Kinder und jugendpsychiatrische Behandlung der Geschlechtsdysphorie: Diagnostik Therapie Kooperation
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Kinder‐ und jugendpsychiatrische Behandlung der Geschlechtsdysphorie: Diagnostik ‐ Therapie ‐ Kooperation Vierteljahrestreffen 31.01.2022 Henning Ide-Schwarz (Dipl. Päd.) Klinikum Stuttgart - Zentrum für Seelische Gesundheit Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie
Anlass • Sexualität als zentrale Entwicklungsaufgabe von Kindern und Jugendlichen • Weitreichende Folgen für Salutogenese wie auch bei Störungen der Sexualentwicklung • Weltweite Zunahme der Fallzahlen diagnosti- zierter/therapierter Geschlechtsdysphorien • KJPP: Versorgungsengpässe und Dilemmata • Bisher fehlende KJPP-Leitlinien (S3 zum 31.03.22?) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 2
Übersicht 1. Begriffsklärung - Diagnostik 2. Prävalenz - Persistenz 3. Therapie - Transition 4. Schlüsselthemen - Kooperation
1. Diagnostik • ICD 10 – F64.0 Transsexualismus – F64.2 Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters Pathologie, Abweichung von einem normalen/gesunden Zustand (= kategoriale Unterscheidung) • DSM 5 – Geschlechtsdysphorie (GD) bei Kindern (302.6) – Geschlechtsdysphorie bei Jgdl. und Erw. (302.85) Subjektives Leid bei geschlechtsinkongruentem Selbsterleben (= dimensionales Phänomen, Varianten im Gender-Spektrum) • ICD 11 – „Geschlechtsinkongruenz“ (GI), die nur bei hohem Schwergrad zu psychischem Leid = Geschlechtsdysphorie führt H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 4
1. Paradigmenwechsel • Statt „entweder oder“ ein Spektrum non-binärer Geschlechtsidentitäten • Die hormonell und operativ „soweit wie möglich“ angestrebte Geschlechtsangleichung, wie sie von der ICD 10 noch verlangt wurde, wird heute als Irrtum begriffen! Die Folge waren tlw. schwere „Es besteht der Wunsch nach Fehlentwicklungen, zum Beispiel hormoneller und chirurgischer erfolgten manche Operationen nur, Behandlung, um den eigenen um zu einer der beiden Geschlechts- Körper dem bevorzugten Geschlecht soweit wie möglich anzugleichen.“ kategorien „richtig zu passen“. H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 5
1. Synopse GD / GI nach DSM-V und ICD 11 • Kinder 1. Bedürfnis, and. Geschlecht zu haben 2. Ablehnung prim. bzw. zu erwartender sek. Geschlechtsmerkmale 3. und/oder Bedürfnis nach prim./sek. Geschlechtsmerkmalen des Gg.gschl. 4. Spiele/Aktivitäten eher typ. für Gg.gschl. Dauer > 2 Jahre • Jugendliche/Erwachsene (mind. 2 von 4 Merkmalen) 1. Ablehnung der eigenen prim./sek. Geschlechtsmerkmale 2. Starkes Bedürfnis, sich der prim./sek. Gschl.merkmale zu entledigen 3. Starkes Bedürfnis nach prim./sek. Gschl.merkmalen des Gg.geschl. 4. Bedürfnis, entspr. des Gg.geschl. zu leben und behandelt zu werden Dauer > mehrere Monate und erst nach Beginn der Pubertät Geschlechtsabweichendes Verhalten und Präferenzen allein können nicht Basis der Diagnosestellung sein! (Hellenschmidt/Levitan 2020) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 6
1. Kinder- und jugendpsychiatrische Differenzialdiagnosen • Sexuelle Reifungskrise • Ich-dystone Sexualorientierung (z.B. Ablehnung Homosexualität aus kulturellen Gründen) • Transvestitismus (Ziel sexuelle Erregung) • Soziale Phobie • Dysmorphophobie (im Jugendalter häufig) • Wahnhafte Störung H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 7
1. Exkurs: Glossar queerer Geschlechtsidentitäten? • Bisexuell, Non-binär, Gender Fluid, Trans, Pansexuell, Polyamourös… • Einerseits der forschende Blick (Objektivierung) • Andererseits das unablässige Ringen um Identität und Selbstvergewisserung der Betroffenen: „Ich bin einmalig!“ (Subjektivierung) ……………………………………………………. Bitte nicht verwechseln! Trotzdem Bedarf an objektivierenden Kriterien zur Indikationsstellung H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 8
