Achim v. Arnim Über die Kennzeichen des Judentums Ein Kommentar - Volker Böhnigk/Karin Genings/Mirko Müller - FrontIn

Die Seite wird erstellt Saskia Jacob
 
WEITER LESEN
Volker Böhnigk/Karin Genings/Mirko Müller

Achim v. Arnim Über die Kennzeichen des
Judentums

Ein Kommentar

Unveröffentlichtes Manuskript

© 2006
Inhalt

Einleitung   9

Die allgemeine Lage       23

Die Bilderwelt   33

Die Buchstaben- und Zeichenwelt   61

Die szientistische Welt    71

Schlußbetrachtung     83

Anmerkungen      89
Einleitung*
Seite   10

             Wenn es heutzutage um die Geschichte des Antisemitismus geht,
             so kann sie nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft
             nicht mehr anders als durch diese deutungsgeladen wahrgenommen
             werden. Sei es durch das unmittelbare Erleben des Nationalsozialis-
             mus, sei es durch das angeeignete Wissen über ihn. Im letzteren Fall
             spräche man wohl besser davon, die Wahrnehmung der Geschichte
             des Antisemitismus sei theoriengeleitet. Ganz gleich, um welche
             Epoche außerhalb des Nationalsozialismus es sich auch handeln
             mag, wie auch immer man sich in sie vertieft. Ganz gleich, ob man
             sich nur mit einem einzigen Autor, ja sogar nur mit einem einzigen
             Traktat beschäftigt, so wie dies hier geschieht. Die Frage ist, in wel-
             chem historischen Gedächtnis der Untersuchungsgegenstand zur
             antisemitischen Vernichtungsdoktrin der Nationalsozialisten steht.
                  Es ist eine methodische Entscheidung, inwieweit man diesen
             Horizont explizit in eine Untersuchung mit einzubeziehen gedenkt.
             Gerade dann, wenn es sich um eine Untersuchung handelt, die sich
             mit einer Form des Antisemitismus auseinandersetzt, die weit vor
             der nationalsozialistischen Herrschaftszeit liegt. Es ist ja nicht
             grundsätzlich geboten, einen solchen Untersuchungsgegenstand
             und die gewonnenen Resultate mit der Dimension der Vernichtung
             der europäischen Juden abzugleichen. Sie in entwicklungsgeschicht-
             liche Thesen, seien sie ideengeschichtlich, ideologiekritisch, sozial-
             politisch etc. zu kleiden. Gelegentlich sogar, darauf wird zurückzu-
             kommen sein, grenzen solche Abgleichungen an Populismus oder
             sind zumindest inhaltlich irreführend.
                  Im Hinblick auf die vorliegende Studie haben wir uns ent-
             schlossen, dem Untersuchungsgegenstand einige methodische Er-
             wägungen voranzustellen. Sie mögen eine Einsicht darüber ermög-
             lichen, von welchem historischen Verständnis aus und mit welchem
             Vokabular die nachstehende Untersuchung durchgeführt wird. Sie
             mögen den theoriengeleiteten Horizont verdeutlichen, der seit dem
             nationalsozialistischen Versuch besteht, die europäischen Juden zu
             vernichten.

             Als evidente Prämisse, da sie hier nicht weiter gestützt werden
             kann, setzen wir voraus, daß es eine Ideengeschichte des Natio-
             nalsozialismus gibt. Unweit schwieriger zu belegen ist, auf welche
             Art sich dieser ideengeschichtliche Prozeß vollzogen hat. War es
             ein kontinuierlicher Prozeß? Gar ein radikal kumulativer, der im

                                                                Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     Nationalsozialismus mündete? Oder läßt sich nur von diskreten
     Teilentwicklungen sprechen? Von rechtsextremistischen völkischen,
     antisemitschen, nationalistischen Bewegungen, die durch weniger
     extreme Bewegungen politischen Denkens abgelöst oder zur glei-
     chen Zeit neutralisiert wurden? So, daß gewisse Strömungen, wenn
     auch nicht Schritt für Schritt oder kumulativ, in Beziehung zum
     Nationalsozialismus gesetzt werden können oder müssen? Und
     schließlich, weshalb könnte nach der Implementierung der national-
     sozialistischen Diktatur nicht von einem Bruch mit jedweder Tradi-
     tion die Rede sein? Von einem totalen Gestaltwechsel? – was jedoch
     nicht bedeuten kann, daß die Prinzipien, die diesen Gestaltwechsel
     kennzeichnen, ohne die vorherige(n) Tradition(en) überhaupt ver-
     ständlich wären.

     Es kann an dieser Stelle keine Klärung erfolgen, in der das Für und
     Wider bezüglich solcher ideengeschichtlicher Hypothesen abgewo-
     gen wird. Hier wird die Annahme vertreten, nach der es mit der
     Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur zu einem totalen
     Gestaltwechsel kam. Der Begriff des Gestaltwechsels ist dabei im
     Sinne von Thomas S. Kuhn zu verstehen. Danach wird ein beste-
     hendes Paradigma durch ein anderes abgelöst, das von da an zum
     dominierenden Interpretament – sagen wir ganz allgemein – von
     Welt wird. Der Begriff des Paradigmas wird hier in einem sehr tech-
     nischen Sinne verstanden. Nach Kuhn1 ist eine paradigmengeleitete
     Periode in den Wissenschaften auf ähnliche Weise zu verstehen, wie
     eine Stilperiode in der Kunstgeschichte. Es herrscht offenkundig
     eine Einheit, aber diese Einheit ist ein elastischer Rahmen, der sich
     nicht auf einen Satz kanonischer Regeln reduzieren läßt. Eine solche
     Einheit – oder ein solches Paradigma – ist daher arm an Gehalt und
     mit ständig sich ändernden historischen Inhalten gefüllt. Ein solcher
     Rahmen ist also höchst ungenau, weshalb es keine allgemeinen und
     exakten Aussagen über Paradigmen und daher auch keine über die
     Methodik innerhalb eines Paradigmas sowie beim Übergang von
     einem Paradigma zu einem anderen (Gestaltwechsel/Revolution)2
     geben kann. Ausfindig zu machen sind deshalb diejenigen speziellen
     Prinzipien und Regeln, die einem Paradigma in einem bestimmten
     Zeitraum seine Gestalt geben.
          Es ist an anderer Stelle dafür argumentiert worden3, daß die
     Kuhnsche Beschreibung wissenschaftlicher Prozesse sowie seine

                                                                             Seite   11
Seite   12

             hierzu benutzte Terminologie auch zur Beschreibung gesellschaft-
             licher und kultureller Prozesse, insbesondere zur Ideologiekritik,
             nutzbringend eingesetzt werden kann – speziell im Zusammenhang
             mit der Entstehung und Struktur der nationalsozialistischen Ideolo-
             gie. Hierzu wurde die These eines nationalsozialistischen Paradigmas
             unterbreitet, das mindestens die sechs folgenden notwendigen und
             hinreichenden Prinzipien enthält:

                 (1) die Rassen- und Volkswertlehre,
                 (2) die rassenbedingte Typenlehre: das Recht der Gemein-
                     schaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des Individu-
                     ums,
                 (3) eine rassisch-biologische Fundamentaltheorie,
                 (4) die rassen- und erbbiologische Bestandsbedrohung des
                     deutschen Volkes vor dem Hintergrund einer Kultur-
                     kreistheorie,
                 (5) der szientistische Antisemitismus,
                 (6) die rassisch-völkische Vollendung des deutschen Wer-
                     dens.

