Iga.Report 35 - Gesundheitliche Chancen-gleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender
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iga.Report 35 Gesundheitliche Chancen- Die Initiative Gesundheit und Arbeit gleichheit im Betrieb: In der Initiative Gesundheit und Arbeit (iga) arbeiten gesetzliche Kranken- und Unfallversicherung zusammen, um arbeitsbedingten Schwerpunkt Gender Gesundheitsgefahren vorzubeugen. Gemeinsam werden Präventions- ansätze für die Arbeitswelt weiter- entwickelt und vorhandene Methoden oder Erkenntnisse für die Praxis nutzbar gemacht. Nadine Pieck unter Mitarbeit von Claudia Bindl, Inga Fokuhl, Michael Gümbel, iga ist eine Kooperation von BKK Dachverband, der Deutschen Edelgard Kutzner, Christina Meyn, Sonja Nielbock, Christina Schröder, Gesetzlichen Unfallversicherung Marianne Weg und Dorothea Wolf (DGUV), dem AOK-Bundesverband und dem Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). www.iga-info.de
iga.Report 35 Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Nadine Pieck unter Mitarbeit von Claudia Bindl, Inga Fokuhl, Michael Gümbel, Edelgard Kutzner, Christina Meyn, Sonja Nielbock, Christina Schröder, Marianne Weg und Dorothea Wolf
Inhaltsverzeichnis 1 Einleitung 7 2 Leitlinien für die Praxis 8 2.1 Diversity (Management) 8 2.2 Anerkennung und Verteilung 10 2.3 Gleichstellung als Ziel – Rechtlich gebotene Antidiskriminierung 12 2.4 Reflektierter Umgang mit Dilemmata der Gleichstellungspolitik 13 2.5 Integration der Prinzipien in die betriebliche Gesundheitsförderung 15 3 Gender als Diversity-Dimension in der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention 18 3.1 Regelkreisbasiertes Vorgehen 19 3.2 Repräsentation von Frauen und Männern in Gremien 23 3.3 Repräsentation in der Sprache 24 3.4 Sensibilisierungs- und Konzeptionsphase – Gemeinsam Ziele entwickeln 25 3.5 Strukturanalyse und Hypothesenbildung 26 3.6 Reflexion der Unternehmenskultur(en) 28 3.7 Analyse der Belastungen und Ressourcen – Handlungsbedarfe ermitteln 30 3.8 Vertiefende Analyse – Entwicklung von Maßnahmen 33 3.9 Evaluation 35
4 Beispiele aus der Praxis 36 4.1 Männlichkeit und Gesundheit im Polizeieinsatz 37 4.2 Geschlechtergerechter Arbeitsschutz in Schweden – Systematisch die richtigen Fragen stellen 40 4.3 Gender und Diversity im österreichischen Arbeitsschutz – Beispiel Reinigungsgewerbe 43 4.4 Projekt Gender/Stress – Geschlechterrollen als Belastung 45 4.5 Stressbewältigung für Männer und Frauen 48 4.6 Beteiligungsorientierte Workshops – Beispiel Frauenversammlung in der Polizei 49 4.7 Evaluationsworkshops 53 5 Zusammenfassung 56 6 Literatur 58 7 Abbildungsverzeichnis 62 8 Tabellenverzeichnis 63 9 Anhang – Toolbox 64 9.1 Betriebslandkarte 64 9.2 Kraftfeldanalyse 64 9.3 Leitfaden Geschlechterrollenerwartungen 65 9.4 Checkliste: Geschlechterrollenerwartungen als Belastung und Barriere zum Zugang zu Ressourcen 68 9.5 Frauen und Gesundheit in der Polizei 69
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender 1 Einleitung Im neu verabschiedeten Präventionsgesetz ist die Genderthe- ge lässt sich jedoch kaum überzeugend beantworten, wenn matik ausdrücklich verankert. Die gesundheitliche Chancen- nicht gesagt werden kann, was das eigentliche Vorhaben ist. gleichheit der Geschlechter ist explizites Ziel des Gesetzes. „Die Leistungen sollen insbesondere zur Verminderung sozial Dieser iga.Report zielt darauf ab, solche Hürden abzubauen bedingter sowie geschlechtsbezogener Ungleichheit von Ge- und Lücken zu schließen. Dabei richtet sich der Report an sundheitschancen beitragen“ (§ 20 (1) SGB V). Damit gewin- Personen, die daran interessiert sind, Diversity unter dem Ge- nen diese Fragen an Bedeutung für die Umsetzung von Ge- sichtspunkt von Gender in der betrieblichen Gesundheitsför- sundheitsförderung und Prävention im Betrieb. Der Gesetz- derung und Prävention umzusetzen. Im Report wird ein An- geber hat den gesundheitspolitischen Akteuren Krankenkas- satz vorgestellt, wie Anerkennung und Chancengleichheit sen, Renten- und Unfallversicherungsträgern das Ziel mit auf integriert werden können. Dabei liegt der Schwerpunkt auf den Weg gegeben, geschlechtsbezogene Ungleichheiten in der Kategorie Geschlecht bzw. Gender. Anhand eines Stan- den Gesundheitschancen abzubauen. Unternehmen und Ver- dardprozesses sowie einzelner Beispiele wird praxisnah er- waltungen befassen sich bereits seit vielen Jahren mit ver- läutert, wie Ziele entwickelt werden können oder wie in ein- schiedenen Konzepten der Gleichstellung – sei es unter der zelnen typischen Phasen konkret vorgegangen werden kann. Überschrift Frauenförderung, Chancengleichheit, Gender Dazu ist es erforderlich, das eine oder andere Wissenswerte Mainstreaming oder Diversity Management. Die Gründe, sich voranzustellen und zu zeigen, wie diese Erkenntnisse im Pro- mit diesem Thema zu befassen, sind dabei recht unterschied- zess zum Einsatz kommen. Es werden also zentrale Begriffe lich. Sie reichen von der Erfüllung gesetzlicher Vorgaben, mo- und theoretische Grundlagen möglichst kurz und prägnant ralisch-ethischer Ansprüche bis hin zum ökonomischen Nutzen vorgestellt. z.B. durch die Steigerung der eigenen Attraktivität als Arbeit- geberin oder Arbeitgeber in Zeiten des demografischen Wan- Im Abschnitt Leitlinien wird erläutert, was eigentlich unter dels und eines spürbaren Fachkräftemangels. Diversity zu verstehen ist und welche Leitlinien sich daraus für die Gestaltung betrieblicher Praxis ableiten lassen. Mit Für die Handelnden im Betrieb, z. B. Fachkräfte für Arbeitssi- Blick auf die Kategorie Geschlecht werden die Erkenntnisse cherheit, Gesundheitsmanagerinnen und -manager, Mitglieder der Geschlechterforschung aufgenommen, die für die Frage- des Betriebs- und Personalrats oder Gleichstellungsbeauf- stellung der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prä- tragte, stellt sich die Aufgabe, das Gesundheitsmanagement vention zentral sind. Es wird deutlich gemacht, dass es sich zu „gendern“ und Vielfalt in Arbeitssicherheit, Gesundheits- im Kern um die Gestaltung sozialer Verhältnisse handelt – schutz und Gesundheitsförderung zu berücksichtigen, als Umgang miteinander, Gestaltung von Arbeit, gerechte Vertei- recht abstrakt und unüberschaubar dar. Es lässt sich schlecht lung von Ressourcen und Belastungen sowie um die Herstel- fassen. Die Ziele sind (zu) allgemein formuliert, es fällt lung von Chancengleichheit. Eine Faktensammlung zu schwer, sie zu konkretisieren und ein systematisches Vorge- vermeintlichen Unterschieden zwischen Frauen und Män- hen zu entwickeln. Die Gestaltung betrieblicher Gesund- nern ist nicht enthalten. Gleichwohl jedoch eine Reflexion heitsförderung und Prävention ist für sich genommen schon der unterschiedlichen Rollenerwartungen an Frauen und eine komplexe Aufgabe. Wie lassen sich dort Fragen der Männer sowie der damit verbundenen Zuweisung unter- Wertschätzung von Vielfalt und Chancengleichheit integrie- schiedlicher Aufgaben und deren Auswirkungen auf gesund- ren? Hinzu kommt, dass das Thema Gender auch mit Unbe- heitliche Chancengleichheit. hagen verbunden ist. Wie bei allen Themen, die auf die Ver- änderung der Organisation zielen, stehen die Handelnden vor der Frage, ob die Veränderung überhaupt gewünscht ist. Viele Überlegungen kreisen daher zunächst um die Frage, wie Diversity (Vielfalt), Chancengleichheit oder Gender (Gen- der Mainstreaming) in Unternehmen und Verwaltungen als Themenschwerpunkt platziert werden kann. Schon diese Fra- iga.Report 35 | 7
