Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine

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Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
Konflikte
ent_wirren
SEBASTIAN GEBHART

1   INSTITUT HYPERWERK HGK FHNW
Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
Kommit to Conflict
          2020

Institut HyperWerk HGK FHNW
          Freilager-Platz 1
      Postfach CH-4002 Basel

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Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
INHALTSVERZEICHNIS

             EINLEITUNG

               POSITION

               KONTEXT
            Konflikt.......... S.14
           Metapher.......... S.16
    Macht und Verantwortung.......... S.18

                PROZESS
            Methodik.......... S.22
      Kollektive Recherche.......... S.23
   Exkurs: Akustische Metapher.......... S.26

           EXPERIMENTE
     Durchs Rohr sprechen......... S.30
   Über den Tellerrand schauen.......... S.32

                  FAZIT

             IMPRESSUM
Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
EINLEITUNG

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Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
Konflikte, innere wie äussere, sind unsere tägli-   Meine Motivation rührt daher, dass ich mein
                      chen Begleiter. Konflikte gehören zu den schwie-    eigenes Bewusstsein für die Verantwortung, die
                      rigen Dingen im Leben. Sie sind unangenehm,         mit der Verwendung von Sprache einhergeht,
                      erdrückend, beklemmend, aufbrausend, heiss          weiterbilden möchte.
                      und kalt. Es braucht Mut, um über Konflikte         Wie wir reden ist gegeben aber nicht gesetzt. Je-
                      zu sprechen, aber Mut alleine reicht nicht. Wir     des Wort, jeder Laut, auf dessen Bedeutung sich
1                     brauchen Worte, um Konflikte sprachlich fassen      in der Vergangenheit geeinigt wurde, ist mit Auf-
 Wenn ich in der
gängigsten Inter-     zu können. Mir scheint es als gäbe es mehr Voka-    wand umzudeuten und veränderbar. Wir haben
netsuchmaschine       bular um meine Zufriedenheit auszudrücken, als      die Wahl Worte aus unserem Sprachgebrauch
nach Synonymen        mein Unbehagen.1                                    auszuklammern und hinzuzufügen. Metaphern
   für „glücklich“
    suche, werden                                                         sind ein fester Bestandteil unserer Sprache. Folg-
      mir von „un-    Können Metaphern als Hilfsmittel genutzt wer-       lich gilt es auch sie zu überprüfen. Da setze ich
   beschwert“ bis     den um uns über Konflikte zu verständigen? Wel-     mit meinem Diplomprojekt an. Ich lege den Fo-
   „high“ über 30
    Synonyme an-
                      che Problematik steckt darin?                       kus auf Metaphern, die wir benutzen, um über
  gezeigt. Mache                                                          Konflikte zu sprechen (Konfliktmetaphern). Ihre
  ich das Gleiche     In meinem Prozess greife ich Konfliktmetaphern2     Überprüfung ist Arbeit. Diese Arbeit soll nicht
   mit dem Wort
     „traurig“ sind
                      auf und transformiere sie in andere nicht-sprach-   denen zufallen, die durch Sprache diskriminiert
  es knappe zehn      liche Zustände. Ich entziehe sie dem sprachlichen   werden. Im Grunde trägt jede Person die Verant-
            Worte.    Raum, verdingliche und verklangliche sie. Die       wortung darüber, ob sie diskriminierende Spra-
2                     Neuverortung in physischen und akustischen          che verwendet und Unrecht reproduziert oder
     Als Konflikt-    Umgebungen- setzt Teilnehmende in eine neue         eben nicht.
       metaphern      Beziehung zur Metapher (und zu inneren und
    bezeichne ich
      Metaphern,      äußeren Konflikten). Wir beobachten die Perfor-
       die genutzt    manz der Metapher und nutzen sie als Objekt für
werden um über        Performatives. Damit möchte ich neue sinnliche
      Konflikte zu
         sprechen,
                      Erfahrbarkeiten eröffnen, die in der sprachlichen
 in ihrer Bildhaf-    Auseinandersetzung nicht möglich wären. Durch
tigkeit Konflikte     diesen Ansatz und die daraus gewonnenen Er-
beinhalten, oder      kenntnisse möchte ich unkonventionelle Metho-
      mit Konflik-
     ten assoziiert   den der Konfliktverständigung vorschlagen und
           werden.    vermitteln.

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Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
POSITION
         Wenn ich über Konflikte spreche, ist es wichtig
         zu erläutern aus welcher Position ich spreche.
         Ich lebe in der Schweiz, wo ich geboren und auf-
         gewachsen bin. Ich ging 13 Jahre zur Schule und
         studierte drei Jahre am HyperWerk. Ich schreibe
         Kurzgeschichten und mache Musik. Ich bezeich-
         ne mich als harmoniebedürftig, wenn nicht sogar
         als konfliktscheu.
         Ich bin weiss. Ich bin ein Mann.

         Mein Wissen ist begrenzt, wie mein Blickwinkel.
         Ich möchte keine Deutungshoheit beanspruchen.
         Alles, was ich in dieser Arbeit darlege, stammt aus
         einer persönlichen Auseinandersetzung mit dem
         Thema Konflikt und aus daraus entwickelten er-
         kenntnisorientierten Experimenten.

10       11                           Illustration: Valentina Merz
Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
KONTEXT
                 In diesem Kapitel erläutere
                ich gängige Konnotationen
            wichtiger Kernbegriffe meiner
            praktischen Experimente. Die
          sprachlichen Deutungsversuche
              dienen der zusätzlichen Kon-
             textualisierung meiner Praxis.
          Es ist der Versuch durch Sprache
          mein Anliegen verständlicher zu
                   machen und zu verorten.

