Achim v. Arnim Über die Kennzeichen des Judentums Ein Kommentar - Volker Böhnigk/Karin Genings/Mirko Müller - FrontIn
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Volker Böhnigk/Karin Genings/Mirko Müller Achim v. Arnim Über die Kennzeichen des Judentums Ein Kommentar Unveröffentlichtes Manuskript © 2006
Inhalt Einleitung 9 Die allgemeine Lage 23 Die Bilderwelt 33 Die Buchstaben- und Zeichenwelt 61 Die szientistische Welt 71 Schlußbetrachtung 83 Anmerkungen 89
Einleitung*
Seite 10 Wenn es heutzutage um die Geschichte des Antisemitismus geht, so kann sie nach dem Ende der nationalsozialistischen Herrschaft nicht mehr anders als durch diese deutungsgeladen wahrgenommen werden. Sei es durch das unmittelbare Erleben des Nationalsozialis- mus, sei es durch das angeeignete Wissen über ihn. Im letzteren Fall spräche man wohl besser davon, die Wahrnehmung der Geschichte des Antisemitismus sei theoriengeleitet. Ganz gleich, um welche Epoche außerhalb des Nationalsozialismus es sich auch handeln mag, wie auch immer man sich in sie vertieft. Ganz gleich, ob man sich nur mit einem einzigen Autor, ja sogar nur mit einem einzigen Traktat beschäftigt, so wie dies hier geschieht. Die Frage ist, in wel- chem historischen Gedächtnis der Untersuchungsgegenstand zur antisemitischen Vernichtungsdoktrin der Nationalsozialisten steht. Es ist eine methodische Entscheidung, inwieweit man diesen Horizont explizit in eine Untersuchung mit einzubeziehen gedenkt. Gerade dann, wenn es sich um eine Untersuchung handelt, die sich mit einer Form des Antisemitismus auseinandersetzt, die weit vor der nationalsozialistischen Herrschaftszeit liegt. Es ist ja nicht grundsätzlich geboten, einen solchen Untersuchungsgegenstand und die gewonnenen Resultate mit der Dimension der Vernichtung der europäischen Juden abzugleichen. Sie in entwicklungsgeschicht- liche Thesen, seien sie ideengeschichtlich, ideologiekritisch, sozial- politisch etc. zu kleiden. Gelegentlich sogar, darauf wird zurückzu- kommen sein, grenzen solche Abgleichungen an Populismus oder sind zumindest inhaltlich irreführend. Im Hinblick auf die vorliegende Studie haben wir uns ent- schlossen, dem Untersuchungsgegenstand einige methodische Er- wägungen voranzustellen. Sie mögen eine Einsicht darüber ermög- lichen, von welchem historischen Verständnis aus und mit welchem Vokabular die nachstehende Untersuchung durchgeführt wird. Sie mögen den theoriengeleiteten Horizont verdeutlichen, der seit dem nationalsozialistischen Versuch besteht, die europäischen Juden zu vernichten. Als evidente Prämisse, da sie hier nicht weiter gestützt werden kann, setzen wir voraus, daß es eine Ideengeschichte des Natio- nalsozialismus gibt. Unweit schwieriger zu belegen ist, auf welche Art sich dieser ideengeschichtliche Prozeß vollzogen hat. War es ein kontinuierlicher Prozeß? Gar ein radikal kumulativer, der im Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums Nationalsozialismus mündete? Oder läßt sich nur von diskreten Teilentwicklungen sprechen? Von rechtsextremistischen völkischen, antisemitschen, nationalistischen Bewegungen, die durch weniger extreme Bewegungen politischen Denkens abgelöst oder zur glei- chen Zeit neutralisiert wurden? So, daß gewisse Strömungen, wenn auch nicht Schritt für Schritt oder kumulativ, in Beziehung zum Nationalsozialismus gesetzt werden können oder müssen? Und schließlich, weshalb könnte nach der Implementierung der national- sozialistischen Diktatur nicht von einem Bruch mit jedweder Tradi- tion die Rede sein? Von einem totalen Gestaltwechsel? – was jedoch nicht bedeuten kann, daß die Prinzipien, die diesen Gestaltwechsel kennzeichnen, ohne die vorherige(n) Tradition(en) überhaupt ver- ständlich wären. Es kann an dieser Stelle keine Klärung erfolgen, in der das Für und Wider bezüglich solcher ideengeschichtlicher Hypothesen abgewo- gen wird. Hier wird die Annahme vertreten, nach der es mit der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur zu einem totalen Gestaltwechsel kam. Der Begriff des Gestaltwechsels ist dabei im Sinne von Thomas S. Kuhn zu verstehen. Danach wird ein beste- hendes Paradigma durch ein anderes abgelöst, das von da an zum dominierenden Interpretament – sagen wir ganz allgemein – von Welt wird. Der Begriff des Paradigmas wird hier in einem sehr tech- nischen Sinne verstanden. Nach Kuhn1 ist eine paradigmengeleitete Periode in den Wissenschaften auf ähnliche Weise zu verstehen, wie eine Stilperiode in der Kunstgeschichte. Es herrscht offenkundig eine Einheit, aber diese Einheit ist ein elastischer Rahmen, der sich nicht auf einen Satz kanonischer Regeln reduzieren läßt. Eine solche Einheit – oder ein solches Paradigma – ist daher arm an Gehalt und mit ständig sich ändernden historischen Inhalten gefüllt. Ein solcher Rahmen ist also höchst ungenau, weshalb es keine allgemeinen und exakten Aussagen über Paradigmen und daher auch keine über die Methodik innerhalb eines Paradigmas sowie beim Übergang von einem Paradigma zu einem anderen (Gestaltwechsel/Revolution)2 geben kann. Ausfindig zu machen sind deshalb diejenigen speziellen Prinzipien und Regeln, die einem Paradigma in einem bestimmten Zeitraum seine Gestalt geben. Es ist an anderer Stelle dafür argumentiert worden3, daß die Kuhnsche Beschreibung wissenschaftlicher Prozesse sowie seine Seite 11
Seite 12 hierzu benutzte Terminologie auch zur Beschreibung gesellschaft- licher und kultureller Prozesse, insbesondere zur Ideologiekritik, nutzbringend eingesetzt werden kann – speziell im Zusammenhang mit der Entstehung und Struktur der nationalsozialistischen Ideolo- gie. Hierzu wurde die These eines nationalsozialistischen Paradigmas unterbreitet, das mindestens die sechs folgenden notwendigen und hinreichenden Prinzipien enthält: (1) die Rassen- und Volkswertlehre, (2) die rassenbedingte Typenlehre: das Recht der Gemein- schaft im Gegensatz zur Rechtlosigkeit des Individu- ums, (3) eine rassisch-biologische Fundamentaltheorie, (4) die rassen- und erbbiologische Bestandsbedrohung des deutschen Volkes vor dem Hintergrund einer Kultur- kreistheorie, (5) der szientistische Antisemitismus, (6) die rassisch-völkische Vollendung des deutschen Wer- dens. An der Verwendung eines solchen Paradigmas ist von verschiede- nen Seiten Kritik geübt worden. Sie betrifft nicht in erster Linie die Adäquatheit dieser Prinzipien zur Darstellung der nationalsoziali- stischen Ideologie als vielmehr ihre