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Die Grundfragen des Reports lauten: Es geht aber auch um die Anerkennung und Wertschätzung − Sind Ressourcen und Belastungen unterschiedlich dieser Tätigkeiten sowie um die Frage, ob Frauen und Män- auf Frauen und Männer verteilt? nern als Personen Anerkennung und Wertschätzung in der − Werden die gesundheitlichen Risiken aus den täglichen Interaktion entgegengebracht werden. Belastungs- und Ressourcenkonstellationen für Frauen und Männer jeweils wahrgenommen? Zum Genderbegriff: Dieser umfasst weit mehr als nur die Un- − Werden wirksame Maßnahmen entwickelt und terscheidung zwischen Männern und Frauen. Gender wird als umgesetzt? soziales Geschlecht definiert und berücksichtigt die Vielfalt von Menschen sowie deren Möglichkeiten zur individuellen Lebensgestaltung. Obwohl es vielfältige Geschlechtsidenti- täten gibt, wird in diesem iga.Report nur zwischen Frauen und Männern differenziert. 2 Leitlinien für die Praxis An der Erstellung dieses Berichtes haben Expertinnen und Sinne von Diversity Management steht für die Art und Weise Experten1 des Netzwerkes Gender in Arbeit und Gesundheit des Umgangs mit dieser Vielfalt in einer Organisation“ (Krell, mitgewirkt, die das Thema mit unterschiedlichen Schwer- Ortlieb & Sieben 2011, S. 159). Der Kerngedanke des Diversity- punktsetzungen und aus verschiedenen Perspektiven in ihrer Ansatzes ist, die Unterschiedlichkeit von Menschen anzuer- eigenen Praxis bearbeiten – also politisch Handelnde, Vertre- kennen. Er richtet sich gegen den Ausschluss von Menschen terinnen und Vertreter der Arbeitsschutzbehörden, Renten- aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe. Er und Unfallversicherungsträger, Forschende und Beratende. zielt auf die (verbesserte) Inklusion von Personen(gruppen), Sie haben auf der Grundlage ihrer Expertise Beispiele für die bisher benachteiligt waren sowie auf Menschen, deren eine gelungene Umsetzung von Gender Mainstreaming in eigenes Selbstverständnis als von der Norm abweichend gilt der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention zu- (Dobusch, 2015). sammengetragen und in einem gemeinsamen Workshop er- örtert, wie sich der Diversity-Ansatz mit dem Schwerpunkt Unter dem Stichwort Diversity Management werden betrieb- auf Geschlecht bzw. Gender verbinden lässt. liche Interessen mit der Wertschätzung von Vielfalt verknüpft. Diese Verknüpfung hat dazu beigetragen, dass Gleichstel- lungsabteilungen und -aktivitäten (unter neuem Label) von 2.1 Diversity (Management) den Handelnden im Betrieb als betriebswirtschaftlich ratio- nal (Hericks, 2011) angesehen werden. Damit ergänzt Diver- sity Management den Handlungsrahmen für Gleichstellung, Diversity ist ein Ansatz der Antidiskriminierung, der sich aus der sich aus dem Grundgesetz, dem Allgemeinen Gleichbe- der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung heraus ent- handlungsgesetz sowie internationalem Recht und Leitlinien wickelt hat. Diversity lässt sich mit Vielfalt übersetzen. Damit herleitet, um eine betriebswirtschaftliche Perspektive. An be- wird das Phänomen einer vielfältig zusammengesetzten Be- triebswirtschaftlich orientierten Ansätzen des Diversity Ma- legschaft oder einer Organisation bezeichnet. „Diversity im nagements wird kritisiert, dass sie die Unterschiedlichkeit von Personengruppen betonen bzw. unterstellen und argu- mentieren, durch die Anerkennung dieser Unterschiede Wett- 1 Claudia Bindl, Inga Fokuhl, Michael Gümbel, Edelgard Kutzner, Christina Meyn, Sonja Nielbock, Christina Schröder, Marianne Weg, Dorothea Wolf, Nadine Pieck bewerbsvorteile generieren zu können. Demgegenüber tritt 8 | iga.Report 35
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender das Ziel der Chancengleichheit in den Hintergrund. Mecha- reiche Mechanismen der Verzerrung in der Wahrnehmung nismen, die zu einer Benachteiligung der jeweiligen Perso- und Beurteilung von Menschen bekannt (Krell, Ortlieb & Sie- nengruppen führen, werden ausgeblendet. ben, 2011; Fried, Wetzel & Baitsch, 2000). Vielfalt richtet sich gegen eine Versämtlichung von Frauen, Männern, Juden, Vor dem Hintergrund der Erfahrung von Rassismus ist die An- Moslems, Alten, Jungen usw. erkennung von Menschen, unabhängig von ihrer Hautfarbe usw., ein wichtiges und richtiges Ziel. Sie richtet sich gegen Das grundlegende Problem liegt nicht in den Eigenschaften die Ausgrenzung, Erniedrigung und Abwertung von Men- und besonderen Kompetenzen, sondern in den sozialen Ver- schen aufgrund ihrer Zuordnung zu einer Gruppe, entlang hältnissen, die die einzelnen Gruppen zueinander in Relation des Merkmals Hautfarbe, Herkunft, Geschlecht, sexueller Ori- setzen. Zu diesen zählen auch die Denkverhältnisse, unsere entierung, Alter, Religion oder Abstammung (vgl. Grimm & Wahrnehmungs- und Deutungsmuster sowie Regeln und Brodersen, 2016; Waschau, 2011). Die Merkmale, an denen Normen, nach denen wir handeln und die für uns selbstver- die Zuordnung zu einer Gruppe erfolgt und an die sich Diskri- ständlich sind. Ohne diese würde keine Gesellschaft funktio- minierungen anknüpfen können, sind im Prinzip beliebig. nieren. Problematisch daran ist, dass sich darüber auch Hie- In der Vergangenheit hat es zahlreiche Versuche gegeben, rarchie- und Machtverhältnisse reproduzieren. Im Kontext soziale Unterschiede zwischen Menschen an bestimmten von Diversity Management wird dieser Aspekt von Krell et al. Merkmalen festzumachen. So versuchte man nachzuweisen, (2011) problematisiert: Das Verständnis von Normalität wird dass Frauen mathematisch weniger begabt sind als Männer in einer Organisation meist von einer Gruppe dominiert. Die- oder dass die Intelligenz von Menschen von ihrer Hautfarbe se bestimmt, welche Themen wichtig sind, was als Leistung abhängt. Diese Erklärungsversuche sind als biologistisch, anerkannt wird, welche Arbeit wertvoll ist oder welche Ver- essenzialistisch bzw. rassistisch kritisiert worden. Sie versu- haltensweisen als angemessen bzw. „normal“ gelten. Dabei chen, soziale