1. Spektrum von „Cis-Gender“ bis „Transgender“ Gesellschaftliche Akzeptanz Geschlechts- Geschlechts- kongruentes inkongruentes Geschlechts- Trans- Erleben und Erleben und dysphorie sexualität Verhalten Verhalten Cis-gender Non-binär Transgender Subjektiver Leidensdruck Psychotherapie Geschlechtsan- Therap. Intervention? gleichende Maßnahmen H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 9
Übersicht 1. Begriffsklärung - Diagnostik 2. Prävalenz - Persistenz 3. Therapie - Transition 4. Schlüsselthemen - Kooperation
2. Prävalenz - Erfahrungswerte bis ca. 2010 • Metastudie 2015: Transsexualität in Gesamtbevölkerung 4,6 auf 100.000 (Preuss 2016, Becker et al. 2017) • Erwachsenenalter: Überhang Transfrauen (MzF) ca. 2/3 • Kindesalter: Überhang MzF noch ausgeprägter, aber… • … im Jugendalter plötzlich umgekehrt: Überhang Transmänner (FzM) ca. ¾ H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 11
2. Prävalenz - Aktuelle Entwicklungen • Seit ca. 10 Jahren explosionsartige Steigerung der Fallzahlen (zitiert nach Korte 2021): – Zunahme Diagnose-Häufigkeit in der Gruppe der 13 bis 17- jährigen Mädchen um 1500 % in der Zeit zwischen 2008 bis 2018 (National Board of Health and Welfare Sweden, 2020) – 2009-2019 im GIDS/Tavistock registrierte und behandelte Minderjährige: Zunahme von 4500 % mit einem Mädchenanteil von zuletzt fast 80%. (De Graaf et al. 2018) • Etliche der vorgenannten, überwiegend weiblichen Jugendlichen zeigen ein plötzliches Trans-Outing in der Adoleszenz ohne vorausgegangene GI/GD in der Kindheit H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 12
2. Rapid-Onset Gender Dysphoria (ROGD) – Gibt es das? • Littman (2018) prägte Begriff ROGD und sprach diesbezüglich u.a. von „social contagion“ (soziale Ansteckung) und „binge-watching Youtube transition videos“ • Seither kontroverse Debatte um ROGD – Fachliche Mängel der Littman-Studie – Deskriptiver Charakter des Begriffs wird zur diagnosegleichen Kategorie normativ umdefiniert – Suggeriert Homogenität i.S.v. „… alles keine echten Transgender?!“ – Betrachtung des Einzelfalls droht vernachlässigt zu werden. – ROGD wurde durch transkritische bis transphobische Akteure okkupiert (ähnlich dem Thema der „Detransitionierer“) – Beifall aus der falschen Ecke? H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 13
2. Persistenz • Ca. ¼ der Pat. mit geschlechtsvariantem Verhalten/Erleben in der Kindheit persistieren bis ins Jugendalter, wo sich i.d.R. ein deutlich gesteigertes Missbefinden zeigt = Geschlechtsdysphorie i.e.S. • Dieses Viertel der Betroffenen wird als „Persisters“ bezeichnet, die restlichen ¾ als „Desisters“ „ROGD“ ? (Lempp 2021, adaptiert vom Referenten) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 14
2. Geschlechtsidentität und sexuelle Orientierung? • I.d.R. erfährt die Geschlechtsidentität eine deutlich frühere Festigung als die sexuelle Orientierung! • Kinder mit ausgeprägter GD zeigen meist im 4./5. Lebensjahr starke Abgrenzung von geburtsgeschlechtlich zugewiesenen Rollen und Normen, lange vor Klärung ihrer sexuellen Orientierung. • Bewusstsein für die eigene Präferenz von Sexualpartnern entwickelt sich bei sexuellen Minderheiten (homosexuell, bisexuell) oft erst in der späten Adoleszenz. (Pauli 2019, S. 57 f) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 15
2. Persisters vs. Desisters • „Persisters“ zeigen in ihrer weiteren Entwicklung – mit Blick auf ihr Zielgeschlecht – weit überwiegend eine heterosexuelle Orientierung (z.B. Trans-Frau auf Mann) • „Desisters“ zeigen in ihrer weiteren Entwicklung zu ca. – ¾ eine bi- oder homosexuelle Orientierung – ¼ eine heterosexuelle Orientierung (Preuss 2016, S. 221 ff) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 16
