den Lehrensammlungen und Aus-           aus und ließ die Israeliten vor Ehrfurcht
                                                      sagen ethischer Maximen verschiedener         erzittern. Und solch ein Klang wird auch
Rosch Haschana, der Name des Festes                   früherer Gelehrten, werden wir ermahnt:       eines Tages die messianische Zeit verkün-
bedeutet Haupt des Jahres, ist der erste              „Kehre einen Tag vor deinem Tode um.“         den. Der Schall des Schofars symbolisiert
und auch der zweite Tag des jüdischen                 (Spr.d. Väter 2:10) Da aber niemand sei-      die Seele unseres Volkes. Er drückt so-
Kalenderjahres. Das Fest dauert sowohl                nen Todestag im Voraus kennt, solle man       wohl unsere Verzweiflung, aber auch un-
im wie auch außerhalb des Heiligen Lan-               zeitlebens zur Umkehr bereit sein.            sere Buße, unsere Hoffnung und unsere
des zwei Tage. In der Tora ist über Rosch                                                           vertrauensvolle Erwartung aus.
Haschana folgendes zu lesen: „Im sieben-              Den Menschen, der in seinem täglichen
ten Monat, am ersten Monatstag, sei für               Leben stets zur Teschuwa bereit ist, den      Die im Rosch-Haschana-Talmud-Traktat
euch ein besonders feierlicher Ruhetag,               nannten die Weisen „Baal Teschuwa“. Der       zusammengefassten Diskussionen unse-
mahnendes Hörnerblasen und heilige                    Begriff bedeutet: ein Mensch, der die         rer Weisen haben zu sehr genauen Vor-
Versammlung. Da dürft ihr keinerlei                   Bereitschaft entwickelt, seine Fehler zu      schriften hinsichtlich der Strukturierung
Arbeit tun und sollt dem Herrn ein Brand-             bereuen und einen neuen Weg einzu-            des Schofarblasens geführt. Während des
opfer darbringen.“ (3.B.M. 23: 24–25)                 schlagen. Dieser ist aber keineswegs ein      gesamten Rosch-Haschana-Gottesdiens-
                                                      Heiliger oder ein Zaddik, ein Gerechter,      tes wird der Schofar in einer festgelegten
Infolge der Zerstörung des Tempels in                 sondern vielleicht eher ein Chassid, ein      Reihenfolge geblasen, was insgesamt zu
Jerusalem im Jahre 70 n.d.Z. ist seit der             Frommer. Unsere Ahnen erkannten in            100 Klängen führt. In jedem Zyklus folgt
nachbiblischen Zeit kein Tempelopfer                  dieser menschlichen Haltung die Ver-          auf „Tekia“ ein langer Klang, der ur-
mehr möglich. So wandelte sich auch der               wirklichung der Lehre des Meisters Mai-       sprünglich im Kampf als Ruf zu den
Inhalt des Festes unter Mitwirkung un-                monides: „Da jeder Mensch über sich           Waffen verwendet wurde und der galop-
serer Schriftgelehrten. Der Inhalt dieser             selbst bestimmt“, wir würden sagen, je-       pierende Ton „Schewarim“ (wörtlich: „ge-
Festtage ist in unserer Zeit der Mitmensch-           der von uns die freie Willensentschei-        brochen“), das sind drei schluchzende
lichkeit gewidmet. Die Umkehr und die                 dung besitzt, „bemühe sich der Mensch         Klänge, die uns an unsere Verfehlungen
Reue der eigenen Missetaten stehen im                 Teschuwa zu tun, um sich seiner Ver-          erinnern. Dann kommt die „Terua“, neun
Mittelpunkt dieser ernsten Tage. Viele                fehlungen zu entledigen.“ (H. Tschuwa         kurze Stakkato-Klänge. Und der Zyklus
von uns verbringen den letzten Monat des              7:1)                                          des Blasens endet mit der langen, klagen-
Jahres vor Rosch Haschana, den Monat                                                                den „Tekia Gedola“, dem geraden „langen
Elul, im Gebet und in der Vorbereitung                Das Gebot der Tora schreibt uns für die       Ton“.
auf die Hohen Feiertage Rosch Haschana                Tage des Neujahrsfestes vor, in den Scho-
und Jom Kippur. Während dieser Zeit                   far, das aus dem Widderhorn gefertigte        Die Rosch-Haschana-Tage gelten als die
wollen wir vergangene Fehler wieder                   Naturinstrument, zu blasen. Der Prophet       Gerichtstage des Herrn über uns. Unsere
gut machen und unser Herz Gott zu-                    Amos, der im 8. Jahrhundert v.d.Z. lebte,     Handlungen des vergangenen Jahres wer-
wenden.                                               bezeichnete die Töne des Schofar als          den „gewogen“, – und über unsere Zu-
                                                      furchterregend. Diese Furcht treibt jedoch    kunft wird eine Entscheidung getroffen.
Die weisen alten Meister unseres Volkes               die Israeliten zur Reue ihrem Gott gegen-     Die Gleichnisse der Chassidim haben diese
wussten genau, dass sehr oft menschliche              über und zur Vergebung ihrer Nächsten.        „Gerichtsverhandlungen“ mit leicht nach-
Trägheit und Faulheit der Teschuwa, der               In der großen volkstümlichen Bewegung         vollziehbaren, irdischen Motiven und
Umkehr, im Wege stehen können, des-                   der Chassidim im Osten Europas entwar-        Elementen ausgestattet. Eine Gerichts-
halb bemühten sie sich, jedem von uns                 fen die Rabbiner vielerlei Gedanken und       verhandlung auf Erden benötigt einen
auf einfachste und schlichte Art zu erläu-            Lehrbeispiele das Schofarblasen betref-       Ankläger und einen Verteidiger. Die Rolle
tern, wie man diese Umkehr bewerkstelli-              fend. Ihr Ausgangspunkt war eine Aus-         des allmächtigen Richters wird naturge-
gen sollte. Der rationale Gelehrte Ram-               sage des Psalmdichters (89:16), der sinn-     mäß dem Herrn, Gott, übertragen. Der
bam, genannt Maimonides, der Philo-                   gebend verkündete: „Selig ist das Volk,       Ankläger erscheint, gemäß der ursprüng-

4      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
lichen Bedeutung dieses hebräischen            Manchmal nützen die mildernden Um-            gen, wie eifrig wir den Geboten der Tora
Wortes, im Bilde des Satans. Dieser pflegt     stände leider auch nicht. Daher meint der     nachkommen wollen.“ Und ein bekannter
die Israeliten vor dem Stuhl des Richters      Volksglaube, dass das Schofarblasen auch      chassidischer Rabbi ergänzte noch: „Wir
anzugreifen: Sie halten den Schabbat           den Sinn haben könnte, den Satan, den         Menschen auf dieser Erde sind nach so
nicht ein, verletzen die ethischen Verhal-     Ankläger, zu verwirren, damit er seine        vielen Wirren und Leiden oft desorien-
tensgebote des Herrn, sie machen sich          unheilvollen, unheilbringenden Ankla-         tiert. Wir hoffen daher stets auf die Barm-
ihre Götzen.                                   gen nicht zu Ende bringen kann.               herzigkeit Gottes, dass Er gegen uns
                                                                                             Menschen aus Fleisch und Blut keine har-
Die Verteidigung, das sind die Boten des       Raschi (1040–1105), der volkstümliche         ten Klagen gelten lassen wird.“ Deshalb
Herrn, bemühen sich, die Anklagen zu           Kommentator, der eine Weile in Worms          werden die von der Tora vorgeschrie-
widerlegen und zu entkräften. Jedoch           wirkte, fügte noch hinzu: „Man muss mit       benen Schofartöne den Ankläger des
müssen manche harten Fakten der An-            den für Rosch Haschana angeordneten           Volksglaubens, den Satan, verstummen
kläger sie in die Verzweiflung treiben.        hundert Schofartönen dem Ankläger zei-        lassen.

