Medeas Klänge vs. Hupkonzerte - Norient

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Medeas Klänge vs. Hupkonzerte - Norient
Medeas Klänge vs. Hupkonzerte | norient.com                             8 Mar 2022 21:43:50

    Medeas Klänge vs.
    Hupkonzerte
    by Eckehard Pistrick

    Zwei neue Alben zeigen zwei vollkommen unterschiedliche
    Bearbeitungsformen von Soundscape-Aufnahmen. Auf der
    CD Cosmopolitan Jazz porträtiert der Musikethnologe und
    Soundscape-Übervater Steven Feld ein Orchester aus
    Minibus-Hupen in Accra. Die jüngere Generation arbeitet
    eher klangkünstlerisch: Das Soundwalk Collective vermischt
    in Medea flüchtige und ewige Sounds von den
    Schwarzmeerküsten. Beide Projekte laden ein zum
    akustischen Mitflanieren.
    Wer mit geschlossenen Augen durch seine Stadt geht, kann sie nicht durch
    ihre visuellen Reize sondern durch seinen Gehörsinn erkunden. Sakrale Räume
    – profane Räume, Modernes und Traditionelles, Intimität und Öffentlichkeit
    aber auch Klangbrüche kann man hören. Klang wird so zum Spiegel von
    Raum, Zeit und Veränderungen.

    Dieses Konzept haben die Forscher der soundscape studies eingeführt. Einer
    der Ersten war der amerikanische Musikethnologe Steven Feld, der heute
    isoliert in der Wüste von New Mexico lebt. Junge Künstler wie das Soundwalk
    Collective aus New York eifern ihm nach: Sie haben schon das Leere Viertel
    der arabischen Wüste bereist und Martin Heidegger in die Urwälder

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Medeas Klänge vs. Hupkonzerte | norient.com                               8 Mar 2022 21:43:50

    Bessarabiens versetzt. Sie haben die Schamanen im peruanischen Regenwald
    mit halluzinogenen Klängen begleitet oder sounds für die neue
    Modekollektion von Chanel entworfen (Making-of-Video hier). Das
    Soundwalk Collective weiss wie man die Leere, das Unfassbare in Klang
    giesst.

    Ihre Arbeit gleicht der von Bildhauern die ihre Skulpturen in minutiöser
    Kleinarbeit aus dem Fels arbeiten: sie schleifen, verdichten, brechen, feilen
    und polieren bis das Klangkunstwerk steht. Um die Leere jenseits
    geographischer oder kultureller Grenzen geht es auch in ihrem neuen Projekt
    Medea. Es handelt sich um eine Art akustisches Tagebuch vom Rand des
    Schwarzen Meers-Türkei, Georgien, Russland, Krim, Ukraine, Rumänien und
    Bulgarien. Bei den Radiowellen, Klangsplittern, dem ätherischen Rauschen
    und Kratzen schwingen hier immer auch historische Konnotationen, ja

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    unterschiedliche Bedeutungsschichten mit. Es geht vor allem um das
    Ausdeuten von Leere. Es geht um Bedeutungsloses und Bedeutungsvolles;
    um Flüchtiges und Ewiges:

              Zu behaupten, dass wir uns über das Schwarze Meer
              bewegen, ist eine relative Wahrheit. Ein Soundwalk
              vollzieht sich auf einer flachen weiten Oberfläche auf der
              Radiowellen frei schweben. Eine Matrix. Es gibt keine
              Einsamkeit. Wir sehen niemanden, trotzdem greifen wir
              unbedeutende, ernste, flüchtige Botschaften von
              tausenden von Männern und Frauen auf, deren Wege sich
              begegnen oder die sich voneinander entfernen. Wir
              nehmen die Gesamtheit von Worten auf und klassifizieren
              sie. Diese Wellen haben einen Körper, der sich in farbigen
              Kurven auf unseren Computerbildschirm niederschlägt,
              und wir komponieren ihn mit einer ausgefeilten Software.
              Wir machen eine Sinfonie daraus, eine
              Klanganthropologie.

    Arthur Larrue im Begleittext zu «Medea-Collection from the Black Sea»

    Dabei hat ihr Ansatz nichts mit Ethnologie zu tun – es ist die Dokumentation
    eines «Sich Verlierens» – im Fremden, im Mystischen, im Schönen. Der
    Aufwand dahinter verblüfft: auf einem Schoner reisten die fünf jungen
    Künstler um Stephan Crasneanscki in anderthalb Monaten auf dem
    Schwarzen Meer - ausgerüstet mit hochsensiblen Sound Scannern,
    Mikrophonen und Antennen. Am Rand des Meeres laden sie zu sound parties
    in lokalen Klubs, dinieren mit dem georgischen Präsidenten im Luxushotel,
    landen in türkischen Nachtklubs – lauschen einem türkischer Fischer eine
    vereinsamte Oboen-Melodie ab oder lassen sich von einer abgewrackten
    rumänischen Diva zur Aufnahme in ihre Luxuslimousine laden.