2. GD/GI im Kindesalter als Prediktor? GD im Kindesalter ist ein stärkerer Prädiktor für die spätere Manifestation einer homosexuellen Orientierung als für eine spätere Transsexualität! (STEENSMA et al., 2011/2013; zitiert nach Korte 2021) • Erhebliche Risiken, dass die empfundene Andersartigkeit zu einer „falschen“ Überidentifikation mit dem Gegengeschlecht führt und Homosexualität/Bisexualität verdrängt/verleugnet wird. • Dominanz normativer Geschlechtsrollenerwartungen noch nicht vollständig durchbrochen! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 17
Leicht gesagt, doch gar nicht so leicht zu leben... https://www.storevip4d.ml/products.aspx?cname=it%27s+okay+to+not+be+okay+tshirt&cid=14
1. Begriffsklärung - Diagnostik 2. Prävalenz - Persistenz 3. Therapie - Transition 4. Schlüsselthemen - Kooperation
3. Prozessdiagnostik in Stuttgart... • Ausführliche Anamnese Eltern und Kind • PPB • Körperliche Untersuchung – Pubertätsentwicklung? – Z.A. Intersexualität? Z.A. Andrenogenitale Störung (= Störung der Hormonbildung der Nebennierenrinde)? • Weitere Einzeltermine Pat., Eltern, Familiengespräche • Bewertung der Stärken und Schwächen des familiären Funktionsniveaus (WPATH, SoC 2012, S. 19) • Utrecht Gender Dysphoria Scale • Gender-Identität (Pauli 2019) • Metrische Testdiagnostik und projektive Diagnostik In den allermeisten Fällen längere Verlaufsbeobachtung H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 20
3. Diagnostische Erfassung nicht-binärer Identitäten Wichtige Fragen: • Zu welchem Geschlecht fühle ich mich hingezogen? • Was bin ich in meinen sexuellen Phantasien? • Als welches Geschlecht möchte ich geliebt / begehrt werden? Quelle: Pauli 2019, S. 60 (exempl. ausgefüllt durch Referent) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 21
3. Therapie • Was tun? • Das, was wir immer machen: Milieutherapie! • Entwicklungsförderung „jenseits der Geschlechterfrage“ – Schule – Alltag – Freizeitgestaltung, Sport – Spielen, Kochen, Basteln, Malen – Auseinandersetzung mit den „normalen“ Alltags- konflikten: Genervt wegen…, Streit mit…, Angst um … H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 22
3. Transition idealtypisch 12 Punkte-Plan analog zum „Hamburger Protokoll“: 1. Vom Kleinkindalter an Äußerungen, dem and. Geschlecht anzugehören und gegengeschlechtliches Rollenverhalten. 2. Spätestens im Jugendalter ausgeprägte Geschlechtsdysphorie 3. Jugendliche/r in altersgemäßem Entwicklungsstand. Ausschluss gravierender Differenzialdiagnosen und Kontraindikationen. 4. Dem Entwicklungsstand des Pat. angemessene Vorstellungen von den Folgen der Hormonbehandlung und Compliance. 5. Coming Out im engen Umfeld. Beide Eltern akzeptieren das Zugehörigkeitsgefühl des Kindes/Jugendl. zum and. Geschlecht und unterstützen beim sozialen Rollenwechsel. 6. Beide Eltern können ein Güterabwägung vornehmen bezüglich Nutzen und Risiken der geschlechtsangleichenden Behandlung. 7. Öffentliches Coming Out mit sozialem Rollenwechsel. Die soziale Rolle wird erfolgreich gelebt. Pat. kann sich in der neuen Geschlechtsrolle behaupten. (PreussH.2016, S. 229ff) Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP 23
3. Transition idealtypisch 8. Pat. wird in der Schule mit seinem Zugehörigkeitsgefühl akzeptiert und unterstützt 9. Pat. wird von Klassenkameraden und Peers akzeptiert und kann sich in der Peergruppe mit seinem Zielgeschlecht behaupten. 10. Sowohl Pat. als auch Eltern müssen bereit sein, regelmäßig die begleitende Psychotherapie beim Gender-Spezialisten und ggf. die Psychotherapie bei einem kooperierenden Ki/Ju-PTh wahrzunehmen. 11. Zwei kjp‘sche Genderspezialisten sollen unabhängig voneinander eine pubertätsaufhaltende und später eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung indizieren. 12. Der beh. Gender-Spezialist koordiniert die Bhdl. und sorgt für eine Zusammenarbeit von Kinderarzt, Ki/Ju-PTh und Kinder-Endokrinologe und bereitet zu gegebener Zeit die Vornamens- und Personenstandsänderung nach TSG vor. (Preuss 2016, S. 229ff) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP 24
