Kälber im Überfluss - überflüssige Kälber? - Kälber als Nebenprodukt der Milchproduktion - Deutscher Tierschutzbund

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Der kritische Agrarbericht 2022

Kälber im Überfluss – überflüssige Kälber?
Kälber als Nebenprodukt der Milchproduktion

von Frigga Wirths

                       Seit Jahren besteht ein Überangebot an Kälbern aus Milchviehbetrieben. Es führt zu einem derar-
                       tigen Preisverfall, dass Landwirte ihre Kälber nicht vermarkten können und sie teilweise an Vieh-
                       händler verschenken. Der Überschuss an Kälbern besteht sowohl bei Biobetrieben als auch bei kon-
                       ventionellen Milchviehhaltern. Eine unmittelbare Folge der fehlenden Nachfrage sind erhebliche
                       Tierschutzprobleme, die inzwischen auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Kälber von
                       Milchkühen sind offensichtlich Produkte, für die es derzeit keinen Markt gibt. Einzelne Landwirte
                       haben für ihre Betriebe Lösungen gefunden, aber damit werden die Ursachen der Überproduktion
                       nicht behoben. Dafür wären grundlegende Änderungen des Systems der Milcherzeugung und der
                       Rinderhaltung notwendig.

Die Erzeugerpreise für Milch in der konventionel­              auf einem Milchviehbetrieb geborenen Kälber wird
len Vermarktung schwanken hierzulande seit eini­               für die Bestandserneuerung als zukünftige Milchkuh
gen Jahren um die 30 Cent-Marke. Sie sind damit so             aufgezogen. Die restlichen weiblichen und die männ­
niedrig, dass vielen Landwirten eine kostendeckende            lichen Tiere werden oft schon im Alter von zwei Wo­
Milch­erzeugung nicht möglich ist und die Intensi­             chen an Mastbetriebe verkauft.
vierung der Milcherzeugung voranschreitet. Es gibt                Etwa 60 Prozent der Milchkühe gehören der Milch­
in Deutschland nur noch 58.000 Milchviehbetriebe.              rasse Holstein-Frisian an.3 Die Kälber dieser schlan­
40 Prozent der Betriebe haben in den letzten zehn              ken, für die Milcherzeugung gezüchteten Tiere sind
Jahren die Milchproduktion aufgegeben. Andere Be­              aufgrund ihrer Genetik nicht gut für die Mast geeig­
triebe versuchen wettbewerbsfähig zu bleiben, indem            net. Sie sind schwer zu vermarkten, die Viehhändler
sie ihre Herden aufstocken. 1995 lag die durchschnitt­         zahlen für diese Tiere teilweise nur noch Cent-Be­
liche Herdengröße bei 27 Kühen, 2020 bei 68 Tie­               träge. Ihre Aufzucht kostet mehr als die Einnahmen
ren. Angestiegen ist auch die Milchleistung pro Kuh.           durch ihren Verkauf, selbst dann, wenn die Kälber
Durchschnittlich liefert eine Milchkuh momentan                gesund sind und keine Behandlung einer Krankheit
8.457 Liter Milch im Jahr.1 Auch Kühe mit einer der­           notwendig ist. Etwas günstiger ist die Situation für
artig hohen Milchleistung bringen jedes Jahr ein Kalb          den Verkauf von Kälbern der Zweinutzungsrassen wie
auf die Welt, allerdings hat das für sie häufig gesund­        Fleckvieh oder der Kreuzungen mit Fleischrassen. Für
heitliche Beeinträchtigungen zur Folge. Kranke Tiere           sie zahlen Mäster höhere Preise: 150 Euro und mehr
werden aus Kostengründen oft nicht mehr tierärzt­              für ein Kalb.
lich versorgt. Milchkühe haben nur noch eine kurze                Abgesehen davon, dass es ein Überangebot an Käl­
­Lebenserwartung von durchschnittlich fünf Jahren.2            bern aus Milchviehbetrieben gibt, konkurrieren diese
                                                               Kälber auch noch mit denen aus der Mutterkuhhal­
Nebenprodukt Kalb                                              tung, die für die Fleischerzeugung gezüchtet wurden
                                                               und für die Mast entsprechend geeigneter sind. Im
Als Nebenprodukt der Milcherzeugung werden jähr­               Mai 2021 wurden in Deutschland 625.533 Mutterkühe
lich etwa vier Millionen Kälber auf Milchviehbetrie­           der Fleischrassen mit ihren Kälbern gehalten.4 Mut­
ben geboren – zu viele Kälber, für die kein Markt be­          terkühe und deren Kälber leben meist im Herden­
steht. Sie sind ohne wirtschaftlichen Wert. Das betrifft       verband mit Weidehaltung und damit unter tierge­
auch die Kälber von Biobetrieben. Circa ein Drittel der        rechten Bedingungen.

