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THOMAS STRAUBHAAR STAR-ÖKONOM Seite 10 FORDERT GRUNDEINKOMMEN Nr. 4 l 2021 Magazin Büro auf 1805 m Annina Coradi (36) hat ihren Arbeitsplatz in die Berge verlegt. Immer mehr tun es ihr gleich. Hat das Zukunft? Seiten 4–8
4 Thema MAGAZIN 31. Januar 2021 5 Die Stadtzürcherin Diese Aussicht Annina Coradi in kann ihr der ihrem Homeoffice Kreis 4 nicht in Pontresina. bieten. Innovationsexpertin Annina Coradi (36) stammt aus der Stadt Zürich – im Moment arbeitet sie in einer kleinen Wohnung in Pontresina GR. Ihre Arbeits- zeiten bestimmen die Temperaturen und das Wetter in der Natur. Wer Annina Coradi verstehen will, wenn sie über Pontresina die verschneite Landschaft des En- ihre Tätigkeitsfelder und ihr Leben spricht, gadins geniessen. Ihre Arbeitszeit richtet muss Englisch können. In ihrer Welt spricht sich nach den Temperaturen und dem Wet- man von «progress» anstelle von Fortschritt, ter. «Am Morgen ist es eiskalt draussen – man will die Natur als Kreativ-Ort «pushen», ich beginne früh mit der Arbeit.» Wenn arbeitet in «work sessions» sich am Mittag die Sonne zeigt, und hat eine kosmopolitische Denkweise: ein «cosmopolitan «Ich hoffe, dass geht sie langlaufen und nimmt es am Nachmittag gemütlich. mindset». Die 36-jährige Innovations Corona Stadt «Dafür arbeite ich auch mal bis in die Nacht. Oder grabe mich expertin aus dem Zürcher Kreis 4 führt unter anderem ein und Land bei schlechtem Wetter mit mei- nen Projekten ein.» Start-up, das Firmen in Zusam- zusammen- Vor dem Lockdown war ihr schweisst» menhang mit «New Work» be- Office ein halbes Jahr in Neu- rät. Wie werden wir in Zukunft seeland stationiert. Dort hat arbeiten? An welchen Orten? In die erfahrene Bergsteigerin den welchen Räumen? Das sind Fragen, mit denen Mount Aspiring bestiegen, das «Matterhorn sich ihre Disziplin beschäftigt. Coradi promovier- Neuseelands». Arbeit und Freizeit verschmelzen te an der ETH in Technologie- und Innovations bei ihr. «Ich weiss oft gar nicht, was für ein management. In ihrer Doktorarbeit befasste Wochentag gerade ist.» sie sich mit der Frage, wie sich Architektur Coradi hofft, dass Corona Stadt und Land in auf die Kreativität auswirkt. der Schweiz zusammenschweisst. Nicht zuletzt Im Video-Interview trägt Coradi eine Woll- weil das Menschen, die neue Arbeits- und mütze, ein weisses T-Shirt und eine Brille mit Lebensmodelle suchen, zugutekäme. Die Bevöl- durchsichtigem Rahmen. «Mein Homeoffice ist kerung in urban und rural zu kategorisieren – Tapetenwechsel saisonal bestimmt», sagt sie. Jetzt, im Hoch- das habe sie schon vor Corona als ein Auslauf winter, könne sie dank ihrer kleinen Wohnung in modell empfunden. Wenn sie nach einer Woche im 2000-Einwohner-Dorf Pontresina wieder im lebendi- gen, multikulturellen Kreis 4 an- kommt, geniesst sie das genau- so, wie wenn sie wieder in die Berge zurückkehre. Die Über- schneidung von Arbeit und Freizeit mache es manchmal schwierig, Grenzen zu set- zen. «Die Natur hilft mir, abzu- schalten. Hier oben atme ich Corona lässt Städterinnen und Städter von den Bergen als Arb eitsort und kristallklare Luft und habe Raum zum Denken.» l Kraftquelle träumen. Wir haben mit drei Profis des alpinen Ho meoffice über Vor- und Nachteile des ländlichen Bürolebens gesproch en. Das moderne Gebäude aus Sichtbeton passt zu Coradis Lifestyle. JONAS DREYFUS (TEXT) UND THOMAS MEIER (FOTOS)