Verhältnisse wie Armut und Reichtum mit bio- muss diese Gruppe nicht in der Mehrheit sein. Problematisch logischen, genetischen oder natürlichen Eigenschaften der daran ist, dass die Chancen, auf diese Regeln und Muster Mitglieder einer Gruppe zu erklären. Einfluss zu nehmen, nicht auf alle Gruppen gleich verteilt sind. Menschen, die nicht zur dominanten Gruppe gehören, Diversity richtet sich gegen Vorurteile und plädiert für die An- haben geringere Chancen, ihre Perspektiven, Themen und vor erkennung der individuellen Vielfalt von Menschen. Dies wi- allem Interessen einzubringen. Sie werden zudem im Ver- derspricht Ansätzen, die Personengruppen (Frauen oder gleich zu Mitgliedern der dominanten Gruppe als abwei- Männern, Alten oder Jungen usw.) pauschal bestimmte Ei- chend oder gar defizitär wahrgenommen. Für sie besteht genschaften und damit Eignung für bestimmte Tätigkeiten, eine höhere Wahrscheinlichkeit, diskriminiert zu werden. Positionen usw. zuschreiben. Diversity richtet den Blick also auf unsere eigenen Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster. In den Vorstellungen darüber, was als normal und selbstver- Wen halten wir für kompetent, zu wem bauen wir Kontakte ständlich gilt, spiegeln sich bestehende Machtverhältnisse auf, wen meiden wir? Welchen Menschen begegnen wir mit wider. Dabei bleibt häufig verborgen, welche Vor- und Nach- Zurückhaltung bzw. mit Ressentiments? Woran machen wir teile mit diesen Vorstellungen für die jeweiligen Gruppen unsere Einschätzung fest? Problematisch an diskriminieren- verbunden sind – gerade weil es sich um Selbstverständlich- den Wahrnehmungsmustern ist, dass wir Menschen anhand keiten handelt. Die Betonung von Unterschieden z. B. zwi- eines Merkmals unterscheiden, z. B. Mann oder Frau, und da- schen Frauen und Männern dient letztlich der Aufrechterhal- ran weitere Vermutungen und Bewertungen anknüpfen. Wir tung bestehender Statusunterschiede. Das Hinterfragen von bilden Stereotype. Dass diese wenig mit den tatsächlichen Normalität oder Selbstverständlichkeiten löst zudem Ängste Eigenschaften und Kompetenzen der jeweiligen Person zu und Widerstand aus, da mitunter die eigene Lebensweise tun haben, ist beispielsweise aus der Stereotypforschung be- und eigene Gepflogenheiten sowie damit gegebenenfalls kannt. So neigen wir dazu, Menschen, die einen höheren Sta- verbundene Privilegien in Frage gestellt werden. Die unter- tus genießen, mehr Kompetenz zuzuschreiben also solchen schiedlichen Formen und Mechanismen der Diskriminierung mit geringerem Status. Beispielsweise sprechen wir der Hilfs- von Frauen sind Gegenstand der Geschlechterforschung bzw. kraft in der Großküche geringere Kompetenzen zu als einem der Gender Studies. Facharbeiter, ohne zu wissen, über welche Kompetenzen die Person jeweils verfügt. Aus der Personalforschung sind zahl- iga.Report 35 | 9
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender In der neueren Diskussion von Diversity Management-Ansät- Um Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster zu verändern, zen sind dementsprechend zunehmend Wahrnehmungs- und sind Perspektivwechsel und die Reflexion der eigenen Vor- Unterscheidungsprozesse (Krell et al., 2011) in Organisatio- stellungen und der damit verbundenen betrieblichen Praxis nen (und in der Gesellschaft) in den Blick geraten. Diversity erforderlich. Um dies zu ermöglichen, sollten Beteiligungs- und Gender Trainings versuchen, Beschäftigte und Führungs- gruppen eingerichtet werden, die möglichst heterogen zu- kräfte für diese Thematik zu sensibilisieren. In der Praxis be- sammengesetzt sind, damit unterschiedliche Perspektiven schränken sich die Sensibilisierungsmaßnahmen häufig auf auf die organisationale Wirklichkeit auch zur Geltung kom- die individuelle Ebene (Baig, 2010). Im Zentrum steht dabei men können (Baig 2010, S. 346). Hierbei existiert eine große die Reflexion der bestehenden persönlichen Wahrnehmungs- Überschneidung mit Ansätzen der Gesundheitsförderung und Deutungsmuster im Hinblick auf die jeweiligen Dimensi- und Prävention und deren Grundsatz der Partizipation und onen (Geschlecht, Herkunft, Alter usw.). des Empowerments. Während der Schwerpunkt in der ge- schlechterbezogenen Gesundheitsförderung eher auf der Um Diskriminierungen entgegenzuwirken, muss analysiert Verteilung von Belastungen und Ressourcen sowie auf der werden, welche Folgen die jeweiligen Vorstellungen für Ent- Berücksichtigung ggf. tatsächlich vorhandener biologischer scheidungen und Handlungen im Betrieb haben und wie die- Unterschiede liegt (z. B. Symptombildung bei Herzinfarkten), se sich auf die verschiedenen Gruppen auswirken. Dieser richtet Diversity den Blick auf die Werte und die Kultur eines Blick auf die Auswirkungen von Entscheidungen auf die Unternehmens als einen Faktor, der zur Diskriminierung von Gleichstellung von Frauen und Männern wird durch die poli- Personengruppen beiträgt. tische Strategie des Gender Mainstreaming forciert. Die in diesem Rahmen entwickelten Instrumente sind in der Umset- Es ist deutlich geworden, dass mit Diversity, Gender oder zung einer auf Vielfalt und Chancengleichheit gerichteten Gleichstellung auch Interessenkonflikte berührt sind. Ein An- Gesundheitsförderung und Prävention zu integrieren. Wird satz, der Diversity mit dem Schwerpunkt Gender aufgreift, der Blick um die Frage erweitert, wie sich Normalitätsvorstel- sollte es ermöglichen, (Interessen-)Konflikte in der Organisa- lungen auf die Integration bzw. Chancengleichheit auswir- tion sichtbar und damit verhandelbar zu machen. ken, stehen nicht die Eigenschaften von Gruppenmitgliedern im Vordergrund. Es geht vielmehr darum herauszuarbeiten, welche Unterschiede in der Organisation ins Feld geführt 2.2 Anerkennung und Verteilung werden, um etwa Arbeitsverteilung oder Einstellungsprakti- ken zu begründen. Auf diese Weise kann identifiziert werden, welche offenen oder verdeckten Unterscheidungskriterien Beim Diversity Management geht es also um die Anerken- zur Entstehung von Ungleichheit bzw. Diskriminierung bei- nung von unterschiedlichen Personengruppen und deren Per- tragen. spektiven, Werten, Normen und Interessen. Mit der Anerken- nung alleine ist es jedoch nicht getan. Es muss auch bedacht Dominanz- und Machtverhältnisse sind auch für die Gesund- werden, wie Ressourcen und Belastungen zwischen den heit der Betroffenen relevant. Sie beeinflussen das spezifi- Gruppen verteilt sind. sche Belastungs- und Ressourcenspektrum der Menschen in einer Organisation. So stellt beispielsweise die zwingende In punkto Geschlecht ist die rechtliche Anerkennung von Notwendigkeit zur Anpassung an die vorherrschenden Vor- Frauen und Männern in Deutschland schon recht weit gedie- stellungen eine dauerhafte Belastung dar und kann den