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KONFLIKT                                                   Freund*innen, mit meinem Haustier. Ich kann
                                                                                 auch gegen den Krieg auf die Strasse gehen, ste-
            Der Duden schlägt zwei Definitionen für Kon-                         he also im persönlichen Konflikt zu den Kriegs-
            flikt vor:                                                           handlungen, zu der Idee des Krieges (bin aber
                                                                                 nicht Teil des kriegerischen Konfliktes). Genauso
1.                                                                               kann ich mich im Konflikt zu politischen Ent-
a) durch das Aufeinanderprallen widerstreitender Auffassun-                      scheidungen, zu Gesetzen oder Institutionen be-
gen, Interessen o. Ä. entstandene schwierige Situation, die zum                  wegen, ohne dass die andere Seite überhaupt et-
Zerwürfnis führen kann                                                           was von diesem Konflikt mitbekommt. Trage ich
                                                                                 den Konflikt in mir selber und gehe damit nicht
b) mit kriegerischen Mitteln ausgetragene Auseinandersetzung                     an die Öffentlichkeit, handelt es sich um einen
zwischen Gegnern                                                                 inneren Konflikt. Der kann beispielweise auch
                                                                                 darauf begründet sein, dass ich mich in meiner
2.                                                                               Persönlichkeit zwiegespalten fühle.
Zwiespalt, Widerstreit aufgrund innerer Probleme1
                                                                                 Folglich ist ein Konflikt ein gedanklicher Zu-
            Der Begriff Konflikt ist einerseits stark geprägt                    stand oder ein Ereignis, der oder das nach einer
            von Nachrichtenmeldungen über bewaffnete                             Lösung fordert. Diese Lösungen soll es geben.
            Konflikte, die in Bildern von Krieg, Grausamkei-                     Das soziale Wesen des Menschen strebt in der
            ten, Mord und Not in unseren (hiermit meine ich                      Regel danach Konflikte zu lösen, um ein friedli-
            vor allem die Schweizer*innen und Bürger*innen                       ches Miteinander oder Nebeneinander (wieder-)
            ähnlich „sicherer“ Staaten, die keine persönlichen                   herzustellen. Sie sind mögliche Strategien zur
            Beziehungen, wie Familie oder Freund*innen,                          Konfliktlösung oder -schlichtung, sind meist dia-
            zu diesen Kriegs- und Krisengebieten haben)                          logisch und dienen der Findung eines Kompro-
            scheinbar heilen und sicheren Alltag eindringen.                     misses oder eines Konsens.
            Hier bin ich der von aussen Betrachtende,
            Privilegierte, der ein Urteil fällen kann ohne sich                  In meiner praktischen Arbeit werde ich anhand
            selbst als Teil des Konfliktes zu sehen und direkt                   von Metaphern noch tiefer in die Definition von
            körperlich betroffen zu sein.                                        Konflikten eintauchen und ihre Vielfältigkeit
            Konflikte, in denen ich selbst teilnehme, finde                      innerhalb unserer Kommunikation versuchen
            ich in Bereichen, die in ständiger Wechselwir-                       (auch non-verbal) begreifbar zu machen.
            kung zu meinem persönlichen Leben stehen.
            Vielleicht stehe ich in Konflikt mit meinem*mei-      1 (Art.) Konflikt. In Duden online. Unter: https://www.duden.de/rechtschreibung/
                                                                  Konflikt [aufgerufen: 05.08.2020].
            ner Vermieter*in, mit Familienangehörigen, mit

            14                                                                   15
Konflikte ent_wirren 11 - SEBASTIAN GEBHART - HyperMagazine
“New metaphors are capable of creating new understandings
                                                                         and, therefore, new realities.“

                                                                                                      - George Lakoff, Metaphors We Live By2

                             METAPHER
                                                                                         George Lakoff und Mark Johnson verdeutlichen
                    Ich betrachte Metaphern als Codes. Eine Meta-                        in „Metaphors We Live By“, dass Metaphern ei-
                    pher ist ein sprachlicher Ausdruck, in dem eine                      nerseits die in einer Gesellschaft vorherrschenden
                    Information mit einem Bild codiert wird und mit                      Denkmuster und Weltanschauungen spiegeln,
                    Erfahrung oder Wissen wieder entschlüsselt wer-                      dass aber in einer Art Rückwirkung Metaphern
                    den kann. Das Bild, was für die Codierung be-                        unsere Denkmuster und Weltanschauungen prä-
                    nutzt wird, hat in der Regel nichts mit der Infor-                   gen. Daraus folgt für mich die Frage, können
                    mation zu tun, weist aber Analogien zu dieser auf.                   wir diese Endlosschlaufe durchbrechen, wenn
                                                                                         z. B. gesetzte Redewendungen und Konfliktme-
                    Beispiel:                                                            taphern, die in ihrer Anwendung oft floskelartig
                    Information: Es gibt viele Buchstaben.                               wirken, veraltete Paradigmen, Gewalt, Rassismus
                    Mit Bild codiert: Buchstaben gibt es wie Sand am                     und Sexismus reproduzieren? Können wir gleich-
                    Meer.                                                                zeitig Metaphern (er)finden, die eine Welt ent-
                    Dekodiert: Es gibt viele Buchstaben.                                 werfen, in der wir leben wollen?

                    Wenn ich von Metaphern spreche, schliesse ich
                    Redewendungen und Gleichnisse ein. Es gibt
                    verschiedene Gründe, um in Metaphern zu spre-
1                   chen. Um der Poesie willen, um zu erklären, um
  „Der Sand wird    sich bewusst vage auszudrücken und um zu ma-
          knapp.    nipulieren. Metaphern können sowohl inklusiv
    Gemessen am
      Volumen ist   wirken als auch exklusiv. Metaphern reproduzie-
  Sand die zweit-   ren Paradigmen, da ihre erfolgreiche Dekodie-
größte gehandel-    rung einen stillschweigenden Konsens über die
 te Ressource der                                                        1 (Art.) Der Sand wird knapp. In: Zeit online, Unter: https://www.zeit.de/wirt-
 Welt. Doch sein
                    Realität voraussetzt. (Beim oben angeführten         schaft/2019-05/rohstoffmangel-sand-bauwirtschaft-umweltverschmutzung-unep
   Abbau schadet    Beispiel liegt der stillschweigende Konsens darin,   [aufgerufen am 05.08.2020].
     der Umwelt.“   dass es viel Sand am Meer gibt1.)
                                                                         2 In: Lakoff, Georg & Johnson, Mark: Metaphors We Live By, S.235.