Unvollständigkeit und eine ge- wisse Abneigung, überhaupt die These eines nationalsozialistischen Paradigmas zu vertreten. Es sei deshalb an dieser Stelle kurz erlaubt, kursorisch einige Überlegungen vorzubringen, die zur Aufstellung dieser Prinzipien geführt haben. Das Bedürfnis, ein solches Paradigma zu entwickeln, resultierte zum einen aus der immer offensichtlicher werdenden Unfähigkeit der Totalitarismusforschung zwischen politisch linken und rechten Diktaturen zu unterscheiden, geschweige denn, Differenzierungen innerhalb dieser Lager zu erfassen. Zum anderen ging es um ein wichtiges, jedoch in methodisch-systematischer Hinsicht höchst vernachlässigtes Subsystem der nationalsozialistischen Gesellschaft, den Wissenschaften. Hier war nämlich zu fragen, wie sich unter einem methodologischen Gesichtspunkt wissenschaftliche For- schung als Forschung im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie überhaupt identifizieren läßt. Die meisten Historiker haben bisher Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums den Weg beschritten, anhand der persönlichen Lebenswege von Forschern diese Frage zu klären. Mitgliedschaft in der NSDAP oder anderen nationalsozialistischen Organisationen, Bekenntnisse zum Nationalsozialismus, zu Adolf Hitler oder anderen wichtigen Prota- gonisten des Nationalsozialismus, Forschungstätigkeiten innerhalb nationalsozialistischer Institutionen wie etwa des SS-Ahnenerbes, Forschungstätigkeiten in Vernichtungslagern und -stätten, For- schungstätigkeiten in Abteilungen von Instituten (etwa Kaiser-Wil- helm-Institut) bzw. Vertretung von Lehrstühlen, die als möglicher- weise nationalsozialistisch »kontaminiert« gelten (etwa Lehrstühle für Rassenhygiene, Erbbiologie) etc. Keineswegs soll daran gezweifelt werden, daß die auf diese Weise von Historikern aufgezeigten personellen Einlassungen wie institutionellen Zusammenhänge von höchster Bedeutung sind. Diese Darstellungen leiden aber an einem Problem: Wissenschaftli- che Forschung wird erst dann manifest, wenn ihre Hypothesen, Ver- suchsanordnungen, Ergebnisse schriftlich fixiert sind, sei es in Form von Protokollen, Artikeln oder Büchern, manchmal sogar nur in kurzen schriftlichen Notizen oder Briefen. Dies wäre an sich trivial, wenn nicht intuitiv – auch dies läßt sich anhand vieler Publikationen zum Nationalsozialismus studieren – die Auffassung vorherrschen würde, wissenschaftliche Forschung, wenn sie nationalsozialistisch sei, bezöge sich nur auf Folgen technischer und technokratischer Intervention. So schreibt der Philosoph Gereon Wolters (dieses Beispiel sei angeführt, weil die Philosophie vielerorts als gänzlich praxislos gilt und die, die sie betrieben, als praxisfern): „Vorweg sei gesagt, verbrecherische Schurken finden wir unter ihnen [den Philosophen] nicht, anders als bei z. B. Juristen und Medizinern. »Auschwitz« wurde nicht von Philosophen betrieben.“4 Die Annahme, nationalsozialistische Verbrechen bezögen sich allein auf Handlungsfolgen, während offensichtlich theoretische und experimentelle Forschung, sofern letztere nicht unmittelbar mit Zwangsversuchen an Menschen zu tun hat, weltanschaulich »neutral« sei, verlangt nach der Frage »Gibt es überhaupt nationalso- zialistische Forschung?«. Damit ergibt sich jedoch erneut das oben angesprochene Problem, ob die von Historikern dokumentierten Lebens- und Forschungswege hinreichende Kriterien zur Feststel- lung einer genuin nationalsozialistische Forschung sein können. Seite 13
Seite 14 Es wäre möglich, die Frage nach notwendigen und hinreichen- den Kriterien einer nationalsozialistischen Forschung auf eine theo- retische Debatte auszudehnen.5 Hier muß es reichen, sich einmal die folgenden Beispiele zu vergegenwärtigen: a) Empirische Forschung Der Humangenetiker und Arzt Josef Mengele gilt, da er in den Jah- ren 1943 bis 1945 in Auschwitz-Birkenau Menschenversuche durch- führte und viele seiner Versuchsopfer tötete, als schwerer nationalso- zialistischer Verbrecher. Als Assistent (und ehemaliger Promovent) des Rassenhygienikers Professor Otmar Freiherr von Verschuer unterrichtete er diesen beständig über seine Forschungsergebnisse in Auschwitz und verschickte auch Untersuchungsproben der getö- teten Probanden an v. Verschuer. Dessen Forscherleben endete aber nicht mit der Niederlage Deutschlands, sondern entfaltete sich bis in hohe Ministerien der Bundesrepublik. Darüber hinaus erhielt er 1965 eine Professur für Genetik und wurde Leiter des Instituts für Humangenetik der Universität Münster. Unterstützung für seine Forschungen erhielt v. Verschuer auch weiterhin von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. (Diese wenigen biographischen Notizen mögen hier reichen). Die Betrachtung dieses Falls muß die Frage aufwerfen, ob denn nur die unmittelbare Tathandlung (Mengele) ein nationalsozialisti- sches Verbrechen sein soll, während eine mittelbare Beteiligung (v. Ver- schuer) für offensichtlich irrelevant erklärt wird. Es ist allein schon kontraintuitiv, anzunehmen, daß der Wissen- schaftler v. Verschuer, der die Aufsicht über Mengeles Forschungen in Auschwitz hatte, nicht von diesen profitierte, da doch beide auf dem gleichen (Forschungs-)Gebiet arbeiteten. Der Aufgriff dieses »Forscherverhältnisses« zwischen Mengele und v. Verschuer verdeutlicht möglicherweise ein Defizit in der Rechtsprechung, die wissenschaftlichen Tätigkeiten eines v. Ver- schuer juristisch angemessen zu erfassen – den durchaus nahelie- genden Verdacht, daß daran kein Interesse bestand, einmal beiseite gelassen. Dem Wissenschaftshistoriker fällt damit die Aufgabe zu, anhand der wissenschaftlichen Publikationen v. Verschuers im ein- zelnen nachzuweisen, in welchem Maße und mit welchem Inhalt u. U. nationalsozialistische Forschung betrieben wurde. Aber an- hand welcher Kriterien? Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums b) Theoretische Forschung Der Fall des Philosophen Martin Heidegger ist allseits bekannt. Heidegger gehörte zu den wenigen Philosophen, die aufgrund ihrer Mitgliedschaft in der NSDAP und öffentlicher Bekenntnisse zu Hitler (beides waren nun keine Ausnahmeerscheinungen) mit einem Lehrverbot (von 1947 bis 1950) belegt wurden. Victor Farías veröffentlichte 1989, neben anderen, weiteres biographisches Ma- terial, das Heidegger als überzeugten Nationalsozialisten belastete. Aber hat Heidegger deswegen im Sinne der nationalsozialistischen Ideologie philosophiert? Ein höherer NSDAP-Funktionär soll einmal über Heidegger geäußert haben, er sei ein »Privatnazi«, mit dem ansonsten nichts anzufangen sei. Möglicherweise trifft dies den Kern der Sache. Eine nationalsozialistische Philosophie Heideggers, eine Philosophie im Sinne des Nationalsozialismus herauszuarbeiten, ist bisher noch nicht gelungen. Selbst überzeugende Arbeiten über Heidegger, die in ihrem Anspruch geltend machen, nationalsozialistische Ideologeme in seiner Philosophie zu entschlüsseln, sind bisher nicht bekannt. Ein damals, während der Zeit der nationalsozialistischen Herr- schaft, in der Fachwelt bei weitem mehr geachteter Philosoph als Heidegger war Nicolai Hartmann. Über Hartmann sind keine par- teipolitischen Einlassungen mit den Nationalsozialisten bekannt. (Dokumentiert werden kann ein öffentliches Bekenntnis zu Hitler aus dem Jahre 1934 sowie Betätigungen im Rahmen der Wissen- schaftsreihe Kriegseinsatz der Deutschen Geisteswissenschaften.6) Höchst interessant sind allerdings Hartmanns Arbeiten zu dem philosophischen Projekt einer Ontologie der Schichten, das ureigent- lich mit seinem Namen verbunden ist. Es läßt sich zeigen7, worauf hier aber nur hingewiesen werden kann, wie die oben genannten Prinzipien des Paradigmas von Hartmann philosophisch verarbeitet werden. Unter der Voraussetzung, sie als zentrale Bestandteile der nationalsozialistischen Ideologie anzuerkennen, handelt es sich um genuin nationalsozialistische Philosophie. Nun gibt es vielerlei Gründe, vor allem inhaltlich-substantiel- le, weshalb Heideggers Werk umfangreich rezipiert wird, während dies für Hartmanns Arbeiten heutzutage kaum festzustellen ist. Die Popularität Heideggers verführt aber offenbar dazu, wenn es um das Verhältnis von Philosophie und Nationalsozialismus geht, sich an einer möglichen nationalsozialistischen Kontamination im Seite 15
Seite 16 Werk Heideggers abzuarbeiten, während andere Zeit- und Zunft- genossen kaum oder überhaupt keine Beachtung finden. So werden Arbeiten von Philosophen, die während der nationalsozialistischen Herrschaftszeit in wissenschaftlichen Kreisen hoch renommiert und einflußreich waren – Hartmann wurde bereits angeführt, Erich Rothacker wäre ein weiterer Forscher – nur selten untersucht. Die ganze Riege von Philosophen, die eher Spezialisten bekannt ist (siehe hierzu etwa die Arbeiten von Gereon Wolters über Hugo Dingler und Oskar Becker8), wird ohnehin kaum zur Kenntnis genommen. Ein insgesamt gravierendes Defizit also, obwohl doch (selbst)verständlich sein sollte, daß auch die wissenschaftshistori- sche Forschung (wie es die Geschichtswissenschaft allgemein auch tut) nicht davon auszugehen hat, was gegenwärtig als wissenschafts- relevant gilt, sondern, was wissenschaftlicher Diskurs innerhalb ei- nes zeitgeschichtlichen Paradigmas war. Mit diesen wenigen Focussierungen auf Teilprobleme einer Inter- pretation dessen, was nationalsozialistische Forschung sein könnte, wurde die Absicht verfolgt, den heuristischen Wert des national- sozialistischen Paradigmenbegriffs zu rechtfertigen. Es wäre ein Mißverständnis, wenn der Eindruck entstünde, die untersuchten geschichtlichen Prozesse sollten zwanghaft einer bestimmten me- thodologischen Auffassung angepaßt werden. Vielmehr ist es ein wechselseitiger Prozeß, die Elemente des Paradigmas anhand der zu untersuchenden wissenschaftlichen wie politisch-ideologisch motivierten Publikationen zu präzisieren oder zu vervollständigen, und zugleich seine Identifikations- und Erklärungskraft zu nutzen.9 Dieser Prozeß ist im übrigen, methodisch gesehen, keinesfalls lo- gisch zirkulär, wie bei Gelegenheit geäußert wurde, sondern ein hermeneutisches Verfahren. Alles, was bisher zum Paradigmenbegriff gesagt wurde, ist na- türlich sehr skizzenhaft und kann an dieser Stelle auch nicht anders angelegt sein. Zumindest aber sollte ein Verständnis dafür eröffnet werden, von welchem historischen Verständnis aus die vorliegende Diskussion geführt wird. Nun ist es so, und nur deshalb kamen wir auf die Diskussion des nationalsozialistischen Paradigmas, daß in vielen Arbeiten zur histo- rischen Dimension des Antisemitismus in Deutschland eine schwer- wiegende Frage aufgeworfen wird: Nämlich, in welchem wirkungsge- Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums schichtlichen Verhältnis antisemitisch motivierte Übergriffe, antise- mitische Darstellungen und Traktate, antisemitische Pamphlete und wissenschaftliche Abhandlungen zum Holocaust stehen? Innerhalb dieser Fragestellung werden – meist implizit – tradierte kulturelle Sphären zu einem kontinuierlichen historischen Gedächtnis inein- ander verwoben. Eine Alternative wäre, diese Sphären als partikula- risiert zu denken. Also, diese gleichsam wie Inseln zu behandeln, die untereinander mehr oder weniger miteinander verbunden sind, so daß von historischen Gedächtnissen im Plural gesprochen werden muß. Unter einer metatheoretischen Fragestellung bleibt es von da- her nicht aus, das Verständnis ideengeschichtlicher Zusammenhänge oder eben relativer Zusammenhänge angemessen zu dekonstruieren. Hierbei spielt die eingenommene narrative Perspektive eine Rolle. Hierzu wiederum ein Beispiel. In seinem Buch Der lange Weg zum Holocaust wählt der amerika- nische Historiker John Weiss die chronologische Erzählperspektive. Seine Darstellung der Tradition des Antisemitismus in Deutschland beginnt bei Luther und endet im Nationalsozialismus. In eben dieser Weise geht auch dessen Kollege Raul Hilberg, um wenigstens noch einen weiteren Autor hervorzuheben, in seinem berühmten Werk Vernichtung der europäischen Juden vor. Was die Wahl dieser narrati- ven Perspektive methodisch gerechtfertigt erscheinen läßt, ist, daß der Antisemitismus in Deutschland als eine stetige extremistische Zuspitzung wahrgenommen wird. Ein affektiver bzw. kulturell mo- tivierter Antisemitismus wird allmählich mit dem Aufkommen der Rassentheorien durch einen rassisch begründeten Antisemitismus überlagert. Die Antisemiten bedienen sich ab dem 19. Jahrhundert mehr und mehr eines pathologischen und zoologischen Vokabulars. Damit wird zugleich der Ruf vehementer und populärer, die Juden auch entsprechend nach den ihnen zugeschriebenen pathologischen Zuständen und als niederwertig eingestuften zoologischen Arten zu behandeln. Schließlich wird niemand dafür sein können – so müssen es sich viele antisemitische Agitatoren gedacht haben –, daß Krank- heiten nicht bekämpft und Ungeziefer ausgerottet werden müßten. Nicht umsonst verstanden sich viele nationalsozialistische Wissen- schaftler als Ärzte der deutschen oder europäischen Kultur.10 Gerade in der von Hilberg äußerst komprimierten Darstellung zum geschichtlichen Verlauf des Antisemitismus, die er seinem genannten Buch voranstellt, offenbart sich noch deutlicher als bei Seite 17