Zu- hen. Einst bestehende gesetzliche Regelungen, die Frauen gang zu Ressourcen verstellen. Diskriminierung und man- nicht als Vertragspartnerinnen anerkannten, ihnen den Zu- gelnde Wertschätzung wirken sich außerdem negativ auf gang zu Berufen verwehrten oder sie nicht als Bürgerinnen Motivation, Arbeitszufriedenheit, Wohlbefinden und Gesund- mit Wahlrecht ausstatteten (unmittelbare Diskriminierung), heit aus (Altgeld, 2010). Damit haben Wahrnehmungs-, Deu- gehören der Vergangenheit an. Auch in Fragen der Einstel- tungs- und Unterscheidungsmuster sowohl für die Gesund- lungen und Haltungen hat sich in den vergangenen Jahr- heit der Betroffenen als auch für deren Teilhabechancen eine zehnten scheinbar einiges getan. Gleichzeitig besteht eine hohe Bedeutung. Ein zentrales Anliegen im Diversity Ma- Arbeitsteilung in Beruf und Familie zwischen den Geschlech- nagement ist es, diese Muster zu verändern bzw. zumindest tern fort, ebenso wie die unterschiedliche Bewertung der ty- die Menschen dafür zu sensibilisieren. pischerweise von Frauen und Männern verübten Tätigkeiten. 10 | iga.Report 35
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Frauen sind in Führungspositionen unterrepräsentiert und Befragungen von Diversity-Beauftragten zeigen, dass sie Di- Formen der Herabsetzung von Frauen in Form von Gering- versity oder Vielfalt mit der Anerkennung von Menschen mit schätzung, Belästigung und (sexualisierter) Gewalt sind noch unterschiedlichen Eigenschaften verbinden. Die oben skiz- nicht überwunden (vgl. Bundesministerium für Familie, Seni- zierten Ungleichheiten zwischen Frauen und Männern lassen oren, Frauen und Jugend, 2014). sich jedoch nicht auf deren Eigenschaften zurückführen – Männer können sehr wohl Kinder betreuen oder ihre Eltern Doch trotz der deutlich verbesserten rechtlichen Anerken- pflegen. Es ist die historisch gewachsene und kulturell veran- nung von Frauen als Ebenbürtige sind Ressourcen und Belas- kerte Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern, die hier tungen zwischen den Geschlechtern noch immer ungleich ins Gewicht fällt. Wer für die Sorgearbeit zu Hause zuständig verteilt. Die Teilhabechancen für Frauen im Berufsleben sind ist, ist in ihrer/seiner zeitlichen Verfügbarkeit eingeschränkt. nach wie vor eingeschränkt. Wenngleich die Übernahme der Das gilt für Männer genauso wie für Frauen. Wer also in der Sorgearbeit auch auf einem Aushandlungsprozess in der Fa- Regel keine Kinder betreuen und versorgen muss, kann sich milie, mit recht ungleichen Ausgangsbedingungen, beruht eher auf eine Anwesenheits- und Überstundenkultur einlas- und die klassischen Zuständigkeiten in der Sorgearbeit zum sen, die als Voraussetzung für Karriere gelten mag. Gleichzei- Teil aufweichen, übernehmen Frauen nach wie vor überwie- tig gilt, dass eine eingeschränkte Verfügbarkeit für Mütter gend die Sorgearbeit in der Familie. Bestehende Rollenerwar- legitim ist, Vätern dies jedoch nicht in gleicher Weise zuge- tungen an Frauen und Männer erschweren zudem einen Rol- sprochen bzw. abverlangt wird. Der dahinterstehende gesell- lentausch bzw. eine Aufweichung bestehender Muster. Für schaftliche Strukturkonflikt zwischen Familie und Beruf wird Männer ist es nach wie vor nicht in gleicher Weise legitim, durch Zuschreibungen und Geschlechterrollenerwartungen z. B. wegen familiärer Verpflichtungen Teilzeit zu arbeiten. an Frauen und Männer verdeckt. Das Praxisbeispiel „Projekt Männer wie Frauen, die Sorgearbeit verrichten, geraten in Gender/Stress“ in Abschnitt 4.4 greift die Bedeutung von Ge- ein Feld widersprüchlicher Anforderungen zwischen Erwerbs- schlechterrollenerwartungen für Männer und Frauen als Hin- und Familienarbeit, die mit gesundheitlichen Risiken verbun- dernis für gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb auf. den sind. Aber auch mit klassischen Rollenzuweisungen an Männer sind gesundheitliche Risiken verbunden, wenn diese Strategien zur Anerkennung von Vielfalt, die sich an gerech- ihnen etwa riskantes Verhalten nahelegen. teren Teilhabechancen orientiert, werden es nicht dabei be- lassen können, den Anderen oder die Andere „toll zu fin- Betriebe, die bestehende Rollenerwartungen und die Arbeits- den“. Sie zielen immer auch auf eine Umverteilung von teilung zwischen den Geschlechtern aufgreifen, leisten somit Ressourcen bzw. auf eine gerechtere Verteilung der verschie- einen erheblichen Beitrag zu deren Reproduktion (Jürgens & denen Arten von Arbeit (Erwerbsarbeit, Sorgearbeit), die mit Heiden, 2013). Es ist Aufgabe des Betriebes, entsprechend unterschiedlichen Belastungen verbunden sind. Es geht also seine Einflussmöglichkeiten zu nutzen, um Belastungen von stets auch um (Um-)Verteilung. Diese stößt jedoch selten auf Beschäftigten durch Erwerbs- und Familien- bzw. Sorgearbeit Gegenliebe. Das Diversity-Klima einer Organisation kann zu reduzieren. Die Maßnahmen sollten es der Familie ermög- durchaus positiv sein, solange nicht allzu drastisch auf Maß- lichen, freier über die Verteilung der Familien- und Sorgear- nahmen der Umverteilung (z. B. durch Quotenregelungen) beit zu entscheiden und die Vereinbarkeit von Berufs- und gedrungen wird (Köllen, 2015). Diversity Management sucht Privatleben zu erleichtern. Damit käme der Betrieb seiner nach einem akzeptablen Weg, Anerkennung und Verteilung Verantwortung als Teil der Gesellschaft nach. in der Organisation neu zu verhandeln. Es wäre also im ers- ten Schritt zu ermitteln, wie sich Frauen und Männer auf Ge- Im Diversity Management geht es also darum, auf die Ver- haltsgruppen verteilen, auf Tätigkeitsbereiche, auf Vollzeit hältnisse der einen Gruppe zur anderen Gruppe zu blicken. und Teilzeit oder auf Hierarchieebenen. Gleiches ließe sich Welche Gruppe der Beschäftigten kann eigentlich als die do- mit Blick auf andere Merkmale untersuchen, wie etwa Alter minante Gruppe gelten und wer zählt zur dominierten Grup- oder Herkunft. pe? Wie wirken sich die als normal geltenden Regeln und alltäglichen Praktiken/Prozesse materiell – z. B. in der Vertei- lung von Aufstiegschancen, beim Zugang zu Jobs, bei Entloh- nung, Belastungen, Ressourcen usw. – auf die verschiedenen Gruppen aus? iga.Report 35 | 11