                    16                                                                   17
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Gerade bei der Diskussion um die Reproduktion
                                                         3                  und Festigung rassistischer Denkweisen wird die
                                                               Der Begriff Macht von Sprache1 deutlich. Im Zuge der Black
                                                          M*****kopf wur-
                                                           de zu einer Zeit Lives Matter Proteste nach dem gewaltsamen
MACHT UND VERANTWORTUNG                                  erfunden, „in der Tod von George Floyd hat die Sensibilisierung
                                                         das Zweite Deut- für strukturellen Rassismus auch in der Schweiz
                                                          sche Kaiserreich
   Im Leben und der Liebe habe ich meinen Mann           (1871-1918) mit zugenommen. So machten Schweizer*innen bei-
   zu stehen, im Sport meinen Rock auszuziehen,          einer aggressiven spielsweise auch wieder deutlich, dass die Ver-
   nicht wie ein Mehlsack an den Ringen zu hängen.         Kolonialpolitik wendung des Begriffes M*****kopf rassistisch ist.2
                                                         die einheimische
   Ich habe bei Schmerz, auf die Zähne zu beissen,         Bevölkerung in
                                                                            Während die Stiftung gegen Rassismus und Anti-
   kein Waschlappen oder keine Pussy zu sein. Bei           Ost-, Südwest- semitismus GRA eindeutig die rassistische Her-
   Nervosität habe ich meinen Stock aus dem Arsch          und Westafrika kunft des Begriffes formuliert3, weigert sich das
                                                            unterwarf und
   zu ziehen. Ich bin ein Lulatsch, ein Spränzel,           Menschen aus
                                                                            Familienunternehmen Dubler immer noch den
   mein Körper ein Spargel mit Storchenbeinen, als           den Kolonien Namen zu ändern („Ich bezeichne mein Produkt
   nonverbale Metapher funktioniert gerne der aus-        in europäischen doch nicht mit einem zweitklassigen Namen!“4).
   gestreckte kleine Finger.                                    Städten in Dies ist nur ein herausstechendes Beispiel für of-
                                                            «Völkerschau-
           All diese Redewendungen, waren für mich         en» vorgeführt fensichtlichen Rassismus in der Bezeichnung von
   in meinem Heranwachsen normal und konnten                      wurden“. Produkten.
   unkommentiert ausgesprochen werden. Sie sind
   schnell gesagt und prägen auf lange Zeit. Dass sie                     Bereits das (erlernte) Weglassen von (im Kern
   mein Denken und Handeln auf toxische Weise                             unproblematischen) Wörtern kann zu Diskri-
   beeinflussten und zum Teil immer noch tun, stel-                       minierung führen. So bedienen sich viele weisse
   le ich erst seit kurzer Zeit fest.                                     Personen einer Sprache, die sie selber zur Norm
                                                                          macht und Black Indigenous _ People of Color
   Ich wünsche diese unangenehmen Situationen                             (BIPoCs) in die „Andersartigkeit“ drängt.
   und die anhaltende Verwirrtheit, die Scham und
   das Gefühl des Falschseins keiner Person. Ich muss
   hier wieder Bezug zu meiner Position in der Ge-           „Es macht einen Unterschied, ob ich sage „Er hat eine andere
   sellschaft herstellen. Ich bin nicht diskriminiert,       Hautfarbe“ oder: „Er hat eine andere Hautfarbe als ich“. Das
   nicht marginalisiert, nicht betroffen von Hass            erste suggeriert durch die Ausblendung, dass es die gibt, die eine
   und Hetze. Was ich erlebe, kann ich nicht verglei-        „normale“ Hautfarbe haben und dann noch die Anderen.“
   chen mit den Erfahrungen anderer Menschen.
   Aber es gibt mir ein Gefühl dafür, wie unzutref-                                          - Tupoka Ogette, exit RACISM5
   fend, falsch und verletzend Sprache sein kann.

   18                                                                     19
Im Kapitel
1 Sprache ist ein Teil des Bemühens, Ordnung in die Welt zu bringen – durch Be-
nennen werden die Dinge sortiert, klassifiziert, einer Kategorie zugeordnet. Jedes
Zuordnen und Abgrenzen von Begriffen ist mit Handlungen des Einschließens und                         PROZESS
Ausschließens verbunden. Die gebräuchlichen Kategorien sind geprägt von den vor-
herrschenden gesellschaftlichen Denkmustern – und somit u. a. von Rassismus. An
Sprache zeigt sich der vorhandene Rassismus, und gleichzeitig dient Sprache dazu,
einen rassistischen Blick auf die Welt immer wieder herzustellen. Dadurch werden
                                                                                          zeige ich anhand einiger Schlüs-
auch reale Ausschlüsse praktiziert und produziert – Sprache ist damit immer auch           selmomente auf, wie ich in eine
ein Machtinstrument.                                                                                gestalterisch forschende
Vgl. Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit · DGB-Bildungswerk Thüringen
                                                                                                   Auseinandersetzung mit
e. V.: BrandSätze: Wie sich rassistisches Denken sprachlich ausdrückt (2008).              Konfliktmetaphern eingetaucht
Unter: https://www.baustein.dgb-bwt.de/C4/Brandsaetze.html [aufgerufen am                       bin. Ich spreche über meine
05.08.2020].                                                                                  Methodik und gehe dann auf
2 Vgl. (Art.) Arnu, Titus: Schaum im Mund (2020). In: Süddeutsche Zeitung
                                                                                             die einzelnen Projektmomen-
online. Unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/schaumkuss-mohren-                          te meines Diplomprozesses
kopf-schweiz-mohrenstrasse-1.4938457 [aufgerufen am 05.08.2020].                              ein. Dazu zählt die kollektive
                                                                                              Recherche, ein kurzer sound-
3 GRA Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus: „Belastete Begriffe - Mohr/
Mohrenkopf “ (2015). Unter: https://www.gra.ch/bildung/gra-glossar/begriffe/be-            affiner Ausflug zur Akustischen
lastete-begriffe/mohr-mohrenkopf/ [aufgerufen am 05.08.2020].                                Metapher und schliesslich die
                                                                                               praktischen Experimente, in
4 (Art.) Arnu, Titus: Schaum im Mund (2020). In: Süddeutsche Zeitung on-
line. Unter: https://www.sueddeutsche.de/panorama/schaumkuss-mohren-                       denen es um die reale Verkörpe-
kopf-schweiz-mohrenstrasse-1.4938457 [aufgerufen am 05.08.2020].                          rung und den Erkenntnisgewinn
                                                                                           durch eine physische Erfahrung
5 In: Ogette, Tupoka: exit RASCISM: Rassismus kritisch denken lernen (2019)
Münster: Unrast Verlag, S.74.
                                                                                                       mit Metaphern geht.