Seite 18 Weiss das methodische Problem der chronologisch narrativen Per- spektive:11 Luther, Kant, v. Arnim, Hegel, J. G. Fichte oder Fries, um nur einige Namen zu nennen, werden somit (scheinbar) in der Tat zu Vorläufern der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten. Es ist kaum vorstellbar, wie solch hervorragende Historiker wie Hilberg und Weiss darauf bestehen könnten, es gäbe eine Kon- tinuität des historischen Gedächtnisses zwischen beispielsweise den Romantikern und Hitler, Goebbels oder Himmler. Sie würden wohl, so müßte man doch annehmen, zurecht daran festhalten, daß auch der Antisemitismus im romantischen Denken eine nicht zu unterschätzende Bedeutung hat, aber doch nicht ganz allgemein darauf dringen, es gäbe ein festes Band zwischen diesem und den Nationalsozialisten bis in die semantischen Tiefen hinein. Und doch geben beide Historiker uns keinen tatsächlichen Anlaß, sie würden an der Kontinuität des einen historischen Gedächtnisses Zweifel he- gen. Und – diese Perspektive ist äußerst wirksam: So kommt Micha Brumlik in seinem Buch Deutscher Geist und Judenhass auf eine berühmt-berüchtigte, aber schwer zu deutende These Immanuel Kants in seiner Abhandlung über den Streit der Fakultäten zu spre- chen. An zentraler Stelle stellt Kant dort fest: „Die Euthanasie des Judenthums ist die reine moralische Religion ...“12 Ergänzend hierzu ist in Kants nachgelassenen Schriften zu lesen: „Die Euthanasie des Judenthums ist die natürliche Religion.“13 Brumlik kommentiert: „Gleichwohl kann auch die wohlwollendste Rekonstruktion des »Euthanasiegedankens« die Erinnerung an die Gaskammern von Hadamar, die als Probelauf für die Mordanlagen von Auschwitz-Bir- kenau dienten, nicht vergessen machen.“14 Interessanterweise findet sich bei Brumlik keine Rekonstruktion, weder eine wohlwollende noch sonst irgendeine.15 Es sind Feststellungen dieses Zuschnitts, die einem die Kontinuität des einen historischen Gedächtnisses irgendwie suspekt erscheinen lassen. Dies wird um so deutlicher, wenn die narrative Perspektive verkehrt wird, und zunächst eine Bestandsaufnahme über die Eigen- tümlichkeit der antisemitischen Ideologie der Nationalsozialisten und der damit einhergehenden Verbrechen an den Juden erfolgt. Sicherlich bedarf auch eine solche Umkehrung der narrativen Per- spektive der Rechtfertigung: sie besteht in der Einzigartigkeit des Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums Verbrechens an den Juden und ihrer Ermordung durch die Natio- nalsozialisten. Die Einzigartigkeit beruht auf dem allein von den National- sozialisten so begründeten Umstand, daß die Juden ausgerottet werden müßten, weil sie Juden seien. Strenggenommen wäre es insofern noch nicht einmal gerechtfertigt, die nationalsozialistische Judenvernichtung unter die sich mehr und mehr verbreitende Geno- zidforschung zu subsumieren. Völkermorde, wie wir sie sonst ken- nen oder erleben, besitzen besondere Motive: z. B. Eroberung oder Zurückeroberung von Lebensraum, religiöse oder andere kulturelle Gegensätze, ökonomische wie militärische Interessen, vorgebliche Rassenminderwertigkeit. Noch nicht einmal letzteres ist – bezogen auf die Juden – für die Doktrin des Nationalsozialismus zutreffend, gleichwohl oft zu lesen ist, die Nationalsozialisten hätten die Juden ermordet, weil sie rassisch minderwertig seien. Nationalsozialisten sprachen etwa von der minderwertigen slawischen Rasse und behan- delten sie entsprechend. Aber bereits in Hitlers Mein Kampf konnte man nachlesen, daß der größte Gegensatz zum Arier das Judentum sei. Juden wurden diskriminiert, verfolgt, zusammengetrieben und zur Vernichtung deportiert aufgrund von wissenschaftlich begrün- deten, rassischen Kriterien, die sie überhaupt erst zu Juden machten. (Diese Form von Antisemitismus wird daher von uns als »szienti- stischer Antisemitismus« bezeichnet.) Sie, die Juden, erhielten die Prägung des »Gegentypus« (so wurden sie von dem Nationalsozia- listen, Philosophen und Psychologen Erich Jaensch und seinen Mit- arbeitern kategorisiert), nicht nur gegenüber den Ariern oder dem deutschen Volk, sondern gegenüber der gesamten Menschheit. Zum Faktum der Einzigartigkeit gehört deshalb auch, daß Hitler wie auch andere Nationalsozialisten – so ist es aus gelegentlichen Äußerun- gen zu entnehmen – in der Tat glaubten, sie würden die Menschheit, zumindest aber Europa, endlich, über viele Jahrhunderte von zahllo- sen Menschen lange ersehnt, vom »Joch« der Juden befreien, indem sie sie vernichteten. Nur dies könnte erklären, weshalb die Natio- nalsozialisten Juden auch dort aufspürten und deportierten, wo sie mit Deutschen überhaupt nicht, auch nicht in absehbarer Zeit, etwa durch den sogenannten Gewinn deutschen Lebensraumes, in Berüh- rung kamen oder kommen würden. Dieser Standpunkt der Einzigartigkeit der Judenvernichtung durch den Nationalsozialismus gewährt einen exakteren Einblick Seite 19
Seite 20 in andere geschichtliche Sphären antisemitischer Haltungen und Handlungen. Von diesem einen ausgezeichneten Standpunkt aus läßt sich ihre relative Nähe ermitteln. Bei dieser Verhältnisbestimmung unterscheiden wir im wesent- lichen noch zwei weitere Ausprägungen von Antisemitismus: Einen kulturellen Antisemitismus, der Sphären religiöser, ökonomischer, rechtlicher oder sozialer Konflikte, Kontroversen, gar Polemiken umfaßt. Dieser findet seinen Ausdruck in Wissenschaft und Kunst sowie in alltäglichen Auseinandersetzungen etwa in Zeitschriften, Zeitungen oder Flugblättern. Des weiteren einen affektiven Anti- semitismus, in dem individuelle Neigungen wie Neid, Mißgunst, Ehrgeiz, Gewinnstreben, Habgier, Vorteilserheischung, Gemeinheit etc. die hauptsächliche Rolle spielen. Wenn wir also hier den zunächst theoretischen Weg einge- schlagen haben, um uns über den Stellenwert der weltanschaulichen Doktrin des Nationalsozialismus im klaren zu sein, so deshalb, um zum Schluß dieser Abhandlung über folgendes eine Verständigung zu erreichen: in welche Sphäre des historischen Gedächtnisses von Antisemitismus in Deutschland wir v. Arnims Rede Über die Kenn- zeichen des Judentums einzuordnen haben. Sicher, es besteht kein Zwang zu einer solchen Einschätzung – wir wollen sie aber nicht umgehen. Die Grundlage eines solchen Urteils wird das nationalsozialistische Paradigma sein. Böhnigk – Genings – Müller