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Tierschutz und Tierhaltung

   Milchviehbetriebe versuchen, die Kosten, die durch     sind also nicht ausreichend genährt und anfällig für
die Aufzucht der Holstein-Kälber entstehen, mög­          Krankheiten.
lichst gering zu halten, denn diese Ausgaben werden          Neben der Fütterung ist auch die Wasserversor­
durch den Verkaufserlös nicht gedeckt. Die niedrigen      gung problematisch, vor allem in den Sommermona­
Preise führen zu erheblichen Tierschutzproblemen,         ten. Laut TierSchNutztV müssen Kälber, die älter als
die im Folgenden aufgezeigt werden.                       zwei Wochen sind, immer Zugang zu Wasser haben.
                                                          In zehn bis 29 Prozent der Betriebe, die an der PraeRi-
Mangelhafte Haltung                                       Studie teilnahmen, war das nicht der Fall.
                                                             Üblicherweise werden Kuh und Kalb direkt nach
Die Haltung von Kälbern bis zum sechsten Lebensmo­        der Geburt oder wenige Tage später getrennt. Die Käl­
nat ist in der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung      ber werden häufig während der ersten Lebenswochen
(TierSchNutztV) geregelt.5 Außerdem gibt es für die       in Einzelboxen untergebracht. Zu einer tiergerechten
Landwirte viele Empfehlungen zu Geburt und Käl­           Haltung gehört, dass Kälber früh Kontakt zu anderen
beraufzucht. In der Praxis werden Kälber jedoch oft       Kälbern haben, denn Kontakt zu Artgenossen wirkt
weder nach den Anforderungen der Verordnung noch          sich für die Ausbildung des arttypischen Verhaltens
der Guten fachlichen Praxis gehalten und gefüttert.       positiv aus. Gemäß der TierSchNutztV darf man Käl­
Infolgedessen ist die Mortalitätsrate hoch.               ber jedoch bis zur achten Lebenswoche einzeln halten.
   Kälber benötigen in den ersten Stunden ihres Le­       Erst danach ist die Haltung in Gruppen vorgeschrie­
bens die spezielle Milch mit einem hohen Anteil an        ben. Im Biobereich müssen die Kälber ab der zweiten
Abwehrstoffen, die eine Kuh direkt nach der Geburt        Woche Kontakt zueinander haben.
eines Kalbes bildet (Biestmilch oder Kolostrum). In          Häufig ist auch die Unterbringung der Kälber
der darauf folgenden, etwa zwölf Wochen dauernden         ungenügend. Es fehlt an Einstreu und anstelle einer
Aufzuchtphase brauchen die jungen Tiere Milch oder        Liegefläche mit sauberer und trockener Einstreu steht
Milchaustauscher aus Milchpulver. Danach sind sie         den Tieren einen harter und feuchter Ruhebereich zur
alt genug, um sich ohne Milch, allein mit pflanzlicher    Verfügung. In der PraeRi-Studie hatten die Kälber
Nahrung, zu ernähren. Die Versorgung der Kälber           nur auf jedem zweiten Betrieb eine trockene Liegeflä­