                20                                                                   21
METHODIK                                   KOLLEKTIVE RECHERCHE
Mein Diplomprojekt stützt sich enorm auf mei-       Die Recherche umfasste das Lesen von wissen-
ne am HyperWerk erlernten Methoden und er-          schaftlichen Texten in den Bereichen der Sozio-
probten Formen der Zusammenarbeit. Das ganze        logie, der Philosophie, der Linguistik, der Politik
Projekt fusst auf einer ausführlichen Recherche,    und der Musik. Um nicht nur meine Sicht und
die ich als zentralen Aspekt des Prozesses sehe.    meine Sprache rund um Konflikte unkommen-
Aus der Recherche erarbeitete ich unter anderem     tiert als Forschungsgrundlage zu haben, war es
eine Sammlung von Konfliktmetaphern. Sie sind       mir wichtig in den Dialog zu treten.
eine wichtige Zwischensumme, aus der ich mich
schliesslich für die praktischen Experimente be-    Ich präsentierte mein Diplomvorhaben im Rah-
dient habe.                                         men einer institutsinternen Veranstaltung und
                                                    lud zum Mitwirken und Mitdenken ein. Darauf-
                                                    hin meldeten sich drei interessierte HyperWerk
                                                    Studierende. Jade Costello, Julia Siegrist und Va-
                                                    lentina Merz.

                                                    Ebenfalls als Moment der Recherche erarbeiteten
                                                    wir ein kollektives Verständnis von Konflikten. In
                                                    den folgenden Wochen trafen wir uns und spra-
                                                    chen über Konflikte, erzählten uns Geschichten,
                                                    teilten Freude und Unsicherheiten. Dabei setzten
                                                    wir uns mit folgenden Fragen auseinander:
                                                    Was ist ein Konflikt? Wie fühlt sich ein Konflikt
                                                    an? Welchen Konflikten fühle ich mich ausge-
                                                    setzt? Welchen Konflikten möchte ich mich zu-
                                                    wenden?

22                                                  23
                   Digitale Kollektive Recherche
Die Antworten auf die Fragen erfolgten als Tex-     1                     Die Attribute des Steckbriefes1 zeigen: Konflikte
                                                       Materialität:
te, Illustrationen und ausgesprochene Gedanken.        Stahl, Beton,
                                                                          sind ambivalent.
Diese Gedanken trugen wir in den Treffen zu-           Stein, Plastik     Insbesondere kristallisieren sich zwei Auffassun-
sammen und teilten sie, clusterten, verglichen,      Struktur: Seile,     gen von Konflikten heraus. Die eine ist offen-
kommentierten, schwiegen und lachten. Dieser         Netze, Knoten,       sichtlich und deckt sich weitgehend mit der De-
                                                     Linien, Saiten,
Gedankenfundus, die gesammelten Konfliktme-         Darm, Schlauch,       finition, wie sie im Duden zu finden ist. Sie rührt
taphern und das Kollektiv als Organ des Austau-     Weg, verworren        hauptsächlich aus einer Betrachtung von aussen
sches machte es möglich tief in die Konfliktmate-                         und versteht den Konflikt als Kollision: Der laute
                                                     Bewegung: Auf-
rie vorzudringen, metaphorisch gesprochen. Für       prall, Kollision, Knall, die Hitze, die Schnelligkeit.
Distrikt 19, der digitalen HyperExpo an der die     Divergenz, Span- Eine zweite Auffassung gründet auf einer inneren
Studierenden des Diplomjahrgangs Diciannove          nung, Drehung, Perspektive, also auf Erfahrungen aus Konflikten,
                                                      Zittern, Beben,
ihre Diplomprozesse zeigten, haben wir Frag-        schnell, langsam, denen wir uns direkt ausgesetzt fühlen. Sie be-
mente des kollektiv erarbeiteten Wissens in Form         schleichend, schreibt den Konflikt als komplexes Zusammen-
eines digitalen Skizzenbuchs gezeigt.                       kriechend, spiel von Elementen und Beziehungen. Als ein
                                                               statisch
                                                                          langsames verworrenes Konstrukt, dass gleichzei-
       Als Erkenntnis aus der kollektiven Recher-     Akustik: Knall, tig auseinandergezogen und zusammengedrückt
che weitet sich unsere Definition von Konflikten.     laut, Stille, leise wird und unter ständigem Druck und Spannung
Im ersten Moment können Konflikte zwar mit                 Andere At-
                                                                          statisch und oftmals ganz leise ist.
Kollision, Explosion, Bruch, Gewalt, Blut, Waf-         tribute: heiss, Konflikte sind wahrnehmbar, wenn es gerade
fen, Macht, Geld, Streit, Stress, Krach, Krieg,            kalt, blind, knallt. Darum ist unser Verständnis von Konflik-
Schnelligkeit, Druck, Enge, Intension, Sieg, Nie-   Sonne, Schatten, ten so kriegerisch geprägt. Ein Konflikt kann aber
                                                              Vakuum
derlage und Moment assoziiert werden. Erst nach                           vor und nach und ohne Knall existieren. In Köp-
einer gewissen Zeit und Auseinandersetzung                                fen, in Körpern, in der Kultur.
kommen dann Assoziationen wie Langsamkeit,
Verworrenheit, Komplexität, Distanz, Verkehrt-
heit, Müdigkeit, Kummer, Scham, Insomnia,
Vergangenheit und Zukunft, Entscheidung und
Kompromiss dazu. In unseren gesammelten
Konfliktmetaphern sind immer wiederkehrende
Motive zu erkennen. Daraus formuliert sich ein
Steckbrief für Konflikte, welcher mit beschrei-
benden Attributen gefüllt ist, die wiederum oft
ihren Ursprung in anderen Bereichen haben.