Kapitel 1 Die allgemeine Lage
Seite 24 Über die Kennzeichen des Judentums Achim v. Arnims Über die Kennzeichen des Judentums wurde als Rede verfaßt. Es braucht von vorneherein nicht verschwiegen zu werden, daß diese Rede nach unserer Auffassung als ein gravie- rendes Dokument antisemitischen Denkens einzuschätzen ist. Die nachfolgende Darstellung verfolgt allein den Zweck, die anti- semitische Zielsetzung dieser Rede herauszustellen. Gelegentlich werden wir auf gegenteilige Interpretationen oder solche, die den Antisemitismus dieser Rede abzuschwächen versuchen, eingehen. Hierbei geht es nicht um einen vollständigen Überblick der Lite- raturlage, sondern wir beabsichtigen, unser Unverständnis darüber zum Ausdruck zu bringen, wie es denkbar ist, diese Rede einzig und allein als Satire, Burleske, Zote oder dergleichen aufzufassen. Unser mangelndes Entgegenkommen für eine solche Art von Interpretati- on beruht darauf, daß sich sämtliche, um es neutral zu formulieren, Aussagen v. Arnims über Juden in geschichtlich tradierte antise- mitische Projektionen und zeitbezogene Diskurse zur rechtlichen und gesellschaftlichen Stellung des Judentums »übersetzen« lassen. Man darf demnach davon ausgehen, daß wir es, was die Geschichte des Judentums und des Antisemitismus einerseits, sowie die zum Zeitpunkt der Rede vehement geführte Auseinandersetzung über Religionsfreiheit und Bürgerrechte der Juden andererseits betrifft, mit einem bestens unterrichteten Antisemiten zu tun haben. (Ein übrigens für viele antisemitische Intellektuelle zutreffendes Prädi- kat.) Wir haben es also, kurzum, bei v. Arnims Rede mit einem funk- tionalen Prosatext zu tun, der sich hier und da anderer literarischer Stilmittel bedient. Nun wäre eine Auseinandersetzung darum, um welche litera- rische Spezies es sich bei v. Arnims Rede handelte, die eine Sache. Doch die vehementesten Verfechter der These, es ginge hier um Unterhaltungsliteratur, behandeln v. Arnims verbale, aber reich- lich ausstaffierten Obszönitäten über Juden so – und diese können schlichterdings noch nicht einmal diese Vertreter leugnen –, als seien wir Teilnehmer einer komisch-karnevalesken Aufführung. Unterhaltungsliteratur müßte sich also gleichsam ins Inhalts- wie Gegenstandslose verflüchtigen (eine zweifelhafte Zuweisung). Da- gegen ist wieder aufzuzeigen, wie sehr v. Arnim dem intellektuellen wie wissenschaftlichen Diskurs seiner Zeit verhaftet ist. Wie das, Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums was vielleicht dem einen oder anderen als komisch, grotesk, mit satirischen Anspielungen gespickt oder zotenhaft daherkommt, eine Übertragung der v. Arnimschen Überzeugung ist, was für ihn Naturwissenschaft ausmacht: Analyse und Erkenntnis. Man könnte deshalb v. Arnims Rede auch Untersuchung und Belehrung über das Wesen der Juden betiteln. Achim von Arnim und die Deutsche Tischgesellschaft Achim von Arnim (eigentlich Ludwig Joachim von Arnim) wurde am 26. Januar 1781 in Berlin geboren. Er stammt aus einem märki- schen Adelsgeschlecht. Seine Mutter starb bei seiner Geburt, und der Vater, zeitweise Gesandter des preußischen Königs Friedrich II, übertrug die Erziehung seiner Söhne seiner Schwiegermutter. Achim v. Arnim wuchs deshalb in Berlin und Zernikow auf. Mit 17 Jahren studierte er Rechtswissenschaften in Halle (1798/99) und wechselte später an die Universität Göttingen, wo er mathe- matische und naturwissenschaftliche Vorlesungen hörte (1800/01). Während der Jahre 1801 bis 1804 unternahm er zusammen mit seinem Bruder Karl Otto eine Bildungsreise durch Deutschland, die Schweiz, Frankreich und England. 1801 lernte er Clemens von Brentano kennen. Ein Jahr später besuchte er die Familie Brentano in Frankfurt und lernte dabei Clemens’ Schwester Bettina kennen, die er 1811 heiratete. Zusammen mit v. Brentano veröffentlichte er die Volksliedersammlung Des Knaben Wunderhorn (1806–1808). Als Hauptmann eines Landsturmbataillons nahm er 1813 am sogenann- ten Freiheitskrieg teil. 1814 zog er sich auf sein Gut Wiepersdorf zurück, wo er sich als Landwirt und Schriftsteller betätigte. Seit dieser Zeit reiste er nur noch selten, und auch die Aufenthalte in Berlin waren nunmehr von kurzer Dauer. Am 21. Januar 1831 starb v. Arnim auf seinem Landgut. Am 18. Januar 181116 gründete v. Arnim zusammen mit Adam Müller, Clemens v. Brentano und anderen in Berlin die Deutsche Tischgesellschaft.17 Sie bestand mindestens bis 1834. Die Tischgesell- schaft sollte sich, so die Vorstellung, etwa alle zwei Wochen versam- meln. Im Gegensatz zu den zu dieser Zeit vielerorts bestehenden Salongesellschaften, tagten die Mitglieder der Tischgesellschaft an öffentlichen Orten wie Wirtshäusern. Obwohl die Anzahl der Mit- Seite 25
Seite 26 glieder zu Beginn auf vierzig begrenzt wurde, wurde diese schon bald auf sechzig nach oben korrigiert. Die Mitglieder kamen aus allen Ge- sellschaftsschichten, sofern sie sich den Essenspreis einer jeweiligen Sitzung leisten konnten. Adlige wurden persönlich eingeladen, aber auch Bürger der oberen Schichten hatten keine Schwierigkeiten, sich eine Mitgliedschaft zu sichern. Unter den Mitgliedern waren viele Professoren, Beamte und Militärs, weniger häufig waren dagegen Künstler vertreten, obwohl gerade deren Mitgliedschaft von v. Ar- nim und v. Brentano beabsichtigt war. Die Tischgesellschaft war als reiner Männerverein konzipiert. Ausgeschlossen qua Satzung waren Juden, Philister und Frauen. Den ersten beiden Gruppen galt an- fänglich die Aufmerksamkeit bei den Tischreden. (Was nicht heißt, daß später die Frauen eine Rolle spielten, sondern, soweit der Stand der Forschung, auch Philister und Juden als Themen offensichtlich nicht mehr aufreizend waren.) Bemerkenswerterweise verstand sich die Tischgesellschaft den- noch als eine Art repräsentativen staatlichen Verfassungsdiskurses, der zu erproben habe, inwieweit die »freie« Beratung zwischen »ver- schiedenen« Gesellschaftsschichten zu einer neuen preußischen Verfassung führen könne. (Ebenso verquer dazu, verstand sich die Tischgesellschaft als unpolitisch.) Der Modellversuch sollte in einer ausgelassenen Gesellschaft stattfinden, in der die verschiedenen An- sichten durch spontane