mit Milch ist teuer und arbeitsaufwendig. In großen       che. Kälber auf Vollspaltenboden ohne Liegebereich
Betrieben ist die Betreuung tendenziell schlechter. Es    zu halten, ist laut TierSchNutztV ab der dritten Le­
fehlt an guten Arbeitskräften oder diese werden für       benswoche zulässig. Besonders ältere Kälber werden
andere Tätigkeiten im Betrieb eingesetzt. Die Betreu­     oft so gehalten. Im Biobereich ist Vollspaltenboden
ung der Kälber wird vernachlässigt. Wird Kuhmilch         nie erlaubt.
getränkt, reduziert sich die Menge der Milch, die an         Auch die Witterungsbedingungen finden in der
die Molkerei verkauft werden kann. Milchaustauscher       Praxis nicht immer genügend Berücksichtigung, so
wird in verschiedenen Qualitäten angeboten. Je hoch­      dass es im Winter zu kalt und im Sommer zu heiß ist.
wertiger – und nahrhafter für das Kalb – ein Produkt         Das Tierschutzgesetz (TierSchG) erlaubt es immer
ist, desto teurer ist es. Als Folge erhalten die Kälber   noch, Kälbern in den ersten sechs Lebenswochen die
in vielen Betrieben zu wenig Milch oder Milchaus­         Hornanlagen mit einem Brennstab zu entfernen. Zwi­
tauscher oder der Milchaustauscher ist von geringer       schen vier und neun Prozent der Betriebe führen das
Qualität.                                                 laut PraeRi-Studie ohne Gabe eines Schmerzmittels
   Der PraeRi-Studie aus dem Jahr 2020 zufolge ist        durch. Der Eingriff ist äußerst schmerzhaft, wenn er
die Versorgung der Kälber mit Milch nur in einem          ohne Anästhesie und Schmerzmittelgabe vorgenom­
Drittel der Betriebe ausreichend. In Bayern sogar nur     men wird. Außerdem wird das Immunsystem da­
in 20 Prozent der Betriebe, obwohl dort nur wenige        durch geschwächt. Aus diesen Gründen ist das Ver­
Holstein-Kühe gehalten werden und Fleckviehkälber         öden der Hornanlage im Biobereich nur im Ausnah­
einen höheren wirtschaftlichen Wert haben als die         mefall erlaubt und muss dann unter Lokalanästhesie
Holsteins. Männliche Kälber werden schlechter ver­        und Schmerzmittelgabe durchgeführt werden.
sorgt als weibliche. Neben dem Mangel an täglicher
Versorgung mit Milch ist auch die Dauer der Fütte­        Hohe Verlustraten
rung mit Milch bis zum Absetzen in vielen konven­
tionellen Betrieben kürzer als die empfohlenen zwölf      All diese Mängel in der Aufzucht begünstigen Erkran­
bis 13 Wochen.6 Kälber erhalten zu wenig Milch, ob­       kungen der Kälber und erhöhte Mortalitäten. Ein er­
wohl Tiere, die in ihren ersten Lebenswochen viel an      heblicher Teil der Kälber wird tot geboren, stirbt kurz
Gewicht zunehmen, erfahrungsgemäß gesünder sind,          nach der Geburt oder in den ersten Wochen danach.
in ihrem späteren Leben als Kuh mehr Milch geben          Die Rate an Totgeburten und Kälberverlusten zusam­
und eine längere Nutzungsdauer haben.7 Viele Kälber       men liegt zwischen zehn und 20 Prozent.8 Bei einer