24                                                                      25
EXKURS: AKUSTISCHE METAPHER                                             Jeder Mensch, der an einem von westlicher Musik
                                                                        geprägten Ort sozialisiert wurde, sich an ein Kla-
    Die gesammelten Attribute der Bewegung (Kol-                        vier setzt und zwei direkt nebeneinander liegende
    lision, Divergenz, Spannung, Drehung, Zittern,                      Tasten drückt, merkt, dass diese weniger gut zu-
    Beben) inspirierten mich für eine weitere Recher-                   einander zu passen scheinen. Es hört sich irgend-
    che. Ich fragte mich, wo ich diesen Zustand in                      wie schräg an.
    meiner gestalterischen Praxis herstellen kann. Ich
    recherchierte über Phänomene der Akustik und                        Diese Auffassung ist einerseits erlernt, kann ande-
    stiess auf das Phänomen der Tonschwebung, was                       rerseits mit Physik erklärt werden.
    für mich als akustische Metapher für Konflikte                      Die Schallwellen von einem C1 und einem Cis1
    funktioniert.                                                       verlaufen asynchron. Das Verhältnis ist unordent-
                                                                        lich. John Powell würde sie wahrscheinlich als
    Die Theorie dazu eignete ich mir aus John Po-                       weniger engverwandt bezeichnen. Wir können
    wells Buch „Was Sie schon immer über Musik                          beide Töne wahrnehmen aber hören sie nicht
    wissen wollten“ an. John Powell schreibt in sei-                    als linearen Klang. Es klingt so, als würden sie
    nem Werk über die Verwandtschaft der Töne.                          einander bekämpfen und sich im Konflikt gegen-
    In der westlichen Musiktheorie und der davon                        seitig ins Wort fallen. Dieses Phänomen wird als
    geprägten akustischen Wahrnehmung ist zum                           Schwebung bezeichnet.
    Beispiel der Ton C1 eng verwandt mit dem Ton
    C2, welcher eine Oktave höher liegt. Wenn wir                       Bis auf Weiteres ist die Forschung im Soundbe-
    beide Töne gleichzeitig spielen, hören wir prak-                    reich eingestellt. Ich sehe aber viel Potenzial in
    tisch nur einen Ton. Wir sagen es ist zweimal der                   diesem Phänomen für ein installatives Vermitt-
    gleiche Ton, eine Oktave auseinander. Sie stehen                    lungsformat z. B. an der Abschlussausstellung im
    in einem harmonischen Verhältnis zueinander.                        September.
    Das liegt daran, dass die Schallwellen von C1
    und C2 im selben Moment ausschlagen. Bei C1
    zwar genau halb so oft wie bei C2 aber wir hören
    einen geschlossenen Klang, eine Information.1
    Nun interessieren mich aber in Bezug zum Kon-
    flikt besonders die Töne, die, wie John Powell es
    nennt, ein komplizierteres Verhältnis zueinander
    pflegen. Das sind Beispielsweise direkte Nach-
    barn auf einer Klaviatur – Töne mit einem Halb-      1 Vgl. Powell, John: Was Sie schon immer über Musik wissen wollten (2010)
    ton Abstand.                                         London: Particular Book London, deutsche Ausgabe: Berlin: Rogner & Bernhard
                                                         GmbH & Co. Verlag KG, S.138.

    26                                                                  27
Aus den in der kollektiven Recherche ge-
         sammelten und entstandenen Metaphern
                        skizzierten wir praktische

                 EXPERIMENTE
      von welchen ich bis zum jetzigen Zeitpunkt
         eines voll umfänglich durchgeführt habe
                   (Über den Tellerrand schauen).

            Dass Metaphern auch als Resultat einer
          Handlung auftreten können, zeige ich an-
       hand des Exkurses „Durchs Rohr sprechen“
      auf. Die praktischen Experimente haben das
     Ziel, durch eine reale Verkörperung, also eine
       physische Erfahrung von Metaphern, einen
        vielschichtigen Erkenntnisgewinn zu errei-
         chen. Durch die letztliche Zusammenfüh-
     rung von Dokumentation und Erkenntnissen
                    entstehen vermittelnde Werke.