Tischreden, Schwänke und Zoten geäußert werden sollten. Was aber nur teilweise erfolgreich umgesetzt wurde. Nach öffentlichen Antisemitismusvorwürfen von Seiten der jüdi- schen Gemeinde zu Berlin und nach der Übernahme des Vorsitzes von Johann Gottlieb Fichte traten, wie gesagt, die Themen »Juden- tum« und »Philistertum« in den Hintergrund. Markant im Hinblick auf diese Phase der Tischgesellschaft bleiben v. Brentanos sogenann- te Philisterrede, die als einzige schon zu Zeiten der Tischgesellschaft und auf ihre Kosten zum Druck freigegeben wurde, sowie v. Arnims Rede Über die Kennzeichen des Judentums, die ausschlaggebend für die Proteste der jüdischen Gemeinde war. Bisherige Kommentierungen zu dieser Rede Die Urteile, inwieweit es sich bei v. Arnims Rede Über die Kennzei- chen des Judentums um eine antisemitische Darstellung handelt, sind Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums äußerst schillernd. In dieser Diskussion, vornehmlich in der Litera- turwissenschaft seit dem Zweiten Weltkrieg geführt, bestreitet kein ernst zu nehmender Interpret, die Juden würden hier nicht in einen besonders negativen Focus der Betrachtung gestellt werden. Die Einschätzungen dieser Rede reichen von einer idiosynkratischen Einstellung v. Arnims gegenüber den Juden, über religiöse Vorbe- halte – von vielen werden beide Einstellungen nicht als spezifisch antisemitisch beurteilt – bis hin zu einer kompromißlosen Verurtei- lung v. Arnims als extremen Antisemiten. Wir werden hier nur auf einige prominente Standpunkte eingehen, die immer wieder bei der Beurteilung dieser Rede herangezogen werden.18 Einer der zweifellos besten Kenner des v. Arnimschen Werkes, Heinz Härtl, urteilt über v. Arnims Rede in seiner Arbeit Romantischer Antisemitismus. Arnim und die »Tischgesellschaft« klar und unmiß- verständlich: „Diese Rede ist der schlimmste antisemitische Text der deutschen Romantik, gerade auf Grund der heiter-ausgelassenen Unbefangenheit, mit der er unter Berufung auf Aristophanes und Eulenspiegel vorgetragen und wohl aufgenommen wurde.“19 Verschiedentlich ist darauf hingewiesen worden – mitunter in der Absicht, v. Arnims vorgehaltenen Antisemitismus abzu- schwächen –, daß dieser die Aufnahme von getauften Juden in die Tischgesellschaft befürwortet habe. In einer eigens anberaumten Abstimmung unter den Mitgliedern der Tischgesellschaft soll v. Arnims Begehren, getaufte Juden aufzunehmen, mehrheitlich abge- lehnt worden sein. Hierzu bemerkt Härtl: „[Achim v. Arnim] war aber so borniert, die Tatsache, daß er überstimmt wurde, nur als Be- weis für die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft anzuerkennen.“20 Härtl sieht in v. Arnim zwar einen „Sonderfall“ der Tischgesellschaft hinsichtlich seiner „Abwiegelungsversuche“, einen offenen Krieg gegen die Juden zu führen, aber nicht in seinem „Haß und Spott“, den er in der Tischgesellschaft „zu erregen und zu befriedigen [...] vermochte“21. Im Gegensatz zu Härtl erkennt Gisela Henckmann in v. Ar- nims „satirische[r] Judendarstellung [...] nichts Ungewöhnliches“22. Sie stuft dessen Rede als „Bestandteil allgemeine[r] Zeit- und Ge- sellschaftskritik“23 ein. Achim v. Arnims Einstellung gegenüber den Juden setze sich hauptsächlich aus privat motivierten Wut- und „viel-leicht“ Haßtiraden zusammen, deren Ursprung in v. Arnims Seite 27
Seite 28 hoher Verschuldung insbesondere bei jüdischen Kreditgebern zu suchen sei. Allenfalls ließen sich noch religiöse Vorbehalte v. Ar- nims geltend machen, die sich daraus ergäben, daß v. Arnim nur getaufte Juden in der Tischgesellschaft zulassen wollte. Von dem Vorwurf einiger Interpreten, v. Arnims Einstellung zu den Juden als „extrem [zu] bezeichnen“24, sei er genauso freizusprechen wie von dem „Vorwurf des Rassismus und unversöhnlichen Judenhas- ses“25. Härtls Urteil, beispielsweise, sei zwar aus der heutigen Sicht völlig verständlich, berücksichtige aber weder die zeithistorischen Umstände noch die Adressaten der Rede: „Dieses Urteil [Härtls] ist angesichts der Aneinanderreihung grausam-grotesker, z. T. brutaler Scherze voll verständlich. Sie wirken auf den heutigen Leser um so schlimmer, als er manche dieser Ausgeburten einer grotesken Phan- tasie mit den Realitäten des Völkermordes in Verbindung bringen kann. Ohne die Rede verharmlosen zu wollen, müßte man sie jedoch im Kontext von Arnims sonstigen Äußerungen, nach ihrem Zweck und nach der Zielgruppe beurteilen, für die sie geschrieben ist. Die Rede war ausdrücklich zur Unterhaltung der Tischgesellschaft, nicht zur Veröffentlichung bestimmt; darauf weist Arnim abschlie- ßend hin.“26 Henckmann verschiebt, anders als Härtl, die Motive der Rede v. Arnims ins Psychologische, denn man „wird den Eindruck nicht los, daß mit dem Entsetzen Scherz getrieben wird und daß sich hier die durch das christliche Gewissen zurückgestauten Haßgefüh- le verbaliter Luft machen.“27 In seiner umfassenden wie herausragenden Arbeit zur Geschichte der Deutschen Tischgesellschaft beschäftigt sich auch Stefan Nien- haus in einem längeren Exkurs mit dem (vermeintlichen) Antise- mitismus in der Tischgesellschaft, aber insbesondere mit der Rede v. Arnims. Dessen „scherzhafte Intention [...] verbirgt den Beitrag zu der ambitionierteren des Vereins, durch die realisierte Diskrimi- nierung im sozialen Bereich der Geselligkeit einen Protest gegen die politische Emanzipation und die soziale Akkulturation der Juden zu vollziehen.“28 Nienhaus sieht in der Ansammlung von stereotypen Vorurteilen der Rede das Ziel, „eine Blende zu errichten, welche die Andersheit der Juden vor jeder Erfahrung festschreibt. Dadurch sollte eine drohende Korrektur des Vorurteils verhindert werden, wie sie sich aus dem gefürchteten Kontrast mit der Wirklichkeit [...] ergeben mußte“29. Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums Nienhaus wie auch andere Interpreten nähern sich der Rede v. Arnims mit den Mitteln der Stilanalyse. Im Gegensatz zu der am häufigsten vorgebrachten These, bei v. Arnims Rede handele es sich um eine Satire, legt Nienhaus dar, daß wir es vielmehr mit einer Zote oder Groteske zu tun hätten, worauf der „derb-unflätig[e], grobianisch[e] Ton der Tischrede“30 stilistische Hinweise liefere. Nienhaus zeigt auf, wie „Scherz [und] Ernst“31, in Form von Ver- gangenheit und Gegenwart, eng miteinander verwoben sind und so zu einem „suggestive[n] Spiel“ werden, das auf der Grundlage von Mythen und Legenden eine ernste „überhistorisch[e] Gültigkeit“32 von diesen schafft und damit Handlungsvarianten in den damaligen Verfassungsverhandlungen impliziert. Während Nienhaus die Rede als stilistisch versiert würdigt, ist er zugleich davon überzeugt, daß es sich bei v. Arnims Rede inhalt- lich um ein antisemitisches Pamphlet handelt. Zuletzt aber, trotz des eigens formulierten Anspruchs, entgegen den bisherigen Einschät- zungen zur politischen Ideologie der Deutschen Tischgesellschaft und ihrem Hauptprotagonisten v. Arnim zu einer Neubewertung zu kommen, wird jener zwar in bezug auf bestimmte politische Einstellungen und Motive ihrer Mitglieder reichlich erfüllt, nicht jedoch, was den Antisemitismus anbetrifft. So bleibt es hier bei ei- ner Motivforschung, die nicht über die Einschätzung Henckmanns hinausgeht: „Diese antisemitische Haltung hatte mit Sicherheit z. T. persönliche Gründe – etwa im Fall Arnims, dessen Haß sich wohl nicht zuletzt aufgrund seiner hohen Schulden bei jüdischen Gläu- bigern entwickelt hatte.“33 Wie kommt es, so wäre im Anschluß an Nienhaus’ erhellende Studie zu fragen, zu dieser Relativierung, wenn der Antisemitismus doch zum „ideologischen Selbstverständ- nis“34 der frühen Tischgesellschaft gehörte? Es drängt sich die Frage auf, warum eine »persönliche Verstrickung« wie im Falle v. Arnims „antisemitisch[e] Invektiven und den rassistischen Ausschluß sogar von Konvertierten“35 zur Folge haben muß, wenn es sich nicht doch um eine »überhistorische, biologistische Wahrheit« eines Antisemi- ten handelt? Seite 29
Seite 30 Zielsetzung der nachfolgenden Kapitel Der von uns eingeschlagene Weg zum Verständnis der Rede v. Ar- nims möchte den in ihr vorhandenen historisch tradierten wie (zu v. Arnims Zeit) gegenwartsbezogenen Gehalt rekonstruieren. Gerade, weil diese Rede über eine enorme Fülle an Verweisen auf historische Ereignisse, gegenwartsbezogenem Wissen und Alltagserlebnissen aus den Bereichen Kunst, Politik und Wissenschaft verfügt, ist sie ohne eine Entfaltung dieser Dimensionen nicht angemessen zu verstehen. Selbstverständlich mußten auch hierbei thematische Schwerpunkte gesetzt werden. Zunächst ist hier die besondere Fülle ikonographischer wie bild- nerischer Anspielungen auf Judendarstellungen zu untersuchen. Hierzu gehören auch die von v. Arnim verwendeten physiogno- mischen Beschreibungen von Juden. Da die Rede v. Arnims in der bisherigen Forschungsliteratur in der Regel als Satire, Scherz, Bur- leske oder Zote hingestellt wird, in der Regel mit dem Impetus, den Extremismus seiner Judendarstellung und die daraus resultierenden Handlungsaufforderungen an seine Zuhörer abzuschwächen, psy- chologisch zu entschuldigen oder gar als einen Beitrag unterhalten- der, belustigender Wortstafetten zu entdramatisieren, untersuchen wir (literaturtheoretisch gesehen) weder Form noch Stil, sondern den empirischen Gehalt der Rede. Hieran schließen sich nach unserem Verständnis nahtlos die von v. Arnim vorgeschlagenen Verfahren aus der Chemie und Medizin an, um Juden identifizieren und somit entlarven zu können. Auch hier könnten sich die Aus- führungen v. Arnims als belanglos grotesk hinstellen lassen, wenn seine Beschreibungen nicht exakt dem wissenschaftlichen Stand der chemischen Forschung entnommen worden wären. Daß v. Arnim naturwissenschaftliche Kompetenz besaß, steht dabei außer Frage, veröffentlichte er doch parallel zu seinen belletristischen Werken unter anderem in naturwissenschaftlichen Zeitschriften. Achim v. Arnim spielt nicht mit den Inhalten der Naturwissenschaften, ob Chemie oder Physik, und der Medizin, sondern verfolgt konsequent deren Grundsatz, Regelmäßigkeiten (über die »Natur« des Juden) aufzudecken und diese in gesetzmäßige Zusammenhänge zu fassen. Darüber hinaus liefert v. Arnim eine Pathologie des Juden. Gerade in diesem als vermeintlich »grotesk« hingestellten Zusammenspiel Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums zwischen Mensch, Medizin und Wissenschaft ist nachzuzeichnen, inwiefern v. Arnim die Idee einer sich in ihrer Substanz nie ändern- den Wesenseigenschaft des Juden verfolgt, so wie dies in anderen Zusammenhängen durch den Begriff der Rassenkonsistenz postu- liert wurde. Seite 31
Kapitel 2 Die Bilderwelt
Seite 34 Charakteristisch an der Rede v. Arnims Über die Kennzeichen des Judentums ist die Verwendung von bildlichen Elementen oder die Anspielung auf Bilder, die zur Beschreibung des Judentums, des »typischen« Juden und seiner ihm eigenen Lebens-, Verhaltens- und Denkweise dienen. An dieser Stelle soll der Versuch unternommen werden, der »Zitation« ikonographischer und bildnerischer Motive des Juden und des Judentums durch v. Arnim nachzugehen. Über eine Analyse dieser verwendeten Motive hinsichtlich ihrer Bildaussage, ihres ideologischen Gehaltes, ihrer Tradition und ihrer beabsichtigten Wirkung beim Betrachter soll der Nachweis geführt werden, daß v. Arnim mit antisemitischen Darstellungen vertraut war und sie den Hörern seiner Rede, den Mitgliedern der Deutschen Tischgesellschaft, suggestiv vermittelte. Die Mitglieder der Tischgesellschaft sollten – so die prokla- mierte Absicht v. Arnims – Juden, die sich eventuell heimlich in die Tischgesellschaft einschleichen könnten, zweifelsfrei als Juden erkennen können. Dazu ist es notwendig, sie von den Christen und »Deutschen« der Tischgesellschaft zu unterscheiden. Indem v. Arnim den Zuhörern Unterscheidungskriterien an die Hand gibt, ermög- licht er ihnen auch, sich ihrer eigenen Identität als Christen und Deutsche zu versichern. Die Doppelwirkung von Diskriminierung auf der einen Seite und Identitätsgewinn auf der anderen wird an einigen Bildbeispielen nachweisbar sein. Achim v. Arnim geht von der Grundannahme aus, daß Juden im Unterschied zu den von der Tischgesellschaft ebenfalls ausgeschlos- senen Philistern eine besondere, nur ihnen eigentümliche Fähigkeit haben, nämlich „[die] seltene Kunst sich zu verstecken“ (363, z 35 f.). Diese Fähigkeit erschwert das Erkennen ihres »Wesens«, wo- bei v. Arnim grundsätzlich davon ausgeht, daß ihre „Eigentümlich- keiten“ „wissenschaftlich bestimmt“ (363, z 36 f.) werden können. In diesem Kapitel wird das von v. Arnim in seiner Rede gezeich- nete Judenbild mit Hilfe von Bildbeispielen illustriert, die sich aus den drei wesentlichen Motiven seiner Rede ergeben, hinsichtlich derer v. Arnim den Juden an sich und im Unterschied zum Christen und »Deutschen« zu bestimmen versucht, indem er auf andere bild- künstlerische Darstellungen, historische Ereignisse in mündlicher oder schriftlicher Überlieferung oder literarische Quellen Bezug nimmt. Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums Das Bild des religiös motivierten ewigen Kampfes der Juden gegen die Christen Achim v. Arnim entwickelt ein Drohzenario der Unterwanderung und Auflösung der Deutschen Tischgesellschaft, indem sich Juden unbemerkt in diese einschleichen könnten. Es bestünde die Gefahr, daß „an die Stelle dieser christlichen Tischgesellschaft ein[e] Syn- agoge [sich] [grammatische Korrekturen nach Nienhaus] versam- melte, welche statt des frohen Gesanges auerte, statt der Fasanen Christenkinder schlachtete, statt der Mehlspeise Hostien mit Gabel und Löffel zerstäche, statt der großen Wohltaten [...] die öffentli- chen Brunnen vergiftete“ (363, z 8–14). In dieser kurzen Passage seiner Rede greift v. Arnim vier tradierte und religiös fundierte Motive auf, die das Verhältnis von Christen- tum und Judentum seit Jahrhunderten bestimmen: den Kampf von Ecclesia und Synagoga um die Vorherrschaft des rechten Glaubens, den Mord an Christenkindern, den Hostienfrevel und das Vergiften von Brunnen. Diese vier Motive sollen nachfolgend eingehender betrachtet werden. Mit der Einführung der Trinitätslehre auf dem Konzil von Nikaia im Jahre 325 wurde die Trennung des Christentums vom streng mono- theistischen Judentum endgültig besiegelt.36 Anhand der im 2. Jahr- hundert einsetzenden literarischen Auseinandersetzung des Chri- stentums mit dem Judentum läßt sich aufzeigen, daß die Trennung beider Religionen nicht zu einer friedlichen Koexistenz in der Zu- kunft führen würde. Im Gegenteil: In den folgenden Jahrhunderten setzten sich führende Theologen wie Hieronymus († 420), Hrabanus Maurus († 856) oder Petrus Venerabilis († 1158) mit dem Judentum beziehungsweise den Juden auseinander.37 Bereits im 9. Jahrhundert ist das Motiv des Kampfes von Ecclesia und Synagoga kanonisch. Es ist in zahlreichen Bildern oder Skulpturen überliefert und bis ins 20. Jahrhundert zur Ausschmückung von Kirchen und Klöstern ver- wendet worden. Den Darstellungen liegen verschiedene Textpassagen zugrunde – vorwiegend handelt es sich um Bibelzitate, aber auch um Auslegungen von Schriftgelehrten –, von denen nachfolgend einige genannt sein sollen. Für die Portalskulptur Ecclesia und Synagoga, St. Lamberti, Münster (siehe Abbildung 1) sind als Schriftquellen Seite 35
Seite 36 Abb. 1 anzugeben: 2. Kor. 11, 2, Eph. 5, 23–27. Ecclesia ist dargestellt als prächtig gewandete Königin. Sie ist Christus zugewandt, hat sein Blut im Kelch aufgefangen, wodurch sie zur Sakramentsverwalterin wird. Sie wird den klugen Jungfrauen zugeordnet. Synagoga wird hingegen den törichten Jungfrauen zugeordnet (Mt. 25, 1–2). Nach der Interpretation von Ex. 34, 30 durch Pruden- tius (um 405 n. Chr.) heißt es: „Das jüdische Volk fürchtete sich vor Moses, vor seinem von göttlichem Glanz strahlenden Antlitz und wandte sein Gesicht ab, weil es Gott, d. h. Gottes Gegenwart, nicht ertrug“ (Patrologia Latina 60, 319). Übertragen auf das Neue Testa- ment ergab sich die Darstellung der Synagoga, die sich vom Kreuz abwendet oder weggeht – die Bewegungsrichtung von Synagoga ist nach links, dorthin, wo sich nach damaliger kodifizierter Bildauf- fassung die Hölle befindet. Der Kirchenvater Stephan de Tournai (1203 gestorben) schrieb: „Ungetaufte Juden sind ein Haufen der Verdammten (massa perditionis).“38 Als Attribute sind der Synagoga der Palmzweig als Hinweis auf den Orient, die zerbrochene Kriegsfahne oder Lanze, mit der sie Jesus oder ein für Jesus stehendes Lamm ersticht, die zu Boden fallende Krone als Zeichen der verlorenen Königinnenwürde oder des Verlustes ihres Reiches beigegeben. Als Zeichen dafür, daß sie Böhnigk – Genings – Müller
Über die Kennzeichen des Judentums Abb. 2 trotz ihres Verlustes an dem alten Bund mit Gott festhalten will, sind als Attribute Beschneidungsmesser, Böckchen, Bockskopf oder Gesetzestafeln hinzugefügt. Ein interessantes Beispiel für die Darstellung von Ecclesia und Syn- agoga im 20. Jahrhundert ist das Mosaik in der Sakramentskapelle der Basilika von Maria Laach, das in den Jahren 1910–1912 entstan- den ist (siehe Abbildung 2). Neben den bereits oben genannten Merkmalen der Darstellung der beiden Figuren in ihrer Haltung und Beigabe der entsprechenden Attribute finden wir hier ein Spruch- band der Synagoga: „Wir haben ein Gesetz und nach diesem Gesetz muß er sterben.“ Basierend auf der Bibelstelle Lev. 24,16 muß Jesus sterben, weil er sich als Sohn Gottes ausgegeben hat. Das über Jesus gefällte Todesurteil der Synagoga wird in einigen Darstellungen von ihr auch selbst vollstreckt. Das Abstechen des Lamms unterstellt den Juden den Wunsch, die Passion Christi zu wiederholen. Diese christliche Vorstellung bildete später die Folie für die Assoziation antijüdischer Legenden wie das Zerstechen der Hostien oder das Zerschneiden von Bildern. Dabei ist anzumerken, daß die Juden nach christlicher Auffas- sung nicht aus selbst gewählten Handlungsmotiven gegen Christus Seite 37
Seite 38 Abb. 3 oder die Christen vorgehen, vielmehr ist ihr Handeln durch ihr Ge- setz bestimmt. Auf einem Kruzifix mit Ecclesia und Synagoga, eine Miniatur im Antiphonar der Benediktinerabtei St. Peter in Salzburg aus dem Jahre 1160, ist der Synagoga als Attribut das Ochsenjoch als Symbol für das Joch des Gesetzes beigegeben. „Die Knecht- schaft der Juden unter dem Gesetz gehört seit dem Barnabasbrief (2. Jahrhundert) zu den antijüdisch-apologetischen Vorwürfen.“39 (Siehe Abbildung 3) Solange die Juden sich ihren eigenen Gesetzen unterwerfen, werden sie Feinde der Christen sein. Daß die Juden re- ligiösen Gesetzen unterworfen sind, die sich von denen der Christen und Deutschen unterscheiden, ist nach v. Arnim allgemein bekannt. Nach seiner Ansicht weiß auch jeder, „wie künstlich sie ihre Gesetze auszudeuten wissen, um sie der Not anzuschmiegen“ (364, z 27–29) und „wie leicht sie ihre übrigen Gesetze beseitigen und umgehen“ (365, z 7). Achim v. Arnim meint, daß Mose selbst verfügt hat, daß die Juden Kenntnis der Gesetze nur durch die Rabbiner erlangen, die diese wiederum nach v. Arnims Überzeugung absichtlich in Unwis- senheit hielten. Aufgrund der Unwissenheit der Gläubigen war es den Rabbinern möglich, ihr Expertenwissen zur Vermehrung ihres Böhnigk – Genings – Müller
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