             An der Verwendung eines solchen Paradigmas ist von verschiede-
             nen Seiten Kritik geübt worden. Sie betrifft nicht in erster Linie die
             Adäquatheit dieser Prinzipien zur Darstellung der nationalsoziali-
             stischen Ideologie als vielmehr ihre Unvollständigkeit und eine ge-
             wisse Abneigung, überhaupt die These eines nationalsozialistischen
             Paradigmas zu vertreten. Es sei deshalb an dieser Stelle kurz erlaubt,
             kursorisch einige Überlegungen vorzubringen, die zur Aufstellung
             dieser Prinzipien geführt haben.
                  Das Bedürfnis, ein solches Paradigma zu entwickeln, resultierte
             zum einen aus der immer offensichtlicher werdenden Unfähigkeit
             der Totalitarismusforschung zwischen politisch linken und rechten
             Diktaturen zu unterscheiden, geschweige denn, Differenzierungen
             innerhalb dieser Lager zu erfassen. Zum anderen ging es um ein
             wichtiges, jedoch in methodisch-systematischer Hinsicht höchst
             vernachlässigtes Subsystem der nationalsozialistischen Gesellschaft,
             den Wissenschaften. Hier war nämlich zu fragen, wie sich unter
             einem methodologischen Gesichtspunkt wissenschaftliche For-
             schung als Forschung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie
             überhaupt identifizieren läßt. Die meisten Historiker haben bisher

                                                               Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     den Weg beschritten, anhand der persönlichen Lebenswege von
     Forschern diese Frage zu klären. Mitgliedschaft in der NSDAP oder
     anderen nationalsozialistischen Organisationen, Bekenntnisse zum
     Nationalsozialismus, zu Adolf Hitler oder anderen wichtigen Prota-
     gonisten des Nationalsozialismus, Forschungstätigkeiten innerhalb
     nationalsozialistischer Institutionen wie etwa des SS-Ahnenerbes,
     Forschungstätigkeiten in Vernichtungslagern und -stätten, For-
     schungstätigkeiten in Abteilungen von Instituten (etwa Kaiser-Wil-
     helm-Institut) bzw. Vertretung von Lehrstühlen, die als möglicher-
     weise nationalsozialistisch »kontaminiert« gelten (etwa Lehrstühle
     für Rassenhygiene, Erbbiologie) etc.
           Keineswegs soll daran gezweifelt werden, daß die auf diese
     Weise von Historikern aufgezeigten personellen Einlassungen wie
     institutionellen Zusammenhänge von höchster Bedeutung sind.
     Diese Darstellungen leiden aber an einem Problem: Wissenschaftli-
     che Forschung wird erst dann manifest, wenn ihre Hypothesen, Ver-
     suchsanordnungen, Ergebnisse schriftlich fixiert sind, sei es in Form
     von Protokollen, Artikeln oder Büchern, manchmal sogar nur in
     kurzen schriftlichen Notizen oder Briefen. Dies wäre an sich trivial,
     wenn nicht intuitiv – auch dies läßt sich anhand vieler Publikationen
     zum Nationalsozialismus studieren – die Auffassung vorherrschen
     würde, wissenschaftliche Forschung, wenn sie nationalsozialistisch
     sei, bezöge sich nur auf Folgen technischer und technokratischer
     Intervention. So schreibt der Philosoph Gereon Wolters (dieses
     Beispiel sei angeführt, weil die Philosophie vielerorts als gänzlich
     praxislos gilt und die, die sie betrieben, als praxisfern): „Vorweg
     sei gesagt, verbrecherische Schurken finden wir unter ihnen [den
     Philosophen] nicht, anders als bei z. B. Juristen und Medizinern.
     »Auschwitz« wurde nicht von Philosophen betrieben.“4
           Die Annahme, nationalsozialistische Verbrechen bezögen sich
     allein auf Handlungsfolgen, während offensichtlich theoretische
     und experimentelle Forschung, sofern letztere nicht unmittelbar
     mit Zwangsversuchen an Menschen zu tun hat, weltanschaulich
     »neutral« sei, verlangt nach der Frage »Gibt es überhaupt nationalso-
     zialistische Forschung?«. Damit ergibt sich jedoch erneut das oben
     angesprochene Problem, ob die von Historikern dokumentierten
     Lebens- und Forschungswege hinreichende Kriterien zur Feststel-
     lung einer genuin nationalsozialistische Forschung sein können.

                                                                             Seite   13
Seite   14

                  Es wäre möglich, die Frage nach notwendigen und hinreichen-
             den Kriterien einer nationalsozialistischen Forschung auf eine theo-
             retische Debatte auszudehnen.5 Hier muß es reichen, sich einmal die
             folgenden Beispiele zu vergegenwärtigen:

             a) Empirische Forschung
             Der Humangenetiker und Arzt Josef Mengele gilt, da er in den Jah-
             ren 1943 bis 1945 in Auschwitz-Birkenau Menschenversuche durch-
             führte und viele seiner Versuchsopfer tötete, als schwerer nationalso-
             zialistischer Verbrecher. Als Assistent (und ehemaliger Promovent)
             des Rassenhygienikers Professor Otmar Freiherr von Verschuer
             unterrichtete er diesen beständig über seine Forschungsergebnisse
             in Auschwitz und verschickte auch Untersuchungsproben der getö-
             teten Probanden an v. Verschuer. Dessen Forscherleben endete aber
             nicht mit der Niederlage Deutschlands, sondern entfaltete sich bis
             in hohe Ministerien der Bundesrepublik. Darüber hinaus erhielt er
             1965 eine Professur für Genetik und wurde Leiter des Instituts für
             Humangenetik der Universität Münster. Unterstützung für seine
             Forschungen erhielt v. Verschuer auch weiterhin von der Deutschen
             Forschungsgemeinschaft. (Diese wenigen biographischen Notizen
             mögen hier reichen).
                   Die Betrachtung dieses Falls muß die Frage aufwerfen, ob denn
             nur die unmittelbare Tathandlung (Mengele) ein nationalsozialisti-
             sches Verbrechen sein soll, während eine mittelbare Beteiligung (v. Ver-
             schuer) für offensichtlich irrelevant erklärt wird.
                   Es ist allein schon kontraintuitiv, anzunehmen, daß der Wissen-
             schaftler v. Verschuer, der die Aufsicht über Mengeles Forschungen
             in Auschwitz hatte, nicht von diesen profitierte, da doch beide auf
             dem gleichen (Forschungs-)Gebiet arbeiteten.
                   Der Aufgriff dieses »Forscherverhältnisses« zwischen Mengele
             und v. Verschuer verdeutlicht möglicherweise ein Defizit in der
             Rechtsprechung, die wissenschaftlichen Tätigkeiten eines v. Ver-
             schuer juristisch angemessen zu erfassen – den durchaus nahelie-
             genden Verdacht, daß daran kein Interesse bestand, einmal beiseite
             gelassen. Dem Wissenschaftshistoriker fällt damit die Aufgabe zu,
             anhand der wissenschaftlichen Publikationen v. Verschuers im ein-
             zelnen nachzuweisen, in welchem Maße und mit welchem Inhalt
             u. U. nationalsozialistische Forschung betrieben wurde. Aber an-
             hand welcher Kriterien?