28
DURCHS ROHR SPRECHEN                                                die er in seiner Diplomarbeit „Flanierbüro“ mit
                                                                                       der Frage einleitet: Bist du auf Rec oder Play? Er
                      Um Resonanz von einer externen Person zu er-                     nimmt ein Audioaufnahme- und Abspielgerät als
                      halten, entschied ich mich dazu, das erste Experi-               Metapher für zwei elementare Modi der Wahr-
                      ment mit HyperWerk Alumna Linda Bühlmann                         nehmung.
                      durchzuführen. Wir haben in der Vergangenheit
                      schon mehrfach zusammen gearbeitet und ich           „Es spielt eine Rolle, ob ich entweder gedankenverloren in der
                      schätze ihre kritische Denkweise sehr.               Vergangenheit (Erinnerungen) oder in der Zukunft (Projek-
                                                                           tionen) umherschweife (PLAY, Wiedergabe von Vorstellungen)
                      Das Gespräch wollte ich trotz Mindestabstands-       oder aber gegenwärtig konzentriert beobachte (REC, Aufnah-
                      regeln und Lockdown nicht digital führen. Also       me von oder Beinahe-Verschmelzen mit Umwelt).“
                      konstruierte ich aus Toilettenpapierrollen ein ca.
                      vier Meter langes Rohr, welches ich, um den Dia-                                                   – Stefano Pibiri
                      log zu dokumentieren, in der Mitte mit einem
                      Audio Aufnahmegerät versah. Das Rohr erlaubte        (Flanierbüro: Eine mobile Arbeitsweise, Basel 25.07.2017)
                      uns trotz doppeltem Mindestabstand, ein inhalt-
                      lich qualitatives Gespräch über Ideen und Vorge-
                      hen, Metaphern und Konflikte und die Zusam-
                      menarbeit als Kollektiv zu führen. Neben den
                      kritischen Fragen und wertvollen Ratschlägen
                      von Linda Bühlmann, entstand durch den be-
                      sonderen Aufbau selbst eine neue Metapher. Das
                      Bild von uns zweien, wie wir durch ein Rohr ein-
                      ander begegnen, ist als verkörpertes Gleichnis für
                      die Zeit des Getrenntseins und die mit Covid-19
                      verbundenen Konflikte zu verstehen. Wieder-
                      um könnte der sprachliche Ausdruck „durch ein
                      Rohr sprechen“ für ein Gespräch stehen, bei dem
                      Personen sich Platz einräumen, bei dem nur eine
                      Person gleichzeitig spricht und einander zuge-
                      hört wird, bis alle ausgeredet haben.
                      Bei dieser Interpretation der Metapher sehe ich
                      eine Verwandtschaft zu HyperWerk Alumnus
                      Stefano Pibiris Audio Installation „Déjà-perçu“
Linda und ich sprechen durchs Rohr

                      30                                                               31
Für das Experiment entwarf ich drei verschiede-
                                                                                    ne Settings, in denen ich sehr bewusst über den
                                                                                    Tellerrand schaute und von denen ich mir Er-
                                                                                    kenntnisse versprach. Die Situationen aus unter-
                                                                                    schiedlichen Perspektiven zu dokumentieren,
                                                                                    war mir besonders wichtig. Die innere Perspek-
                                                                                    tive (meine Perspektive über den Tellerrand), die
                                                                                    äussere Perspektive (Blick auf die Person, die über
                                                                                    den Tellerrand schaut), und die offensichtliche
                                                                                    Perspektive (Blick auf den Akt des über den Tel-
                                                                                    lerrand Schauens, während der Teller, in seiner
                                                                                    konventionellen Anwendung fungiert). Begleitet
                                                                                    und dokumentiert wurden die Experimente von
               Erster Versuch: Zerschlagener Teller                                 der Medienkünstlerin Carlotta Thomas. Die drei
                                                                                    Perspektiven sind in der Videodokumentation
   ÜBER DEN TELLERRAND SCHAUEN                                                      des Experiments deutlich zu erkennen. Ich emp-
                                                                                    fehle an dieser Stelle das Video zu schauen.

                Aus der kollektiven Konfliktmetapher-Samm-
                lung wählte ich den Satz „Um Konflikte zu erken-
                nen, muss ich über meinen Tellerrand1 schauen.“
                aus. Ich entschied mich dafür diese Metapher im
                Experiment zu untersuchen, weil ich eine Prob-
                lematik in ihr erahnte, die ich nicht formulieren
                konnte.                                                                               Scannen oder anklicken, um das Video aufzurufen.

                Was passiert also, wenn ich mir einen Teller unter
                die Augen klemme, damit herumlaufe und wort-
                wörtlich über meinen Tellerrand schaue?

1 Der Duden schlägt folgende Definition vor: „über den Tellerrand blicken/schauen
o. Ä. (etwas von einer höheren Warte aus betrachten; über seinen eingeschränkten
Gesichtskreis hinausblicken, um etwas richtig einzuschätzen)“
(Art.) Tellerrand. In: Duden online. Unter: https://www.duden.de/rechtschrei-
bung/Tellerrand [aufgerufen am 05.08.2020].

                32                                                                  33
Innenleben eines Bauschutzhelm, Plastik und Kunstleder

          Verbindungsstück aus Fichte, unbehanelt, angeschraubt

   Teller, auf Gesicht zugeschnitten, Plastik, Lack und Gloss

                                                Foto: Carlotta Thomas
Die Äussere                                         Teller genommen. Wie ein Buffet.
                                                    Erkenntnisse gab es vielerlei. Je voller der Teller,
Der erste Forschungsmoment fand im Berliner         desto erschwerter ist das Schauen darüber hinaus.
Ortsteil Wedding statt.                             Das Anschauen wird zum Anbieten. Wenn ich
Die Entscheidung im öffentlichen Raum zu for-       eine Person aufmerksam anschaute, bekam ich z.
schen, gründete darauf, Zufälle und Interaktion     B. zuhören: „Nein Danke! Ich hatte genug.“ Ge-
zu ermöglichen. Ich setzte den Teller auf und be-   nug meines Schauens? Ein Buffet zu sein ist an-
gann zu schauen. Flanierend bewegte ich mich        strengend.
für 45 Minuten durch Innenhöfe. Ich schaute
und fragte mich, was sich in meiner Wahrneh-
mung verändert hatte.                               Die Innere