    Track nicht mehr verfügbar.

    Letztlich geht es um den alten romantischen Topos vom Meer ohne Anfang
    und Ende. Zusammen mit einer Art poetischem Bordtagebuch und flüchtigen
    aber unheilschwangeren schwarz-weiss Fotografien von Stephan
    Crasneanscki bietet die 45 minütige CD eine Art Gesamtkunstwerk, dass
    auch als solches zu hören ist: von der ersten bis zur letzten Minute – mit
    angehaltenem Atem.

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    Das Ergebnis ist ein postmoderner hochsensibler Remix – auch wenn das
    Resumé der Reise für die Künstler selbst ernüchternd ausfällt:

              Wir fanden keinen Klang weder für Medea, noch für das
              Schwarze Meer – nur Russen auf Urlaub, die über das
              Weisse Meer sprachen…

    Ganz anders präsentiert sich ein Soundwalk von Steven Feld durch Accra,
    Ghanas pulsierende Hauptstadt. Hier ist ein dezidiert ethnologisches
    Interesse an Performances am Werk: man sucht nach dem besonderen Klang.
    Höhepunkt in dieser Hinsicht ist «La Drivers Union Por Por Group» ein
    Orchester aus den Fahrzeughupen von Minibussen: Por por ist ein Mini-Horn
    mit einem luftgefüllten Gummiball. Steven Feld entdeckte diese Gruppe
    2002, filmte sie und machte Aufnahmen: Das nachhörbare Ergebnis ist ein
    ohrenbetäubendes musikalisches Spektakel. In einem anderen Stück greifen
    lokale Xylophon Spieler die rhythmischen Muster quakender Frösche auf und
    machen sie zu Musik. Egal ob atemberaubende Solos lokaler Jazz Musiker,
    Händels Halleluja, Totenklagen oder ein Froschkonzert des bufo regularis –
    alles verschmilzt in einem kosmopolitischen Kosmos, bei dem die Inspiration
    stets über der Kommerzialität steht.

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    Aus allen Aufnahmen spricht eine unbändige Lebensfreude und wie beim
    soundwalk collective eine aussergewöhnliche Sensibilität des akustischen
    Beobachtens. Auch der Wissenschaftler selbst greift ins Geschehen ein, als
    Bass Spieler und Arrangeur. Er bleibt also nicht aussen vor sondern wird Teil
    des Geschehens. Genau dieser Ansatz war seit seinem ersten
    bahnbrechenden Werk «Sound and Sentiment: Birds, Weeping, Poetics, and
    Song in Kaluli expression» (1982) über Jahre die Philosophie von Feld – er gab
    seinen «Informanten» Mikrophone und Fotoapparate in die Hand und liess
    sich die Welt von Ihnen erklären. (siehe Norient-Post Zwischen Krach und
    Stille)

    Auf Steven Feld's VoxLox Label erschienen Sampler «Jazz Cosmopolitanism
    in Accra» hört man auch die Jazz Affinität von Feld heraus – Jazz ist trotzdem
    bei weitem nicht alles was auf der CD zu hören ist – kreativ ist es allemal. Es
    ist eine Art Vermächtnis einer Zusammenarbeit zwischen lokalen Musikern
    und einem Musikethnologen, der 5 Jahre in Ghana gelebt und gearbeitet hat.

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    Stephan Crasneanscki (Fotos)/Arthur Larrue (Text). 2012. Soundwalk
    Collective. Medea-Collection from the Black Sea. Mit Audio-CD. Dis
    Voir/ZagZig Series Paris. ISBN 978-2-914563-66-6

    Steven Feld. 2009-2012. Jazz Cosmopolitanism in Accra. Companion Audio-
    CD/DVD Trilogie. VoxLox Records. + Jazz Cosmopolitanism in Accra: Five
    Musical Years in Ghana, Duke University Press Books, ISBN 082231625.

    → Published on November 06, 2012

    → Last updated on July 08, 2020

    Eckehard Pistrick is currently substitute Juniorprofessor at the Institute for
    European Ethnomusicology at the University of Cologne. He has published
    extensively on Southeast European music and on issues of music and migration
    including Performing Nostalgia-Migration Culture and Creativity in South Albania
    (Ashgate, 2015). He has co-directed two documentary films and has collaborated
    with the Soundwalk Collective for a project on the rehabilitation of the Radio Tirana
    Sound Archives.

    → Topics

           Ethnomusicology
                 Place
                Sound
              Soundscape
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