                                                                                                                 277
Der kritische Agrarbericht 2022

angenommenen Totgeburts - und Mortalitätsrate von         die Kühe ihre Kälber im Stall auf dem Spaltenboden.
15 Prozent sind das etwa 600.000 Kälber im Jahr.          Der hohe Keimgehalt dieser ungeeigneten Umgebung
   Diese Sterblichkeitsraten entsprechen nicht einer      begünstigt eine Erkrankung des Neugeborenen. Zu­
unvermeidbaren, »normalen« Mortalität bei der Gat­        dem besteht das Risiko, dass das Kalb durch andere
tung Rind. Mutterkühe, die meistens ohne Hilfe durch      Kühe oder die im Stall eingesetzten technischen Ge­
den Menschen abkalben, haben eine geringere Kälber­       räte, zum Beispiel den Mistschieber, verletzt wird.
sterblichkeit als Milchkühe. In einer Studie lagen die    Abgesehen davon sind die Geburtsüberwachung und
Kälberverluste bei Milchkühen bei 10,5 Prozent, bei       Geburtshilfe in einer Abkalbebox wesentlich besser
Mutterkühen waren es 7,1 Prozent.9                        durchzuführen als im Stall.
   Die hohe Mortalitätsrate hat mehrere Ursachen.
Ein entscheidender Faktor, warum der Geburt und           Kälbersterblichkeit während der Aufzuchtphase
der Aufzucht der Kälber oft wenig Aufmerksamkeit          Kälber versterben nicht nur während und kurz nach
geschenkt wird, ist der geringe wirtschaftliche Wert      der Geburt, sondern auch zu späteren Zeitpunkten.
der Kälber der Milchrassen.                               Da sie erst ab dem siebten Lebenstag in der HIT-
                                                          Datenbank angemeldet werden müssen, entsteht eine
Totgeburten                                               Lücke in der Erfassung toter Tiere zwischen dem
Als Totgeburten werden in der HIT-Datenbank10 die­        dritten und siebten Tag. Diese Tiere werden oft nicht
jenigen Kälber erfasst, die tot geboren wurden oder       gesondert aufgeführt, sondern zu den Totgeburten
in den ersten 48 Stunden nach der Geburt verstorben       gerechnet. Damit werden die Zahlen zu den tatsäch­
sind. Geburten finden häufig nachts statt und oft un­     lichen Verlusten in den ersten Lebenstagen der Tiere
terbleibt die Geburtshilfe – vor allem bei den Milch­     verfälscht. Im Gegensatz zu einer hohen Mortalitäts­
viehrassen und in Großbetrieben. Es wird seltener Ge­     rate wird eine hohe Totgeburtenrate bei Kälbern ger­
burtshilfe geleistet und Kaiserschnitte werden seltener   ne von Betrieben und Beratern als schicksalshaft und
vorgenommen als früher.11 Schwergeburten werden           unvermeidbar dargestellt, als sei der Landwirt dafür
somit spät erkannt. Sie können den Tod des Kalbes zur     nicht verantwortlich.
Folge haben. Bei Färsen sind die Totgeburtenraten mit        Ist die Versorgung und Unterbringung der Kälber
etwa zehn Prozent besonders hoch im Vergleich zu          unzureichend, sind sie sehr krankheitsanfällig. Sie