                                                  Zwei Ziegenböcke
                                    Eine Betrachtung zu Jom Kippur von Yizhak Ahren

Seit der Zerstörung des Heiligtums zu          darf der Erklärung: Was für ein Inte-         ordnungen übet und meine Gesetze
Jerusalem dürfen die in der Tora im Wo-        resse könnte der Kohen Gadol haben, um        hütet, um in ihnen zu wandeln“ (3. Buch
chenabschnitt Pinchas vorgeschriebenen         das Ergebnis der Auslosung zu manipu-         Mose 18,4). Was sind Rechtsordnungen,
täglichen Tieropfer nicht dargebracht          lieren? Es dürfte ihm doch völlig egal        Mischpatim? „Das sind diejenigen Ge-
werden und der Hohepriester, der Kohen         sein, welcher Bock wo landet. Raschi          setze, die, wenn sie nicht geschrieben
Gadol, kann am Jom Kippur seinen im            erläutert die Antwort des Talmuds: Ohne       worden wären, sie doch geschrieben
Wochenabschnitt Achre Mot (3. Buch             Umrühren in der Urne könnte der Kohen         werden müssten: Verbote von Götzen-
Mose, Kap. 16) beschriebenen Dienst, Avo-      Gadol die Wahl dahingehend beeinflus-         dienst, Unzucht, Blutvergießen, Raub und
da, nicht mehr verrichten. In Vergessen-       sen, dass das Los ,für Gott‘ in seiner        Lästerung des göttlichen Namens.“ Was
heit geraten sind die im Heiligtum prakti-     Rechten landet – dies wäre ein gutes          sind Gesetze, Chukim? „Das sind diejeni-
zierten Rituale aber nicht: Im Mussaf-Ge-      Zeichen!                                      gen Vorschriften, gegen die Satan und die
bet erwähnen jüdische Beter an jedem                                                         Völker der Welt Einwendungen erheben:
Schabbat und an jedem der biblischen Fei-      Durch diese Erläuterung begreifen wir,        Essen von Schweinefleisch, Tragen von
ertage, was im Zeitalter des Tempels an        dass es bei der Lose-Zeremonie nicht nur      Mischgewebe, die Chaliza an der Schwä-
diesem Tag dort gemacht wurde.                 darum ging, das Schicksal der zwei            gerin, die Reinigung der Aussätzigen, der
                                               Ziegenböcke festzulegen. Die Zuschauer        fortzuschickende Bock.“ (Joma 67b)
Ein fester Bestandteil der Avoda am Jom        achteten auf Zeichen und Wunder! Von
Kippur war die feierliche Zeremonie, bei       einem Wunder kann deshalb die Rede            Das Sündenbock-Ritual zählt also zu den
der der Kohen Gadol zwei Lose zog, die         sein, weil im Talmud berichtet wird:          Chukim. Warum der Ewige dieses Gebot
über das Schicksal der zwei Ziegenböcke        „Während der 40 Amtsjahre Simon des           erlassen hat, wissen wir nicht, denn die
entschieden, die sich im Vorhof befanden       Gerechten geriet das Los ,für Gott‘ stets     Tora hat uns keine Begründung gegeben.
(Joma 37a). Ein Bock wurde im Heilig-          in die Rechte; von dann ab geriet es          Wohl aber können wir uns mit der nahe-
tum als Sündopfer, Chatat, dargebracht;        zuweilen in die Rechte und zuweilen           liegenden Frage beschäftigen: Was lehrt
der zweite Bock, oft Sündenbock genannt,       in die Linke. 40 Jahre vor der Zerstörung     uns das Ritual mit den zwei Ziegen-
wurde kurze Zeit danach in die Wüste           des Heiligtums geriet das Los ,für Gott‘      böcken? Eine symbolische Deutung des
fortgeschickt.                                 niemals in die Rechte.“ (Joma 39a und b)      Zeremoniells hat Don Yizhak Abravanel
                                                                                             (1437–1509) in seinem Tora-Kommentar
Wie die Auslosung erfolgte, schildert die      Dass der Kohen Gadol 40 Jahre hinter-         vorgeschlagen.
Mischna wie folgt: „Der Kohen Gadol            einander dasselbe Los in die rechte Hand
rührte in der Urne um und holte die zwei       bekommt, ist so unwahrscheinlich, dass        Nach Abravanels Meinung sind beide
Lose hervor. Auf dem einen Los stand ,für      sogar Skeptiker die Erscheinung eines         Ziegenböcke ein Hinweis auf das Volk
Gott‘, auf dem anderen stand ,für Azazel‘.     Wunders nicht bestreiten werden. Der          Israel. Sie symbolisieren die Alternative,
Der Priesterpräses stand zu seiner Rech-       israelische Mathematiker Eli Merzbach         vor der Israel steht: der Bock, der im Hei-
ten und der Obmann der Familienwache           hat die statistische Wahrscheinlichkeit bei   ligtum als Opfer dargebracht wird, steht
zu seiner Linken. Geriet das Los ,für Gott‘    der Auslosung am Versöhnungstag durch         für eine Lebensführung gemäß den An-
in seine Rechte, so sprach der Priester-       das folgende Beispiel verdeutlicht: Würde     weisungen des Ewigen, die zu einer An-
präses zu ihm: Kohen Gadol, erhebe Dei-        der Kohen Gadol nicht nur am Jom Kippur       näherung an Gott führt; wandelt Israel
ne Rechte; geriet das Los ,für Gott‘ in sei-   Lose ziehen, sondern an jedem Tag des         aber nicht auf dem richtigen Weg und
ne Linke, so sprach der Obmann zu ihm:         Jahres, und zwar jeweils nicht nur einmal,    entfernt sich von Gottes Weisungen, so
Kohen Gadol, erhebe Deine Linke. Als-          sondern 1000 Mal – dann bräuchte er nach      wird es fortgeschickt werden wie der
dann legte er die Lose auf beide Ziegen-       dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit 3 Mil-      Sündenbock. Das Ritual am Jom Kippur
böcke“ (Joma 39a).                             lionen Jahre, um dasselbe Ergebnis 40 Mal     erinnert demnach an die uns gegebene
                                               hintereinander zu erzielen.                   Wahlfreiheit und an die Möglichkeit des
Der Talmud will wissen, warum das                                                            Exils.
Umrühren in der Urne notwendig war.            Die Mitzwot der Tora haben unsere Wei-
Die sogleich gegebene Antwort: „damit          sen in Auslegung eines Tora-Verses in         Dass der fortzuschickende Bock das Volk
er nicht ziele und dann hervorhole“ be-        zwei Gruppen eingeteilt: „Meine Rechts-       Israel in einer bestimmten Verfassung