3. Transition idealtypisch Indikationsschreiben = qualifizierte „Arztberichte“ 8. Pat. wird in der Schule mit seinem Zugehörigkeitsgefühl akzeptiert und unterstützt 9. Pat. wird von Klassenkameraden und Peers akzeptiert und kann sich in der Peergruppe mit seinem Zielgeschlecht behaupten. 10. Sowohl Pat. als auch Eltern müssen bereit sein, regelmäßig die begleitende Psychotherapie beim Gender-Spezialisten und ggf. die Psychotherapie bei einem kooperierenden Ki/Ju-PTh wahrzunehmen. 11. Zwei kjp‘sche Genderspezialisten sollen unabhängig voneinander eine pubertätsaufhaltende und später eine gegengeschlechtliche Hormonbehandlung indizieren. 12. Der beh. Gender-Spezialist koordiniert die Bhdl. und sorgt für eine Zusammenarbeit von Kinderarzt, Ki/Ju-PTh und Kinder-Endokrinologe und bereitet zu gegebener Zeit die Vornamens- und Personenstandsänderung nach TSG vor. (Preuss 2016, S. 229ff) Gerichtsgutachten im Rahmen des TSG H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP 25
3. Körperliche Interventionen bei Jugendlichen • Einsatz von GnRH-Analoga (frühestens nach Tanner II), um die Produktion von Östrogen oder Testosteron zu unterdrücken Verlängerung der Latenz („reversibel“) • Bei auspubertierten Jgdl. Suppression der Geschlechtshormone/ Gabe von Hormonblockern („reversibel“) • Gegengeschlechtliche Hormonbehandlung: („partiell reversibel“) – Trans-Jungen: Testosteron-Depot-Präparate – Trans-Mädchen: Östrogen-Tabletten • Genitalangleichende Operationen („irreversibel“) frühestens ab 18 (Preuss 2016, S. 244) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 26
3. Risiken und Nebenwirkungen • „Reversibel“? – Pubertätsblockade ist zwar körperlich reversibel, aber was bedeutet es für die psychische Entwicklung? • Pubertät schafft einerseits irreversible Fakten der Vermännlichung und Verweiblichung, bringt aber auch mehr Klarheit für die Diagnose: „Wer bin ich in meinen sexuellen Phantasien: Junge oder Mädchen?“ • Pubertätsblocker beeinflussen auch diese Phantasien! • Bei gegengeschlechtlicher Hormontherapie – Bleibende Infertilität – Dauerhafte Beeinträchtigung der sexuellen Erlebnisfähigkeit, u.U. bis hin zur Anorgasmie • Lebenslange Hormonsubstitution H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 27
3. Besondere Bedeutung der Pubertätsblockade • Schlüsselfunktion der Pubertätsblockade, seit ca. 20 Jahren verbreitet eingesetzt, wird erkennbar • Durchführbar ab Tannerstadium II, meist im Alter zwischen 12 und 16 Jahren • Geschlechtsdysphorische Jugendliche, die die Pubertätsblockade beginnen, wählen im Anschluss fast immer die Cross- Hormontherapie (Studie De Vries et al. 2011, n=70, bei 100% Einleitung der Cross-Hormontherapie; zitiert nach Korte 2021) • Auffälliger Kontrast zu den bisher bekannten Persistenzraten! • Kontroverse Deutung der o.g. Ergebnisse: Nur absolut sicher entschiedene Jugendliche mit GD lassen die Pubertätsblockade einleiten Die Pubertätsblockade präjudiziert bei ambivalenten Jugendlichen mit GD eine Entscheidung pro geschlechtsangleichende Therapie H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 28
3. Quo vadis Pubertätsblockade? • Egal, welche Interpretation der extrem hohen Korrelation von Pubertätsblockade und Hormontherapie: • Bei bestehenden Bedenken bezüglich Persistenz der GD verbindet sich mit der Einleitung einer Pubertätsblockade keine Erweiterung der Entscheidungsoptionen, … • … sondern der Weg in die geschlechtsangl. Therapie ist gebahnt Hohe Verantwortung der Beteiligten für Klärungs- und Therapieprozess vor Einsatz der Pubertätsblockade! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 29
1. Begriffsklärung - Diagnostik 2. Prävalenz - Persistenz 3. Therapie - Transition 4. Schlüsselthemen - Kooperation