der von Kühen, die bei etwa sechs Prozent liegt.12 Ne­    erkranken in den ersten Wochen besonders häufig
ben Komplikationen bei der Geburt selber ist oft auch     an Durchfällen, Atemwegserkrankungen und Nabel­
die mangelnde Versorgung der Kälber mit Kolostrum         entzündungen. Die Erkrankungen werden zum Teil
(Biestmilch) ein Faktor, der zu Kälberverlusten führt.    nicht oder zu spät bemerkt. Pflege und Behandlung
Im Gegensatz zu Mutterkühen, die im Herdenverband         unterbleiben manchmal bewusst aus wirtschaftlichen
leben, fehlt besonders den Färsen der Milchviehbe­        Gründen. Kranke Kälber werden nicht behandelt und
triebe auch die Erfahrung, dass sie das Kalb ablecken     nicht in einer Krankenbox untergebracht. So gehen
müssen und dass es am Euter trinken muss, um zu           viele Erkrankungen tödlich aus. Ein großer Teil der
überleben. Erfolgt keine Hilfe durch den Menschen,        Kälber stirbt durch mangelnde Fürsorge.
sterben diese Kälber.                                        Unter den Kälbern, denen im Krankheitsfall eine
   Nur in den ersten Stunden nach der Geburt ent­         Behandlung verweigert wurde, sind der PraeRi-Studie
hält die Biestmilch der Kühe die für das Neugebore­       zufolge männliche Kälber der Milchrassen besonders
ne lebenswichtigen Abwehrstoffe und nur während           oft betroffen. Zwei bis sieben Prozent der Betriebe
dieses Zeitraums können diese die Darmschleimhaut         räumten dort ein, die Bullenkälber weniger gut zu ver­
passieren. Bereits nach sechs Stunden kann nur noch       sorgen. Im Norden Deutschlands, wo hauptsächlich
die Hälfte der körpereigenen Eiweiße (Immunglobu­         Holstein- Kühe gehalten werden, bestätigten das sie­
line), die für die Abwehr wichtig sind, absorbiert wer­   ben Prozent der Betriebe. In Bayern, mit einem hohen
den. Deswegen schreibt die TierSchNutztV vor, dass        Anteil an Fleckviehkühen, gibt es der Studie nach kei­
ein Kalb in den ersten vier Stunden nach der Geburt       nen Unterschied in der Betreuung der Geschlechter;
Biestmilch erhalten muss. Wenn die Geburt unbeauf­        Fleckviehkälber haben einen höheren wirtschaftlichen
sichtigt erfolgt, nehmen etwa 50 Prozent der Kälber zu    Wert als die Artgenossen der Milchrassen.
wenig Kolostrum auf.13 Eine Studie ergab zudem, dass
etwa ein Viertel der toten Kälber, die in einer Tier­     Exporte von Kälbern
körperbeseitigungsanlage untersucht wurden, kein
Kolostrum erhalten hatten.14                              Männliche Kälber und die weiblichen, die nicht für
   Mangelnde Geburtshygiene ist ein weiterer Faktor       die Nachzucht benötigt werden, verlassen den Milch­
für Totgeburten. Nicht alle Kälber werden in einem        viehbetrieb sehr früh. Sie werden verkauft, um ge­
sauberen Abkalbestall geboren. Vielfach bekommen          mästet zu werden. Bereits ab einem Alter von 14 Ta­