                                                                                                    Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020   5
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
repräsentiert, beweist Abravanel durch
folgenden Vers: „Aharon stützt seine
beiden Hände vereinigt auf den Kopf des
lebendigen Bockes und bekennt auf ihm
alle Sünden der Kinder Israels und alle
ihre Verbrechen in Beziehung zu allen
ihren Verirrungen und gibt sie auf den
Kopf des Bockes und entsendet ihn durch
einen dazu bereiten Mann in die Wüste.“
(3. Buch Mose 16,21) Symbolisierte der
Bock nicht das Volk Israel, so machte das
Stützen der Hände auf den Kopf des Tieres
beim Sündenbekenntnis keinen Sinn.
In seinem Kommentar zum eben zitierten
Vers bemerkt Rabbiner Samson R. Hirsch
(1808–1888), dass bei der Formulierung
,und gibt sie auf den Kopf des Bockes‘
„sicherlich nicht an irgendein magisch-
mystisch konkretes Legen der Sünden auf
das Haupt des Ziegenbocks zu denken ist.
Es heißt nichts anderes, als dass durch
das Sündengeständnis auf das Haupt des
Ziegenbocks dieser lebendige Bock die
verfehlte Lebensrichtung ins Bewusstsein            Der neue jüdische Kalender aus dem Hentrich & Hentrich Verlag enthält 16 Mo-
rufen soll, in welcher alle Sünden, Cha-            nate, von September 2020 bis Dezember 2021. Das ist praktisch, kann man ihn
taim, Verfehlungen, Avonot, und Frevel,             doch noch nach einem Jahr hängen lassen. Er zeigt alle jüdischen Feiertage an,
Peschaim, wurzeln und auf welcher sie               auch alle gesetzlichen Feiertage in Deutschland. Der Wandkalender mit he-
beruhen.“                                           bräisch-deutschen Bezeichnungen für die Monate und Wochentage lässt etwas
                                                    Platz für Notizen. Die Monatsfotos, teilweise von Michaela Weber, sind hervor-
Im Mussaf-Gebet am Jom Kippur rezi-                 ragend. Positiv wäre noch anzumerken: Der Kalender verzichtet vollständig auf
tieren Vorbeter und Gemeinde, was der               die üblichen israelisch-jüdischen Klischee-Bilder. ISBN: 978-3-95565-394-1, 15 €,
Kohen Gadol einmal im Jahr im Heilig-               www.hentrichhentrich.de                                                     bere.
tum sprach: „O Gott! Gesündigt, gefehlt
und gefrevelt hat vor Dir Dein Volk, das
Haus Israel. O bei Deinem heiligen Na-            Kann so etwas möglich sein? Wie bereits      Bock eine Sühne für ganz Israel. Wie ist
men rufe ich: Vergib die Sünden, Ver-             erwähnt, der Sündenbock zählt zu den         unsere Situation heute, die wir die
fehlungen, Frevel, durch die gesündigt,           Chukim. Gegen alle Logik gibt es, wie der    Avoda nur im Gebet erwähnen? Die Ant-
gefehlt, gefrevelt vor Dir Dein Volk, das         vom Kohen Gadol zitierte Vers eindeutig      wort von Moses Maimonides auf diese
Haus Israel! Wie geschrieben steht in der         beweist, am Jom Kippur Sühne sogar für       Frage lautet: „Jetzt, da das Heiligtum
Lehre Mosches, Deines Knechtes, aus               Frevel. Weil im Heiligtum nie ein Chatat-    nicht mehr besteht und der Altar uns
dem Munde Deiner Herrlichkeit: ,Denn              Opfer für absichtlich begangene Untaten      keine Sühne bringen kann, gibt es nur
an diesem Tage wird Er euch sühnen,               dargebracht wurde, durfte der Sünden-        die Umkehr, Teschuva. Die Teschuva
euch zu reinigen von all euren Sünden             bock nicht im Tempel geschlachtet werden     bringt Sühne für alle Gesetzesüber-
vor dem Ewigen‘.“ (3. Buch Mose 16,30)            wie sein Partner bei der Auslosung.          tretungen. Das Wesen des Versöhnungs-
Es ist bemerkenswert, dass es Sühne gibt                                                       tages besteht darin, dass er denen, die
auch für Übertretungen, die mit voller Ab-        Als die Avoda am Jom Kippur noch prak-       umkehren, Sühne bringt.“ (Hilchot Te-
sicht begangen worden sind. Wir staunen:          tiziert wurde, brachte der fortgeschickte    schuva 1,3)

                                  Folgen einer unbeabsichtigten Kränkung
                                                            Von Yizhak Ahren

Tora kann man überall studieren, und              Ehefrau verlässt zusammen mit ihrem          Ehemann also jahrelang in einer anderen
doch hat Rabbi Nehorai empfohlen: „Wan-           Mann die Heimat für die Dauer des            Stadt studieren.
dere nach einem Ort der Torawissen-               Studiums. In der Zeit der Tannaiten
schaft.“ (Sprüche der Väter 4,18). An ei-         und Amoräer gab es diese Möglichkeit         Der Fall von Rav Rechumi, einem baby-
nem solchen Ort wird es hervorragende             offensichtlich nicht. In einer Mischna, in   lonischen Amoräer der vierten Genera-
Lehrer geben und auch gleichstrebende             der es um die ehelichen Pflichten des        tion, ist nur auf dem Hintergrund der
Genossen, mit denen man über den Lehr-            Mannes geht, steht: „Die Jünger dürfen       damaligen Praxis zu verstehen. Seine
stoff diskutieren kann.                           zum Studium der Tora 30 Tage ohne            tragische Geschichte erzählt der Talmud
                                                  Einwilligung fortbleiben.“ (Ketuwot 61b)     in wenigen Zeilen, die erklärungsbedürf-
Was sollte ein Jünger machen, der bereits         Der Talmud will wissen: „Wie lange mit       tig sind: „Rav Rechumi, der bei Raba in
verheiratet ist? In unseren Tagen würde           Einwilligung? So lange er will.“ Wenn        Machoza studierte, pflegte an jedem
man eine einfache Lösung finden. Die              die Frau einverstanden ist, darf der         Rüsttage des Versöhnungstages nach