                                                                Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     b) Theoretische Forschung
     Der Fall des Philosophen Martin Heidegger ist allseits bekannt.
     Heidegger gehörte zu den wenigen Philosophen, die aufgrund
     ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP und öffentlicher Bekenntnisse
     zu Hitler (beides waren nun keine Ausnahmeerscheinungen) mit
     einem Lehrverbot (von 1947 bis 1950) belegt wurden. Victor Farías
     veröffentlichte 1989, neben anderen, weiteres biographisches Ma-
     terial, das Heidegger als überzeugten Nationalsozialisten belastete.
     Aber hat Heidegger deswegen im Sinne der nationalsozialistischen
     Ideologie philosophiert?
          Ein höherer NSDAP-Funktionär soll einmal über Heidegger
     geäußert haben, er sei ein »Privatnazi«, mit dem ansonsten nichts
     anzufangen sei. Möglicherweise trifft dies den Kern der Sache. Eine
     nationalsozialistische Philosophie Heideggers, eine Philosophie im
     Sinne des Nationalsozialismus herauszuarbeiten, ist bisher noch
     nicht gelungen. Selbst überzeugende Arbeiten über Heidegger, die in
     ihrem Anspruch geltend machen, nationalsozialistische Ideologeme
     in seiner Philosophie zu entschlüsseln, sind bisher nicht bekannt.
          Ein damals, während der Zeit der nationalsozialistischen Herr-
     schaft, in der Fachwelt bei weitem mehr geachteter Philosoph als
     Heidegger war Nicolai Hartmann. Über Hartmann sind keine par-
     teipolitischen Einlassungen mit den Nationalsozialisten bekannt.
     (Dokumentiert werden kann ein öffentliches Bekenntnis zu Hitler
     aus dem Jahre 1934 sowie Betätigungen im Rahmen der Wissen-
     schaftsreihe Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften.6)
     Höchst interessant sind allerdings Hartmanns Arbeiten zu dem
     philosophischen Projekt einer Ontologie der Schichten, das ureigent-
     lich mit seinem Namen verbunden ist. Es läßt sich zeigen7, worauf
     hier aber nur hingewiesen werden kann, wie die oben genannten
     Prinzipien des Paradigmas von Hartmann philosophisch verarbeitet
     werden. Unter der Voraussetzung, sie als zentrale Bestandteile der
     nationalsozialistischen Ideologie anzuerkennen, handelt es sich um
     genuin nationalsozialistische Philosophie.
          Nun gibt es vielerlei Gründe, vor allem inhaltlich-substantiel-
     le, weshalb Heideggers Werk umfangreich rezipiert wird, während
     dies für Hartmanns Arbeiten heutzutage kaum festzustellen ist.
     Die Popularität Heideggers verführt aber offenbar dazu, wenn es
     um das Verhältnis von Philosophie und Nationalsozialismus geht,
     sich an einer möglichen nationalsozialistischen Kontamination im

                                                                            Seite   15
Seite   16

             Werk Heideggers abzuarbeiten, während andere Zeit- und Zunft-
             genossen kaum oder überhaupt keine Beachtung finden. So werden
             Arbeiten von Philosophen, die während der nationalsozialistischen
             Herrschaftszeit in wissenschaftlichen Kreisen hoch renommiert
             und einflußreich waren – Hartmann wurde bereits angeführt, Erich
             Rothacker wäre ein weiterer Forscher – nur selten untersucht. Die
             ganze Riege von Philosophen, die eher Spezialisten bekannt ist
             (siehe hierzu etwa die Arbeiten von Gereon Wolters über Hugo
             Dingler und Oskar Becker8), wird ohnehin kaum zur Kenntnis
             genommen. Ein insgesamt gravierendes Defizit also, obwohl doch
             (selbst)verständlich sein sollte, daß auch die wissenschaftshistori-
             sche Forschung (wie es die Geschichtswissenschaft allgemein auch
             tut) nicht davon auszugehen hat, was gegenwärtig als wissenschafts-
             relevant gilt, sondern, was wissenschaftlicher Diskurs innerhalb ei-
             nes zeitgeschichtlichen Paradigmas war.

             Mit diesen wenigen Focussierungen auf Teilprobleme einer Inter-
             pretation dessen, was nationalsozialistische Forschung sein könnte,
             wurde die Absicht verfolgt, den heuristischen Wert des national-
             sozialistischen Paradigmenbegriffs zu rechtfertigen. Es wäre ein
             Mißverständnis, wenn der Eindruck entstünde, die untersuchten
             geschichtlichen Prozesse sollten zwanghaft einer bestimmten me-
             thodologischen Auffassung angepaßt werden. Vielmehr ist es ein
             wechselseitiger Prozeß, die Elemente des Paradigmas anhand der
             zu untersuchenden wissenschaftlichen wie politisch-ideologisch
             motivierten Publikationen zu präzisieren oder zu vervollständigen,
             und zugleich seine Identifikations- und Erklärungskraft zu nutzen.9
             Dieser Prozeß ist im übrigen, methodisch gesehen, keinesfalls lo-
             gisch zirkulär, wie bei Gelegenheit geäußert wurde, sondern ein
             hermeneutisches Verfahren.
                  Alles, was bisher zum Paradigmenbegriff gesagt wurde, ist na-
             türlich sehr skizzenhaft und kann an dieser Stelle auch nicht anders
             angelegt sein. Zumindest aber sollte ein Verständnis dafür eröffnet
             werden, von welchem historischen Verständnis aus die vorliegende
             Diskussion geführt wird.
                  Nun ist es so, und nur deshalb kamen wir auf die Diskussion des
             nationalsozialistischen Paradigmas, daß in vielen Arbeiten zur histo-
             rischen Dimension des Antisemitismus in Deutschland eine schwer-
             wiegende Frage aufgeworfen wird: Nämlich, in welchem wirkungsge-

                                                              Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     schichtlichen Verhältnis antisemitisch motivierte Übergriffe, antise-
     mitische Darstellungen und Traktate, antisemitische Pamphlete und
     wissenschaftliche Abhandlungen zum Holocaust stehen? Innerhalb
     dieser Fragestellung werden – meist implizit – tradierte kulturelle
     Sphären zu einem kontinuierlichen historischen Gedächtnis inein-
     ander verwoben. Eine Alternative wäre, diese Sphären als partikula-
     risiert zu denken. Also, diese gleichsam wie Inseln zu behandeln, die
     untereinander mehr oder weniger miteinander verbunden sind, so
     daß von historischen Gedächtnissen im Plural gesprochen werden
     muß. Unter einer metatheoretischen Fragestellung bleibt es von da-
     her nicht aus, das Verständnis ideengeschichtlicher Zusammenhänge
     oder eben relativer Zusammenhänge angemessen zu dekonstruieren.
     Hierbei spielt die eingenommene narrative Perspektive eine Rolle.
     Hierzu wiederum ein Beispiel.
           In seinem Buch Der lange Weg zum Holocaust wählt der amerika-
     nische Historiker John Weiss die chronologische Erzählperspektive.
     Seine Darstellung der Tradition des Antisemitismus in Deutschland
     beginnt bei Luther und endet im Nationalsozialismus. In eben dieser
     Weise geht auch dessen Kollege Raul Hilberg, um wenigstens noch
     einen weiteren Autor hervorzuheben, in seinem berühmten Werk
     Vernichtung der europäischen Juden vor. Was die Wahl dieser narrati-
     ven Perspektive methodisch gerechtfertigt erscheinen läßt, ist, daß
     der Antisemitismus in Deutschland als eine stetige extremistische
     Zuspitzung wahrgenommen wird. Ein affektiver bzw. kulturell mo-
     tivierter Antisemitismus wird allmählich mit dem Aufkommen der
     Rassentheorien durch einen rassisch begründeten Antisemitismus
     überlagert. Die Antisemiten bedienen sich ab dem 19. Jahrhundert
     mehr und mehr eines pathologischen und zoologischen Vokabulars.
     Damit wird zugleich der Ruf vehementer und populärer, die Juden
     auch entsprechend nach den ihnen zugeschriebenen pathologischen
     Zuständen und als niederwertig eingestuften zoologischen Arten zu
     behandeln. Schließlich wird niemand dafür sein können – so müssen
     es sich viele antisemitische Agitatoren gedacht haben –, daß Krank-
     heiten nicht bekämpft und Ungeziefer ausgerottet werden müßten.
     Nicht umsonst verstanden sich viele nationalsozialistische Wissen-
     schaftler als Ärzte der deutschen oder europäischen Kultur.10
           Gerade in der von Hilberg äußerst komprimierten Darstellung
     zum geschichtlichen Verlauf des Antisemitismus, die er seinem
     genannten Buch voranstellt, offenbart sich noch deutlicher als bei

