Lisa Krall - gender thoughts New Perspectives in Gender Research Working Paper Series

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gender
   thoughts

  New Perspectives in
  Gender Research
  Working Paper Series
  2020, Volume 1

  Lisa Krall
  Agentieller Realismus meets
  Epigenetik. Versuch eines
  diffraktiven Lesens
gender
            thoughts
            New Perspectives in Gender Research
            Working Paper Series

            (ISSN 2509-8179)

EDITORS-IN-CHIEF
Christoph Behrens, Julia Gruhlich, Solveig Lena Hansen, and Susanne Hofmann

                                                                                        Gender(ed)
Thoughts Goettingen as a scholarly platform for discussion and exchange on Gender Studies. The series

project-related results.
                                                                                                          -
ments to each contribution. The series aims at interdisciplinary exchange among Humanities, Social

as an individual and social perspective in academia and day-to-day life.

2020, Volume 1
Lisa Krall
Agentieller Realismus meets Epigenetik. Versuch eines diffraktiven Lesens

 Suggested Citation
 Krall, L. (2020) Agentieller Realismus meets Epigenetik. Versuch eines diffraktiven Lesens. Gender(ed)
 Thoughts, Working Paper Series, Vol. 1
 https://dx.doi.org/10.3249/2509-8179-gtg-12

Göttingen Centre for Gender Studies

Georg-August-Universität Göttingen
Centrum für Geschlechterforschung
Platz der Göttinger Sieben 7 D - 37073 Göttingen
Germany
gender thoughts
                                                                  New Perspectives in Gender Research
                                                                  Working Paper Series 2020, Volume 1
                                                                      DOI: 10.3249/2509-8179-gtg-12

Agentieller Realismus meets Epigenetik. Versuch eines
diffraktiven Lesens
Lisa Krall, M.A.
Universität zu Köln; lkrall@uni-koeln.de

Zusammenfassung
In diesem Artikel gehe ich der Frage nach, wie sich mit Karen Barads agentiellem Realismus umwelt-
epigenetische Studien lesen lassen. Barad bietet eine diffraktive Methodologie an, beschreibt aber
auch in neusten Texten noch auf der Suche nach passenden Werkzeugen zu sein, um Verschränkun-
gen zu untersuchen (vgl. Barad 2017). Mich interessiert, wie ich Intra-aktionen und Verschränkungen
in der umweltepigenetischen Forschungspraxis aufspüren kann und welche Hinweise Barad sowie das
Feld der Epigenetik selbst dafür bieten. Für mein Dissertationsprojekt arbeite ich Verbindungspunkte
zwischen Barads Theorie und meinem Anwendungsbeispiel (Umweltepigenetik) heraus. Diese An-
knüpfungspunkte bieten mir Orientierung in den Analysen umweltepigenetischer Studien, in denen
ich eine agentiell realistische Lesart vorschlage und ein diffraktives Lesen vornehme.

Schlagworte
Dualismen; Verschränkungen; Karen Barad; agentieller Realismus; diffraktive Methodologie; (Um-
welt-)Epigenetik

Abstract
In this article I discuss how to read studies from the field of environmental epigenetics with Karen
Barad agen ial reali m. Barad developed a diffractive methodology but also in her latest work ques-
tions how to further find suitable tools for considering entanglements (Barad 2017). I am interested in
how to trace intra-actions and entanglements in epigenetic research and which guiding principles for
 hi projec I can find in Barad       ork a ell a in epigene ic . In m PhD projec I ork o link
be een Barad         ork and en ironmen al epigene ic hich ill g ide m anal i of epigene ic d-
ies. My aim is to propose an agential realistic interpretation and undertake a diffractive reading of
environmental epigenetics.

Keywords
Dualisms; entanglements; Karen Barad; agential realism; diffractive methodology; (environmental)
epigenetics

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                                                          sche Unterschiede zwar nicht mehr explizit als
     Ausgangspunkt                                        Erklärung und Rechtfertigung für soziale Un-
                                                          gleichheiten herangezogen, wie bis ins 20.
Binäre Einteilungen beschäftigen kritische The-           Jahrhundert der Fall,2 doch wird hier nach wie
orien seit langem, so auch die Gender Studies.            vor der Anschein naturgegebener Geschlechter-
Hier wird „dichotomes Denken in gegenläufigen und         unterschiede fortgeschrieben. Damit setzen sich
einander ausschließenden Kategorien (männlich-weiblich,   Geschlechterforschung und vor allem feministi-
öffentlich-privat, Kultur-Natur, rational-irrational,     sche      Naturwissenschaftsforschung             schon
produktiv-reproduktiv etc.) kritisiert“ (Hofmeister,      geraume Zeit auseinander (vgl. z.B. Ebeling,
Katz 2011: 377). Eine zentrale Rolle dabei spielt         Schmitz 2006), denn: „In the West, biological ex-
der Dualismus von Natur und Kultur und viele              planations appear to be especially privileged over other
Geschlechterforscher_innen gehen davon aus,               ways of explaining differences of gender, race, or class
dass aus dieser Dichotomie zahlreiche kontra-             (O       m 2005: 3).
diktorische Pole abgeleitet werden, die zudem             In diesem Artikel soll deutlich werden, warum
geschlechtlich kodiert sind und in hierarchi-             die Beschäftigung mit dem biomedizinischen
schen Verhältnissen stehen (vgl. Schmitz 2006:            Feld der Umweltepigenetik dennoch für Ausei-
334). Daher sehen viele der Forscher_innen die            nandersetzungen mit Dualismen in der
Notwendigkeit, auf die Reduktion der Bedeu-               Geschlechterforschung fruchtbar ist, indem ihr
tungskraft und die Auflösung von Dualismen                Umgang mit und Changieren zwischen binären
hinzuarbeiten. Denn würden dualistische Kon-              Einteilungen herausgearbeitet wird. Als an-
zepte an Überzeugungskraft verlieren, könnte              schlussfähig dafür erweisen sich Arbeiten, die
ein Denken in komplexeren Zusammenhängen                  dem sogenannten New Materialism zugeordnet
sowie differenziertere Erklärungsmodelle an               werden. Damit wird ein heterogenes Feld inter-
Bedeutung gewinnen und in der Konsequenz                  disziplinärer Arbeiten bezeichnet, die an
Geschlechterhierarchien und Heteronormativi-              unterschiedliche feministische Denktraditionen
tät nicht mehr als naturgegeben aufrechterhalten          anknüpfen und in ihren Theorien über eine
werden.                                                   Trennung und Hierarchisierung von Körper
    Epigenetik bietet auch außerhalb der Natur-           und Geist, Bewusstsein und Materie und vielen
wissenschaften ein interessantes Unter-                   weiteren Dualismen hinausgehen und dabei
suchungsfeld um sich mit Dualismen zu be-                 nicht bloß gegen binäre Einteilungen argumen-
schäftigen, da hier Verschränkungen von Natur             tieren, sondern auch die Agency von Materie
und Kultur stattfinden und „die sogenannte nature-        thematisieren.
nurture-Kontroverse nicht mehr greift“ (Weigel 2010:          Karen Barad fragt dabei beispielsweise nach
122). Doch das Verhältnis von Geschlechterfor-            der Funktionsweise des Differenzierens und des
schung zu Naturwissenschaften ist kein                    Setzens von Grenzen zwischen binär gedachten
einfaches. Denn Naturwissenschaften besitzen              Polen. Ihre Arbeiten scheinen besonders pas-
eine hohe gesellschaftliche Deutungs- und Gel-            send für dieses Projekt, da sie zwei zentrale
tungsmacht, die auch Geschlechterwissen                   Voraussetzungen macht: Erstens benötigen wir
betrifft, und tragen in besonderer Weise zur              nach Barad für unsere Analysen einen Aus-
Naturalisierung und Legitimierung von Zweige-             gangspunkt, der die beiden Pole eines
schlechtlichkeit bei.1 Inzwischen werden in               Dualismus nicht als gegeben voraussetzt, son-
naturwissenschaftlichen Forschungen biologi-
                                                          2   Heinz-Jürgen Voss veranschaulicht dies am Beispiel
1   Auch sozialwissenschaftliche Forschungen zu Ge-           von Hirnforschungen zwischen dem 18. und 20.
    schlechterdifferenzen    können     naturalistische       Jahrhundert und zeigt rassistische und sexistische Be-
    Vorstellungen von Zweigeschlechtlichkeit zementie-        gründungszusammenhänge für die Hierarchisierung
    ren. Naturwissenschaften gelingt dies aber in             von Männern* und Frauen* sowie Personen aus dem
    besonderer Weise durch ihren Bezug zu Körpern             globalen Süden und Norden auf (Voß 2010: 168-
    und Biologie.                                             182).