6 Thema MAGAZIN 31. Januar 2021 7 D er Berg ruft – und seit Anstelle von Flugzeug- Corona hallt seine Stim- schnuppert Finanz berater Baruffol seit me bis ins Flachland. Corona Bergluft. Seitdem das Arbeiten von zu Hause aus Pflicht ist, träumen viele Städter erst recht von einem Tapetenwechsel. Schon ist von einer Landflucht die Rede, vom Bergdorf als Kreativ- Hub und der Stadt als Ort, den man aufsucht, um mal wieder weniger Kühe und mehr Menschen zu se- hen. Möglich wäre dieses Szenario. Das Breitband-Internet im Engadin kann es mit jenem von Zürich, Ba- sel und Bern aufnehmen. Und: Vie- le Schweizerinnen und Schweizer haben gelernt, wie gut sich die meisten physischen Treffen mit Hil- fe von Zoom und Co. ersetzen las- sen, solange die Verbindung mit- macht. Städtern, die sich Wird uns die Klimaerwärmung im Homeoffice-Exil in die Berge treiben? befanden. Im Winter stehen in den Pausen Utopisch gedacht könnte das be- Spaziergänge mit dem deuten, dass Schweizer Städter Hund an, dem Austra- eines Tages im Sommer aufgrund lischen Labradoodle hoher Temperaturen in Ferienorte Shelby. in der Höhe übersiedeln. Vergleich- Wenn es um die bar mit den gut betuchten New Yor- Infrastruktur in Davos kern, die im Winter vor der Kälte geht, die nicht zuletzt nach Miami flüchten. dem WEF zu verdan- Die Bergregionen würde es freu- ken ist, wirkt Baruffol en. Sie tun schon jetzt alles, um wie ein PR-Verant- eine neue Zielgruppe zu errei- wortlicher des Touris- chen: Menschen, denen die Decke musbüros: Er habe auf den Kopf zu fallen droht. Selbst hier das schnellere Hotels in 700-Seelen-Dörfern wie Breitband-Internet Bürchen VS werben mit Slogans als seine Kollegen wie: «Arbeiten in der wunderschö- in der Londoner nen Oberwalliser Bergwelt inklu- Reto Baruffol (56) arbeitet seit dem ersten City, gehe beim bes- sive Freeflow-Kaffee und WiFi.» Lockdown im Homeoffice in seiner Ferien- Baruffols ten Metzger einkaufen, Pascal Jenny, Kurdirektor von Aro- Feriendomizil/ den man sich vorstel- sa und Lenzerheide GR, sagte ge- wohnung in Davos GR. Vor Corona war der Arbeitsort in Er engagiert sich len könne. Der chinesi- genüber der «Aargauer Zeitung», Anlageberater die ganze Zeit am Reisen. Davos von für weniger kalte sche Take-away sei er glaube, dass Homeoffice mittel- aussen. Wenn er im Moment unterwegs ist, knirscht Betten in der Bergregion. top, und das Brotvon fristig 10 bis 15 Prozent zur ge- unter seinen Füssen der Schnee. seinem Bäcker habe Preise gewonnen. Wir sprechen mit ihm über den Sommer haben sie hier ihre Lerngrüppchen Ganz aufs urbane Leben zu verzichten, das Kanal, mit dem er seit neun gehabt. In der Freizeit gingen sie baden. Jetzt, kann sich Baruffol aber nicht vorstellen. Beste- Monaten mit Menschen auf der im Winter, spielen sie Hockey.» hende Beziehungen aufrechtzuerhalten, das sei ganzen Welt in Kontakt ist: Bis vor Ausbruch der Pandemie flog Baruffol, über digitale Kanäle aus dem Homeoffice in den Video. Reto Baruffol, Anlagebe- der in Kilchberg aufwuchs, wöchentlich nach Bergen heraus möglich. Doch um neue auf rater für eine amerikanische London oder Frankfurt. Regel- zubauen oder eine Beziehung Firma mit einer Niederlassung beim Zürcher Paradeplatz, sitzt mässig auch nach Chicago. Seine Reisetätigkeit habe sehr «Meinen Bart richtig zu pflegen, müsse man sich ab und zu physisch treffen. im Büro seiner Ferienwohnung am Davosersee. Im Hintergrund viel Zeit in Anspruch genom- lasse ich nur in men, die er nicht immer s innvoll «Dafür bietet sich die Stadt an.» Er könnte sich gut