                                                                             Seite   17
Seite   18

             Weiss das methodische Problem der chronologisch narrativen Per-
             spektive:11 Luther, Kant, v. Arnim, Hegel, J. G. Fichte oder Fries, um
             nur einige Namen zu nennen, werden somit (scheinbar) in der Tat zu
             Vorläufern der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten.
                   Es ist kaum vorstellbar, wie solch hervorragende Historiker
             wie Hilberg und Weiss darauf bestehen könnten, es gäbe eine Kon-
             tinuität des historischen Gedächtnisses zwischen beispielsweise
             den Romantikern und Hitler, Goebbels oder Himmler. Sie würden
             wohl, so müßte man doch annehmen, zurecht daran festhalten, daß
             auch der Antisemitismus im romantischen Denken eine nicht zu
             unterschätzende Bedeutung hat, aber doch nicht ganz allgemein
             darauf dringen, es gäbe ein festes Band zwischen diesem und den
             Nationalsozialisten bis in die semantischen Tiefen hinein. Und doch
             geben beide Historiker uns keinen tatsächlichen Anlaß, sie würden
             an der Kontinuität des einen historischen Gedächtnisses Zweifel he-
             gen. Und – diese Perspektive ist äußerst wirksam: So kommt Micha
             Brumlik in seinem Buch Deutscher Geist und Judenhass auf eine
             berühmt-berüchtigte, aber schwer zu deutende These Immanuel
             Kants in seiner Abhandlung über den Streit der Fakultäten zu spre-
             chen. An zentraler Stelle stellt Kant dort fest: „Die Euthanasie des
             Judenthums ist die reine moralische Religion ...“12 Ergänzend hierzu
             ist in Kants nachgelassenen Schriften zu lesen: „Die Euthanasie des
             Judenthums ist die natürliche Religion.“13 Brumlik kommentiert:
             „Gleichwohl kann auch die wohlwollendste Rekonstruktion des
             »Euthanasiegedankens« die Erinnerung an die Gaskammern von
             Hadamar, die als Probelauf für die Mordanlagen von Auschwitz-Bir-
             kenau dienten, nicht vergessen machen.“14 Interessanterweise findet
             sich bei Brumlik keine Rekonstruktion, weder eine wohlwollende
             noch sonst irgendeine.15

             Es sind Feststellungen dieses Zuschnitts, die einem die Kontinuität
             des einen historischen Gedächtnisses irgendwie suspekt erscheinen
             lassen. Dies wird um so deutlicher, wenn die narrative Perspektive
             verkehrt wird, und zunächst eine Bestandsaufnahme über die Eigen-
             tümlichkeit der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten
             und der damit einhergehenden Verbrechen an den Juden erfolgt.
             Sicherlich bedarf auch eine solche Umkehrung der narrativen Per-
             spektive der Rechtfertigung: sie besteht in der Einzigartigkeit des

                                                               Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     Verbrechens an den Juden und ihrer Ermordung durch die Natio-
     nalsozialisten.
           Die Einzigartigkeit beruht auf dem allein von den National-
     sozialisten so begründeten Umstand, daß die Juden ausgerottet
     werden müßten, weil sie Juden seien. Strenggenommen wäre es
     insofern noch nicht einmal gerechtfertigt, die nationalsozialistische
     Judenvernichtung unter die sich mehr und mehr verbreitende Geno-
     zidforschung zu subsumieren. Völkermorde, wie wir sie sonst ken-
     nen oder erleben, besitzen besondere Motive: z. B. Eroberung oder
     Zurückeroberung von Lebensraum, religiöse oder andere kulturelle
     Gegensätze, ökonomische wie militärische Interessen, vorgebliche
     Rassenminderwertigkeit. Noch nicht einmal letzteres ist – bezogen
     auf die Juden – für die Doktrin des Nationalsozialismus zutreffend,
     gleichwohl oft zu lesen ist, die Nationalsozialisten hätten die Juden
     ermordet, weil sie rassisch minderwertig seien. Nationalsozialisten
     sprachen etwa von der minderwertigen slawischen Rasse und behan-
     delten sie entsprechend. Aber bereits in Hitlers Mein Kampf konnte
     man nachlesen, daß der größte Gegensatz zum Arier das Judentum
     sei. Juden wurden diskriminiert, verfolgt, zusammengetrieben und
     zur Vernichtung deportiert aufgrund von wissenschaftlich begrün-
     deten, rassischen Kriterien, die sie überhaupt erst zu Juden machten.
     (Diese Form von Antisemitismus wird daher von uns als »szienti-
     stischer Antisemitismus« bezeichnet.) Sie, die Juden, erhielten die
     Prägung des »Gegentypus« (so wurden sie von dem Nationalsozia-
     listen, Philosophen und Psychologen Erich Jaensch und seinen Mit-
     arbeitern kategorisiert), nicht nur gegenüber den Ariern oder dem
     deutschen Volk, sondern gegenüber der gesamten Menschheit. Zum
     Faktum der Einzigartigkeit gehört deshalb auch, daß Hitler wie auch
     andere Nationalsozialisten – so ist es aus gelegentlichen Äußerun-
     gen zu entnehmen – in der Tat glaubten, sie würden die Menschheit,
     zumindest aber Europa, endlich, über viele Jahrhunderte von zahllo-
     sen Menschen lange ersehnt, vom »Joch« der Juden befreien, indem
     sie sie vernichteten. Nur dies könnte erklären, weshalb die Natio-
     nalsozialisten Juden auch dort aufspürten und deportierten, wo sie
     mit Deutschen überhaupt nicht, auch nicht in absehbarer Zeit, etwa
     durch den sogenannten Gewinn deutschen Lebensraumes, in Berüh-
     rung kamen oder kommen würden.
           Dieser Standpunkt der Einzigartigkeit der Judenvernichtung
     durch den Nationalsozialismus gewährt einen exakteren Einblick

                                                                             Seite   19
Seite   20

             in andere geschichtliche Sphären antisemitischer Haltungen und
             Handlungen. Von diesem einen ausgezeichneten Standpunkt aus
             läßt sich ihre relative Nähe ermitteln.
                  Bei dieser Verhältnisbestimmung unterscheiden wir im wesent-
             lichen noch zwei weitere Ausprägungen von Antisemitismus: Einen
             kulturellen Antisemitismus, der Sphären religiöser, ökonomischer,
             rechtlicher oder sozialer Konflikte, Kontroversen, gar Polemiken
             umfaßt. Dieser findet seinen Ausdruck in Wissenschaft und Kunst
             sowie in alltäglichen Auseinandersetzungen etwa in Zeitschriften,
             Zeitungen oder Flugblättern. Des weiteren einen affektiven Anti-
             semitismus, in dem individuelle Neigungen wie Neid, Mißgunst,
             Ehrgeiz, Gewinnstreben, Habgier, Vorteilserheischung, Gemeinheit
             etc. die hauptsächliche Rolle spielen.
                  Wenn wir also hier den zunächst theoretischen Weg einge-
             schlagen haben, um uns über den Stellenwert der weltanschaulichen
             Doktrin des Nationalsozialismus im klaren zu sein, so deshalb, um
             zum Schluß dieser Abhandlung über folgendes eine Verständigung
             zu erreichen: in welche Sphäre des historischen Gedächtnisses von
             Antisemitismus in Deutschland wir v. Arnims Rede Über die Kenn-
             zeichen des Judentums einzuordnen haben.
                  Sicher, es besteht kein Zwang zu einer solchen Einschätzung
             – wir wollen sie aber nicht umgehen. Die Grundlage eines solchen
             Urteils wird das nationalsozialistische Paradigma sein.