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dern die Schni e ( cuts ) fok ier , die Un er-               Methodologie bezeichnet; dem möchte ich im
scheidungen produzieren. Mit dem Fokus auf                   Folgenden nachgehen. Nach einem kurzen Ein-
die grenzziehenden Schnitte und unterschei-                  blick in das breite Feld der Epigenetik werde ich
denden Praktiken entsteht ein Perspektiv-                    einige zentrale Annahmen und Begriffe Barads
wechsel, der Dualismen als wirkmächtig, nicht                vorstellen, um dann zu diskutieren, wie ein dif-
aber als immer schon gegeben anerkennt. Es gilt              fraktives Lesen vollzogen werden könnte.
also ihre Konstruktionen und Herstellungen zu                Schließlich geht es darum vorzustellen, wie eine
untersuchen und zu begreifen, wie sie zustande               agentiell realistische Lesart umweltepigeneti-
kommen, ohne sie als inhärent und feststehend                scher Studien aussehen und welche Einblicke
aufzufassen.                                                 sie für die Geschlechterforschung bieten kann.
„Die mit Barad verschobene Problematisierung rückt vor
die Frage des Wie, der Beschaffenheit des Sozialen und
der gesellschaftlichen Entwicklungen den Blick auf die       1. Epigenetik
Apparate als spezifische Praktiken der Unterscheidung
                                                             Der Begriff Epigene ik           ird a f Conrad H.
zwischen Natur – Kultur, menschlich – nicht-
                                                             Waddington zurückgeführt, der diesen in den
menschlich. Diese Unterscheidungen sind Phänomene der
fortlaufenden Intra-aktivität der Welt, die die Bestimmt-    1940er Jahren prägte. „The term ‘epigenetic’ was
heiten des Sozialen, der Gesellschaft, des Menschlichen      coined by Waddington to refer to the ways in which the
produzieren und der Dynamik der Bestimmtheit/ Un-            developmental environment can influence the mature
bestimmtheit ausgesetzt bzw. an ihr beteiligt sind“          phenotype (Gl ckman, Han on, Beedle 2007:
(Bath et al. 2013: 13).                                      147, H.i.O.). Charakteristisch für sein Verständ-
Durch das Unterscheiden konstituieren sich                   nis war der Blick auf den Zusammenhang von
binäre Pole, d.h. aber auch, dass sie nicht prä-             Entwicklung und Umwelteinflüssen, doch setzte
existent und ahistorisch sind. Ein zweiter                   sich der Begriff damals nicht flächendeckend
zentraler Punkt sind die materialisierenden Ef-              durch. Epigenetische Forschung, wie sie heute
fekte der Grenzziehungen und diese zu                        üblich ist, entstand seit Mitte der 1990er Jahre.
verstehen. Bezugnehmend darauf entwirft Ba-                  Seitdem wurden unzählige Studien veröffent-
rad einen posthumanistischen Ansatz, nach dem                licht und es hat sich ein heterogenes Feld
an den materialisierenden Praxen nicht nur                   entwickelt, in dem Forschende mit verschiede-
Menschen beteiligt sind und Performativität                  nen disziplinären Hintergründen unter-
nicht nur menschliches Handeln bezeichnet.                   schiedliche Phänomene untersuchen. Prominent
Dabei warnt sie davor nicht-menschliche Ak-                  vertreten sind z.B. die Neurowissenschaften
teure einfach mit einzubeziehen und entwickelt               und Psychologie, Krebs- und Tumorforschung.
in ihrem Konzept des agentiellen Realismus                   Von zentralem Interesse sind Mechanismen, die
einen Ansatz, um die Intra-aktionen verschie-                mit der Genaktivität zusammenhängen, und
denster Agentien und die agentiellen Schnitte zu             man versucht herauszufinden, durch welche
untersuchen.                                                 Einflüsse und Prozesse Gene in/aktiviert wer-
    Ich gehe erstens der Annahme nach, dass                  den und welche Folgen das hat. Untersucht
umweltepigenetische Forschungsarbeiten alter-                wird, was das Ablesen aktivierter Gene (Genex-
native Perspektiven eröffnen, die neben                      pression) beeinflusst und welche phäno-
deterministischen Konzepten und binären Ein-                 typischen Veränderungen und Erkrankungen
teilungen auch deren Auflösungen und                         dies hervorbringen kann. Dabei wird nicht das
Verschränkungen zeigen, und dass sich dies                   Genom selbst verändert, sondern die Markie-
zweitens mit einer agentiell realistischen Lesart            rungen auf DNA-Abschnitten, die das Ablesen
herausarbeiten lässt. Doch wie ist dies möglich?             dieser ermöglichen oder verhindern können.
Eine Herausforderung besteht in der Umset-                   „Epigenetic processes, a term that today implies altera-
zung dessen, was Barad als diffraktive                       tion of gene expression by chemical modification