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Anerkennung und Verteilung als zwei Dimensionen Gleichstellung auf Anerkennung reduziert, berge dies der Gerechtigkeit die Gefahr, z. B. unter dem Etikett der Anerkennung, Dis- kriminierungen fortzusetzen. Etwa, wenn eine frauen- Nancy Fraser (2004) plädiert dafür, Anerkennung und diskriminierende Praxis unter dem Mantel der Anerken- Verteilung immer als zwei Dimensionen der Geschlech- nung religiöser Praktiken legitimiert würde. tergerechtigkeit mitzuführen. Denn werde Vielfalt oder 2.3 Gleichstellung als Ziel – Rechtlich Bei der mittelbaren Diskriminierung geht es also um die Wir- gebotene Antidiskriminierung kung der Regeln und Verfahren. Mittelbare Diskriminierung liegt dann vor, wenn gesellschaftlich wertvolle Güter der Grundlage von Regeln und Verfahren auf systematische und Wichtiger Bezugspunkt für Diversity Management – und regelmäßige Weise zwischen den genannten Gruppen un- auch für andere Strategien der Gleichstellung – ist das Allge- gleich verteilt sind und diese Verteilung nicht durch rechtmä- meine Gleichbehandlungsgesetz (AGG). Dieses spricht expli- ßige Ziele gerechtfertigt ist. Ein möglicher Maßstab für Dis- zit ein Diskriminierungsverbot und ein Gleichstellungsgebot kriminierung ist also die soziale Ungleichheit. Wertvolle aus. Es untersagt die Benachteiligung von Menschen auf- Güter sind z. B. Einkommen, Bildung, Wohnraum, politische, grund bestimmter Merkmale. Diese sind im § 1 des AGG be- soziale und kulturelle Teilhabe oder Gesundheit. Durch wel- nannt: che Regeln, Verfahren, oder allgemeiner: Mechanismen ent- − Rasse/ethnische Herkunft steht soziale Ungleichheit? Ein Kriterium für gute Praxis ist − Geschlecht demnach, ob soziale Ungleichheit bzw. mittelbare Diskrimi- − Religion oder Weltanschauung nierung zum Thema gemacht wird. So erklärt sich beispiels- − Behinderung weise der nach wie vor bestehende Gehaltsunterschied − Alter zwischen Frauen und Männern unter anderem durch die Un- − sexuelle Identität terbewertung von Berufen, die von Frauen ausgeübt werden. Das Gesetz verlangt, eine Benachteiligung zu verhindern Grundlage einer guten Praxis für eine Vielfalt und Gender oder zu beseitigen. Es untersagt sowohl die unmittelbare als reflektierende Gesundheitsförderung und Prävention im Be- auch die mittelbare Benachteiligung. trieb ist die Berücksichtigung der Bedingungen und Mecha- nismen, die zu einer Benachteiligung führen können. Im Rah- Eine unmittelbare Benachteiligung liegt vor, „wenn eine Per- men von Beispielen guter Praxis sollte ersichtlich sein, wie son wegen eines in § 1 genannten Grundes eine weniger Organisationen überprüfen, ob Benachteiligungen bestehen günstige Behandlung erfährt, als eine andere Person in einer und was sie zum Abbau der Benachteiligungen beitragen vergleichbaren Situation erfährt, erfahren hat oder erfahren (können). würde.“ (§ 3 (1) AGG) Zudem definiert das Gesetz Belästigung als weitere unzuläs- Eine mittelbare Benachteiligung liegt vor, „wenn dem An- sige Benachteiligung: „Eine Belästigung ist eine Benachteili- schein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren gung, wenn unerwünschte Verhaltensweisen, die mit einem Personen wegen eines in § 1 genannten Grundes gegenüber in § 1 genannten Grund in Zusammenhang stehen, bezwe- anderen Personen in besonderer Weise benachteiligen kön- cken oder bewirken, dass die Würde der betreffenden Person nen (…)“ (§ 3 (2) AGG), es sei denn, die betreffenden Vor- verletzt und ein von Einschüchterungen, Anfeindungen, Er- schriften, Kriterien oder Verfahren sind durch ein rechtmäßi- niedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen gekenn- ges Ziel gerechtfertigt – und die Mittel zur Erreichung des zeichnetes Umfeld geschaffen wird.“ (§ 3 (3) AGG) Ziel sind angemessen und erforderlich. 12 | iga.Report 35
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Eine sexuelle Belästigung liegt vor, „wenn ein unerwünschtes, Ein gemeinsames Dilemma besteht in der Orientierung an sexuell bestimmtes Verhalten, wozu auch unerwünschte sexu- der vermeintlichen Unterschiedlichkeit von Frauen und Män- elle Handlungen und Aufforderungen zu diesen, sexuell be- nern (alt und jung, Menschen mit und ohne Migrationshin- stimmte körperliche Berührungen, Bemerkungen sexuellen tergrund usw.). Dieser Ansatz ist als differenztheoretischer Inhalts sowie unerwünschtes Zeigen und sichtbares Anbringen Ansatz diskutiert worden. Als gleichstellungsorientierte Stra- von pornografischen Darstellungen gehören, bezweckt oder tegie der Frauenförderung der Frauenbewegung wurde die bewirkt, dass die Würde der betreffenden Person verletzt wird, Notwendigkeit, Frauen in das Erwerbsleben oder die Politik insbesondere wenn ein von Einschüchterungen, Anfeindun- zu integrieren, mit der Besonderheit der Frauen begründet – gen, Erniedrigungen, Entwürdigungen oder Beleidigungen ge- mit ihrem weiblichen Arbeitsvermögen. Damit konnten sich kennzeichnetes Umfeld geschaffen wird.“ (§ 3 (4) AGG) Frauen historisch zwar neue Tätigkeitsfelder erschließen, gleichzeitig verfestigte dies die Vorstellung, dass Frauen und Für ein Diversity Management, das im Rahmen der Gesund- Männer grundsätzlich verschieden sind und über sich aus- heitsförderung und Prävention den gesetzlichen Anforderun- schließende Eigenschaften verfügen (Polarisierung der Ge- gen genügen will, ergeben sich folgende Leitplanken: schlechtscharaktere, Zuschreibung entgegengesetzter Eigen- − Diversity Management zielt auf Gleichstellung und schaften; Hausen, 1976). Aus heutiger Sicht weiß man, dass damit auf die Vermeidung bzw. die Beseitigung von dies zu einer Verfestigung der Arbeitsteilung zwischen den Diskriminierung. Geschlechtern beigetragen hat, die einen der Hauptmecha- − Die Zielgruppen sind nicht beliebig. Diversity nismen für die soziale Ungleichheit zwischen den Geschlech- Management muss sich mit den im AGG benannten tern darstellt. Eine an Differenzen orientierte Strategie läuft Merkmalen befassen. Dabei sind unmittelbare und Gefahr, Stereotype fortzuschreiben und eben jene Mechanis- mittelbare Benachteiligungen abzubauen. men zu reproduzieren, die zur Benachteiligung von Perso- − Handlungsfelder: Diversity Management… nengruppen führen. Ähnliches gilt für die Beschwörung der zielt auf anerkennendes Verhalten der Vielfalt unterschiedlicher Personengruppen im Diversity Ma- Organisationsmitglieder als Grundlage einer nagement. Der Rückgriff auf positive – oder negative – Ei- Vielfalt anerkennenden Kultur. genschaften einer Gruppe hat zur Folge, dass diesen der Sta- unterbindet Belästigung. tus des Anderen anhaftet. Die Identifikation von Zielgruppen, zielt auf die Identifikation und den Abbau von deren Mitgliedern bestimmte Eigenschaften zugeschrieben unmittelbar auf Geschlecht, Religion usw. werden, hat also den paradoxen Effekt, dass damit die Nor- bezogene Verhaltensweisen und Regelungen, malitätsvorstellungen eher bestärkt als reflektiert werden die die oben benannten Personengruppen (Dobusch 2015, S. 65). In der Kritik steht hier also die Zu- benachteiligen. schreibung von Eigenschaften an Personengruppen und die überprüft auch scheinbar neutrale Regeln, gleichzeitige Ausblendung der sozialen Prozesse, die an die- Vorschriften, Verfahren, Prozesse usw. auf ihre se Unterscheidungen anknüpfen und zu einer Schlechterstel- potenziell