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Liberale Zukunft mit Lapid und Bennett? | Tachles 2021-08-14 23:30
Das jüdische Wochenmagazin
ZUR LAGE IN ISRAEL 13. Aug 2021
Liberale Zukunft mit Lapid und Bennett?
Nach dem endgültigen Aus von Netanyahu und
dem Scheitern von Tunesien wollen Israels neue
Koalitionsführer zur Erleichterung vieler
Verbündeter den Titel der einzigen Demokratie im
Nahen Osten zurückgewinnen. Es gibt nur ein
Problem: Zwölf lange Jahre der Herrschaft von
Benjamin Netanyahu haben tiefe Narben im
demokratischen Gefüge Israels hinterlassen und
auch seinen Status als liberale Demokratie
angekratzt.
Zwischen 2009 und 2020 erlitt Israel laut Freedom
House «einen für eine etablierte Demokratie
ungewöhnlich starken Rückgang demokratischer
Prozesse». Für diesen Rückgang gab es zwei
Hauptgründe: die Verabschiedung illiberaler
Gesetze in der Knesset und die zunehmenden
autoritären Tendenzen des ehemaligen
Ministerpräsidenten Netanyahu selbst.
Im Jahr 2018 stufte V-Dem, der weltweit führende
akademische Demokratie-Rating-Index, Israel von
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«liberale Demokratie» auf «Wahldemokratie»
herab. Im selben Bericht wurde Tunesien zu einer
«liberalen Demokratie» hochgestuft, der einzigen
liberalen Demokratie im Nahen Osten zu dieser
Zeit. Inzwischen hat V-Dem den Status Israels
wieder auf eine «liberale Demokratie»
zurückgestuft.
Der dritte der drei grossen Demokratie-Rating-
Indizes, Economist Democracy Index, hat Israel
stets als «mangelhafte Demokratie» eingestuft, in
der die bürgerlichen Freiheiten weitaus geringer
sind als in allen EU-Ländern, einschliesslich
Ungarns.
Nach dem Ausscheiden von Netanyahu besteht eine
der wichtigsten Aufgaben der Regierung Bennett-
Lapid darin, Israel wieder als liberale Demokratie
darzustellen. Als liberale Demokratie gesehen zu
werden, ist zweifellos der wichtigste Teil der
israelischen Hasbara- oder Public-Diplomacy-
Strategie, und israelische Premierminister haben
sich in der Vergangenheit stets bemüht, Israel als
«die einzige Demokratie im Nahen Osten»
darzustellen, wobei sie bequemerweise ignorierten,
dass auch Tunesien (zumindest bis zur jüngsten
schockierenden Entlassung des Premierministers
und der Suspendierung des Parlaments) von allen
führenden Rating-Indizes als Demokratie
eingestuft wurde.
Bennett und Lapid sind hier keine Ausnahmen.
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Kurz bevor er Premierminister wurde, sagte
Bennett gegenüber MSNBC, dass «Israel die
einzige wahre Demokratie in dieser Region ist».
Lapid hat sich in der Vergangenheit ähnlich
geäussert, aber letzte Woche sagte er einer Gruppe
von Journalisten in einem Briefing, dass Israel
«sein Image als liberale Demokratie neu gestalten»
müsse.
Seine jüngste Reise nach Brüssel ist ein deutliches
Zeichen dafür, dass Israel sich nun enger an die
EU, den weltweit grössten Block liberaler
Demokratien, binden will. In seiner Rede vor dem
EU-Rat für Auswärtige Angelegenheiten legte er
noch einmal nach: «Ich glaube an die Macht der
liberalen Demokratien», erklärte er und verwies
auf die gemeinsamen Interessen und Werte Israels
und der EU, die von den Menschenrechten über
eine freie Presse, eine unabhängige Justiz und eine
starke Zivilgesellschaft bis hin zur Religionsfreiheit
reichen.
Eine enge Verbundenheit mit der EU ist in einer
Zeit, in der die Sympathie für Israel in der
Demokratischen Partei in den USA und bei den
Liberalen und Progressiven im Allgemeinen
schwindet, noch wichtiger.
Die grosse Frage lautet also: Können Bennett und
Lapid das Ruder herumreissen und Israel wieder
als liberale Demokratie etablieren? Die
internationale Gemeinschaft wird ihnen dabei
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sicherlich helfen.
Sowohl amerikanische als auch europäische
Beamte haben den Wahlsieg von Bennett und
Lapid herzlich begrüsst, und die neue israelische
Regierung kann mit einer langen Gnadenfrist der
internationalen Gemeinschaft rechnen, die
wahrscheinlich ihre gesamte Amtszeit umfasst.