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

(‘marking’) of chromatin–either of DNA without                  Ich gehe davon aus, dass die angenommene
change in the underlying nucleotide sequence or of          Trennbarkeit binärer Sphären in der Betrach-
DNA-binding proteins leading to alteration of DNA           tung des Feldes nicht mehr als inhärent
packing around the histone code–or by specific binding of   begriffen werden kann, da Körper hier nicht
small RNA molecules” (Gluckman, Hanson, Bee-                nur der Natur oder der Biologie zugeordnet
dle 2007: 147, H.i.O.).
                                                            werden, sondern auch sozio-kulturellen Kontex-
Zudem ist von Interesse, inwieweit diese verän-             ten. Genau an diesem Punkt eröffnet die
derten Markierungen (Expressionsmuster)                     Umweltepigenetik meines Erachtens die Mög-
vererbt werden; strittig ist, ob sie ausschließlich         lichkeit zu veranschaulichen, dass binär
an die nächsten Zellen (intragenerationell) oder            gedachte Pole ineinander übergehen und es sich
auch an die Nachkommen (inter- oder transge-                nicht um statische Entitäten handelt. Somit wird
nerationell) weitergegeben werden. Epi-                     ein anderes Verständnis ermöglicht, nach dem
genetische Studien unterscheiden sich sehr stark            es keine dualistische Trennbarkeit als solche
in ihren Gegenstandsbereichen, in den unter-                gibt, sondern wir es vielmehr mit materialisie-
suchten Folgen sowie Einflüssen. Gefragt wird               renden Praxen des Differenzierens zu tun
zum Beispiel: (Wie) Wirkt sich Mangelernäh-                 haben, die agentielle Schnitte erlassen. Dies zu
rung auf epigenetische Prozesse aus und führt               verdeutlichen lässt dann eine Fokusverschie-
so zu erhöhtem Risiko, an Schizophrenie zu                  bung und ein Ausgehen von Verschränkungen
erkranken? Kann erhöhter Stress das Auftreten               und Un/Bestimmtheiten zu. Nun möchte ich
von Diabetes über epigenetische Mechanismen                 aber zunächst diese Begrifflichkeiten im Kon-
erklären? Oder: Treten die Erkrankungen auch                text des agentiellen Realismus etwas näher
noch in den nächsten Generationen auf auch                  erörtern.
wenn diese den auslösenden Umwelteinflüssen
gar nicht mehr selbst ausgesetzt sind? Auf diese
und weitere Fragen gibt es selten definitive Aus-
                                                            2. Barads agentieller Realismus
sagen. Häufig werden Wissenslücken formuliert
und darauf verwiesen, dass es bestimmte Me-                 In ihren Arbeiten entwirft die feministische
chanismen oder Zusammenhänge noch zu                        Wissenschaftsforscherin und Physikerin Karen
(er)klären gilt. So formulieren Eva Jablonka und            Barad ein Verständnis von Welt, nach dem
Gal Raz: „our discussion is inevitably, somewhat specu-     nicht von separaten Entitäten auszugehen ist,
lative” (Jablonka, Raz 2009: 162).                          die unabhängig voneinander entstehen und
In der Epigenetik geht es                                   existieren, vielmehr sei alles miteinander
                                                            un/trennbar verschränkt.
„um Regelkreise, Dynamiken und Wechselwirkungen
auf der DNA-Ebene und darüber hinaus um das Zu-             „Entanglements are not unities. They do not erase differ-
sammenspiel mit der zellulären, physiologischen und         ences; on the contrary, entanglings entail differentiatings,
organismischen Umwelt“ (Lux, Richter 2014: xiv).            differentiatings entail entangling. One move – cutting
                                                            together-apart” (Barad 2014: 176, H.i.O.).
Als umweltepigenetische Forschungen werden
solche bezeichnet, die sich auf Effekte körper-             Der Grund dafür, dass wir dennoch separate
äußerer Umwelteinflüsse richten. Mich                       Entitäten wahrnehmen, liegt in der agentiellen
interessieren vor allem jene Arbeiten, die Ein-             Trennbarkeit der Phänomene.3 Im Unterschied
flüsse aus der körperäußeren Umwelt                         zu der Vorstellung, dass es eine inhärente
untersuchen, also z.B. traumatische Erlebnisse
und Erfahrungen oder bestimmte Ernährungs-
                                                            3   Barad baut viele ihrer Gedanken auf den Arbeiten des
                                                                Quantenphysikers Niels Bohr und entlehnt auch sei-
weisen. Denn hier werden Wechselwirkungen                       nen Begriff des Phänomens, um die Verschränktheit
zwischen den üblicherweise strikt getrennten                    und Un/Bestimmbarkeit zu betonen: „phenomena are
Bereichen Natur und Kultur untersucht, wobei                    what physics describes, not some presumbly independently exis-
                                                                ting object (which the failure of separability devices)“ (Barad
ihre Verschränkungen zu Tage treten können.                     2007: 320).