vorstel- Coradi setzt sich als hängt ein Bild der alten Tal station der Parsennbahn, auf nutzen konnte. «Heute sitze ich zum Teil schon um 7 Uhr mor- Davos stutzen» len, nach Corona zu einem Hybrid-Modell überzugehen: Innovationsexpertin mit alternativen einem Sideboard stehen goldene Figürchen in Baruffol die meiste Zeit im Homeoffice in den gens im Homeoffice und bin produktiv. Ich einige Tage in Zürich im Grossraum-, einige Arbeitsformen Form von Hirschen, auf dem Sofa im Hinter- Bergen. Manchmal stösst seine Frau, Gemeinde arbeite viel mehr als vorher und bin trotzdem Tage in Davos im Heimbüro. «Meinen Bart auseinander. grund liegt ein Lammfell. Alpine Chic nennt rätin in Kilchberg ZH, für ein paar Tage hinzu entspannter.» werde ich aber nach wie vor hier oben im man diesen Stil. Der 56-Jährige trägt einen oder «die Jungmannschaft», wie er seine drei Warum? «Weil ich ungestört bin und mitten in Barber-Shop stutzen lassen.» l Bart. «Den habe ich mir aber nicht erst seit Kinder nennt. Er hat zwei Töchter und einen der Natur stehe, sobald ich das Haus verlasse.» samten Wertschätzung beitragen dem Lockdown wachsen lassen.» Sohn, die sich in Ausbildung befinden. «Im Im Sommer packte er über Mittag ein Pick- könnte. Seit in der Schweiz Mitte März die ausser nick in den Rucksack, das er auf der Alp Für Annina Coradi (36), die uns ordentliche Lage ausgerufen wurde, arbeitet verzehrte, oder grillierte abends mit anderen über ihr Leben als «Digital Nomad» Auskunft gab, sind neue Arbeitsfor- men nichts Neues. Ihr Büro ist dort, Schon ist von einer Landflucht die Rede, vom Bergdorf als Kreativ-Hub wo sie ihren Laptop einstecken kann. Den zweiten Lockdown ver- bringt die Zürcherin nun in ihrer
8 Thema Jill Oppliger kleinen Wohnung in Pontresina im Corona-Exil GR. 2015 initiierte die Innovations- in Langwies bei Arosa. expertin mit Kollegen einen Co- Working-Space in Zermatt VS. Heute steht in jedem Bergort, der etwas auf sich hält, eine solche Bü- rogemeinschaft. Digitale Nomaden können dort für einen Tag ihr «Büro» einrichten und sich mit ih- resgleichen austauschen. Das Engadin ist ein Treffpunkt für digitale Nomaden Gerade entwickelt Coradi ein Be- gegnungs- und Innovationszent- rum am Inn in La Punt GR. Auftrag- geber ist Mia Engiadina. Die Pro- jektgemeinschaft treibt seit Jahren die Digitalisierung im Engadin vo- ran. Deshalb ist das Tal einer der Jill Oppliger (38) ist virtuelle Assistentin. Vor Ausbruch der Pandemie war ihr Orte, der jetzt am meisten «Heim- Homeoffice mal in Bali, mal in Lettland stationiert, jetzt arbeitet sie bei ihren Eltern arbeiter» anzieht. in Graubünden. Ihr Vater hilft ihr bei den Erklärvideos, die sie anfertigen muss. Finanzberater Reto Baruffol (56) kennt das Homeoffice-Dasein erst Dass Jill Oppliger vor Corona vorübergehend auf ter pendelt zwischen den beiden Bündner Ort- seit Corona. Der Zürcher sieht in Bali und Ibiza arbeitete, ist nachvollziehbar. Aber schaften hin und her. Oppligers Freund ist der neuen Arbeitsform eine Chan- zehn Tage im lettischen Riga – wird das nicht Servicetechniker und arbeitet schweizweit – ihr ce für sein geliebtes Davos. Als Vor- langweilig? «Ich war ja nicht dort, um Ferien Lebensstil lässt sich gut mit seinem vereinen. standsmitglied des Vereins der dor- zu machen», sagt sie und lacht. Dass sie, Als wir sie per Video-Chat erreichen, sitzt Op- tigen Zweitwohnungsbesitzer setzt um zu arbeiten, regelmässig ihre Heimbasis in pliger gerade im Homeoffice, einem