benachteiligende Wirkung und lung dieser Gruppen führen. ergreift entsprechende Maßnahmen. Gleichzeitig sind auch Ansätze, die sich ausschließlich an Gleichheit orientieren und jeden Bezug auf natürliche oder 2.4 Reflektierter Umgang mit Dilemmata kulturelle Differenzen (der Geschlechter) zur Begründung be- der Gleichstellungspolitik stehender Ungleichheit ablehnen, mit einem Dilemma kon- frontiert. Sie betonen die Herstellung von Chancengleichheit auf politische, kulturelle und soziale Teilhabe und Geltung, Aus der Geschlechterforschung ist bekannt, dass unter- z. B. über Instrumente der Quotierung und egalitäre Vertei- schiedliche Strategien, die Gleichstellung der Geschlechter lung der Sorgearbeit in der Familie. Sie orientieren sich dabei zu fördern, jeweils mit Vor- und Nachteilen behaftet sind. Sie jedoch an Bewertungsmaßstäben, denen männlich geprägte sind mit einigen Dilemmata verbunden, die es auch bei der Normen zugrunde liegen und blenden Besonderheiten weib- Umsetzung von Diversity zu beachten gilt (vgl. Knapp, 2011; licher und männlicher Sozialisation aus (Knapp, 2011). Wenn Lorber, 1999; Kutzner, 2014). für Männer noch gilt, dass sie überwiegend für die Erwerbs- iga.Report 35 | 13
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender arbeit zuständig sind, und Frauen für Erwerbsarbeit und für nicht mehr erfasst werden. Um Benachteiligungen erkennen unentgeltliche Fürsorgearbeit, dann sind die Teilhabechan- zu können, braucht es jedoch Analysen, die Ungleichheitsla- cen, Belastungen und Ressourcen ungleich verteilt. Frauen gen und Konfliktkonstellationen von Frauen und Männern und Männer haben aufgrund ihrer gesellschaftlichen Rollen- (oder anders unterschiedenen Gruppen) in den Blick nehmen zuweisungen nicht dieselben Ausgangsbedingungen, um die können. Denn die Dekonstruktion von Bedeutungen allein als neutral geltenden Anforderungen im Erwerbsleben zu ändert nichts an den strukturellen Verhältnissen, z. B. dem erfüllen. Für beide Ansätze ergibt sich auf der Handlungsebe- sog. „Gender Pay Gap“. Diese kommen dadurch zustande, ne ein Dilemma. Die Gleichbehandlung von Ungleichem dass gesellschaftliche Regeln, Praktiken und Strukturen an schreibt Ungleichheit fort und umgekehrt schreibt eine aus- der Unterscheidung Mann/Frau ansetzen und dies ganz reale schließlich über Aspekte der Differenz begründete Gleichstel- Konsequenzen hat. lungspolitik das Stigma der Abweichung fort bzw. verstärkt dieses (vgl. Knapp 2011, S. 74). Wer Gleichstellung durchsetzen will, kann also auf Gleich- wertigkeit und Gleichbehandlung nicht verzichten und muss Konstruktivistische bzw. dekonstruktivistische Ansätze gehen gleichzeitig historisch entstandene soziale Unterschiede zwi- davon aus, dass es sich bei unseren Vorstellungen von dem, schen den Geschlechtern berücksichtigen. Es geht also um was Frauen und was Männer sind, können und wollen bzw. die Realisierung von Partizipationschancen unter Berücksich- sollen, um soziale Konstruktionen handelt und nicht etwa um tigung der spezifischen Ausgangsbedingungen von Frauen Natur. In diesem Kontext steht auch der Begriff Gender. Im und Männern. Englischen unterscheidet der Begriff „Gender“ das soziale Geschlecht vom biologischen Geschlecht („Sex“). Histori- Diversity-Ansätze sind mit ähnlichen Problemen konfrontiert. sche und kulturelle Vergleiche haben gezeigt, dass Ge- Der Ansatz „Vielfalt“ unterscheidet sich zunächst dadurch, schlecht je nach historischem Zeitpunkt und Kultur anders dass er weitere Unterscheidungsmerkmale aufnimmt – zu verstanden wird und jeweils völlig andere Dinge als typisch denen die sechs Kerndimensionen (Altgeld, 2010) Alter, Ge- oder angemessen für Frauen und Männer gelten. Selbst die schlecht, Ethnie/kulturelle Herkunft, Behinderung, sexuelle Unterscheidung in ausschließlich zwei Geschlechter als Na- Orientierung und Religion/Weltanschauung zählen. Auch für turtatsache wird nicht von allen Kulturen geteilt. Forschung diese Unterscheidungen gilt, dass sie sozial konstruiert sind. zur Transsexualität hat zudem gezeigt, dass sich aus dem An die jeweiligen Unterscheidungen sind soziale Bedeutun- biologischen Geschlecht weder die sexuelle Identität noch gen gebunden, die möglicherweise mit Auf- und Abwertun- die Wahl des jeweils geliebten Geschlechtes ableiten lassen. gen, mit Vorstellungen über Kompetenzen, Motive usw. ver- Auch das soziale Geschlecht (was wir wollen, sollen, können) bunden sind und an die gesellschaftliche Regeln und leitet sich nicht aus dem biologischen Geschlecht ab. Ja Strukturen anknüpfen. Die Überlegungen Knapps weisen selbst das, was wir als Natur wahrnehmen, ist selbst stets darauf hin, dass der Gegenstand von Diversity bzw. von durch Kultur vermittelt (Butler, 2016; Laqueur, 1996). Dekon- Gleichstellungsstrategien die Beseitigung von Benachteili- struktivistische Ansätze gehen also davon aus, dass sich kei- gungen ist. ne Gruppeneigenschaften von Frauen und Männern ableiten lassen, sie lehnen die in unserer westlichen Gesellschaft ver- Relevant ist also, dass diese Personen/-gruppen, die entlang breitete Annahme der grundsätzlichen Verschiedenheit von von Merkmalen wie Geschlecht, Alter, Herkunft, Rasse/Ethnie, Frauen und Männern ab. Sie betonen die Unterschiedlichkei- Herkunft, sexuelle Orientierung usw. unterschieden werden, ten unter Männern sowie unter Frauen. Für sie gibt es nicht im Hinblick auf soziale Dimensionen wie Bildung, Einkom- „die Frau“ oder „den Mann“. Dieser Ansatz trägt dazu bei, men, Wohnraum, Gesundheit usw. auf systematische und dass sich die Bedeutungen von Mannsein oder Frausein ver- regelmäßige Weise schlechter bzw. besser gestellt werden. schieben und veränderbar sind. Gleichzeitig ist auch mit die- sem Ansatz ein Dilemma verbunden. Wenn keine verallge- Von Benachteiligung oder Diskriminierung lässt sich sprechen, meinerbaren Aussagen mehr über Frauen und Männer wenn die ungleiche Verteilung dieser „wertvollen Güter“ auf getroffen werden können, weil es potenziell unendlich viele illegitime Weise zustande kommt (vgl. Hradil, 2005). Es handelt Unterscheidungsmöglichkeiten gibt (weiße, mitteleuropäi- sich also um soziale Ungleichheit im Unterschied zur individu- sche, lesbische Frau der Mittelschicht vs. dunkelhäutige, he- ellen Ungleichheit. Im Fokus eines Handlungskonzeptes sollten terosexuelle Westafrikanerin), können Benachteiligungen somit die Mechanismen stehen, die an Unterscheidungsmerk- 14 | iga.Report 35