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

Trennbarkeit gibt, da Entitäten immer schon in                  traditionellen realistischen Verständnis, nach
einer bestimmten Form existieren, ermöglicht                    dem wir uns die Welt erschließen, die Natur
die agentielle Trennbarkeit gleichzeitig Zusam-                 beforschen und Phänomene entdecken können,
mengehören          und       Verschränktsein          mit      die unabhängig von uns existieren.
Unterscheiden und Getrenntsein zu denken:                       „The ontology of the world is a matter of discovery for the
„differentiating is not a relation of radical exteriority,      traditional realist. The assumed one-to-one correspond-
but of agential separability, of exteriority-within. Intra-     ence between scientific theories and reality is used to
actions cut things together-apart (as one movement)”            bolster the further assumption that scientific entities are
(Barad 2012b: 32, H.i.O.). Um diese zunächst                    unmarked by the discovers: nature is taken to be revealed
vielleicht widersprüchlich klingende Vorstel-                   by, yet independent of, theoretical and experimental
lung, in denen für gewöhnlich Entgegen-                         practices, that is, transparently given” (Barad 2007:
                                                                41).
gesetztes (Außen/Innen, zusammen/getrennt)
nun verschränkt ist, zu beschreiben, führt Barad                Entgegen eines dekonstruktivistischen Ver-
den Begriff der Intra-aktion ein:                               ständnisses fokussiert Barad aber nicht allein
                                                                auf die Rolle der Forschenden und von Sprache,
„My reading is that the measured properties refer to
                                                                Macht und Diskursen, sondern betont das Zu-
phenomena, remembering that phenomena are physical-
conceptual ‘intra-actions’ whose unambiguous account            sammenspiel von Diskursen und Materie. Die
requires ‘a description of all relevant features of the ex-     Wirkmacht und Gestaltungskraft haben dabei
perimental arrangement.’ I introduce the neologism              nicht nur die Forschenden, sondern alle_s. Oh-
‘intra-action’ to signify the inseparability of ‘objects’ and   ne konkrete Agentien zu nennen, erklärt sie:
‘agencies of observation’ (in contrast to ‘interaction’,        „Of interest then are not only practices by which humans
which re-inscribes the contested dichotomy)” (Barad             make distinctions but also practices of differentiating
1998: 96, H.i.O.).                                              engaged in by nonhumans, whereby nonhumans differen-
Durch Intra-aktionen werden agentielle Schnitte                 tiate themselves from their environment, from other
erlassen und un/bestimmte Phänomene konsti-                     nonhumans, and from humans, as well as from other
tuiert. Mit der Schreibweise des Schrägstrichs                  others. To be more precise, the point is not merely to
wird die Gleichzeitigkeit von trennbar und un-                  include nonhumans as well as humans as actors or
trennbar und somit von bestimmt und                             agents of change but rather to find ways to think about
                                                                the nature of causality, agency, relationality, and change
unbestimmt deutlich, welche die zentrale Idee
                                                                without taking these distinctions to be foundational or
des agentiellen Realismus ist. Anders als nach
                                                                holding them in place” (Barad 2012b: 32).
einem klassisch realistischen Verständnis, nach
                                                                Akteure oder Agentien sind demnach nicht bloß
dem es inhärente Entitäten mit fixen Größen
                                                                Menschen. Darüber hinaus bricht Barad mit der
und festen Bedeutungen gibt, die entdeckt und
                                                                Vorstellung, dass Agency im Sinne von Hand-
abgelesen werden können, geht der agentielle
                                                                lungs- oder Wirkmacht etwas ist, das besitzbar
Realismus davon aus, dass alle Phänomene erst
                                                                ist, sondern: „Agency is a matter of intra-acting; it is
und immer wieder agentiell konstituiert werden.
                                                                an enactment, not something that someone or something
Damit ist nicht gemeint, dass durch Benennun-
                                                                has. Agency cannot be designated as an attribute of
gen und Diskurse Dinge erst entstehen und
                                                                subjects or objects (as they do not preexist as such)”
Bedeutung erhalten, sondern dass durch vieles
                                                                (Barad 2007: 214).
mehr als nur Sprache die Phänomene materiali-
                                                                Dadurch, dass sie die Aufmerksamkeit auch auf
siert sind. Ihr Zustand ist kein fester und
                                                                nicht-menschliche Agencies lenkt, verbindet sie
dauerhafter, sondern getrennt und ungetrennt,
                                                                nicht nur eine epistemologische mit einer onto-
bestimmt und unbestimmt sind auch ontolo-
                                                                logischen Ebene, sondern auch eine ethische.
gisch so nah beieinander, dass nie nur eines gilt.
                                                                Barad thematisiert nicht nur Fragen nach der
Ihre Beispiele entnimmt Barad häufig naturwis-
                                                                Herstellung von Wissen und den Wirkungen
senschaftlichen Forschungen; ihr agentieller
                                                                von Erkenntnisprozessen, sondern sagt auch
Realismus ist aber ein Gegenentwurf zu einem

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

etwas darüber, wie wir gemeinsam               z.B. als    erkennen. Dazu habe ich mir zunächst Barads
Beobachtende und Beobachtetes Welt herstel-                Vorgehen angeschaut und bin dann explizit den
len. Kein Phänomen existiert unabhängig oder               Ausführungen zu ihrem eigenen methodischen
isoliert, sondern immer verschränkt und als                Vorgehen gefolgt, das sie diffraktives Lesen
Ergebnis von Intra-aktionen. Dies ernst zu                 nennt und das ich im Folgenden etwas genauer
nehmen bedeutet, den onto-epistemologischen                vorstellen möchte, um dann die Anwendung auf
Ansatz um einen ethischen auszuweiten „ethi-               umweltepigenetische Forschungsarbeiten zu
co-epistem-onto-logy“ (Barad 2000: 225) und eine           diskutieren.
verantwortungsvolle Haltung, z.B. als For-
schende, einzunehmen: „this requires a methodology
that is attentive to, and responsive/responsible to, the   3. Diffraktive Methodologie
specificity of material entanglements in their agential    Barads Vorschlag für ein verantwortungsvolles
becoming” (Barad 2007: 91).                                Forschen ist das diffraktive Lesen:
Zentral ist nicht bloß zu sagen, dass auch nicht-
                                                           „My approach is to diffractively read these important
menschliche Agencies Teil der Intra-aktionen und
                                                           insights from natural and social theories through one
somit von Phänomenen sind, sondern das Zu-                 another in an effort to produce an account of naturalcul-
gestehen und Anerkennen dieser Intra-aktivität             tural practices and agencies” (Barad 2007: 232).
in der eigenen Forschungspraxis umzusetzen.
                                                           Sie nutzt gleichermaßen natur- und sozialwis-
Die Herausforderung besteht dabei darin, den
                                                           senschaftliche Theorien wie die von Niels Bohr,
Blick von gewohnten Einteilungen und Erklä-
                                                           Judith Butler, Jacques Derrida, Michel Foucault
rungen zu lenken und aufmerksam zu sein für
                                                           und anderen. Am physikalischen Phänomen der
andere Agentien.4 Denn „agency is […] a doing,
                                                           Diffraktion, dem Überlagern von Wellen, ver-
it’s the very possibilites for reworking and opening up
                                                           anschaulicht sie, dass wir es in der Welt mit
new possibilities, for reconfiguring the apparatuses of
                                                           Verschränkungen zu tun haben. Genau wie die
bodily reproduction” (Barad 2012a: 17). Sich dieser
                                                           sich überlagernden Wasserwellen, die entstehen,
Schwierigkeit zu stellen und offen zu sein für
                                                           wenn wir einen Stein in einen See schmeißen,
Anderes, um Neues erkennen zu können, ist
                                                           sind die Phänomene zu verstehen, die agentiell
Kern eines verantwortungsvollen Forschens im
                                                           auseinandergeschnitten und somit unterscheid-
agentiell realistischen Sinne, das sich entfernt
                                                           bar werden, aber nicht separiert, sondern immer
von der Vorstellung passiver Forschungsobjek-
                                                           auch Teil von Verschränkungen sind. Mit Bezug
te, die es gilt richtig zu erforschen oder zu
                                                           auf das physikalische Phänomen der Diffraktion
messen. „Accountability and responsibility must be
                                                           verdeutlicht sie, dass alles auf unübersichtliche,
thought in terms of what matters and what is excluded
                                                           komplexe Weise miteinander verschränkt und
from mattering” (Barad 1998: 118). Menschen sind
                                                           wie Wellen überlagert ist, und distanziert sich
dabei nicht allein verantwortlich, sollten sich der
                                                           von der Vorstellung separater, inhärenter und
Verantwortung aber auch nicht entziehen.
                                                           fixer Entitäten.
     Mein Projekt ist es dem nachzuspüren, was
                                                               Mit Barads agentiellem Realismus habe ich
sich in umweltepigenetischen Forschungspraxen
                                                           einen Ansatz gefunden, der die Wirkung von
neben dem Offensichtlichen noch zeigt und
                                                           Differenzen anerkennt, binäre Einteilungen und
materialisiert. Da sich Barads Arbeiten als pas-
                                                           Grenzziehungen erforscht und sie dabei nicht
send dafür erweisen, dies umzusetzen, geht es
                                                           als gegeben und unveränderbar versteht, son-
mir in diesem Artikel darum zu diskutieren, wie
                                                           dern ihr Entstehen nachvollziehbar machen will
es nun möglich ist neue Rekonfigurationen zu
                                                           und somit ihre Temporalität und Kontextab-
4   Die Schwierigkeit dies umzusetzen zeigt sich in der
                                                           hängigkeit herausarbeitet. Barad betont dabei
    Ambivalenz, dass das Eingestehen von Agency kein       die Verschränkungen und wie durch „cuts“ Un-
    menschlicher Akt sein sollte, wie Barad in einem In-   bestimmtheiten zu Bestimmtheiten und
    terview anspricht (vgl. Barad 2012a: 17).

Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1                                                         35
Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

Entitäten werden. Genau hier liegt aber auch                   naturwissenschaftlicher, poststrukturalistischer
die Herausforderung, wie sie selbst schreibt,                  und wissenschaftstheoretischer Annahmen.
wenn sie fragt: „what analytical tools might we use to         Sehr plastisch macht Barad es in ihren Texten
understand not merely the entanglements of phenomena           Quantum Entanglements and Hauntological Relations
across scales but the very iterative (re)constituting and      of Inheritance (2010) und Diffracting Diffraction:
sedimenting of specific configurations of space, time, and     Cutting Together-Apart (2014). Im erst genannten
matter?” (Barad 2017: G109, H.i.O.).                           reiht sie verschiedene Teile als Szenen betitelt
Mit Diffraktion greift Barad nicht nur ein gro-                aneinander und benennt in jeder Szene, was
ßes Thema der Physik auf, sondern schließt                     miteinander diffraktiert. So veranschaulicht sie
auch an Donna Haraways Auseinandersetzun-                      zum Beispiel die Verschränkungen folgender
gen mit dem Begriff an und entwickelt davon                    Phänomene:
ausgehend ihr eigenes methodisches Vorgehen:                   „1941 [a mysterious and risky visit by German physi-
„Diffraction is also an apt metaphor for describing the        cist Werner Heisenberg […] to Danish physicist Niels
methodological approach that I use of reading insights         Bohr […] in Nazi-occupied Denmark at the height of
through one another in attending to and responding to          Nazi domination during WWII)/ diffracted through
the details and specifies of relations of difference and how   1998 [Michael Frayn’s Tony Award-winning play
they matter” (Barad 2007: 71).                                 Copenhagen; a ghostly play about science, politics, ethics,
Ihre diffraktive Methodologie beinhaltet ein                   responsibility, and uncertainty]/ diffracted through
Kombinieren und wie sie schreibt durcheinan-                   1927 [key year in the development of quantum phys-
                                                               ics]/ diffracted through 1945 [August 6: U.S. drops
der hindurch Lesen von Einsichten aus natur-
                                                               atom bomb on Hiroshima” (Barad 2010: 241,
und sozialwissenschaftlichen Theorien und                      H.i.O.).
diese miteinander in Konversation bringen, um
                                                               Damit bringt sie nicht nur verschiedene Texte,
neue Perspektiven zu ermöglichen. Daher ori-
                                                               Perspektiven und Autor_innen miteinander in
entiere ich mich in den Analysen umwelt-
                                                               Konversation, sondern auch unterschiedliche
epigenetischer Arbeiten an Barads Arbeiten.
                                                               Zeiten und Räume. Ziel ist es, ein Gefühl für
    Eine Herausforderung dabei ist das gleichbe-
                                                               die Intra-aktivität und agentielle Trennbarkeit
rechtigte Lesen der verschiedenen Quellen, die
                                                               herzustellen und so Verschränkungen und mög-
sich aus ganz unterschiedlichen Fachrichtungen
                                                               liche neue Konfigurationen aufzuzeigen (vgl.
speisen können. Das ist aber, was sie betont:
                                                               Barad 2010: 243). Durch ihr durcheinander
„Importantly, it is crucial that in using a diffractive        hindurch Lesen unterschiedlicher Texte, zeigt
methodology one is attentive to fine details of different      sie beispielsweise die Resonanz zwischen Derri-
disciplinary approaches. What is needed are respectful
                                                               das Theorie und Quantenphysik und somit
engagements with different disciplinary practices, not
coarsegrained portrayals that make caricatures of another      konsequent Verschränkungen, sowohl auf onto-
discipline from some position outside it. My aim in de-        logischer als auch auf epistemologischer Ebene.
veloping a diffractive methodology is to attempt to remain          Wie schon Haraway schrieb, geht es bei Dif-
rigorously attentive to important details of specialized       fraktion nicht nur darum Differenzen zu
arguments within a given field without uncritically en-        verstehen, sondern auch um eine kritische Pra-
dorsing or unconditionally prioritizing one (inter-)           xis „for making a difference in the world. […] a critical
disciplinary approach over another” (Barad 2007: 93).          practice of engagement” (Barad 2007: 90). Machen
In ihrer Monographie (2007) gibt es einige Stel-               wir uns unser eigenes Beteiligtsein bewusst, ist
len, an denen Barad ihre diffraktive Metho-                    eine verantwortungsvolle Haltung möglich.
dologie anspricht, explizite Beschreibungen                    „Diffraction is not a set pattern, but rather an iterative
ihres genauen Vorgehens sind jedoch rar. Zu-                   (re)configuring of patterns of differentiating-entangling”
gleich sind all ihre Texte Beispiele und Resultate             (Barad 2014: 168). In diesem jüngeren Text geht
eines diffraktiven durcheinander hindurch Le-                  Barad der feministischen Auseinandersetzung
sens quantenphysikalischer und anderer                         mit Differenzen und Diffraktion nach und