Es brauchte einen Moment, bis ich anfing Dinge      Dass ich meine „innere“ Perspektive über den
wahrzunehmen, die ich als Erkenntnisse anerken-     Tellerrand dokumentieren und teilen wollte, war
nen musste.: Spannende Lichtreflexionen auf         sehr wichtig für mich. Hierfür bewegte ich mich
dem Teller, die horizontale Scheuklappe, die Un-    sowohl in privaten wie auch in öffentlichen Räu-
sicherheit beim Gehen, das Lachen vorbeiziehen-     men. Um das machen zu können montierte ich
der Menschen, die leicht schmerzende Druckstel-     einen mini Camcorder zwischen meine Augen
le auf meiner Nase.                                 und filmte aus meiner Sicht über den Teller hin-
                                                    weg. Ich schaute für mehrere Stunden über den
                                                    Tellerrand. Suchend ohne zu wissen wonach, ging
Die Offensichtliche                                 ich alltäglichen Handlungen nach: Spaziergänge,
                                                    Besuche auf dem Spielplatz, Siesta auf dem Bal-
Auf einen Teller gehört Essen. Essen oder Nah-      kon, Wäschewaschen, den Sonnenuntergang auf
rung ist wahrscheinlich bei vielen Menschen die     dem Hausdach schauen. Durch den Fakt, dass
erste Assoziation mit dem Wort Teller. Deshalb      fortan alles was ich anschaute, direkt gefilmt und
schien es mir sinnvoll, Essen als Motiv, und als    gespeichert wurde, fand eine Sensibilisierung und
Handlung in die Forschung mitaufzunehmen. Im        kritische Hinterfragung meines Schauens statt.
zweiten Setting befand ich mich in einem unmö-
blierten hellen Raum einer privaten Wohnung.        Es gab während des dritten Settings Stressmo-
Die Situation war ein Sonntagsbrunch bei Freun-     mente, in denen ich instinktiv reagierte. Bei-
dinnen. Wir sassen im Kreis und assen zusam-        spielsweise schaute ich in den Himmel oder auf
men. In iterativen Akten wurde Essen auf dem        den Boden, wenn mir vorbeigehende Menschen
Teller angerichtet und zum Verzehr wieder vom       nahe kamen. Ich schaute nicht durch Fenster

36                                                  37
in private Räume. Die Kamera empfand ich als
                überwachenden Faktor, der mir unangenehm
                war und den Teller in meiner Wahrnehmung do-
                minierte. Ich unterbrach das Experiment, weil ich
                mich mit meiner Erwartung und einer möglichen
                Unsorgfalt, vielleicht sogar einer Gewalt in mei-
                nem Schauen, auseinandersetzen wollte. Lotta
                empfahl mir „Das Leiden anderer betrachten“
                                                                                                    Die Äussere
                von Susan Sontag. Das Buch2 von Susan Sontag
                führte zu einer tiefgründigeren Auseinanderset-
                zung mit meinem Schauen, die ich in einem Text
                (der auch als Aufnahme im Video zu hören ist)
                festhielt. Den Text führe ich als Nächstes in vol-
                ler Länge an, weil er exemplarisch für die Art und
                Weise steht, wie ich aus einer Erfahrung Erkennt-
                nisse gewinne und vermittle.

                                                                                      Die Offensichtliche

2 Susan Sontag schreibt darin über Kriegsfotografie. Über das Betrachten schreck-
licher Gräueltaten vom sicheren Wohnzimmer aus. Über Empathie und Sensations-
kitzel. Und obwohl ich nicht in einem Kriegsgebiet filmte, konnte ich gewisse Ideen
auf mein Experiment übertragen. Ich bewegte mich in einer Stadt, in der ich weder
geboren, noch wohnhaft bin, schaute mit der Erwartung etwas zu sehen und festhal-
ten zu können, was mein Erkenntnisinteresse stimuliert und meinen Job, in diesem
Fall meine Diplomarbeit, voranbringt. Zu fern und zu schrecklich kamen mir doch
die Kriegsverbrechen und die Rolle der Medien in der Kontextualisierung der Foto-
grafien vor, als dass ich sie mit meinem Vorhaben direkt vergleichen wollte.

                38

                                                                                                                  Die Innere
„Ich habe einmal geschrieben, um Konflikte zu        Trotzdem passiert etwas. Ich trage
erkennen, muss ich über meinen                       meine Realität, wie einen Denkzettel vor meinen
Tellerrand schauen. Diese Metapher versuchte         Augen. Ich muss mir eingestehen, dass
ich zu verkörpern und zu erfahren. Bei               alles was ich schaue, suche, erwarte und kontext-
den Experimenten bin ich in der Rolle des Be-        ualisiere durch oder wegen meiner
trachters. Ich schaue. Ich suche. Ich erwarte        Realität passiert oder zumindest davon geprägt
und ich stelle in Kontext. Der Teller, so wie ich    ist. Ich muss mir auch eingestehen, dass
ihn in der Metapher verstehe, ist meine              ich deshalb, wegen dem Teller, auf dem meine
Realität. Auf dem Teller ist meine Geburt, mein      Realität angerichtet ist, niemals alles
meiner Haut, meine Geschlechtsidentität, meine       sehe. Im Experiment kann ich alles, was unter
Erziehung, meine Bildung, meine                      dem Teller geschieht bloss erahnen. Ich
Sicherheit, meine Mobilität, meine Gesundheit,       bewege mich vorsichtig. Ich spüre eine Unsicher-
meine Freunde, meine Wohnung, meine                  heit. Die Möglichkeit eines Fehltrittes.
Zimmerpflanze, mein Buch was ich gerade lese.        Damit muss ich umgehen. Ich kann fragen, was
Meine Person, meine Privilegien. Der                 mir entgeht und was du von deinem
Teller ist ebenso eine Bühne, die in zwei Richtun-   Teller aus siehst. Würde ich diese Metapher noch-
gen funktioniert. Er ist ein Fokus und               mals in der gleichen Aussage
eine horizontale Scheuklappe. Ich bewege ihn
und doch lenkt er meinen Blick. Im                   verwenden? Ich bin mir nicht sicher. Der Teller
Experiment führe ich mir das vor Augen. Eigent-      hat vermutlich einen erhöhten Rand,
lich sollte es darum gehen, was hinter               damit nichts herunterfällt und nichts Uner-
dem Tellerrand existiert. Aber was hatte ich er-     wünschtes auf den Teller kommt. Dieser
wartet zu sehen? Anderes? Fremdes?                   Gedanke widerstrebt mir. Wenn es um die Sicht-
Mein Betrachten, ist ein Schauen. Aber wenn es       barkeit von Konflikten geht, muss ich
auch noch so gut gemeint und kritisch                mir auf jeden Fall meiner eigenen Rolle bewusst
zugleich sein mag, ist es ein Anschauen und eben     sein und die Art meines Schauens
kein für und zueinander schauen. Im                  hinterfragen.“
Grunde sehe ich, was ich auch ohne Teller sehe.
FAZIT