6      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
JÜDISCHES LEBEN IN BAYERN - Herzlich willkommen auf bayerisch ...
Hause zu gehen. An jenem Tag aber zog         pretation kritisiert die talmudische Er-       nicht wie in den Vorjahren zu Jom Kippur
ihn die Lehre in ihren Bann. Seine Frau       zählung Rav Rechumis unjüdische Hal-           erscheinen werde, vergoss sie eine Träne.
erwartete sein Kommen: Jetzt kommt er!        tung.                                          Wir verstehen, dass Gott den gelehrten
Jetzt kommt er! Er kam nicht. Da ward sie                                                    Mann wegen Verletzung der Gefühle sei-
niedergeschlagen, und eine Träne floss         Eine ganz andere Lesart der Geschichte        ner Gattin bestraft. Aber wir wundern
aus ihrem Auge. Rav Rechumi saß auf           hat Rabbiner Esriel Ariel vorgetragen.         uns. Wurde die Frau, die jetzt ihren Mann
dem Dach des Lehrhauses; da brach das         Seiner Ansicht nach macht gerade Jom           verloren hat, nicht ebenfalls bestraft?
Dach unter ihm zusammen, und er starb.“       Kippur uns darauf aufmerksam, dass die         Rabbiner Chaim Schmulewitsch erklärte,
(Ketuwot 62b)                                 Liebe zu Gott und die Liebe zur Ehefrau        dass man Rav Rechumis Tod keinesfalls
                                              einander ergänzen. Der Kohen Gadol, der        als eine Art Wiedergutmachung ansehen
Es drängen sich sofort mindestens zwei        den Dienst im Heiligtum am Versöh-             darf. Vielmehr zeige der Vorfall in plakati-
Fragen auf. Warum pflegte Rav Rechumi         nungstag zu verrichten hatte, musste un-       ver Weise, dass jede Person, die einen an-
ausgerechnet am Rüsttag von Jom Kippur        bedingt verheiratet sein (Joma 2a). Und        deren Menschen kränkt, automatisch sich
nach Hause zurückzukehren? Bekannt-           die Mischna (Taanit 4,8) berichtet, dass       selbst einen Schaden zufügt! Anzumerken
lich ist, wie die Mischna in Joma (73b)       Jom Kippur als Tag für die Eheanbah-           ist, dass Rabbiner Michael Abraham diese
feststellt, am Versöhnungstag nicht nur       nung gesehen wurde. Rav Rechumis               Deutung des Todes von Rav Rechumi als
das Essen und das Trinken verboten, son-      Termin für seine Rückkehr deutet an,           sehr problematisch bezeichnet hat.
dern auch der eheliche Verkehr. Admiel        dass er die Beziehung zu seiner Frau auf
Kosman hat die kühne These vertreten,         die höchste Stufe stellen wollte, und zwar     Was lehrt uns Rav Rechumis Geschichte,
dass Rav Rechumi von einer christlichen       durch eine Kombination beider Formen           die übrigens von der israelischen Gimzu
Auffassung beeinflusst war, nach der ein      der Liebe. Gescheitert ist Rav Rechumi,        Blues Band als Ballade gesungen wurde?
Mensch Gott nur durch sexuelle Enthalt-       weil er an seinem letzten Tag vor lauter       Dass sogar ein beflissener Tora-Gelehrter
samkeit nahekommen könne. Kosman              Gottes- und Tora-Liebe die menschliche         einen anderen Menschen verletzen kann,
vermutet sogar, dass Rav Rechumi nicht        Seite vergessen hat.                           wenn er nicht sehr achtsam ist. Man kann
nur wegen des bedeutenden Lehrers Raba                                                       gar nicht vorsichtig genug sein! Die Träne
in Machoza lebte, sondern auch deshalb,       Eine andere Frage, die einige Interpreten      der Gekränkten bleibt nicht unbeachtet:
weil er dort ein Leben ohne Geschlechts-      beschäftigt hat, betrifft Rav Rechumis         „Die Pforten der Tränen sind nie ver-
verkehr führen konnte. Nach dieser Inter-     Strafe. Als die Frau begriff, dass ihr Mann    schlossen.“ (Berachot 32b)

G R U S S W O R T E Z U R O S C H H A S C H A N A 57 81

                    Zum Neujahrsfest ei-      sondern ist ein Angriff auf uns alle. Er ist   neue Kraft für die kommenden Heraus-
                    nen herzlichen Gruß       eine Bedrohung unserer freiheitlichen und      forderungen zu schöpfen. Den jüdischen
                    an alle jüdischen Bür-    demokratischen Ordnung. Die Bayerische         Bürgerinnen und Bürgern alles Gute im
                    gerinnen und Bürger       Staatsregierung geht energisch gegen alle      neuen Jahr! Es soll ihnen persönlich Ge-
                    unseres Landes!           Formen dieser menschenverachtenden             sundheit, Glück und viel Erfolg bringen,
                                              Haltung vor. Zugleich sind alle Institu-       aber auch ein gelingendes Zusammen-
                   Sie pflegen ein rei-       tionen und gesellschaftlichen Kräfte auf-      leben ihrer religiösen Gemeinschaft.
                   ches religiöses und        gerufen, diesen Strömungen unmissver-
                   kulturelles Leben und      ständlich Einhalt zu gebieten.
                   nehmen mit ihren Ge-
meinden einen festen Platz inmitten un-       Rosch Haschana ist für die Juden ein Fest
serer Gesellschaft ein. Antisemitismus        der Besinnung und der Einkehr. Es geht         Dr. Markus Söder
richtet sich daher nicht nur gegen sie,       darum, persönliche Bilanz zu ziehen und        Bayerischer Ministerpräsident

                     „Pikuach Nefesch“ –      der Bundesrepublik gestellt – unser Ge-        zu Beginn des Schabbat einen schützen-
                     in gewisser Weise hat    sundheitssystem, unsere Wirtschaft, un-        den Ring um die Synagoge am St.-Jakobs-
                     dieser zentrale jüdi-    sere Gesellschaft.                             Platz in der Landeshauptstadt zu bilden.
                     sche Grundsatz in        Aber es gab im letzten Jahr nicht nur          Ich war dort, um zu zeigen, dass wir zu-
                     den letzten Monaten      Corona. Mit dem bevorstehenden Jom             sammengehören, dass unsere jüdischen
                     auch die bayerische      Kippur rücken schockierende, bedrü-            Bürgerinnen und Bürger im Unterschied
                     und deutsche Politik     ckende, beschämende Erinnerungen ins           zur Vergangenheit nicht mit ihren Sorgen
                     bestimmt. Wir haben      Bewusstsein. Der antisemitische Anschlag       und ihrem Schmerz alleine sind.
                     den Schutz und die       auf die Betenden in der Synagoge in Halle,     In Bayern hat der Schutz der jüdischen
                     Rettung des einzel-      bei dem zwei Menschen ermordet wur-            Menschen und Einrichtungen oberste
nen Lebens allem anderen übergeordnet.        den, hat uns einmal mehr vor Augen             Priorität. Aber auch im Freistaat mussten
Auch das religiöse Leben war davon be-        geführt, wie bedroht das jüdische Leben        wir erkennen, dass wir das historische
troffen. Gottesdienste konnten nicht statt-   hierzulande ist. Mir war es eine Her-          Versprechen „Nie wieder!“ nicht umfas-
finden. Die Synagoge, das Haus der Ver-       zenssache, mich wenige Tage später dem         send halten konnten. Das Gift des Anti-
sammlung, blieb leer. Die Sederabende         Aufruf der damaligen Regionalbischöfin         semitismus wird in unterschiedlichen Ge-
waren stiller als sonst. Corona hat uns vor   Breit-Keßler anzuschließen und mit Hun-        fäßen in den Verkehr gebracht – rechts,
die größte Herausforderung seit Bestehen      derten Münchnerinnen und Münchnern             links, muslimisch, christlich, israelbe-