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

bringt dafür verschiedene Autor_innen, Zeiten                  Astrid Schrader liest in ihren Texten nicht nur
und Orte miteinander in Konversation: Trinh                    Barads Theorie mit naturwissenschaftlichen
Minh-ha (Santa Cruz, 1988), Francesco Grimal-                  Forschungsgegenständen wie Algen (2010),
di (Bologna, 17. Jahrhundert), Gloria Anzaldúa                 Käfern (2015) oder Mikroben (2017) durchei-
(Santa Cruz, vor 1987) und Thomas Young                        nander hindurch, sondern kombiniert diese um
(England, 1800), um nur einige wenige zu nen-                  weitere Arbeiten wie die von Jacques Derrida
nen. So wird der Text selbst zum                               und Martin Heidegger. Dadurch werden ihre
Diffraktionsexperiment und verdeutlicht, dass                  Texte nicht nur sehr anspruchsvoll, sondern
wir es in der Welt mit Verschränkungen zu tun                  eröffnen mit dieser eher ungewohnten Kombi-
haben.                                                         nation auch neue Einsichten, die wissen-
    Hinweise auf meine Frage, wie ein diffrakti-               schaftlich relevante und forschungsbezogene
ves Lesen anzuwenden ist, können neben                         Themen über Disziplingrenzen hinaus anspre-
Barads eigenen Texten auch Autor_innen ge-                     chen. In ihrem jüngsten Text zeigt Schrader
ben, die ebenfalls mit ihrer Theorie arbeiten. Es              anhand von Mikroben, dass „bodies are now beco-
gibt zahlreiche Personen, die von Barads agenti-               ming intra-active processes“ (Schrader 2017: 2) und
ellem Realismus inspiriert sind und mit ihren                  hinterfragt darin binäre Grenzziehungen wie die
ganz unterschiedlichen Gegenständen und in                     zwischen Tier/Mensch und Leben/Tod. Dies
verschiedenen (inter-)disziplinären Auseinan-                  gelingt ihr aufgrund eines durcheinander hin-
dersetzungen damit arbeiten (vgl. z.B. Bath et al.             durch Lesens von feministischen Wissenschafts-
2013). Da ich mich mit einer Naturwissenschaft                 theorien, Derridas Dekonstruktion von Heideg-
beschäftige, bieten mir zunächst einmal diejeni-               gers Zeitbegriff sowie Forschungen zu
gen Arbeiten Orientierung, die ebenfalls                       Meeresmikroben in Phytoplankton. In vorheri-
naturwissenschaftliche Phänomene und For-                      gen Arbeiten entwickelte Schrader ebenfalls
schungen mit Barads Theorien verknüpfen.                       andere Lesarten naturwissenschaftlicher For-
Zwei Beispiele möchte ich aus diesem Grund                     schungen, in dem sie diese vor allem mit
abschließend kurz vorstellen.                                  Barad chen nd Derrida chen Gedanken nd
    Rebecca Yoshizawa geht es in ihrer Disserta-               Begrifflichkeiten in Konversation brachte.
tionsschrift Placentations: Agential Realism and                   Das sind nur zwei von vielen Arbeiten, die
the Science of Afterbirths (2014) darum, Bil-                  sich auf Barads agentiellen Realismus beziehen
dung        und       Struktur        von        Plazenten     und die ich hier exemplarisch anführe, um einen
naturkultürlich zu begreifen und zwar nicht nur,               Eindruck zu vermitteln, mit welchen anderen
um dies besser zu verstehen, sondern auch weil                 Phänomenen und Theorien dieser in Verbin-
sie davon ausgeht, dass so neue ethische, theo-                dung gebracht wird und zu welchen Einsichten
retische und praktische Überlegungen bezüglich                 das führen kann. Als nächstes werde ich versu-
Schwangerschaft, Bioethik, Umweltschutz, Ge-                   chen ein diffraktives Lesen umwelt-
sundheit und vielem mehr entstehen können                      epigenetischer Studien mit Barads Annahmen
(vgl. Yoshizawa 2014: iii; s. auch Yoshizawa                   durchzuführen und in Auszügen vorstellen.
2016). Mit Hilfe von Interviews, Beobachtun-
gen und Analysen naturwissenschaftlicher
Sekundärliteratur und sozialwissenschaftlicher                 4. Agentiell realistische Lesart
Literatur arbeitet sie heraus, wie sowohl diskur-                 epigenetischer Studien
sive als auch materielle Praktiken zusammen
Placenten hervorbringen. „I analyze anthropology               Mein Interesse wird besonders davon geleitet,
and feminist theory in the same ways that I analyze            umweltepigenetische Forschungsarbeiten da-
placental science: through the diffractive tools provided by   raufhin zu befragen, welche Grenzziehungen
agential realism” (Yoshizawa 2014: 30).                        und Verschränkungen das Feld zu Tage fördert.
                                                               Teile meiner Texte und Materialien stammen

Gender(ed) Thoughts, Working Paper Series 2020, Volume 1                                                       37
Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

aus der Umweltepigenetik, zugleich bringe ich          wie ein diffraktives Lesen umgesetzt werden
Perspektiven der Geschlechterforschung und             könnte und welche neuen Konfigurationen sich
der feministischen Wissenschaftsforschung ein.         darin zeigen. Dafür ziehe ich drei umweltepige-
Es ist der Versuch einer materiell-diskursiven         netische Studien heran, die in den letzten Jahren
Auseinandersetzung, in der natur- und geistes-         in renommierten Fachzeitschriften erschienen
wissenschaftliche Themen in Verbindung                 sind, sowie Gedanken aus den Arbeiten von
gebracht und ihre Grenzen brüchig werden. Die          Barad, Schrader und Yoshizawa.
Kombination verschiedener Perspektiven kann                In vielen Studien formulieren Epigeneti-
einen weiteren Blick auf Differenzen und deren         ker_innen, dass sie etwas nicht mit Sicherheit
Verschränkungen ermöglichen und so auch                sagen können und (noch) nicht genau wissen:
einer gesellschaftskritischen Geschlechterfor-         „How [environmental factors, L.K.] mediate their in-
schung nützen. Ich hoffe mit diesem Projekt,           fluence is poorly understood, but likely involves non-
das hier nur in Auszügen vorgestellt werden            genetic mechanism“ (Gapp et al. 2014: 667). Damit
kann, zeigen zu können, dass wir es nicht mit          verbunden ist vermutlich die Vorstellung, dass
inhärenten Entitäten zu tun haben und somit            wir nur die richtigen Methoden oder Instrumen-
binäre Gegenüberstellungen nicht die einzige           te finden müssen, um etwas mit Bestimmtheit
Erklärungs- und Einteilungsmöglichkeit sind.           sagen oder feststellen zu können, entsprechend
Mit einem diffraktiven Lesen eröffnen sich an-         eines klassisch realistischen Verständnisses.
dere Lesarten und Interpretationen auch                Schrader macht stark, dass es Unbestimmtes
naturwissenschaftlicher Phänomene. Das wird            gibt, jedoch nicht aufgrund von Unwissen oder
nicht einfach möglich durch ein Aufstülpen             Unfähigkeit etwas herauszufinden: „Unlike epis-
einer Theorie über eine andere, sondern eröff-         temological uncertainties that refer to ‘gaps‘ in or
net sich durch das gleichberechtigte                   incompleteness of human knowledge […], this indeter-
durcheinander hindurch Lesen und die dadurch           minacy is an ontological notion“ (Schrader 2010:
entstehenden Synergieeffekte. Dies geht von der        283).5 In einer agentiell realistischen Lesart er-
Annahme aus, dass es noch mehr zu entdecken            öffnet sich mit Blick auf die Epigenetik noch
gibt, wenn wir aus gewohnten Begriffen und             etwas anderes: Es zeigt sich in der Formulierung
Verständnissen heraustreten. Vor allem das             von Wissenslücken auch, dass sich Forschende
gleichberechtigte durcheinander hindurch Lesen         nicht alles erschließen können, und dass es Un-
bleibt eine große Herausforderung, auch weil es        bestimmtes gibt, das partiell bestimmt wird,
insgesamt wenig Hinweise für das konkrete              aber dies keineswegs schon immer in bestimm-
Arbeiten mit der diffraktiven Methodologie             ter Form vorliegt und daher bloß entdeckt oder
gibt.                                                  erforscht werden muss. Anstatt also die Wis-
    Meines Erachtens ist das Zusammenbringen           senslücken mit Unwissen oder Unfähigkeiten
so verschiedener Disziplinen und das diffraktive       der Forschenden zu erklären, kann dies darauf
Lesen da möglich, wo es thematische und be-            hinweisen, dass vielzählige Agencies den For-
griffliche Überschneidungen gibt in meinem             schungsprozess beeinflussen und gestalten.
Fall       zwischen       dem      feministisch-       Gehen wir davon aus, dass es nicht bloß die
materialistischen Konzept des agentiellen Rea-         Forschenden sind, die die Untersuchungen be-
lismus und der Umweltepigenetik. Ich habe              einflussen und Forschungsobjekte vermessen,
daher einige zentrale Anknüpfungspunkte zwi-           kann das Unwissen stattdessen als Hinweis auf
schen Barads Annahmen und epigenetischen               Un/Bestimmtheiten und Verschränkungen
Studien herausgearbeitet, die ich als produktiv        verstanden werden und auf die Intra-aktionen
für das durcheinander hindurch Lesen erachte.
Drei dieser Punkte werde ich im Folgenden
                                                       5   Sie knüpft hier an Barads Anführungen des Physiker-
                                                            streits zwischen Werner Heisenberg und Niels Bohr
kurz vorstellen und so einen Vorschlag machen,              und ihren konkurrierenden Konzepten von Unschär-
                                                            fe vs. Unbestimmtheit an (vgl. z.B. Barad 2007).