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Gleichheit als Politik der Antidiskriminierung Chancengleichheit Welche Regelungen, Strukturen, Verfahren führen im Ergebnis herstellen zu einer Benachteiligung? Differenzperspektive als kompensatorische Förderung Strukturell erzeugte Welche Maßnahmen können getroffen werden, um bestehende Differenzen ausgleichen Nachteile auszugleichen? Dekonstruktion als Kritik der Vereigenschaftlichung Stereotypisierung Wie können im eigenen Vorgehen Stereotypisierungen und vermeiden Zuschreibungen vermieden werden? Abbildung 1: Umgang mit Dilemmata in der Gleichstellungsarbeit male anknüpfen und über Strukturen, Regeln und Prozesse zu 2.5 Integration der Prinzipien in die einer Benachteiligung von Personengruppen führen. betriebliche Gesundheitsförderung Den Ausgangspunkt des Konzeptes stellen damit nicht die Eigenschaften von Personen dar, sondern die in der Organi- Um das Thema Diversity mit dem Schwerpunkt Gender in der sation vorherrschenden Diskurse, Deutungsmuster, Unter- betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention umset- scheidungen sowie Regeln und Strukturen, die zu einer un- zen zu können, ist es erforderlich, Ansätze auszuwählen und gleichen Verteilung von Ressourcen führen/beitragen (Böhm, zu verbinden, die eine angemessene Bearbeitung der Thema- Dwertmann & Baumgärtner, 2011). tik überhaupt ermöglichen. Denn erfolgreiche Projekte star- ten zunächst mit einem fachlich soliden Konzept, systemati- Für die Praxis lassen sich daraus drei Fragestellungen bzw. scher Planung und einer entsprechenden Rahmung (Framing) Perspektiven ableiten (vgl. Abbildung 1): des Projektes. Beispielhafte Projekte sollten daher fachliche − Gleichheitsperspektive: Welche Regelungen, Kriterien der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prä- Strukturen, Verfahren führen im Ergebnis zu einer vention sowie Erkenntnisse gleichstellungsbezogener For- Benachteiligung von Frauen oder Männern? schung integrieren. Im Folgenden wird dargelegt, anhand welcher Kriterien Beispiele guter Praxis für die Umsetzung − Differenzperspektive: Welche Maßnahmen können von Gender und Diversity in der betrieblichen Gesundheits- ergriffen werden, um bestehende Nachteile förderung und Prävention ausgewählt wurden. Dabei dien- auszugleichen? ten die Kriterien von Hayn & Jahn (2008) als Grundlage. − Dekonstruktionsperspektive: Wie können im eigenen Gleichstellungsziele formulieren Vorgehen Stereotypisierungen und Zuschreibungen Zunächst sollten Projekte, die als Beispiel für eine gute „Gen- vermieden werden? derpraxis“ Geltung beanspruchen, überhaupt Gleichstel- lungsziele verfolgen und diese auch formulieren. Die Ziele sowie das methodische Vorgehen im Projekt sollten begrün- det bzw. geschlechtertheoretisch fundiert sein. Um Ziele an- gemessen zu definieren und Interventionen zu planen, sind die Erkenntnisse aus der einschlägigen Forschung zu nutzen. iga.Report 35 | 15
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Definition Geschlechterkompetenz nisse kritisch zu reflektieren. Geschlechterkompetenz be- inhaltet darüber hinaus die Fähigkeit, das eigene Han- „Unter Kompetenzen werden allgemein Fähigkeiten ver- deln auf die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit standen, die zur Bewältigung komplexer Aufgaben erfor- auszurichten, und hat somit immer auch eine persönliche derlich sind. Im Anschluss daran kann ganz allgemein und eine politische Dimension. Wollen, Wissen und Kön- unter Geschlechterkompetenz die Fähigkeit und die Mo- nen sind demnach zentrale Elemente einer Geschlechter- tivation verstanden werden, Geschlechterzuschreibun- kompetenz.“ gen auf Grundlage des Wissens über ihre Entstehung und ihre Auswirkungen auf gesellschaftliche Machtverhält- (Kutzner 2017, S. 11) Fachlich-theoretische Fundierung Kontext berücksichtigen Im Fall der vorliegenden Fragestellung – Gender als Diversity- Der Erfolg betrieblicher Interventionen ist in erheblichem Dimension in der betrieblichen Gesundheitsförderung und Maße vom Vorhandensein betriebspolitischer Voraussetzun- Prävention – erfordert dies die Verknüpfung der Erkenntnisse gen abhängig. Fehlt beispielsweise die Unterstützung der mehrerer Disziplinen und thematischer Forschungsschwer- Führungskräfte für partizipative Verfahren, können diese Ver- punkte: Arbeit, Gesundheit und Geschlecht, Geschlechterfor- fahren kontraproduktiv wirken. Ähnliches gilt für gesund- schung, Ungleichheitsforschung usw. Diese sind mit den heitsbezogene Interventionen, die sich an Individuen richten. Standards der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prä- Soziale Unterstützung etwa ist gesundheitsfördernd, kann vention, wie systematisches Vorgehen, Beteiligung, Definiti- aber die Selbstwirksamkeit der Betroffenen untergraben, on von Zielen, Projektmanagement, Wirksamkeitsüberprü- wenn sie aus deren Sicht nicht als angemessen wahrgenom- fung usw., zu verbinden. Die Zusammenhänge und Wirk- men wird (Gunkel, Böhm & Tannheimer 2014, S. 260). Zudem mechanismen zum Themenkomplex Arbeit, Gesundheit, Ge- sind die Problemlagen der Betroffenen komplex. Häufig sind schlecht und Chancengleichheit sollten im Rahmen der Pro- in der Gesundheitsförderung und Prävention, widerstreitende jekte auch adressiert werden. Interessen abzuwägen, Kompromisse zu finden oder Lösun- gen in kleinen Schritten zu entwickeln. Es lassen sich also kei- Die betrieblichen Akteure und Akteurinnen sollten demnach ne allgemeingültigen Maßnahmen definieren, die gar rezept- den Anspruch haben bzw. sich als Ziel setzen, eine entspre- artig anzuwenden wären. Vielmehr müssen das Vorgehen und chende Geschlechterkompetenz2 aufzubauen. Dies setzt die einzelnen Maßnahmen auf den jeweiligen Kontext angepasst Bereitschaft bzw. Offenheit der Beteiligten voraus, sich da- werden. hingehend zu entwickeln. Auch im Hinblick auf Gleichstellungsziele ist Kontext eine re- Betriebliche Praxis reflektieren levante Größe. In der Geschlechterforschung wird von der Die Gestaltung und methodische Umsetzung der Projekte neuen Unordnung der Geschlechter gesprochen (Kutzner, sollte die Reflexion betrieblicher Praxis ermöglichen und die- 2003). Dies meint unter anderem, dass Frauen nicht mehr se mit Blick auf die gesetzten Ziele verändern. Denn soziale durchgängig und überall benachteiligt werden. Nicht mehr Ungleichheit bzw. Diskriminierung entsteht im Rahmen gege- alle Tätigkeiten und Arbeitsbereiche sind geschlechtlich kon- bener Strukturen und alltäglicher betrieblicher (und überbe- notiert. Neue und alte Geschlechterrollenerwartungen ste- trieblicher) Praktiken sowie in den Interaktionen beteiligter hen nebeneinander, Chancen und Risiken in der Arbeitswelt Personen. sind in Bewegung geraten. Gerade im Hinblick auf Gesund- heit sind Frauen und Männer je nach Kontext recht unter- schiedlich von Belastungen betroffen und verfügen über un- terschiedliche Ressourcen. Es gilt, diese jeweils konkret in 2 In der betrieblichen Praxis und in Leitfäden wird meist von Genderkompetenz gespro- chen, vermutlich angeleitet durch die Anforderungen des Gender Mainstreaming und den Blick zu nehmen und für Frauen und Männer gleicherma- den Übergang des Begriffes „gender“ in den allgemeinen Sprachgebrauch im Kontext von Gleichstellungsthemen. Da es im Wesentlichen um die egalitäre Gestaltung des ßen gesundheitsförderliche Lebens- und Arbeitsbedingungen Geschlechterverhältnisses und die Veränderung von Strukturzusammenhängen sowie sozialer Prozesse geht, wird in diesem Report von Geschlechterkompetenz gesprochen. herzustellen. Kontext zu berücksichtigen bedeutet auch, z. B. 16 | iga.Report 35