Dies liegt zum Teil daran, dass die US-Regierung
und die meisten EU-Länder nicht wollen, dass
Netanyahu an die Macht zurückkehrt, aber auch
daran, dass die neue israelische Acht-Parteien-
Regierung ein interessantes politisches Projekt
darstellt, bei dem zum ersten Mal eine arabische
Partei direkt an der Koalition beteiligt ist. Eine
Acht-Parteien-Regierung ist zwar sehr
ungewöhnlich, aber nicht einzigartig in der
demokratischen Welt. Die italienische Regierung
Amato II aus dem Jahr 2000 hatte neun Parteien,
die lettische Regierung Skele aus dem Jahr 1995
hatte ebenfalls acht Parteien, ebenso wie die
Regierung Hosokawa aus dem Jahr 1993 in Japan.
Viele europäische Politikwissenschaftler wie ich
sind auch beeindruckt, dass es Bennett und Lapid
gelungen ist, Netanyahu auf demokratische Weise
und ohne Gewalt zu stürzen, eine Aussicht, die
nach den Wahlen im März 2020, als die Likud-
Partei das Ergebnis zunächst nicht bestätigte, und
nach der Beschleunigung ihrer Desinformations-
und «Stoppt den Diebstahl»-Bemühungen vor den
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Wahlen im März 2021 keineswegs sicher war.
Es gibt auch Herausforderungen, wenn es darum
geht, Israel wieder als liberale Demokratie zu
bezeichnen. Einige davon sind neu, wie der jüngste
Pegasus-Spionageskandal, in den das israelische
Unternehmen NSO verwickelt ist, das Regierungen
in aller Welt geholfen hat, Dissidenten,
Journalisten und andere auszuspionieren. Indem
die israelische Regierung diesem Unternehmen
Lizenzen für den Export ihrer Spionagesoftware
erteilt, ermöglicht sie
Menschenrechtsverletzungen, schwächt
Demokratien und macht autoritäre Länder noch
autoritärer.
Der Spionagesoftware-Skandal hat Israel zu einer
Kraft des globalen Autoritarismus und nicht des
Liberalismus gemacht. Einige der Nutzniesser der
israelischen Spionagesoftware-Exporte sind Länder
wie die VAE und Marokko, die Partner des
Abraham-Abkommens sind.
Dabei ist zu bedenken, dass sowohl Ägypten als
auch Jordanien heute weniger frei und autoritärer
sind als zu der Zeit, als sie ihre Friedensverträge
mit Israel unterzeichneten, wie aus den Daten von
Freedom House hervorgeht. Werden wir den
gleichen Rückgang in den Ländern sehen, die
kürzlich Friedens- und Normalisierungsabkommen
mit Israel unterzeichnet haben?
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Die grösste Herausforderung für die Umbenennung
Israels in eine liberale Demokratie ist jedoch die
anhaltende Besetzung der palästinensischen
Gebiete, die von führenden
Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights
Watch und Btselem rasch von einem Konflikt
zwischen zwei Parteien zu einer dauerhaften
Situation der Besetzung, der Unterdrückung, der
Menschenrechtsverletzungen und sogar der
Apartheid umdefiniert wird.
Das Argument führender Vertreter dieser
Sichtweise, wie etwa Nathan Thrall, lautet, dass
Apartheidstaaten keine Demokratien sein können.
Wenn die führenden Demokratie-Rating-Indizes
diese Ansicht übernehmen, wird das fatale Folgen
für Israels Ratings haben – und für Lapids Kampf
ums Image.
Es ist noch nicht klar, wie die Regierung Bennett-
Lapid die Palästinafrage angehen wird. Viele
Medienberichte deuten darauf hin, dass die neue
Regierung die Strategie des israelischen
Philosophen Micah Goodman übernehmen wird,
den Konflikt zu verkleinern, ohne die Besatzung zu
beenden. Die internationale Gemeinschaft könnte
diese Strategie als das Beste, was unter den
gegenwärtigen Umständen getan werden kann,
akzeptieren.
Gleichzeitig zeigt der heftige Widerstand der
israelischen Regierung gegen die Entscheidung von
https://www.tachles.ch/artikel/standpunkte/liberale-zukunft-mit-lapid-und-bennett Sida 6 av 8Liberale Zukunft mit Lapid und Bennett? | Tachles 2021-08-14 23:30
Ben & Jerry’s, seine Produkte nicht mehr in
israelischen Siedlungen zu verkaufen, deutlich ihre
Entschlossenheit, die Besatzung und die
Siedlungen zu verteidigen, selbst mit illiberalen
Massnahmen wie den Anti-Boykott-Gesetzen in
den US-Bundesstaaten.
Doch wie vergangene illiberale Gesetze in der
Knesset gezeigt haben, wird es für Bennett und
Lapid umso schwieriger sein, Israel als liberale
Demokratie zu bezeichnen, je mehr illiberale
Massnahmen die israelische Regierung zum Schutz
der Besatzung und der Siedlungen ergreift – und je
weiter Israel in der Praxis von dieser Definition
entfernt ist.
Anders Persson ist Politikwissenschaftler an der
Linnaeus-Universität in Schweden und auf die
Beziehungen zwischen der EU und
Israel/Palästina spezialisiert. Sein neuestes Buch
ist «EU Diplomacy and the Israeli-Arab Conflict,
1967–2019», Edinburgh University Press, 2020.
Anders Persson
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