                                                           Böhnigk – Genings – Müller
Kapitel 1

        Die allgemeine Lage
Seite   24

             Über die Kennzeichen des Judentums

             Achim v. Arnims Über die Kennzeichen des Judentums wurde als
             Rede verfaßt. Es braucht von vorneherein nicht verschwiegen zu
             werden, daß diese Rede nach unserer Auffassung als ein gravie-
             rendes Dokument antisemitischen Denkens einzuschätzen ist.
             Die nachfolgende Darstellung verfolgt allein den Zweck, die anti-
             semitische Zielsetzung dieser Rede herauszustellen. Gelegentlich
             werden wir auf gegenteilige Interpretationen oder solche, die den
             Antisemitismus dieser Rede abzuschwächen versuchen, eingehen.
             Hierbei geht es nicht um einen vollständigen Überblick der Lite-
             raturlage, sondern wir beabsichtigen, unser Unverständnis darüber
             zum Ausdruck zu bringen, wie es denkbar ist, diese Rede einzig und
             allein als Satire, Burleske, Zote oder dergleichen aufzufassen. Unser
             mangelndes Entgegenkommen für eine solche Art von Interpretati-
             on beruht darauf, daß sich sämtliche, um es neutral zu formulieren,
             Aussagen v. Arnims über Juden in geschichtlich tradierte antise-
             mitische Projektionen und zeitbezogene Diskurse zur rechtlichen
             und gesellschaftlichen Stellung des Judentums »übersetzen« lassen.
             Man darf demnach davon ausgehen, daß wir es, was die Geschichte
             des Judentums und des Antisemitismus einerseits, sowie die zum
             Zeitpunkt der Rede vehement geführte Auseinandersetzung über
             Religionsfreiheit und Bürgerrechte der Juden andererseits betrifft,
             mit einem bestens unterrichteten Antisemiten zu tun haben. (Ein
             übrigens für viele antisemitische Intellektuelle zutreffendes Prädi-
             kat.) Wir haben es also, kurzum, bei v. Arnims Rede mit einem funk-
             tionalen Prosatext zu tun, der sich hier und da anderer literarischer
             Stilmittel bedient.
                  Nun wäre eine Auseinandersetzung darum, um welche litera-
             rische Spezies es sich bei v. Arnims Rede handelte, die eine Sache.
             Doch die vehementesten Verfechter der These, es ginge hier um
             Unterhaltungsliteratur, behandeln v. Arnims verbale, aber reich-
             lich ausstaffierten Obszönitäten über Juden so – und diese können
             schlichterdings noch nicht einmal diese Vertreter leugnen –, als
             seien wir Teilnehmer einer komisch-karnevalesken Aufführung.
             Unterhaltungsliteratur müßte sich also gleichsam ins Inhalts- wie
             Gegenstandslose verflüchtigen (eine zweifelhafte Zuweisung). Da-
             gegen ist wieder aufzuzeigen, wie sehr v. Arnim dem intellektuellen
             wie wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit verhaftet ist. Wie das,

                                                              Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     was vielleicht dem einen oder anderen als komisch, grotesk, mit
     satirischen Anspielungen gespickt oder zotenhaft daherkommt,
     eine Übertragung der v. Arnimschen Überzeugung ist, was für ihn
     Naturwissenschaft ausmacht: Analyse und Erkenntnis. Man könnte
     deshalb v. Arnims Rede auch Untersuchung und Belehrung über das
     Wesen der Juden betiteln.

     Achim von Arnim und die Deutsche Tischgesellschaft

     Achim von Arnim (eigentlich Ludwig Joachim von Arnim) wurde
     am 26. Januar 1781 in Berlin geboren. Er stammt aus einem märki-
     schen Adelsgeschlecht. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, und
     der Vater, zeitweise Gesandter des preußischen Königs Friedrich
     II, übertrug die Erziehung seiner Söhne seiner Schwiegermutter.
     Achim v. Arnim wuchs deshalb in Berlin und Zernikow auf. Mit
     17 Jahren studierte er Rechtswissenschaften in Halle (1798/99)
     und wechselte später an die Universität Göttingen, wo er mathe-
     matische und naturwissenschaftliche Vorlesungen hörte (1800/01).
     Während der Jahre 1801 bis 1804 unternahm er zusammen mit
     seinem Bruder Karl Otto eine Bildungsreise durch Deutschland,
     die Schweiz, Frankreich und England. 1801 lernte er Clemens von
     Brentano kennen. Ein Jahr später besuchte er die Familie Brentano
     in Frankfurt und lernte dabei Clemens’ Schwester Bettina kennen,
     die er 1811 heiratete. Zusammen mit v. Brentano veröffentlichte er
     die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808). Als
     Hauptmann eines Landsturmbataillons nahm er 1813 am sogenann-
     ten Freiheitskrieg teil. 1814 zog er sich auf sein Gut Wiepersdorf
     zurück, wo er sich als Landwirt und Schriftsteller betätigte. Seit
     dieser Zeit reiste er nur noch selten, und auch die Aufenthalte in
     Berlin waren nunmehr von kurzer Dauer. Am 21. Januar 1831 starb
     v. Arnim auf seinem Landgut.
          Am 18. Januar 181116 gründete v. Arnim zusammen mit Adam
     Müller, Clemens v. Brentano und anderen in Berlin die Deutsche
     Tischgesellschaft.17 Sie bestand mindestens bis 1834. Die Tischgesell-
     schaft sollte sich, so die Vorstellung, etwa alle zwei Wochen versam-
     meln. Im Gegensatz zu den zu dieser Zeit vielerorts bestehenden
     Salongesellschaften, tagten die Mitglieder der Tischgesellschaft an
     öffentlichen Orten wie Wirtshäusern. Obwohl die Anzahl der Mit-

                                                                              Seite   25
Seite   26

             glieder zu Beginn auf vierzig begrenzt wurde, wurde diese schon bald
             auf sechzig nach oben korrigiert. Die Mitglieder kamen aus allen Ge-
             sellschaftsschichten, sofern sie sich den Essenspreis einer jeweiligen
             Sitzung leisten konnten. Adlige wurden persönlich eingeladen, aber
             auch Bürger der oberen Schichten hatten keine Schwierigkeiten, sich
             eine Mitgliedschaft zu sichern. Unter den Mitgliedern waren viele
             Professoren, Beamte und Militärs, weniger häufig waren dagegen
             Künstler vertreten, obwohl gerade deren Mitgliedschaft von v. Ar-
             nim und v. Brentano beabsichtigt war. Die Tischgesellschaft war als
             reiner Männerverein konzipiert. Ausgeschlossen qua Satzung waren
             Juden, Philister und Frauen. Den ersten beiden Gruppen galt an-
             fänglich die Aufmerksamkeit bei den Tischreden. (Was nicht heißt,
             daß später die Frauen eine Rolle spielten, sondern, soweit der Stand
             der Forschung, auch Philister und Juden als Themen offensichtlich
             nicht mehr aufreizend waren.)
                  Bemerkenswerterweise verstand sich die Tischgesellschaft den-
             noch als eine Art repräsentativen staatlichen Verfassungsdiskurses,
             der zu erproben habe, inwieweit die »freie« Beratung zwischen »ver-
             schiedenen« Gesellschaftsschichten zu einer neuen preußischen
             Verfassung führen könne. (Ebenso verquer dazu, verstand sich die
             Tischgesellschaft als unpolitisch.) Der Modellversuch sollte in einer
             ausgelassenen Gesellschaft stattfinden, in der die verschiedenen An-
             sichten durch spontane Tischreden, Schwänke und Zoten geäußert
             werden sollten. Was aber nur teilweise erfolgreich umgesetzt wurde.
             Nach öffentlichen Antisemitismusvorwürfen von Seiten der jüdi-
             schen Gemeinde zu Berlin und nach der Übernahme des Vorsitzes
             von Johann Gottlieb Fichte traten, wie gesagt, die Themen »Juden-
             tum« und »Philistertum« in den Hintergrund. Markant im Hinblick
             auf diese Phase der Tischgesellschaft bleiben v. Brentanos sogenann-
             te Philisterrede, die als einzige schon zu Zeiten der Tischgesellschaft
             und auf ihre Kosten zum Druck freigegeben wurde, sowie v. Arnims
             Rede Über die Kennzeichen des Judentums, die ausschlaggebend für
             die Proteste der jüdischen Gemeinde war.