42   Das Kommit-o-meter
Konflikte ent_wirren, als Titel für mein Diplom-
projekt steht für das Erkenntnisinteresse Konflik-    Das Verkörpern von Metaphern bietet die Mög-
te verstehen zu wollen. Ich hatte nie die Absicht     lichkeit, sich fokussiert mit einer Metapher aus-
Konfliktlösungen zu finden. Der Unterstrich un-       einander zu setzen. Neben etymologischen Fra-
terstreicht meine kritische Sicht auf eindimensio-    gen, stellte mich das Ziel der Verkörperung vor
nale Verständnisse des Begriffs. Im Commitment        Fragen der Materialität, der Funktionalität, der
zu einem Konflikt, um das Jahresthema erneut          Nachhaltigkeit, der Ästhetik. Diese Fragen eröff-
aufzugreifen, steckt gleichermassen das Bedürf-       nen unerwartete Blickwinkel auf die Metapher
nis zu entwirren, wie auch die Möglichkeit zu         und begünstigen es originellen Gedanken nach-
wirren und zu irren.                                  zugehen. Die Erfahrung, einerseits spielerisch zu
                                                      erleben, andererseits forschend ernst zunehmen,
Wir sprechen wenig über Konflikte und wenn            ist für mich der Reichtum dieser Methode. Ich
wir es tun, oft über Konflikte anderer.               bewerte die Methode, als guten Weg mit gestal-
Das prägt unsere Wahrnehmung von Konflikten           terischen Methoden Sprache zu untersuchen. Im
und unser Denken darüber, wie Konflikte funk-         Verkörpern von Begrifflichkeiten sehe ich auch
tionieren und wie wir uns in Konflikten verhalten     die Chance als Gruppe Begriffe zu untersuchen,
sollen.                                               neu zu verhandeln und zu besetzen.

Metaphern können uns helfen, die Begrenztheit         Mit meinem Diplomprojekt, habe ich mein Be-
der Worte, die es gibt, um unangenehme Wahr-          wusstsein für Sprache erweitert und mir Wissen
nehmungen zu beschreiben, zu überwinden. Wie          über Konflikte angeeignet.
jeder sprachliche Ausdruck, sind Metaphern
nicht frei von Diskriminierung und Gewalt, weil       Ich werde weiterhin mit der Methode experimen-
sie eine Realität widerspiegeln, die nicht frei von   tieren. Aus der kollektiven Recherche sind etliche
Diskriminierung und Gewalt ist. Darum ist es          Metaphern hervorgegangen, deren Untersu-
wichtig Metaphern zu hinterfragen, um die flos-       chung interessant wäre. Ich wünsche mir für die
kelartige Reproduktion von Unwahrheit, Diskri-        Zukunft, dass ich die Verkörperung partizipativ
minierung und Gewalt zu verhindern. Das sehe          gestalten kann.
ich als Aufgabe einer jeden Person, wie auch von
Bildungs- und öffentlichen Institutionen.
Mit der Sprache geht Macht und Verantwortung
einher. Es geht nicht um das Verbieten von Wor-
ten und Meinungen. Es geht darum eine Sprache
zu sprechen, die alle gleich behandelt.

44                                                    45
QUELLEN
                                                   Ogette, Tupoka: exit RASCISM: Rassismus
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semitismus: „Belastete Begriffe - Mohr/Moh-
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Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit.
DGB-Bildungswerk Thüringen e. V.: BrandS-
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dgb-bwt.de/C4/Brandsaetze.html [aufgerufen
am 05.08.2020].

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IMPRESSUM

     KONFLIKTE ENT_WIRREN
      SEBASTIAN GEBHART

              KONTAKT
       sebastian.gebhart@hyperwerk.ch

                DATUM
                August 2020

            MENTORING
               Laura Pregger

                 DANK
                Jade Costello
                 Julia Siegrist
               Valentina Merz
              Carlotta Thomas
               Mule Freyhoff
              Luisa Lessinger
               Kim Wiegand
              Natalia Dziwisch
                  Jan Dufke

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ANHANG
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Wollen wir eigentlich am gleichen Strick ziehen?
                Vielleicht von verschiedenen Seiten? Vielleicht
                wenn es mehrere Seile wären, in der Mitte verkno-
                tet. Mit Gabelungen und Querverbindungen. Es
                entstünde ein Netz, auf welches wir mit unserer
                Zugkraft Spannung gäben. Ein Netz fängt auf, fe-
                dert ab und hat die Möglichkeit sich zu bewegen,
                zu dehnen und auch zu wachsen. Wir zögen und
                blieben in Kontakt. Je fester die Knoten, desto
                stärker könnten wir ziehen. Je stärker wir zögen,
                desto fester die Knoten. Angenommen wir zö-
                gen alle von der gleichen Seite an einem Strick,
                stellte sich mir die Frage, wie viel Strick kommt
                da noch? Beim Seilziehen fällt doch die gewin-
                nende Partei meist zu Boden. Natürlich hätte ich
                manchmal nicht schlecht Lust, einen Strick zu
                durchtrennen, eine Verbindung zu kappen und
                einige zwielichtige Seilschaften in den Abgrund
                stürzen zu lassen. Doch verschwindet die Ver-
                bindung, verschwindet das Mittel Positionen zu
                verhandeln, Menschen zu bewegen. Wir ziehen
                in Richtungen und wollen mitziehen. Darum
                „Kommit!“ Wenn es gelingt finden wir Halt,
                auch auf unsicherem Terrain.
Meine Gedanken zum Jahresthema „Kommit to Conflict“.
Dieser Text verleitete mich dazu mich erstmals mit Gleich-
nissen und Metaphern bezüglich Konflikten auseinander-
zusetzen.

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