                                                                                                    Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020   7
zogen, verschwörungsideologisch, ge-              hunderte unsere Kunst und Kultur, un-          musik nicht überhört. Aber ich bin sicher:
schichtsvergessen, revisionistisch, leug-         sere Wirtschaft, unsere Politik, unsere        Die überwältigende Mehrheit in unserem
nend, ignorant, oder „gar nicht so ge-            Wissenschaft, unser Leben mitgestaltet         Land ist zusammengerückt. Wir sind ge-
meint“. Und doch: In jeder Form ist er un-        und geprägt. Wir wollen das Jubiläums-         wachsen. Wir haben erlebt, dass wir
vereinbar mit den Werten unserer frei-            jahr nutzen, um das Jüdische in unserer        einander brauchen und dass Solidarität
heitlichen Demokratie! Judenhass ist              Heimat zu feiern.                              Leben rettet.
nicht „nur“ eine Bedrohung für Jüdinnen           Und, um das Versprechen „Nie wieder!“,         Rosch Haschana ist verbunden mit Hoff-
und Juden. Er vergiftet unsere Gesell-            das mit der Erinnerung an die Opfer der        nung, Mut und Zuversicht. Ganz in die-
schaft. Er bedroht uns alle. Er geht uns          Shoa untrennbar verbunden ist, zu er-          sem Sinne wünsche ich allen jüdischen
alle an. Deswegen benenne und bekämp-             neuern. Der Kampf für Freiheit und             Bürgerinnen und Bürgern in Bayern:
fe ich Judenhass in all seinen Formen.            Demokratie beginnt im Kleinen, im All-         Shana tova u-metuka – ein gutes, süßes
Unser Ziel muss es sein, dass jüdisches           täglichen und hört auch im Landtag nicht       und glückliches neues Jahr!
Leben ohne Polizeischutz unbeschwert,             auf. Es ist traurig, dass auch dieser Neu-
selbstverständlich und sicher stattfinden         jahrsgruß nicht ohne das Thema Anti-
kann.                                             semitismus auskommen konnte. Ich wün-
Im kommenden Jahr ist jüdisches Leben             sche mir, dass ich in künftigen Jahren das
auf dem Boden des heutigen Deutsch-               Heitere, die Freude in den Mittelpunkt
lands 1.700 Jahre urkundlich dokumen-             stellen kann. Ich bin überzeugt, dass
tiert. In Bayern blicken wir auf eine über        Corona uns als Gesellschaft geeint und
1.000-jährige jüdische Geschichte zurück.         gestärkt hat. Nein, ich habe die Demon-        Ilse Aigner MdL, Präsidentin
Jüdinnen und Juden haben über die Jahr-           strationen mit antisemitischer Begleit-        des Bayerischen Landtags

                    Als ob der Terroran-          man eigentlich nicht einmal aussprechen.       ßiger öffentlicher Zeichen untermauert.
                    schlag auf die Syna-          Und doch ist es nötiger denn je, sich mit      Etwa mit unserer Fachstelle für Demokra-
                    goge in Halle an Jom          ihnen auseinanderzusetzen. Denn auch           tie, die seit nunmehr zehn Jahren das
                    Kippur im letzten Jahr        im letzten Jahr ist die Zahl der antisemiti-   städtische Handeln gegen Rechtsextre-
                    die hässliche Fratze          schen Straftaten in Deutschland erneut         mismus, Rassismus, Antisemitismus und
                    des Antisemitismus            gestiegen. Es darf uns keine Ruhe lassen,      Menschenfeindlichkeit koordiniert. In
                    bei uns nicht schon in        dass auch 75 Jahre nach der Shoa Juden-        diesem Sinne möchte ich die Jüdische
                    ihrer ganzen barbari-         hass hierzulande weit verbreitet ist und       Gemeinde Münchens hier nochmals aus-
                    schen Menschenver-            mehr als die Hälfte der jüdischen Be-          drücklich der unumstößlichen Solidarität
                    achtung gezeigt hätte,        völkerung antisemitische Erfahrungen           der gesamten demokratischen Münchner
nutzen Rechtsextreme und Islamisten               machen muss.                                   Stadtgesellschaft versichern. Und in eben-
heuer die Corona-Pandemie, um mit ge-             Antisemitische Äußerungen, Beschädi-           diesem Sinne wünsche ich allen jüdi-
zielten Verschwörungstheorien den Ju-             gung jüdischen Eigentums und Angriffe          schen Bürgerinnen und Bürgern unserer
denhass weiter anzuheizen, im Internet            auf Jüdinnen und Juden sind leider auch        Stadt zum Neujahrsfest Rosch Haschana
ebenso wie auf der Straße. Da sind Schmä-         in München keine Seltenheit. Umso wich-        ein gutes, glückliches und friedliches
hungen wie „Coronavirus heißt Juden-              tiger ist es, dieser Entwicklung jetzt Ein-    Jahr 5781!
kapitalismus“, gelbe Davidsterne auf              halt zu gebieten, indem wir sofort ein-
Ärmeln mit dem Wort „Ungeimpft“ auf               schreiten, wenn Jüdinnen und Juden be-
sogenannten Hygiene-Demos oder ganz               leidigt, bedroht oder angegriffen werden.
allgemein die Verleumdung von Juden als           Die Stadt München hat ihre klare Haltung
bewusste Verbreiter und Profiteure der            dazu immer wieder mit Nachdruck be-            Dieter Reiter, Oberbürgermeister
Krise. Solche Unmenschlichkeiten will             kräftigt und durch eine Vielzahl regelmä-      der Landeshauptstadt München

                       Liebe jüdischen            Corona-Pandemie: Unsere Religionsge-           Brüder bei einer gemeinsamen Suche
                       Schwestern und             meinschaften waren erstmals in der             nach einer besseren Welt“ sein sollen.
                       Brüder,                    Situation, sich nicht mehr zum gemein-         Lassen Sie uns diese Partnerschaft und
                                                  schaftlichen Gebet in ihren Sakralraumen       Geschwisterlichkeit auch im kommenden
                   ereignisreiche Monate          versammeln zu können, und wir haben            Jahr weiter leben und vertiefen.
                   liegen hinter uns: Das         alle gespürt, wie sehr uns das gemein-
                   Jahr 5780 begann mit           schaftliche Beten und Feiern fehlt.            Ich wünsche Ihnen ein friedvolles und
                   dem hinterhaltigen Ter-        Zugleich wissen wir als gläubige Men-          gesegnetes Neues Jahr!
                   roranschlag in Halle           schen, dass der treue G’tt auch in diesen
                   mit zwei Toten, der ur-        schwierigen Zeiten bei uns ist und uns                     SCHANA TOWA!
sprünglich gegen die jüdische Gemeinde            zur Solidarität untereinander aufruft.
gerichtet war, die gerade Jom Kippur              Das ist auch die Botschaft, die uns die
feierte. Der Antisemitismus in Deutsch-           erste gemeinsame Fachtagung der Ortho-
land hat damit eine neue, furchtbare              doxen Rabbinerkonferenz Deutschlands
Stufe erreicht und zeigt, dass wir nicht          mit der Deutschen Bischofskonferenz vom
nachlassen dürfen, gemeinsam dieses               November 2019 mitgibt. Anlass war die
Gift des Hasses zu bekämpfen.                     jüdische Erklärung „Zwischen Jerusalem         Reinhard Kardinal Marx
Die letzten Monate standen wir alle ge-           und Rom“ von 2017, die davon spricht,          Erzbischof von München und
meinsam vor den Herausforderungen der             dass wir „Partner, enge Verbündete und         Freising