4. Schlüsselthema „Pubertätsblockade“ • Pubertätsblocker bei Pubertas Praecox bewährte Behandlungsmethode • Indikation bei GD/GI bisher „experimentell“ – Körperliche Langzeitfolgen? – Psychologische Effekte? Bisher keine gesicherten Erfahrungswerte • Aufklärung über (bisher weitgehend) ungeklärte Langzeitrisiken der Behandlung! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 31
4. Schlüsselthema „Unfruchtbarkeit“ • „Verstehen“ ist oft reduziert auf biologische Tatsache • Vor Beginn der gegengeschlechtlichen Hormonbehandlung, die zur Infertilität führt, sollten die Auswirkungen auf das Leben eines Erwachsenen begriffen und gewürdigt werden. Intensive Auseinandersetzung Psychotherapeutische Fragestellung nicht nur gegenwartbezogene Bewertung aus Sicht Jgdl. in seiner jetzigen Lebenssituation H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 32
4. Detransition: Der Fall Bell vs. Tavistock • Regreter/Detransitionierer – Klage des Transmannes Quincy Bell (geb. Keira) mit 21 Jahren: Fehlbehandlung wg. mangelnder Aufklärung über Folgen der Geschlechtsangleichung – CAVE: Noch mit 20 Mastektomie durchgeführt – Behandelt Außenstelle Leeds der Tavistock Klinik London (GIDS) Londoner Grundsatzurteil 12/2020, das kontroverse Diskussionen auslöst und Diskussion um Leitlinien forciert… H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 33 © Spiegel Online
4. Komplikationen auf Helferebene bei GD/GI? • Grundversorgung KJPP Stuttgart amb./teil-/ vollstationär – Sehr selten: Kernproblematik – Selten: Teilproblematik der Psychotherapie • Ambulant: Anmeldediagnose GD/GI – Gelegentlich: Findungs-/Orientierungsphase, Einleitung der begleitenden Psychotherapie – Häufiger: weit fortgeschrittener (Psycho-)Therapieprozess, Kontaktaufnahme wegen bevorstehender Hormonbehandlung bei Kinderendokrinologe - bisher ohne kjp‘sche Beteiligung Erwartung: Indikationsschreiben Drohende Phasenverschiebung : KJPP Expertise braucht Zeit! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 34
4. Komplikationen auf Helferebene bei GD/GI? • Grundversorgung KJPP Stuttgart amb./teil-/ vollstationär – Sehr selten: Kernproblematik – Selten: Teilproblematik der Psychotherapie • Ambulant: Anmeldediagnose GD/GI – Gelegentlich: Findungs-/Orientierungsphase, Einleitung der begleitenden Psychotherapie – Häufiger: weit fortgeschrittener (Psycho-)Therapieprozess, Kontaktaufnahme wegen bevorstehender Hormonbehandlung bei Kinderendokrinologe - bisher ohne kjp‘sche Beteiligung Erwartung: Indikationsschreiben Drohende Phasenverschiebung : KJPP Expertise braucht Zeit! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 35
4. Leitlinien • Aktuelle S3-Leitiline für Erwachsene (02/2019): kritische Abgrenzung von Pathologisierung und Formalisierung, Ablehnung der bisher obligaten Psychotherapie, maximale Selbstkontrolle der Betroffenen • Was davon ist auf Kinder und Jugendliche mit GD übertragbar? • Ki/Jg.-Leitlinie (F64) ist über 20 Jahre alt, neue in Vorbereitung, Veröff. verschoben: Vermutl. erhebliche Kontroversen zwischen… Betroffenenverbände: Liberalisierung Fachleute Position A: analog S3 LL-Erw. frühestmögl. Einsatz der Pubertätsblocker Fachleute Position B: restriktiver Einsatz der Pubertätsblocker H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 36
4. Leitlinien • Aktuelle S3-Leitiline für Erwachsene (02/2019): kritische Abgrenzung von Pathologisierung und Formalisierung, Ablehnung der bisher obligaten Psychotherapie, maximale Selbstkontrolle der Betroffenen • Was davon ist auf Kinder und Jugendliche mit GD übertragbar? • Ki/Jg.-Leitlinie (F64) ist über 20 Jahre alt, neue in Vorbereitung, Veröff. verschoben: Vermutl. erhebliche Kontroversen zwischen… Betroffenenverbände: Liberalisierung Fachleute Position A: analog S3 LL-Erw. frühestmögl. Einsatz der Pubertätsblocker Fachleute Position B: restriktiver Einsatz der Pubertätsblocker H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 37