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Probleme aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten Ressourcen. Wenn es nun darum geht, die gesundheitsbezo- und die jeweiligen Bedürfnisse, Anforderungen und Voraus- gene Chancengleichheit herzustellen, ist die systematische setzungen angemessen zu berücksichtigen. Die Ziele müssen Verteilung von Belastungen und Ressourcen in den Blick zu also jeweils konkretisiert werden und entsprechend der je- nehmen. weiligen Situation präzisiert werden bzw. in Maßnahmen übersetzt werden. Hierfür ist die Beteiligung der Betroffenen In der Arbeitssicherheit und im Gesundheitsschutz stehen die erforderlich. Tätigkeit und die mit ihr verbundenen Belastungen und Be- dingungen ihrer Ausübung im Vordergrund. Aus der Ge- Partizipation schlechterforschung ist bekannt, dass Frauen und Männer oft Partizipation ist eines der zentralen Kriterien der Gesund- unterschiedliche Tätigkeiten verrichten und somit unter- heitsförderung. Sie ist im Setting-Ansatz der Weltgesund- schiedlichen Risiken ausgesetzt sind. Ähnliches gilt für die heitsorganisation WHO zugrunde gelegt und aus der Perspek- Verteilung von Ressourcen. Auch für die Berücksichtigung von tive der gesundheitsfördernden Organisationsentwicklung ethnischer Herkunft/Migration als ein mögliches Diskriminie- unverzichtbar. Sie ist ein entscheidendes Mittel, um die Inter- rungsmerkmal ist die Fokussierung auf folgende Fragen hilf- essen und Bedürfnisse der Beteiligten und Betroffenen zu er- reich: Welche Belastungen sind beispielsweise mit Migration mitteln und um in einen Aushandlungsprozess über mögliche verbunden? Welche Ressourcen entfallen im Zuge eines Mig- Lösungsansätze zu treten. Ohne Partizipation lässt sich zu- rationsprozesses (Pieck & Schröder, 2014)? Welche Belastun- dem das oben angegebene Kriterium der Kontextsensitivität gen entstehen durch Formen der Belästigung, denen Men- nicht realisieren. Aus der Diversity-Perspektive ermöglichen schen ausgesetzt sind, die als fremd oder anders wahr- es partizipative Verfahren, verschiedene Perspektiven und genommen werden? Die Standards der Gesundheitsförde- neue Ideen in Arbeits- und Gestaltungsprozesse einzubringen rung und Prävention lassen sich über den Blick auf die Vertei- (Kutzner 2010, S. 35). lung von Belastungen und Ressourcen also gut mit einer Gender-Diversity-Perspektive verbinden (vgl. Abbildung 2). Konstellationen von Belastungen und Ressourcen Um die oben definierten Kriterien anwenden bzw. umsetzen zu können, sind diese mit den Anforderungen an die fachlich und rechtlich gebotenen Grundsätze der betrieblichen Ge- sundheitsförderung und Prävention zu verbinden und in ein betriebliches Interventionskonzept zu übersetzen (zum strate- gischen Framing vgl. Verloo, 2001). Zur Verbindung von Ge- sundheitsförderung und Prävention mit Gender bzw. hin zu einer geschlechtergerechten Gestaltung von Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz existieren bereits zahlreiche Vorarbei- ten, auf denen im Folgenden aufgebaut werden kann (Niel- bock & Gümbel, 2013; Weg, 2012; Pieck, 2013; Pieck & Schrö- der, 2014; Weg & Stolz-Willig, 2014; Ducki, 2011, 2000; Kutzner, 2016). In der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention ist die Verteilung von Belastungen und Ressourcen ein zent- raler Ansatzpunkt für den Schutz und die Förderung der Ge- sundheit. Fehlbelastungen und daraus resultierende negative Beanspruchungsfolgen sollen möglichst vermieden werden. Gesundheitsförderung und Prävention im Betrieb zielen auf die Reduktion von (Fehl-)Belastungen. Gleichzeitig sind Res- sourcen elementar für die Bewältigung von Anforderungen und zum Erhalt bzw. zur Förderung von Gesundheit. Insbe- sondere die Gesundheitsförderung zielt auf die Stärkung von iga.Report 35 | 17
Gesundheitliche Chancengleichheit im Betrieb: Schwerpunkt Gender Gleichstellungsziele formulieren Soziale Ungleichheit Rechtliche Grundlagen adressieren Anerkennung & Verteilung im Blick behalten: Gerechte Verteilung von Belastungen & Ressourcen Begründetes, theoriebasiertes Vorgehen Fachlich fundiertes Konzept erarbeiten Reflexion betrieblicher Praxis Partizipativ vorgehen Chancengleichheit Strukturell erzeugte Stereotypisierung herstellen Differenzen ausgleichen vermeiden Abbildung 2: Kriterien für die Umsetzung von Gender und Vielfalt in der Gesundheitsförderung und Prävention im Betrieb 3 Gender als Diversity-Dimension in der betrieblichen Gesundheitsförderung und Prävention Um Gender als Diversity-Dimension in der betrieblichen Ge- umzusetzen und auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen, sind sundheitsförderung und Prävention verankern zu können, mögliche Anknüpfungspunkte an den Ansatz einer ressour- müssen die oben beschriebenen Leitlinien mit den Handlungs- cenorientierten Gesundheitsförderung sichtbarer geworden. leitlinien der Arbeitssicherheit, des Gesundheitsschutzes sowie Im Folgenden wird ein Ansatz (Pieck, 2013) zugrunde gelegt, der betrieblichen Gesundheitsförderung verknüpft werden. der sich an der gesundheitsförderlichen Organisationsent- Gegenstand der Arbeitssicherheit und des Gesundheitsschut- wicklung (Faller, 2012) orientiert. Dieser geht grundsätzlich zes im Betrieb ist u. a. die menschengerechte Gestaltung von davon aus, dass Gesundheit im Betrieb durch zwei voneinan- Arbeit. Diese muss im Betrieb in systematischer Weise verfolgt der unabhängige Faktoren beeinflusst wird: Belastungen und werden (ArbschG § 2). Der ganzheitliche Ansatz des Arbeits- Ressourcen. Der Fokus des Ansatzes liegt entsprechend der schutzgesetzes von 1996 wurde mit der Novellierung von verfügbaren Modelle zum Zusammenhang von Arbeit und 2013 durch die explizite Benennung der psychischen Belastun- Gesundheit (Richter, Buruck, Nebel & Wolf, 2011) auf der För- gen gestärkt. Mit der nun expliziten Anforderung, auch psychi- derung von Ressourcen und der Reduktion von Belastungen, sche bzw. psychosoziale Aspekte der Arbeit in die Gefähr- wie er in der Fachliteratur empfohlen wird (Badura, Hehl- dungsbeurteilung aufzunehmen, Maßnahmen zu entwickeln, mann & Walter, 2010; Faller, 2012; EU-OSHA, 2006). 18 | iga.Report 35
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