8      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
Ein gutes und gesegne-     wir vor den Fragen: Was ist unser Anteil     neun Jahren gebaut: Zuerst konnte die
                  tes neues Jahr wün-        daran? Was müssen und was können wir         jüdische Gemeinde ihre Synagoge in der
                  sche ich Ihnen im Na-      dagegen tun? Die Fragen sind zwar nicht      Westenrieder Straße einweihen, wenig
                  men der Evangelisch-       neu und es gibt auch schon erfolgreiche      später folgte die evangelische Gemeinde
                  Lutherischen Kirche in     Antworten, gleichzeitig stellen sich diese   mit ihrer Matthäuskirche in der Sonnen-
                  Bayern und auch per-       Fragen mit neuer Dringlichkeit.              straße.
                  sönlich zu Rosch Ha-       Im kommenden Festjahr werden zahl-           Mir ist es wichtig zu erkennen, dass un-
                  schana und den Hohen       reiche Veranstaltungen und Begegnun-         sere Geschichten eng miteinander verwo-
                  Feiertagen!                gen überall in Deutschland hoffentlich       ben sind, trotz der Feindseligkeiten, die
                                             einen kraftvollen Gegenakzent setzen,        vor allem von der christlichen Seite aus-
Das abgeschlossene Jahr wird uns noch        der nachwirkt. Wir werden 1.700 Jahre        gegangen sind. Und besonders wichtig ist
lange beschäftigen. Da sind die Abgrün-      jüdisches Leben in Deutschland feiern.       mir, dass wir Seite an Seite in die Zukunft
de, die die Terroranschläge von Halle und    Diese erste urkundliche Erwähnung von        gehen. Es gibt unendlich viel aus den 1.700
Hanau offengelegt haben, und die Men-        Juden ist sogar älter als die frühesten      Jahren, was das nichtjüdische Deutsch-
schen, die sie traumatisiert haben. Da       Belege für christliches Leben. Das Fest-     land Jüdinnen und Juden verdankt. Das
sind die Erfahrungen, die alle Religions-    jahr bietet hoffentlich viele Gelegenhei-    Festjahr bietet eine besondere Chance zu
gemeinschaften während der Pandemie          ten, jüdische Kultur und Geschichte aus      solchen Entdeckungen und trägt hoffent-
gleichermaßen gemacht haben. Viele per-      1.700 Jahren zu entdecken und zu feiern.     lich dazu bei, die Zivilcourage und Ver-
sönliche Begegnungen konnten nicht           Auch das Bayerische Bündnis für Toleranz,    bundenheit in unserer Gesellschaft zu
stattfinden. Gottesdienste, Konzerte, Bil-   dem 76 Organisationen aus der Mitte der      stärken.
dungsangebote sind nach wie vor nur mit      bayerischen Gesellschaft angehören, hat
Einschränkungen möglich. Zugleich ha-        sich dieses Thema als Jahresthema ge-        SCHANA TOWA UMETUKA
ben sich im digitalen Raum neue Formen       wählt.
für den Austausch und die Bildung, aber      Wenn wir in der bayerischen Landes-          wünscht Ihnen
auch für interreligiöse Begegnungen ent-     hauptstadt München auf die Anfänge der
wickelt.                                     jüdischen und der evangelischen Gemein-
Leider haben etliche Menschen in dieser      den schauen, dann liegen diese zwar erst
Krise auch das Gift ihres Verschwörungs-     etwas mehr als 200 Jahre zurück, aber es
glaubens verbreitet und zu einem Klima       gibt Parallelen: Beide sind vom Hof der
beigetragen, in dem antijüdische und an-      Wittelsbacher Kurfürsten aus entstanden,     Dr. Heinrich Bedford-Strohm
dere Gewalt zunimmt. Als Teil der nicht-     die erste Synagoge und die erste evange-     Landesbischof der Evangelisch-
jüdischen Mehrheitsgesellschaft stehen       lische Kirche wurden im Abstand von nur      Lutherischen Kirche in Bayern

                   Sehr geehrte Damen        Straße. Antisemitismus ist im rechtsradi-    kämpfung und Prävention von Antisemi-
                   und Herren, liebe         kalen Spektrum verbreitet –aber keines-      tismus und israelfeindlicher Agitation er-
                   Freunde,                  wegs nur dort. Die Mehrzahl der regist-      reicht haben. Ich glaube ebenso an den
                   zum jüdischen Neu-        rierten Fälle und Täter ließen sich poli-    Zusammenhalt und die innere Stärke der
                   jahrsfest Rosh Hasha-     tisch nicht klar zuordnen. Wir beobach-      jüdischen Gemeinden in Bayern, die be-
                   nah sende ich Ihnen       ten, wie sich eine ohnehin schwierige        reits zahlreiche Krisen überstehen muss-
                   meine besten Wün-         Situation gegenwärtig verschärft; Juden      ten und überstanden haben. Wir, das Ge-
                   sche und Grüße. Auch      fühlen sich auch in Bayern angefeindet       neralkonsulat und Israel, stehen zusam-
                   dieses Jahr, das uns      und sogar bedroht.                           men an der Seite der Jüdischen Gemein-
                   vor außergewöhnliche      Was können wir tun? Und wieviel können       den, als eng verbündete Partner im ge-
Herausforderungen stellt, gab Anlass auch    die Gemeinden und Individuen über-           meinsamen Kampf gegen den Antisemi-
zum Feiern.                                  haupt tun, um sich den Anfeindungen zu       tismus.
Vor 55 Jahren, am 12. Mai 1965, nahmen       erwehren? Auf welcher Grundlage kann         Zum Neujahrfest möchte ich deswegen
Israel und Deutschland diplomatische Be-     man mit Antisemiten argumentieren, die       auch zuversichtlich in das kommende
ziehungen miteinander auf, die heute so      ihrerseits keine Fakten für Ihre Verschwö-   Jahr blicken in der Hoffnung, dass wir
eng und vielfältig sind wie nie zuvor.       rungstheorien benötigen? Gesellschaft-       auch aus diesen Herausforderungen ge-
Zahlreiche Veranstaltungen und Initia-       licher Zusammenhalt und Empathie las-        stärkt hervorgehen können, wenn wir sie
tiven begehen das Jubiläum feierlich,        sen sich schwerlich politisch verordnen,     gemeinsam konfrontieren und bewälti-
auch viele jüdische Gemeinden hier in        Vorurteile werden früh, im familiären        gen.
Bayern engagieren sich für die deutsch-      und Freundeskreis eingeübt und fest ver-     In diesem Sinne wünsche Ich Ihnen und
israelische Freundschaft und machen          ankert. Wohl aber kann früh gegenge-         Ihren Familien ein süßes, glückliches, ein
ihre Verbindung zu Israel sichtbar.          steuert werden, durch schulische, aber       gesundes und erfülltes Jahr 5781.
Dieses Engagement ist nicht selbstver-       auch außerschulische Bildung eines zivi-
ständlich, denn es ist nicht immer leicht.   lisatorischen Bewusstseins und einer de-            SHANA TOVA U-METUKA.
Mit Sorge blicken wir derzeit auf die        mokratischen Haltung. Durch Begegnun-              KETIVA VE-CHATIMA TOVA!
jüngsten gesellschaftlichen und politi-      gen und den Dialog gesellschaftlicher
schen Entwicklungen, die nicht zuletzt       Gruppen die Vorurteile mit der Realität
durch die Corona-Krise verstärkt wurden.     konfrontieren.
Verschwörungstheorien gegen Juden und        Ich vertraue den starken gesellschaft-
gegen Israel finden immer weitere Ver-       lichen und politischen Institutionen hier    Sandra Simovich, Generalkonsulin
breitung, sei es im Netz oder auf der        in Bayern, die bereits vieles bei der Be-    des Staates Israel in Süddeutschland