             Bisherige Kommentierungen zu dieser Rede

             Die Urteile, inwieweit es sich bei v. Arnims Rede Über die Kennzei-
             chen des Judentums um eine antisemitische Darstellung handelt, sind

                                                                Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     äußerst schillernd. In dieser Diskussion, vornehmlich in der Litera-
     turwissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg geführt, bestreitet kein
     ernst zu nehmender Interpret, die Juden würden hier nicht in einen
     besonders negativen Focus der Betrachtung gestellt werden. Die
     Einschätzungen dieser Rede reichen von einer idiosynkratischen
     Einstellung v. Arnims gegenüber den Juden, über religiöse Vorbe-
     halte – von vielen werden beide Einstellungen nicht als spezifisch
     antisemitisch beurteilt – bis hin zu einer kompromißlosen Verurtei-
     lung v. Arnims als extremen Antisemiten. Wir werden hier nur auf
     einige prominente Standpunkte eingehen, die immer wieder bei der
     Beurteilung dieser Rede herangezogen werden.18

     Einer der zweifellos besten Kenner des v. Arnimschen Werkes, Heinz
     Härtl, urteilt über v. Arnims Rede in seiner Arbeit Romantischer
     Antisemitismus. Arnim und die »Tischgesellschaft« klar und unmiß-
     verständlich: „Diese Rede ist der schlimmste antisemitische Text
     der deutschen Romantik, gerade auf Grund der heiter-ausgelassenen
     Unbefangenheit, mit der er unter Berufung auf Aristophanes und
     Eulenspiegel vorgetragen und wohl aufgenommen wurde.“19
          Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden – mitunter
     in der Absicht, v. Arnims vorgehaltenen Antisemitismus abzu-
     schwächen –, daß dieser die Aufnahme von getauften Juden in die
     Tischgesellschaft befürwortet habe. In einer eigens anberaumten
     Abstimmung unter den Mitgliedern der Tischgesellschaft soll v.
     Arnims Begehren, getaufte Juden aufzunehmen, mehrheitlich abge-
     lehnt worden sein. Hierzu bemerkt Härtl: „[Achim v. Arnim] war
     aber so borniert, die Tatsache, daß er überstimmt wurde, nur als Be-
     weis für die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft anzuerkennen.“20
     Härtl sieht in v. Arnim zwar einen „Sonderfall“ der Tischgesellschaft
     hinsichtlich seiner „Abwiegelungsversuche“, einen offenen Krieg
     gegen die Juden zu führen, aber nicht in seinem „Haß und Spott“,
     den er in der Tischgesellschaft „zu erregen und zu befriedigen [...]
     vermochte“21.
          Im Gegensatz zu Härtl erkennt Gisela Henckmann in v. Ar-
     nims „satirische[r] Judendarstellung [...] nichts Ungewöhnliches“22.
     Sie stuft dessen Rede als „Bestandteil allgemeine[r] Zeit- und Ge-
     sellschaftskritik“23 ein. Achim v. Arnims Einstellung gegenüber
     den Juden setze sich hauptsächlich aus privat motivierten Wut- und
     „viel-leicht“ Haßtiraden zusammen, deren Ursprung in v. Arnims

                                                                             Seite   27
Seite   28

             hoher Verschuldung insbesondere bei jüdischen Kreditgebern zu
             suchen sei. Allenfalls ließen sich noch religiöse Vorbehalte v. Ar-
             nims geltend machen, die sich daraus ergäben, daß v. Arnim nur
             getaufte Juden in der Tischgesellschaft zulassen wollte. Von dem
             Vorwurf einiger Interpreten, v. Arnims Einstellung zu den Juden
             als „extrem [zu] bezeichnen“24, sei er genauso freizusprechen wie
             von dem „Vorwurf des Rassismus und unversöhnlichen Judenhas-
             ses“25. Härtls Urteil, beispielsweise, sei zwar aus der heutigen Sicht
             völlig verständlich, berücksichtige aber weder die zeithistorischen
             Umstände noch die Adressaten der Rede: „Dieses Urteil [Härtls] ist
             angesichts der Aneinanderreihung grausam-grotesker, z. T. brutaler
             Scherze voll verständlich. Sie wirken auf den heutigen Leser um so
             schlimmer, als er manche dieser Ausgeburten einer grotesken Phan-
             tasie mit den Realitäten des Völkermordes in Verbindung bringen
             kann. Ohne die Rede verharmlosen zu wollen, müßte man sie jedoch
             im Kontext von Arnims sonstigen Äußerungen, nach ihrem Zweck
             und nach der Zielgruppe beurteilen, für die sie geschrieben ist. Die
             Rede war ausdrücklich zur Unterhaltung der Tischgesellschaft,
             nicht zur Veröffentlichung bestimmt; darauf weist Arnim abschlie-
             ßend hin.“26 Henckmann verschiebt, anders als Härtl, die Motive der
             Rede v. Arnims ins Psychologische, denn man „wird den Eindruck
             nicht los, daß mit dem Entsetzen Scherz getrieben wird und daß sich
             hier die durch das christliche Gewissen zurückgestauten Haßgefüh-
             le verbaliter Luft machen.“27

             In seiner umfassenden wie herausragenden Arbeit zur Geschichte
             der Deutschen Tischgesellschaft beschäftigt sich auch Stefan Nien-
             haus in einem längeren Exkurs mit dem (vermeintlichen) Antise-
             mitismus in der Tischgesellschaft, aber insbesondere mit der Rede
             v. Arnims. Dessen „scherzhafte Intention [...] verbirgt den Beitrag
             zu der ambitionierteren des Vereins, durch die realisierte Diskrimi-
             nierung im sozialen Bereich der Geselligkeit einen Protest gegen die
             politische Emanzipation und die soziale Akkulturation der Juden zu
             vollziehen.“28 Nienhaus sieht in der Ansammlung von stereotypen
             Vorurteilen der Rede das Ziel, „eine Blende zu errichten, welche die
             Andersheit der Juden vor jeder Erfahrung festschreibt. Dadurch
             sollte eine drohende Korrektur des Vorurteils verhindert werden,
             wie sie sich aus dem gefürchteten Kontrast mit der Wirklichkeit [...]
             ergeben mußte“29.