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

hindeuten, an denen Unzählige beteiligt sind. In             herstellt. Auf epigenetischer Ebene verschrän-
den expliziten Verweisen von Epigeneti-                      ken sich jetzt traumatische Erfahrung und
ker_innen auf Wissenslücken, eröffnet sich so                Genaktivität. Meine Annahme ist, dass mit der
auch die Möglichkeit, diese nicht auf erkennt-               Be eichn ng al Mi lerin ( media or ), al e -
nisbasierte Schwächen zurückzuführen, sondern                was, was dazwischengeschaltet ist, eindeutige,
als onto-epistemologische Un/Bestimmtheiten                  binäre Grenzen verwässern und im diffraktiven
zu begreifen.                                                Lesen mit einem agentiell realistischen Ver-
    Ein zweiter interessanter Punkt in umwelt-               ständnis ihre Untrennbarkeit verdeutlicht wird.
epigenetischen Studien ist die Bezeichnung von               Auch Barad betont das Dazwischen: „reality is
epigenetischen Mechanismen als Mittler und als               constituted by the ‘between’, the inseparability of nature
das dazwischen Geschaltete. Viele Untersu-                   – cultural / world – word / physical – conceptual /
chungen wollen zeigen, wie äußere Einflüsse                  material – discursive” (Barad 1996: 181, H.i.O.). So
durch epigenetische Mechanismen auf das Ge-                  ermöglicht das Bezeichnen epigenetischer Me-
nom transportiert und dann in phänotypische                  chanismen als Vermittler das Verschieben des
Veränderungen übersetzt werden. Sie wollen                   Blickes von dualistischen Polen weg hin zu ih-
etwas darüber aussagen, wie Gene und Umwelt,                 ren un/trennbaren Verschränkungen.
wie außen und innen interagieren: „These studies                 Insgesamt und drittens treten in umweltepi-
offer an opportunity to clearly define the nature of gene-   genetischen Forschungsarbeiten zahlreiche
environment interactions during development“ (Weaver         Verschränkungen zu Tage. So zum Beispiel in
et al. 2004: 852).                                           der Studie von Abbas Ali Gaeini et al. (2016), in
Katharina Gapp u.a. untersuchen die Bedeutung                der der Einfluss von körperlicher Fitness und
bestimmter RNAs6 im Mäusesperma für die                      Ausdauertraining vor und während der Schwan-
Übertragung von Effekten, die durch frühen                   gerschaft auf den Knochenbau des weiblichen
traumatischen Stress7 ausgelöst werden. Sie                  Nachwuchses und auf das Risiko im erwachse-
gehen davon aus, dass die RNAs als Übermittler               nen Alter an Osteoporose zu erkranken
dienen, durch die Signale aus der Umwelt auf                 untersucht wird. Dafür wurden Mäuse vor und
das Genom übertragen werden, was zu Verhal-                  während der Schwangerschaft untersucht und
tensänderungen und Veränderungen im Stoff-                   verschiedenem Training ausgesetzt und an-
wechsel über Generationen hinweg führt:                      schließend die Genexpression bestimmter
 „sncRNA are potential mediators of gene-environment         Proteine und Rezeptoren beim weiblichen
interactions that can relay signals from the environment     Nachwuchs untersucht, die als Hinweise für die
to the genome and exert regulatory functions on gene         spätere Knochengesundheit dienen.
activity“ (Gapp et al. 2014: 667).                               Hier finden nicht nur Verschränkung von
Hier wird etwas beschrieben, welches die Ver-                Müttern und Föten statt, sondern auch zeitliche
bindung zwischen sonst getrennten Bereichen                  Verschränkungen:8 Die Zeit vor der Schwanger-
und Binaritäten (Außen/Innen, Gen/Umwelt)                    schaft sowie währenddessen und das
                                                             Erwachsenenalter des Nachwuchses sind von
6 Bei der Transkription der DNA öffnet sich ihre Dop-        Interesse:
  pelhelixstruktur und die Stränge verbinden sich mit
  neuen Basen zu Ribonukleinsäure (RNA). RNA-                „Evidence is accruing that environmental factors in utero
  Moleküle erfüllen verschiedene Funktionen wie das          may permanently modify the postnatal pattern of skeletal
  Übertragen von genetischen Informationen, z.B. in          growth to peak and thus influence risk of osteoporosis in
  Proteine, und haben daher verschiedene Namen. In           later life” (Gaeini et al. 2016: 3634, H.i.O.).
  dieser Studie ist die sncRNA (small non-coding
  RNA) von Interesse.
7 Der traumatische Stress ist in diesem Fall die unvor-      8   Zudem gibt es Hinweise darauf, dass sich die Tren-
  hergesehene Trennung von der Mutter sowie                      nung in Tier und Mensch hier verschränkt, da Gaeini
  unvorhergesehener mütterlicher Stress: „unpredictable          et al. sich unkommentiert auf Studien und Erkennt-
  maternal separation combined with unpredictable maternal       nisse beziehen, die sowohl Menschen als auch Tiere
  stress“ (Gapp 2014: 667).                                      untersuchten und diese nicht unterscheiden.