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Tierschutz und Tierhaltung

gen dürfen Kälber transportiert werden, auch über            beispielsweise nach Ägypten. Die Transporte und die
lange Strecken. Voraussichtlich im Herbst 2022 soll          Schlachtmethoden in Drittländern außerhalb Europas
das Mindestalter auf 28 Tage heraufgesetzt werden.           sind mit extremen Tierschutzproblemen verbunden. –
680.000 Kälber im Jahr werden aus Deutschland ins            Exporte sind jedenfalls keine Lösung, um den Über­
Ausland verkauft, die meisten in die Niederlande,            fluss an Kälbern in Deutschland abzubauen.
nach Spanien und Italien.15 Der Transport bedeutet
für die Kälber Angst und Stress. Sie können auf dem          Welche Alternativen gibt es?
Transporter nicht mit Milch versorgt werden, sodass
sie an Hunger und Durst leiden. Hinzu kommen die             Alle Kälber müssen von ihrer Geburt an mindestens
Belastungen durch Kälte oder Hitze, da die Transpor­         den Vorgaben der TierSchNutztV und den Empfeh­
te laut Tierschutz-Transport-Verordnung (TierSch­            lungen der Guten fachlichen Praxis entsprechend
TrV)16 bei Temperaturen zwischen fünf und 30 Grad            versorgt werden. Sie müssen ausreichend gefüttert
Celsius erlaubt sind.                                        und getränkt werden, Kontakt zu Artgenossen und
   Am Zielort werden sie unter Bedingungen gemäs­            eine eingestreute, trockene und saubere Liegefläche
tet, die in Deutschland nicht zulässig sind. Für die Käl­    haben und sie dürfen nicht unter Witterungseinflüs­
bermast ist in Deutschland ein höherer Eisengehalt im        sen leiden. Kranke Tiere müssen behandelt werden.
Futter vorgeschrieben, sodass die Tiere weniger anä­         Wirtschaftliche Gründe dürfen kein Argument dafür
misch sind und ihr Fleisch weniger weiß ist als das der      sein, Tiere nicht angemessen zu versorgen. Das Ziel
im Ausland gemästeten Tiere. Ein Teil des im Ausland         müssen geringe Totgeburten- und Mortalitätsraten
produzierten Kalbfleisches wird zurück nach Deutsch­         sein. Außerdem dürfen Kälber, die noch Milch be­
land importiert. In jüngster Zeit ist in den Niederlan­      nötigen, nicht länger als acht Stunden transportiert
den die Nachfrage nach deutschen Kälbern, vor ­allem         werden.
nach Kälbern der Milchrassen, zurückgegangen.                     Wenn die Kälberverluste niedrig wären und man
Kommt es zu Exportbeschränkungen, beispielsweise             auf Exporte verzichtet, würde das zunächst das Pro­
aufgrund von Bestimmungen, die die Verbreitung               blem des Kälberüberschusses vergrößern. Deswegen
von Tierkrankheiten wie die Blauzungenkrankheit              sind weitere Maßnahmen notwendig, die zeitgleich
verhindern sollen, verschärft sich das Überangebot in        vorgenommen werden müssen und ineinander grei­
Deutschland.                                                 fen. Sie werden zu einer grundsätzlichen Änderung
   Ein Teil der Tiere wird gemästet, um dann zur             der Milchproduktion führen.
Schlachtung in ein Drittland exportiert zu werden,                Damit weniger Kälber geboren werden, muss die
                                                             Anzahl der Kühe reduziert werden. Abgesehen davon
                                                             ist zu hinterfragen, ob es ethisch zu rechtfertigen ist,
  Folgerungen     & Forderungen                              einerseits Mutterkühe (Fleischrassen) und anderer­
                                                             seits Milchkühe zu züchten und zu halten. Anstelle
  ■   Die Kälberhaltung in Deutschland entspricht in         von reinen Milchrassen sollten Zweinutzugsrassen
      großen Teilen nicht den Vorgaben der Tierschutz­       gehalten werden. Diese Kälber sind als Masttiere
      gesetzgebung.                                          ­geeigneter und haben deswegen wirtschaftlich einen
  ■   Das hat primär wirtschaftliche Gründe, da es vor        ­höheren Wert.
      allem für Kälber von Milchkühen in Deutschland              Seit einigen Jahren suchen immer mehr Milchbau­
      ­k einen Markt gibt.                                     ern und -bäuerinnen nach Alternativen zum Verkauf
  ■    Anstelle reiner Milchrassen sollten daher verstärkt     ihrer Kälber, vor allem der Bullenkälber. Meistens
       Zweinutzungsrassen zum Einsatz kommen.                  sind es Kälber der Zweinutzungsrassen, die sie auf
  ■    Das Fleisch von Kälbern, die in Deutschland unter       dem Betrieb aufziehen, mästen und regional vermark­
       tiergerechten Bedingungen geboren, gemästet und         ten.17 Teilweise betreiben sie dabei kuhgebundene Käl­
       geschlachtet wurden, müsste als solches stärker         beraufzucht. Dieses Verfahren, »Bruderkälber« aufzu­
       beworben und verkauft werden.                           ziehen und deren Fleisch zu vermarkten, ist noch eine
  ■    Importiertes Fleisch aus anderen EU-Ländern oder        Nische, die ausgebaut werden sollte.
       Südamerika sollte hierzulande nicht angeboten              Manche Betriebe wählen eine andere Möglichkeit,
       werden.                                                 die Anzahl der geborenen Kälber zu reduzieren. Sie
  ■    Landwirte und Landwirtinnen müssen für Milch und        vergrößern die Abstände, in denen eine Kuh kalbt.
       Fleisch faire Preise erhalten, sodass sie trotz der     Die Kühe haben eine längere Zeitspanne, um sich
       notwendigen Abstockung ihrer Herden ein gutes           nach der Geburt zu erholen und das wirkt sich positiv
       Einkommen haben. Hierbei spielt die Vermarktung         auf ihre Gesundheit aus. Erheblichen Einfluss haben
       eine zentrale Rolle.                                    bei all dem entsprechende Maßnahmen vonseiten der
                                                               ­Vermarktung.