                                                               Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

          Nienhaus wie auch andere Interpreten nähern sich der Rede
     v. Arnims mit den Mitteln der Stilanalyse. Im Gegensatz zu der
     am häufigsten vorgebrachten These, bei v. Arnims Rede handele es
     sich um eine Satire, legt Nienhaus dar, daß wir es vielmehr mit einer
     Zote oder Groteske zu tun hätten, worauf der „derb-unflätig[e],
     grobianisch[e] Ton der Tischrede“30 stilistische Hinweise liefere.
     Nienhaus zeigt auf, wie „Scherz [und] Ernst“31, in Form von Ver-
     gangenheit und Gegenwart, eng miteinander verwoben sind und so
     zu einem „suggestive[n] Spiel“ werden, das auf der Grundlage von
     Mythen und Legenden eine ernste „überhistorisch[e] Gültigkeit“32
     von diesen schafft und damit Handlungsvarianten in den damaligen
     Verfassungsverhandlungen impliziert.
          Während Nienhaus die Rede als stilistisch versiert würdigt, ist
     er zugleich davon überzeugt, daß es sich bei v. Arnims Rede inhalt-
     lich um ein antisemitisches Pamphlet handelt. Zuletzt aber, trotz des
     eigens formulierten Anspruchs, entgegen den bisherigen Einschät-
     zungen zur politischen Ideologie der Deutschen Tischgesellschaft
     und ihrem Hauptprotagonisten v. Arnim zu einer Neubewertung
     zu kommen, wird jener zwar in bezug auf bestimmte politische
     Einstellungen und Motive ihrer Mitglieder reichlich erfüllt, nicht
     jedoch, was den Antisemitismus anbetrifft. So bleibt es hier bei ei-
     ner Motivforschung, die nicht über die Einschätzung Henckmanns
     hinausgeht: „Diese antisemitische Haltung hatte mit Sicherheit z. T.
     persönliche Gründe – etwa im Fall Arnims, dessen Haß sich wohl
     nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Schulden bei jüdischen Gläu-
     bigern entwickelt hatte.“33 Wie kommt es, so wäre im Anschluß
     an Nienhaus’ erhellende Studie zu fragen, zu dieser Relativierung,
     wenn der Antisemitismus doch zum „ideologischen Selbstverständ-
     nis“34 der frühen Tischgesellschaft gehörte? Es drängt sich die Frage
     auf, warum eine »persönliche Verstrickung« wie im Falle v. Arnims
     „antisemitisch[e] Invektiven und den rassistischen Ausschluß sogar
     von Konvertierten“35 zur Folge haben muß, wenn es sich nicht doch
     um eine »überhistorische, biologistische Wahrheit« eines Antisemi-
     ten handelt?

                                                                             Seite   29
Seite   30

             Zielsetzung der nachfolgenden Kapitel

             Der von uns eingeschlagene Weg zum Verständnis der Rede v. Ar-
             nims möchte den in ihr vorhandenen historisch tradierten wie (zu v.
             Arnims Zeit) gegenwartsbezogenen Gehalt rekonstruieren. Gerade,
             weil diese Rede über eine enorme Fülle an Verweisen auf historische
             Ereignisse, gegenwartsbezogenem Wissen und Alltagserlebnissen
             aus den Bereichen Kunst, Politik und Wissenschaft verfügt, ist sie
             ohne eine Entfaltung dieser Dimensionen nicht angemessen zu
             verstehen. Selbstverständlich mußten auch hierbei thematische
             Schwerpunkte gesetzt werden.

             Zunächst ist hier die besondere Fülle ikonographischer wie bild-
             nerischer Anspielungen auf Judendarstellungen zu untersuchen.
             Hierzu gehören auch die von v. Arnim verwendeten physiogno-
             mischen Beschreibungen von Juden. Da die Rede v. Arnims in der
             bisherigen Forschungsliteratur in der Regel als Satire, Scherz, Bur-
             leske oder Zote hingestellt wird, in der Regel mit dem Impetus, den
             Extremismus seiner Judendarstellung und die daraus resultierenden
             Handlungsaufforderungen an seine Zuhörer abzuschwächen, psy-
             chologisch zu entschuldigen oder gar als einen Beitrag unterhalten-
             der, belustigender Wortstafetten zu entdramatisieren, untersuchen
             wir (literaturtheoretisch gesehen) weder Form noch Stil, sondern
             den empirischen Gehalt der Rede. Hieran schließen sich nach
             unserem Verständnis nahtlos die von v. Arnim vorgeschlagenen
             Verfahren aus der Chemie und Medizin an, um Juden identifizieren
             und somit entlarven zu können. Auch hier könnten sich die Aus-
             führungen v. Arnims als belanglos grotesk hinstellen lassen, wenn
             seine Beschreibungen nicht exakt dem wissenschaftlichen Stand der
             chemischen Forschung entnommen worden wären. Daß v. Arnim
             naturwissenschaftliche Kompetenz besaß, steht dabei außer Frage,
             veröffentlichte er doch parallel zu seinen belletristischen Werken
             unter anderem in naturwissenschaftlichen Zeitschriften. Achim v.
             Arnim spielt nicht mit den Inhalten der Naturwissenschaften, ob
             Chemie oder Physik, und der Medizin, sondern verfolgt konsequent
             deren Grundsatz, Regelmäßigkeiten (über die »Natur« des Juden)
             aufzudecken und diese in gesetzmäßige Zusammenhänge zu fassen.
             Darüber hinaus liefert v. Arnim eine Pathologie des Juden. Gerade
             in diesem als vermeintlich »grotesk« hingestellten Zusammenspiel

                                                             Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     zwischen Mensch, Medizin und Wissenschaft ist nachzuzeichnen,
     inwiefern v. Arnim die Idee einer sich in ihrer Substanz nie ändern-
     den Wesenseigenschaft des Juden verfolgt, so wie dies in anderen
     Zusammenhängen durch den Begriff der Rassenkonsistenz postu-
     liert wurde.

                                                                            Seite   31
Kapitel 2

        Die Bilderwelt
Seite   34

             Charakteristisch an der Rede v. Arnims Über die Kennzeichen des
             Judentums ist die Verwendung von bildlichen Elementen oder die
             Anspielung auf Bilder, die zur Beschreibung des Judentums, des
             »typischen« Juden und seiner ihm eigenen Lebens-, Verhaltens- und
             Denkweise dienen.
                   An dieser Stelle soll der Versuch unternommen werden, der
             »Zitation« ikonographischer und bildnerischer Motive des Juden
             und des Judentums durch v. Arnim nachzugehen.
                   Über eine Analyse dieser verwendeten Motive hinsichtlich ihrer
             Bildaussage, ihres ideologischen Gehaltes, ihrer Tradition und ihrer
             beabsichtigten Wirkung beim Betrachter soll der Nachweis geführt
             werden, daß v. Arnim mit antisemitischen Darstellungen vertraut
             war und sie den Hörern seiner Rede, den Mitgliedern der Deutschen
             Tischgesellschaft, suggestiv vermittelte.
                   Die Mitglieder der Tischgesellschaft sollten – so die prokla-
             mierte Absicht v. Arnims – Juden, die sich eventuell heimlich in
             die Tischgesellschaft einschleichen könnten, zweifelsfrei als Juden
             erkennen können. Dazu ist es notwendig, sie von den Christen und
             »Deutschen« der Tischgesellschaft zu unterscheiden. Indem v. Arnim
             den Zuhörern Unterscheidungskriterien an die Hand gibt, ermög-
             licht er ihnen auch, sich ihrer eigenen Identität als Christen und
             Deutsche zu versichern. Die Doppelwirkung von Diskriminierung
             auf der einen Seite und Identitätsgewinn auf der anderen wird an
             einigen Bildbeispielen nachweisbar sein.
                   Achim v. Arnim geht von der Grundannahme aus, daß Juden im
             Unterschied zu den von der Tischgesellschaft ebenfalls ausgeschlos-
             senen Philistern eine besondere, nur ihnen eigentümliche Fähigkeit
             haben, nämlich „[die] seltene Kunst sich zu verstecken“ (363, z
             35 f.). Diese Fähigkeit erschwert das Erkennen ihres »Wesens«, wo-
             bei v. Arnim grundsätzlich davon ausgeht, daß ihre „Eigentümlich-
             keiten“ „wissenschaftlich bestimmt“ (363, z 36 f.) werden können.
                   In diesem Kapitel wird das von v. Arnim in seiner Rede gezeich-
             nete Judenbild mit Hilfe von Bildbeispielen illustriert, die sich aus
             den drei wesentlichen Motiven seiner Rede ergeben, hinsichtlich
             derer v. Arnim den Juden an sich und im Unterschied zum Christen
             und »Deutschen« zu bestimmen versucht, indem er auf andere bild-
             künstlerische Darstellungen, historische Ereignisse in mündlicher
             oder schriftlicher Überlieferung oder literarische Quellen Bezug
             nimmt.