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

Dadurch, dass in der transgenerationellen Epi-                objects are permeated through and through with their
genetik auch immer schon die Lebens-                          entangled kin; the other is not just in one’s skin, but in
bedingungen der Vorfahren, in dieser Studie die               one’s bones, in one’s belly, in one’s heart, in one’s nucle-
mütterliche Fitness kurz vor der Schwanger-                   us, in one’s past and future.” (Barad 2007: 392, 393,
schaft, als relevant gelten,9 verschwimmen hier               H.i.O.).
zeitliche Einteilungen: Es gibt etwas, das den
Fötus auch vor seiner Zeugung und Existenz
beeinflusst. Wie auch Yoshizawa schreibt:                     Schluss
„A fetus and mother, and their experiences of health          Das biomedizinische Feld der Epigenetik bietet
and disease are already intra-acting in their ancestors,      auch für die Geschlechterforschung interessante
their food, their social lives, their emotions, and their     Auseinandersetzungen. Für meine Analysen
exposomes” (Yoshizawa 2016: 93).                              umweltepigenetischer Studien sind vor allem die
Im diffraktiven Lesen zeigen sich zeitliche Ver-              feministisch-materialistischen Perspektiven Ba-
schränkungen, denn es verschränken sich                       rads zentral. Auf den letzten Seiten habe ich
Dinge, die für die (Groß-)Eltern sind oder ge-                umrissen, welche Anknüpfungspunkte es gibt,
wesen sind und für die Nachfahren nie waren,                  die ein diffraktives Lesen ermöglichen und so
aber nun doch relevant sind oder werden kön-                  neue Konfigurationen sichtbar machen können.
nen. Ein agentiell realistisches Verständnis                      Dabei habe ich jede kritische Betrachtung
widerspricht hier einer konventionellen realisti-             des Feldes außer Acht gelassen, wie es viele
schen Logik, nach der Zeit und Raum fixe                      andere in ihren Arbeiten zu Epigenetik tun.
Marker und Entitäten feststehende Größen                      Maria Hedlund etwa problematisiert die Ten-
sind. Barad weist darauf hin, dass es sich auch               denz des Feldes, die Verantwortung der_des
bei zeitlichen Einteilungen um agentielle Schnit-             Einzelnen für ein gesundes Leben zu betonen,
te handelt und diese genau wie andere Entitäten               was dadurch verstärkt wird, dass die eigenen
immer wieder hergestellt werden (vgl. Barad                   Lebensweisen und Erfahrungen auch als ein-
2007: 181). Sie konzeptualisiert nicht nur die                flussreich für nachfolgende Generationen gelten
Natur des Seins neu, sondern auch die der Zeit.               (vgl. z.B. Hedlund 2012). Einen ähnlichen
    Was sich somit in einer agentiell realistischen           Punkt macht Sarah Richardson, die betont, dass
Lesart der Studie von Gaeini et al. (2016) zeigen             durch transgenerationelle epigenetische For-
kann, ist, dass klare materielle und zeitliche Ein-           schung die Fokussierung auf die Verantwortung
teilungen verschwimmen und verschiedene                       für die Nachkommen besonders an die Mütter
Entitäten, Ebenen, Zeiten und Einflüsse mitei-                adressiert wird:
nander verschränkt sind.                                      „The maternal body in the light of […] vivid metaphors
„The very nature of materiality is an entanglement.           of maternal ‘capital’, ‘ghettos’, and ‘transduction’ is a
Matter itself is always already open to, or rather entan-     vector that converts maternal social conditions into epige-
gled with, the ‘other’. […] Not only subjects but also        netics marks on the infant’s genome. As an
                                                              intergenerational vessel of socially inscribed resources that
9   Ein wichtiger Aspekt, der nicht direkter Bestandteil      condition life outcomes, the maternal body represents the
    meiner Analyse ist, aber dennoch hier Erwähnung           past, capable of trapping the growing fetus in somatic
    finden muss, ist die Tatsache, dass durch die Fokus-      conditions of deprivation that reproduce social class in
    sierung vieler epigenetischer Studien auf den Einfluss    postnatal life” (Richardson 2015: 219, H.i.O.).
    der Mütter, ein stereotypes und tradiertes Mutter-
    und Frauenbild festgeschrieben wird. Durch die Be-        Während Chris Kuzawa und Elisabeth Sweet
    tonung des mütterlichen Einflusses lässt sich hieraus     argumentieren, dass durch umweltepigenetische
    ihre vermeintlich besondere Verantwortlichkeit ge-        Forschung ermöglicht wird den gesundheits-
    genüber dem Nachwuchs ableiten oder sogar
    naturalisieren, auch wenn es wie in diesem Fall häufig    schädigenden Einfluss sexistischer und
    um Mäuse oder Ratten geht. Ausführlicher bin ich          rassistischer Diskriminierung und Ungleichbe-
    darauf in Krall 2018: 12 eingegangen; vgl. auch Ken-      handlung über mehrere Generationen hinweg
    ney, Müller 2017 dazu.

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Krall: Agentieller Realismus meets Epigenetik

zu veranschaulichen (vgl. Kuzawa, Sweet 2009),               schätzung nach durch eine ambivalente Gleich-
weisen Becky Mansfield und Julie Guthman auf                 zeitigkeit aus (vgl. Krall 2018). Gegenstand
die Gefahr hin, dass hier ebenso im Sinne einer              meines Promotionsprojektes ist es trotz dieser
epigene i chen Normen ickl ng po en iell                     problematischen Implikationen, die der Umwel-
auch eine eugenische Logik anschlussfähig ist.               tepigenetik auch inhärent sind, zu zeigen, dass
Obwohl auch sie, wie viele andere, hier Potenzi-             das Feld Potenzial hat: Wenn es gelingt heraus-
al für nicht-deterministische und nicht-binäre               zuarbeiten, dass epigenetische Mechanismen
Erklärungsmodelle sehen, betonen sie:                        auch auf Verschränkungen und Intra-aktionen
„We find that epigenetics is contributing to a new biolog-   hinweisen und sie nicht bloß etwas über die
ical (yet non-determinist) ontology of race and that the     Interaktion von Genen und Umwelt, Außen
fetus and reproductive women are emerging as the central     und Innen aussagen, dann wird eine Perspektive
figures in this new epigenetic model of race and bodily      stark gemacht, die nicht von inhärenten Dua-
plasticity” (Mansfield, Gutham 2015: 3).                     lismen ausgeht und Differenzen nicht als immer
Wie ich an anderer Stelle argumentiert habe,                 schon gegeben versteht.
zeichnet sich die Umweltepigenetik meiner Ein-

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