4. Kooperation bei Transition • (Regionale) Fachgremien • Einheitliche Mindeststandards – Psychotherapie – Elternarbeit – Soziales Outing • Synchronisierung der Abläufe, Kooperationsabsprachen zwischen – Endokrinologen – Niedergelassenen Ki/Ju-Psychotherapeut*innen – Fachärzt*innen für KJPP (Niedergelassene und Klinik) H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 38
Fazit
Fazit: Bei allen Beteiligten hoher Entscheidungsdruck… • Dilemma Psychotherapie vs. Endokrinologie: Je leichter für die einen, desto schwieriger für die anderen. • Stellenwert der Pubertäts- und Jugendkrisen? Passagere Pubertätskrise? Persistierende GD? • Rolle der Sozialen Medien? Emanzipation der Betroffenen, Tabus überwinden? Selbstreferenz der sozialen Medien („Blase“)? H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 40
Fazit • Dilemma Indikation geschlechtsangleich. Behandlung Frühestmögliche Linderung von Leid durch endokrin. Behandlung Fachliche Fehleinschätzung, die zu irreversibler Veränderungen führen kann • Bedeutung der explosionsartigen Zunahme der Fallzahlen? • Aber jeder Fall – auch und gerade „ROGD“ – muss individuell betrachtet und entschieden werden! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 41
Fazit • Erwartung, das Thema Geschlechtsdysphorie lasse sich durch frühe Transition (Hormonbehandlung, OP) grundsätzlich „lösen“, wird enttäuscht. • Persistierende GD bringt zeitlebens besondere Belastungen und Herausforderungen mit sich (trotz aller Therapieoptionen) • Die Beteiligten müssen mit diesen Entscheidungen ihr gesamtes weiteres Leben klarkommen! H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 42
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur Becker, I./Briken, P./Nieder,T. (2017): Trans im Jugendalter. In: Psychotherapie im Dialog, Heft 2/2017, S. 41-45 Deutsche Gesellschaft für Sexualforschung (2019): Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit, S3-Leitlinie AWMF-Register-Nr. 138|001 vom 22.02.2019 Deutscher Bundestag (2019): Störungen der Geschlechtsidentität und Geschlechtsdysphorie bei Kindern und Jugendlichen. BT-Drucksache WD 9 - 3000 - 079/19 v. 15. November 2019 De Vries, A. et al. (2011): Puberty suppression in adolescents with gender identity disorder: a prospective follow-up study. In: J Sex Med. 2011 Aug; 2276-83. doi: 10.1111/j.1743- 6109.2010.01943.x. Die Zeit (2020): Vom Recht, anders zu sein. Nr. 22/2020, S. 35/36 Hellenschmidt, T./Levitan, N. (2020): Störungen der Sexualität. S. 415-431, in: Kölch, M. et al. (Hg.): Klinikmanual Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie. Berlin Korte, A. (2021): Lost in Transition: Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Online-Tagung des Ethikvereins: Umgang mit Transsexualität 11.06.2021 H. Ide-Schwarz (Dipl. Päd.), Zentrum für seelische Gesundheit - Klinik für KJPP Seite 44
Literatur Littman, L. (2018): Rapid-onset gender dysphoria in adolescents and young adults: A study of parental reports. PLOS ONE 13(8): e0202330. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0202330 Lempp, Th. (2021): Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter. Unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Online-Tagung des Ethikvereins: Umgang mit Transsexualität 11.06.2021 Pauli, D. (2019): Nicht-binäre Geschlechtsorientierung bei Kindern und Jugendlichen, in: Kinderanalyse 27. Jg., Heft 1, S. 53-64 Preuss, Wilhelm F. (2016): Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes- und Jugendalter. Reinhardt Verlag München und Basel Preuss, Wilhelm F. (2019): Trans*-Jugendliche brauchen Zeit, um Männer und Frauen zu werden, in: Kinderanalyse 27. Jg., Heft 1, S. 85-104 Rauchfleisch, Udo (2016): Transsexualität, Transidentität. Verlag Vandenhoek und Rupprecht Göttingen World Professional Association for Transgender Health (Hg.) (2012): Standards of Care (SoC) - Versorgungsempfehlungen für die Gesundheit von transsexuellen, transgender und geschlechtsnichtkonformen Personen, Version 7. Zugriff vom 19.09.2018: https://www.wpath.org/publications/soc Seite 45
Sie können auch lesen