                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020   9
K U LT U R

                                                   Museum und Corona
AUGSBURG. Covid-19 hat das Jüdische                die Hälfte der jährlichen Besucher, und     angestoßenen Erneuerungsprozess wei-
Museum Augsburg Schwaben wie jede                  der Erwachsenenführungen macht dem          ter voranzutreiben.
andere Kulturinstitution stark getroffen.          Museum wirtschaftlich schwer zu schaf-
Am 16. März wurden beide Museums-                  fen.                                        Neben der inhaltlichen Arbeit, die in
standorte und alle Veranstaltungen ab-                                                         diesem und kommenden Jahr unter dem
gesagt, das Team ins Homeoffice ge-                Dennoch bleibt das Museum optimistisch.     Thema „Feminismus“ steht, gehören zu
schickt. Am 18. Mai öffnete das Mu-                Die Ausstellung „Die unsichtbare Frau“ in   dieser Erneuerung auch ein komplett
seum wieder unter Einhaltung der vor-              der Ehemaligen Synagoge Kriegshaber         neues Erscheinungsbild und der Ausbau
geschriebenen Hygiene-Maßnahmen. Füh-              und die Intervention „Unsere Werte“ in      des digitalen Museums. Die beiden Stand-
rungen können jetzt nur für fünf Perso-            der Dauerausstellung konnten im kleinen     orte Innenstadt und Ehemalige Synagoge
nen stattfinden, und gerade der Wegfall            Rahmen eröffnet werden. Zugleich wur-       Kriegshaber wurden gescannt, man kann
der Schulklassen, immerhin betrifft das            de die Zeit intensiv genutzt, um den 2019   sie nun in einer 3D-Tour selbst virtuell er-
                                                                                               kunden. Auch die Präsenz des Museums
                                                                                               auf Facebook und Instagram konnte neu
                                                                                               gestaltet werden. Die Social Media waren
                                                                                               schon vor Corona eine wichtige Möglich-
                                                                                               keit, um mit den Besuchern zu kommuni-
                                                                                               zieren.

                                                                                               Mit dem Wegfall der direkten Kommuni-
                                                                                               kation beim Museumsbesuch oder bei Ver-
                                                                                               anstaltungen wurden diese Kanäle umso
                                                                                               wichtiger. Die Lesung von Erinnerungen
                                                                                               Augsburger Juden, die als US-Soldaten in
                                                                                               ihre „Heimat“-Stadt zurückkehrten, wur-
                                                                                               de in der Ehemaligen Synagoge Kriegs-
                                                                                               haber aufgezeichnet und ist auf dem You-
                                                                                               Tube-Kanal des Museums abrufbar.

                                                                                               Bei den Aufrufen wird eine Besonderheit
                                                                                               des Museums deutlich. Fast 40% der
                                                                                               Zuschauer haben das Video mit engli-
                                                                                               schen Untertiteln angesehen. Zu verdan-
                                                                                               ken ist das wohl den in aller Welt leben-
                                                                                               den Nachkommen „Augsburger Juden“,
                                                                                               mit denen das Museum gute Kontakte
                                                                                               pflegt. Alle Links zu den digitalen Medien
                                                                                               auf www.jkmas.de.                    bere.

                                                                                                       Mother Boyle
                                                                                               AUGSBURG. Gert Boyle in Portland, USA,
                                                                                               nähte das erste Exemplar selbst auf ihrer
                                                                                               Nähmaschine. Ihre neue Weste für Angler
                                                                                               hatte ganz viele kleine Taschen und war
                                                                                               damit sehr praktisch. Die „Erfinderin“ die-
                                                                                               ser neuartigen Bekleidung, die am 6. März
                                                                                               1924 in Augsburg geborene Gertrud Lam-
                                                                                               fromm, wuchs mit ihren Schwestern Hilde-
                                                                                               gard und Eva in der Werderstraße 16, im
                                                                                               bürgerlichen Bismarckviertel auf.

                                                                                               Ihr Vater Paul Lamfromm war Mitinhaber
                                                                                               der „Wäschefabriken Augsburg AG“, eine
                                                                                               der damals größten Wäschefabriken Süd-
                                                                                               deutschlands. Mit den Nazis begann 1933
                                                                                               die schrittweise Entrechtung der Juden,
                                                                                               und auch Paul Lamfromm war mit seiner
Facebook: Eröffnung der Ausstellung „Die unsichtbare Frau“ in kleinem Rahmen im Juni.          Familie betroffen. 1937 konnten sie mit
                                                                             © JMAS            Hilfe einer Bürgschaft von Verwandten in

10      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
Amerika in die USA fliehen. Der NS-Staat
bürgerte die Familie am 6. Oktober 1939
aus.

Paul Lamfromm kaufte in Portland eine
kleine Hutfabrik und nannte sie nach
dem dortigen Fluss „Columbia Hat Com-
pany“. Seine Frau und die Töchter waren
auch in der Firma tätig, und Gertrud
studierte noch Soziologie in Arizona.
1948 heiratete sie Neal Boyle, der auch
in die väterliche Firma eintrat. Später
wurde die Produktion auf Outdoor-Beklei-
dung umgestellt und der Name in „Colum-
bia Sportswear Company“ geändert. Mit
der Weste für Fischer wurde die „Colum-
bia Sportswear Company“ dann berühmt.

Paul Lamfromm starb 1964, ihr Mann
Neal Boyle, mit dem sie drei Kinder hatte,
1970. Gert Boyle übernahm mit ihrem
Sohn Tim die Firma und baute sie zu
einer Weltmarke für Outdoor-Kleidung
aus. Sie leitete die Geschäfte bis 1988 und   Familie Lamfromm, Ausflug 1935 nach Bad Wörishofen. Foto: JMAS/Eva Lamfromm Labby
wurde in den 1980er Jahren, auch als
Wackelfigur „Mother Boyle“ (siehe dazu
das Foto auf der letzten Umschlagseite)       die das Museum bis zum 11. April 2021         tätigkeit und Gerechtigkeit. Die Mother
und als „Tough Mother“ zur Werbeikone.        in der Dauerausstellung zeigt. Das neue       Boyle-Geschichte steht in der Interven-
2005 erschien ihre Autobiografie „One         Ausstellungformat „Intervention“ versteht     tion für die „Gleichberechtigung“ und für
Tough Mother. Success in Life, Business       sich als ein „Hinzufügen“ zu einer be-        die „starke Frau“.          Benno Reicher
and Apple Pies”. Gert Boyle starb am          stehenden Ausstellung. Sie wird dadurch
3. November 2019 im Alter von 95 Jahren.      neu kommentiert, hinterfragt oder auch
Bis zu ihrem Tod blieb sie die Vorsitzende    berichtigt. Die neue Gestaltung könnte
des Aufsichtsrates.                           auch eine andere Wahrnehmung der Aus-
                                              stellung bewirken.
Ihre Schwester Eva Lamfromm besuchte
2011 das Jüdische Museum Augsburg und         „Die Intervention hat ihre eigene Erzäh-
erzählte in der vom Museum und dem            lung, sie bietet aber auch die Möglichkeit,
Sensemble Theater organisierten Reihe         die Dauerausstellung neu zu betrachten
LEBENSLINIEN ihre Familiengeschichte.         oder Überlegungen mit in den eigenen
Daraus entstand danach die im Museum          Alltag zu nehmen“, schreibt das Museum
erhältliche Publikation „… wie glücklich      in einer dazugehörigen Publikation. Mit
können wir sein, dass die Kinder in Sicher-   „wechselnden“ Exponaten in der Dauer-
heit sind. Der Weg der Familie Lamfromm       ausstellung kann das Museum auch auf
aus Augsburg“.                                „wechselnde“ Werte verweisen.