                                                              Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

     Das Bild des religiös motivierten ewigen Kampfes der Juden
     gegen die Christen

     Achim v. Arnim entwickelt ein Drohzenario der Unterwanderung
     und Auflösung der Deutschen Tischgesellschaft, indem sich Juden
     unbemerkt in diese einschleichen könnten. Es bestünde die Gefahr,
     daß „an die Stelle dieser christlichen Tischgesellschaft ein[e] Syn-
     agoge [sich] [grammatische Korrekturen nach Nienhaus] versam-
     melte, welche statt des frohen Gesanges auerte, statt der Fasanen
     Christenkinder schlachtete, statt der Mehlspeise Hostien mit Gabel
     und Löffel zerstäche, statt der großen Wohltaten [...] die öffentli-
     chen Brunnen vergiftete“ (363, z 8–14).

     In dieser kurzen Passage seiner Rede greift v. Arnim vier tradierte
     und religiös fundierte Motive auf, die das Verhältnis von Christen-
     tum und Judentum seit Jahrhunderten bestimmen: den Kampf von
     Ecclesia und Synagoga um die Vorherrschaft des rechten Glaubens,
     den Mord an Christenkindern, den Hostienfrevel und das Vergiften
     von Brunnen. Diese vier Motive sollen nachfolgend eingehender
     betrachtet werden.

     Mit der Einführung der Trinitätslehre auf dem Konzil von Nikaia im
     Jahre 325 wurde die Trennung des Christentums vom streng mono-
     theistischen Judentum endgültig besiegelt.36 Anhand der im 2. Jahr-
     hundert einsetzenden literarischen Auseinandersetzung des Chri-
     stentums mit dem Judentum läßt sich aufzeigen, daß die Trennung
     beider Religionen nicht zu einer friedlichen Koexistenz in der Zu-
     kunft führen würde. Im Gegenteil: In den folgenden Jahrhunderten
     setzten sich führende Theologen wie Hieronymus († 420), Hrabanus
     Maurus († 856) oder Petrus Venerabilis († 1158) mit dem Judentum
     beziehungsweise den Juden auseinander.37 Bereits im 9. Jahrhundert
     ist das Motiv des Kampfes von Ecclesia und Synagoga kanonisch.
     Es ist in zahlreichen Bildern oder Skulpturen überliefert und bis ins
     20. Jahrhundert zur Ausschmückung von Kirchen und Klöstern ver-
     wendet worden. Den Darstellungen liegen verschiedene Textpassagen
     zugrunde – vorwiegend handelt es sich um Bibelzitate, aber auch um
     Auslegungen von Schriftgelehrten –, von denen nachfolgend einige
     genannt sein sollen. Für die Portalskulptur Ecclesia und Synagoga,
     St. Lamberti, Münster (siehe Abbildung 1) sind als Schriftquellen

                                                                             Seite   35
Seite   36

                                                                 Abb. 1

             anzugeben: 2. Kor. 11, 2, Eph. 5, 23–27. Ecclesia ist dargestellt als
             prächtig gewandete Königin. Sie ist Christus zugewandt, hat sein
             Blut im Kelch aufgefangen, wodurch sie zur Sakramentsverwalterin
             wird. Sie wird den klugen Jungfrauen zugeordnet.
                   Synagoga wird hingegen den törichten Jungfrauen zugeordnet
             (Mt. 25, 1–2). Nach der Interpretation von Ex. 34, 30 durch Pruden-
             tius (um 405 n. Chr.) heißt es: „Das jüdische Volk fürchtete sich vor
             Moses, vor seinem von göttlichem Glanz strahlenden Antlitz und
             wandte sein Gesicht ab, weil es Gott, d. h. Gottes Gegenwart, nicht
             ertrug“ (Patrologia Latina 60, 319). Übertragen auf das Neue Testa-
             ment ergab sich die Darstellung der Synagoga, die sich vom Kreuz
             abwendet oder weggeht – die Bewegungsrichtung von Synagoga ist
             nach links, dorthin, wo sich nach damaliger kodifizierter Bildauf-
             fassung die Hölle befindet. Der Kirchenvater Stephan de Tournai
             (1203 gestorben) schrieb: „Ungetaufte Juden sind ein Haufen der
             Verdammten (massa perditionis).“38
                   Als Attribute sind der Synagoga der Palmzweig als Hinweis
             auf den Orient, die zerbrochene Kriegsfahne oder Lanze, mit der
             sie Jesus oder ein für Jesus stehendes Lamm ersticht, die zu Boden
             fallende Krone als Zeichen der verlorenen Königinnenwürde oder
             des Verlustes ihres Reiches beigegeben. Als Zeichen dafür, daß sie

                                                              Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums

                                     Abb. 2

     trotz ihres Verlustes an dem alten Bund mit Gott festhalten will,
     sind als Attribute Beschneidungsmesser, Böckchen, Bockskopf oder
     Gesetzestafeln hinzugefügt.

     Ein interessantes Beispiel für die Darstellung von Ecclesia und Syn-
     agoga im 20. Jahrhundert ist das Mosaik in der Sakramentskapelle
     der Basilika von Maria Laach, das in den Jahren 1910–1912 entstan-
     den ist (siehe Abbildung 2). Neben den bereits oben genannten
     Merkmalen der Darstellung der beiden Figuren in ihrer Haltung und
     Beigabe der entsprechenden Attribute finden wir hier ein Spruch-
     band der Synagoga: „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz
     muß er sterben.“ Basierend auf der Bibelstelle Lev. 24,16 muß Jesus
     sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Das über Jesus
     gefällte Todesurteil der Synagoga wird in einigen Darstellungen von
     ihr auch selbst vollstreckt. Das Abstechen des Lamms unterstellt
     den Juden den Wunsch, die Passion Christi zu wiederholen. Diese
     christliche Vorstellung bildete später die Folie für die Assoziation
     antijüdischer Legenden wie das Zerstechen der Hostien oder das
     Zerschneiden von Bildern.
          Dabei ist anzumerken, daß die Juden nach christlicher Auffas-
     sung nicht aus selbst gewählten Handlungsmotiven gegen Christus

                                                                            Seite   37
Seite   38

                                                                Abb. 3

             oder die Christen vorgehen, vielmehr ist ihr Handeln durch ihr Ge-
             setz bestimmt. Auf einem Kruzifix mit Ecclesia und Synagoga, eine
             Miniatur im Antiphonar der Benediktinerabtei St. Peter in Salzburg
             aus dem Jahre 1160, ist der Synagoga als Attribut das Ochsenjoch
             als Symbol für das Joch des Gesetzes beigegeben. „Die Knecht-
             schaft der Juden unter dem Gesetz gehört seit dem Barnabasbrief
             (2. Jahrhundert) zu den antijüdisch-apologetischen Vorwürfen.“39
             (Siehe Abbildung 3) Solange die Juden sich ihren eigenen Gesetzen
             unterwerfen, werden sie Feinde der Christen sein. Daß die Juden re-
             ligiösen Gesetzen unterworfen sind, die sich von denen der Christen
             und Deutschen unterscheiden, ist nach v. Arnim allgemein bekannt.
             Nach seiner Ansicht weiß auch jeder, „wie künstlich sie ihre Gesetze
             auszudeuten wissen, um sie der Not anzuschmiegen“ (364, z 27–29)
             und „wie leicht sie ihre übrigen Gesetze beseitigen und umgehen“
             (365, z 7). Achim v. Arnim meint, daß Mose selbst verfügt hat, daß
             die Juden Kenntnis der Gesetze nur durch die Rabbiner erlangen, die
             diese wiederum nach v. Arnims Überzeugung absichtlich in Unwis-
             senheit hielten. Aufgrund der Unwissenheit der Gläubigen war es
             den Rabbinern möglich, ihr Expertenwissen zur Vermehrung ihres

                                                             Böhnigk – Genings – Müller
Sie können auch lesen