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Der kritische Agrarbericht 2022

Das Thema im Kritischen Agrarbericht                                   7 Deutsche Gesellschaft für Züchtungskunde (DHFZ) (Hrsg.):
X Stefanie Pöpken: Mehr Zeit zu zweit. Erfahrungen mit mutter-           Po­sitionspapier der DGFZ-Projektgruppe »Zukunft gesunde
  und ammengebundener Kälberaufzucht. In: Der kritische Agrar-           Milchkuh«: Zukunftsfähige Konzepte für die Zucht und Hal-
  bericht 2020, S. 284–288.                                              tung von Milchvieh im Sinne von Tierschutz, Ökologie und
X Franziska Hagen: Tiere als »Abfall«. Die unsichtbaren Folgen des       Ökonomie. Bonn 2020 (www.dgfz-bonn.de/services/files/
  Wachstumsstrebens in der Tierhaltung. In: Der kritische Agrar-         stellungnahmen/Strategiepapier_Zukunft%20gesunde%20
  bericht 2016, S. 246–250.                                              Milchkuh_FINAL%202020%20%282%29.pdf).
X Irene Wiegand: Ein kurzes Leben. Kälberhaltung in Deutschland        8 DLG-Standard Milchviehhaltung. Prüf- und Durchführungs­
  und der EU – Aktuelle Probleme aus Sicht des Tierschutzes:             bestimmungen. Frankfurt am Main 2020 (www.dlg-tierwohl.
  In: Der kritische Agrarbericht 2014, S. 241–244.                       de/fileadmin/img/kriterien/Pruefbestimmungen_DLG-Stan-
                                                                         dard_Milchviehhaltung.pdf).
                                                                       9 Wilfried Hopp: Umfang und Ursachen der frühen Kälberverluste.
                                                                         Wege zur Wahrheit. Vortrag auf dem Stendaler Symposium 2019.
Anmerkungen
                                                                      10 Herkunftssicherungs- und Informationssystem für Tiere
 1 Destatis: Milchleistung je Kuh in Deutschland in den Jahren 1900
                                                                         (www.hi-tier.de).
   bis 2020 (https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153061/
                                                                      11 L. Bittner: Berlin Brandenburgischer Rindertag, DVG Rinder­
   umfrage/durchschnittlicher-milchertrag-je-kuh-in-deutsch-
                                                                         tagung, Vortrag 17. Oktober 2020.
   land-seit-2000/).                                                  12 Siehe unter anderem: Landeskontrollverband für Leistungs- und
 2 Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage [...] Druck-       Qualitätsprüfung Sachsen-Anhalt (LKV): Jahresbericht 2019.
   sache 19/9368: Abgangsraten und Todesfälle von Milchkühen             Halle/Saale 2019.
   in Deutschland vom 29. April 2019 (BT-Drucksache 19/9753)          13 Niedersächsisches Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft
   (https://dserver.bundestag.de/btd/19/097/1909753.pdf).                und Verbraucherschutz: Leitfaden für eine optimierte Kälber-
 3 Thünen-Institut: Steckbriefe zur Tierhaltung in Deutschland:          aufzucht. Hannover 2015 (file:///Users/ms/Downloads/
   Milchkühe. Braunschweig 2020 (www.thuenen.de/media/                   Leitfaden_Kaelber_Online.pdf).
   ti-themenfelder/Nutztierhaltung_und_Aquakultur/Haltungs-           14 Hopp (siehe Anm. 9).
   verfahren_in_Deutschland/Milchviehhaltung/Steckbrief_              15 AMI Markt Bilanz Vieh und Fleisch. Bonn 2021.
   Milchkuehe_2020.pdf).                                              16 Verordnung zum Schutz von Tieren beim Transport und zur
 4 Destatis: Tiere und tierische Erzeugung: Haltung mit Rindern          Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 1/2005 des Rates1)2) –
   und Rinderbestand für November 2020 und Mai 2021 (www.                Tierschutztransportverordnung (www.juris.de/jportal/portal/page/
   destatis.de/DE/Themen/Branchen-Unternehmen/Landwirt-                  homerl.psml/screen/FcJWPDFScreen?doc.id=BJNR037500009).
   schaft-Forstwirtschaft-Fischerei/Tiere-Tierische-Erzeugung/        17 Siehe hierzu auch den Beitrag von Kristina Schmalor in diesem
   Tabellen/betriebe-rinder-bestand.html).                               Kritischen Agrarbericht (S. 171–177).
 5 Verordnung zum Schutz landwirtschaftlicher Nutztiere und
   anderer zur Erzeugung tierischer Produkte gehaltener Tiere
   bei ihrer Haltung (Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung -
   TierSchNutztV) (www.gesetze-im-internet.de/tierschnutztv/
   BJNR275800001.html).
 6 M. Hoedemaker, Tierärztliche Hochschule Hannover: Tierge-                              Frigga Wirths
   sundheit, Hygiene und Biosicherheit in deutschen Milchkuh-                             Tierärztin und M. Sc. Nutztierwissenschaften,
   betrieben – eine Prävalenzstudie (PraeRi). Abschlussbericht                            Fachreferentin beim
   PraeRi (FKZ 2814H006-008), Hannover 2020 (https://ibei.tiho-                           Deutschen Tierschutzbund e.V.
   hannover.de/praeri/uploads/report/Abschlussbericht_
   komplett_2020_06_30_korr_2020_10_22.pdf).                                              frigga.wirths@tierschutzakademie.de

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