Die Lamfromm-Familiengeschichte mit           Inhaltlich bezieht sich die Intervention
der Wackelfigur „Mother Boyle“ gehört         auf die „Gemeinsamen Werte“ Gemein-           Gert Boyle als Titelbild der Zeitschrift
auch zur „Intervention UNSERE WERTE“,         schaft, Familie, Gleichberechtigung, Wohl-    Women.                       Foto: JMAS

Firmenanzeige.                  Foto: Columbia Sportswear Company Intervention UNSERE WERTE.                                          Foto: JMAS

                                                                                                 Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020    11
L’Chaim
                                                           Von Miryam Gümbel

FÜRTH. Noch bis zum 10. Januar 2021                Diese Relation verdeutlicht, dass Juden        umso eindringlicher, wie es ihr in Berlin
zeigt das Jüdische Museum Franken in               und Judentum weitgehend unbekannt              kurz vor dem Abitur ergangen ist: „Ich
Fürth eine ganz besondere Ausstellung              sind. „Die Ausstellung soll das ändern“,       war nachher die einzige Jüdin auf der
mit dem Titel „L’Chaim. Auf das Leben.             unterstreicht Zentralrats-Präsident Josef      Schule, und da sagte dann mein Klassen-
Die Vielfalt jüdischen Lebens entdecken“.          Schuster im Grußwort des Katalogs: „Sie        lehrer, der reinkam, Inge, wir dürfen kein
Das Projekt ist in mehrfacher Hinsicht             zeigt anhand verschiedener Biografien          jüdisches Kind mehr auf der Schule ha-
außergewöhnlich. Schon von der Art der             von Jung bis Alt wie divers jüdisches          ben. Ich hab natürlich Koffer gepackt und
Präsentation weicht es von gewohnten               Leben heutzutage ist. Sind alle Juden reli-    Mappe gepackt und geflennt. 39 hätte ich
Ausstellungsformaten ab. Die Exponate              giös? Wie leben sie ihr Judentum aus?          Abitur gemacht.“
sind digital, die Räume mit Monitoren              Was ist jüdische Kultur?“                      Die Videostationen, die sich im Unter-
und Lautsprechern, beziehungsweise An-             Die ausgewählten Frauen und Männer             geschoss des Museums fortsetzen, sind
schlüssen für Kopfhörer ausgestattet.              geben dabei ganz individuelle Antwor-          gegliedert nach den Themenbereichen
Bunte Sitzwürfel vor den einzelnen Screens         ten, so vielfältig, wie die jeweiligen Leben   Jüdisches Leben heute, Vielfalt religiöser
erlauben dem Besucher eine entspannte              sind. Da geht es ebenso humorvoll ab wie       Richtungen des Judentums in Deutsch-
Konzentration auf die Inhalte der einzel-          ernst, Erfahrungen werden berichtet,           land nach 1945, Jüdische Identität, Per-
nen Stationen.                                     Situationen geschildert. Auf die Vergan-       sönliche Einblicke.
Das einzige nicht digitale Objekt ist eine         genheit wird eindrucksvoll eingegangen,        Der Kurator der Ausstellung, Joachim Sein-
Infotafel mit den einzelnen Protagonisten          ohne Anklage, ohne erhobenen Zeigefin-         feld, Jahrgang 1962, hat Malerei studiert.
des Projekts, Berliner aller Altersgruppen         ger. Da ist zum Beispiel Avraham Kotljar,      Der Träger des Augsburger Heinrich-Hei-
und verschiedener Provenienz, sämtlich             der in Taschkent zur Welt kam und als          ne-Preises war unter anderem 1994–95
jüdische Menschen, die aus und über ihr            Kind nicht verstanden hat, wenn ihn            für das Tempus-Projekt „Civil Society and
Leben erzählen. Mit einem großen an                seine religiöse Babuschka immer rüde           Social Change in Europe after Auschwitz“
eine Wand projizierten Film wird zudem             weggeschickt hat, wenn er hebräische           tätig. Seit 2016 arbeitet er für die Kreuz-
über die verschiedenen Berliner Syna-              Buchstaben sehen wollte. „Als ich groß         berger Initiative gegen Antisemitismus
gogen und Bethäuser berichtet. An allen            war, konnte ich verstehen, warum sie so        und für die gezeigte Ausstellung.
anderen Stationen kann der Besucher                reagierte. Sie hat Angst gehabt.“              Als Wanderausstellung ist sie im Jüdi-
sich individuell den Video-Berichten wid-          Zu den besonders eindrucksvollen Schil-        schen Museum Franken das erste Mal in
men.                                               derungen der Nazizeit in Deutschland           Bayern zu sehen. Eine Besonderheit hier:
Eine weitere Besonderheit ist die Wahl-            gehört die kurze Schilderung von Inge          Die regionalen Aspekte jüdischen Lebens
möglichkeit der Sprachen: Deutsch, Eng-            Marcus. 1922 in Berlin-Steglitz geboren,       kann der Besucher im Fürther Museum
lisch – und Arabisch. Das Ziel des Aus-            schickten sie ihre Eltern kurz vor dem         erleben. Dafür wurden Juden aus Nürn-
stellungsbesuches soll sein, jüdisches Le-         Abitur nach Großbritannien, wie in dem         berg und Fürth interviewt, darunter auch
ben kennenzulernen, das Leben einer                Begleitheft zu erfahren ist. 1947 ging sie     der Fürther Rabbiner Jochanan Guggen-
Minderheit, die in Zahlen ausgedrückt              nach Paris, heiratete dort ihre Berliner       heim, die gebürtige Ansbacherin Ruth
nicht einmal 0,2 Prozent der deutschen             Jugendliebe. Die junge Familie kehrte          Ceslanski, Vorsitzende der Nürnberger
Bevölkerung ausmacht.                              1951 nach Berlin zurück, wo sie sich im        Gesellschaft für christlich-jüdische Zu-
                                                   jüdischen Gemeindeleben und in der             sammenarbeit, die Studentin Lena Pry-
                                                   WIZO engagierte. 2017 starb sie im Alter       tula und der aus der ehemaligen Sowjet-
        Museum Franken                             von 95 Jahren in Berlin.                       union stammende Religionslehrer Ger-
 Während der Corona-Pandemie hat das               Sie berichtet im Video sachlich und damit      man Djanatliev.
 Jüdische Museum Franken und das
 Mary S. Rosenberg Café in Fürth von
 Donnerstag bis Sonntag, von 10 Uhr
 bis 17 Uhr geöffnet. Zur Wechselaus-
 stellung können Besucher*innen ihren
 eigenen Kopfhörer mitnehmen (An-
 schluss mit 3,5 mm Klinke) und in der
 Ausstellung benutzen.
 Jeden ersten Sonntag im Monat, um
 14 Uhr, werden an allen drei Stand-
 orten des Jüdischen Museums Franken,
 in Fürth, Schnaittach und Schwabach,
 Stadtführungen oder Führungen über
 die Jüdischen Friedhöfe angeboten.
 Im Museum und zu den Stadtführun-
 gen gelten Maskenpflicht und die üb-
 lichen Abstandsregeln.
 Jüdisches Museum Franken in Fürth,
 Königstraße 89, Telefon 0911-950 9880,
 geöffnet Do–So 10–17 Uhr
 info@juedisches-museum.org
 www.juedisches-museum.org.
                                                   Blick in die Fürther Ausstellung.                               Foto: KIgA Boris Bocheinski

12      Jüdisches Leben in Bayern · Nr. 142/2020
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