Arvenstübli er sich für die Entwicklung rund Greifensee ZH weit hinter sich liess, hatte auch im Haus ihres Vaters, und kann durchs Fenster um sein Feriendomizil ein. Dazu Kostengründe. «Schon allein das Erzhorn betrachten. Er war gehört das Bestreben, den viel dis- Essen, Freizeit – all die Dinge, die man neben dem Job macht «Seit Corona vor seiner Pensionierung als Re- gisseur und Drehbuchautor tä- kutierten kalten Betten in den Win- tersportorten entgegenzuwirken. – sind in der Schweiz nun ein- mal sehr teuer.» sehe ich meine tig und hilft seiner Tochter, wenn sie für ihren Job Erklär Den Angehörigen der Babyboomer- Oppliger hat einen kaufmän- nischen Hintergrund und einen Eltern wieder videos aufnehmen muss. Das macht sie nach neun Uhr eidgenössischen Fachausweis als Direktionsassistentin. Seit öfter» abends, wenn es in Langwies mucksmäuschenstill ist. Februar 2019 ist sie als virtuelle Assistentin tä- In Greifensee wohnt sie in einem sieben tig. Sie macht alles, was eine «normale» Assis- stöckigen Block genau in der Mitte. «Es ist ein tentin auch macht, einfach nicht vor Ort in einem altes Gebäude – ich kriege von oben und unten Büro und nicht nur für einen Arbeitgeber, son- viel mit und höre im Treppenhaus den Lift rum- dern für mehrere. Wenn jemand sie braucht, wird peln.» Vor ihrem Balkon liegt der Spiel- Oppliger für spezifische Aufgaben engagiert. platz, und im Sommer ist immer jemand Reto Baruffols Virtuelle Assistenten seien in den USA sehr am Rasenmähen. «In dieser Umgebung Labradoodle Shelby erhält in Davos verbreitet, sagt sie. Auch in der Schweiz würden kann ich mich überhaupt nicht konzentrie- viel Zuwendung. immer mehr KMU ihre Dienste in Anspruch ren.» Vor Corona arbeitete sie oft im Zug. «Ich nehmen, weil sie sich keine fixe Assistenten wählte die längsten Strecken, fuhr zum Beispiel mehr leisten wollen. Jetzt, wo wegen Corona nach Lausanne und sah mir über Mittag die Generation – Baruffol selbst gehört alle plötzlich merken würden, wie gut Kommu- Stadt an. Im Moment verwende ich mein GA zu ihnen – möchte er das Home nikation via Video-Chat funktioniere, steige bei nur noch, um von A nach B zu kommen.» l office in den Bergen schmackhaft ihr die Nachfrage. «Gleichzei- machen. «Sie befinden sich in der tig ist es vielen Kunden letzten Phase ihrer Karriere und seit Ausbruch der Pande- können sich jetzt schon einmal mit mie-Zeiten wieder wichti- einem steuerlich attraktiven Ort ger, mich ab und zu auch vertraut machen, an dem sie später persönlich zu treffen, so- – hoffe ich – ihre Pensionierung fern es die Umstände zulas- verbringen wollen.» sen.» Für Schweizerinnen und Schwei- Ja, das Reisen vermisse sie zer, die beruflich oder aus familiä- sehr, sagt Oppliger. Dafür hat ren Gründen an einen Ort gebun- Corona bewirkt, dass sie ihre den sind, mögen sich die Gedan- Eltern wieder öfters sieht. kenexperimente von flexiblen Be- Mutter und Vater wohnen rufscracks zynisch anhören. Auch 40 Autominuten voneinander finanziell muss man sich Nomaden- entfernt in Churwalden GR in tum erst mal leisten können. Wer der Region Lenzerheide und in seinen Alltag jetzt im eingenebel- Langwies bei Arosa. Ihre Toch- ten Unterland im Homeoffice ver- bringt und keine Möglichkeit hat, abzuhauen, für den bleiben die Berge auch in Zukunft ein Sehn- Die virtuelle Assistenin hat ihr Büro bei suchtsort. Aber nicht um zu arbei- ihrem Vater eingerichet. ten, sondern für Ferien. l
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