Mixed reality adventures - Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)

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Mixed reality adventures - Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)
Laboratory for Art, Work and Techhnology
    Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)                                         artec Lab   paper 7
    28359 Bremen

                                                                        adventures
                                                                        mixed reality

                        Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)

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Mixed reality adventures - Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)
Impressum

    artecLab paper 7

    Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.), mixed reality adventures

    Laboratory for Art, Work and Technology
    Universität Bremen
    Enrique-Schmidt-Straße 7 (SFG)
    D-28359 Bremen
    www.arteclab.uni-bremen.de/publications/paper

    Redaktion: Bernd Robben

    ISSN 1860-9953
    Copyright © artecLab-paper, Bremen
    Satz und Herstellung im Eigenverlag

2   Bremen 2005
Mixed reality adventures - Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews (Hg.)
Bernd Robben
                   Ralf Streibl
                   Alfred Tews

Mixed Reality Adventures

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mira         das ist der Befehl zum Schauen, die Auf-
             forderung das Sehen zu sehen, von einem
festen oder von verschiedenen Standpunkten aus. Oder
                                                            Unter dem Motto „mira“ und der Überschrift „Mixed Rea-
                                                            lity Adventures“ fand in Bremen im Oktorber ein Sympo-
                                                            sium statt, das eine Film- und Vortragsreihe im Kino 46
von nirgendwo?                                              und eine aufwändige Cave-Installation im Lichthaus am

mira         das ist das Wunder des Bildes, in einem        Pier 2 umfasste. Cave steht dabei für Höhle, aber auch
             medialen Raum etwas zu sehen, was dort         für „Computer Animated Virtual Environment“.
nicht ist, an dem man sich nie satt sehen kann.                Wir dokumentieren die Vorträge des Symposiums, die
                                                            sich mit dem Thema von Schein und Wirklichkeit in den
mira         das ist die Schaulust. Wer sie befriedigen
             will, geht in die Höhle der Felsmalereien,
der Theaterhäuser, der Kinos oder der imaginären 3D-
                                                            unterschiedlichen Medien des Theaters, des Kinos und
                                                            in Mixed Reality Installationen auseinander setzten.
Welten.                                                     Alle Vortragsmanuskripte wurden nur hier und da um
                                                            Literaturangaben ergänzt, aber nur wenig verändert. Sie
mira         das ist das einmalige Erlebnis des gemeinsa-
             men Sehens gehörter Bilder in einer Umge-
bung der Finsternis, eine Zumutung für die Sinne im
                                                            haben also eher den Stil einer mündlichen Rede als den
                                                            eines schriftlichen Textes. Zum Teil haben wir auch die
                                                            anschließenden Diskussionen dokumentiert, wenn sie
Hörspiel.
                                                            inhaltlich neue Aspekte beigetragen haben.

mira         das ist Theorie, also Einsicht, aber auch
             Show, also ein Symposion, mit anderen
Worten ein sinnliches Gelage mit Sinn.
                                                            Bremen, August 2005
                                                            Bernd Robben, Ralf Streibl, Alfred Tews                   5
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INHALTSVERZEICHNIS

Alfred Tews & Bernd Robben
Legenden vom Ende der KinoZeit – Ein fingiertes Gespräch                                    9
Bernd Robben
Höhlen – Ein assoziativer Bildessay                                                       13
Willi Bruns
Schein und Wirklichkeit in Mixed Reality – Technische Möglichkeiten Grenzen und Risiken   27
Peter Lüchinger
Schein und Wirklichkeit im Theater                                                        35
Hans-Jürgen Wulff
WeltenWandererWelten – Mögliche Realitäten im Kino                                        55
Ralf Streibl
Ich bin meine eigene Welt – Schöpfungen zwischen Konstruktion und Illusion                67
Melanie Johänning & Simon Meyborg
Virtuelle Höhlen: CAVE – eine Grenzerfahrung der Sinne                                    83
Programm des Symposiums                                                                   86
Pressespiegel                                                                             91   7
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LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT
Ein fingiertes Gespräch
Alfred Tews & Bernd Robben

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                                                                                          Und blickte in seine Richtung,
                                                                                                  Aus der sein Ruf kam.
                                                                                                        Was sah ich da?
                                                                            Bloß den bleichen Mond am Morgenhimmel.
                                                                                       Das Orakel vom Berge; Philip K. Dick

BR: Hat das Kino noch eine Zukunft?                        der letzte hohle Hype für Medienphilosophen, die heute
AT: Zukunft ist immer jetzt. Es ist durchaus angebracht,   schon wieder überholt sind?
sich über mediale Perspektiven fürs 3. Jahrtausend         AT: Wenn Bilder, Klänge und Texte erst einmal digitali-
Gedanken zu machen. Ausgehend von der Devise „Der          siert sind, scheint mir alles möglich zu sein. Der Kampf
Film (das bewegte Bild) ist das wichtigste künstlerische   mit den Widersprüchen zwischen dem, was wir von
Medium“ beschäftigen wir uns mit Utopien im Film und       unseren Medien verlangen, und dem, was sie zu leisten
neue Medien. Die gute alte Film-Welt hat Konkurrenz        imstande sind, ist zuende. Oder er ist gegenstandslos
bekommen. Virtuelle Welten, virtual actors - heißt das     geworden. In der analogen Welt gab es scharfe Gren-
Zauberwort, das die Tore zu einer neuen Dimension auf-     zen: Man konnte ein Stück Holz oder eine Gitarre nur zu
sprengt.                                                   dem veranlassen, was ihnen zu tun möglich war. In der
BR: Ist das das Ende von Film, Kunst Künstler und Rea-     digitalen Welt gibt es keine dinglichen Grenzen: Alles
lität? Was hat es deiner Meinung nach auf sich mit         ist nur eine Frage der Speicherkapazität, der Prozessor-
diesen künstlichen, teilweise interaktiven drei - und      geschwindigkeit und der Kommunikations-Bandbreite.
mehrdimensionalen Welten? Verschwinden die Grenzen         Die digitale Revolution vollendet die geistige Revolu-
zwischen Realität und Fiktion? Oder war „Virtual“ nur      tion, die vor Jahrtausenden begonnen hat, als jemand
der ultimative Trend am Übergang der Jahrtausende,         erstmals mit Farbe auf Stein malte. Der Beginn, die                9
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LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT   natürliche Welt zu abstrahieren, um eine Idee daraus          Weitere Beispiele für in Romanen oder Erzählungen
                                 zu machen.                                                    angedachte und dann filmisch-technologisch gewordene
                                 BR: Welche Phantasie entwickelst du da? Muss ich die          Film-Realitäten sind: der Schachautomat in Ambrose
                                 ins Spiel gebrachte Endzeit-Legende des Kinos für wahr        Bierce Erzählung „Moxon`s Master“, die Roboter in Karel
                                 nehmen. Oder konkret nachgefragt:                             Capeks Drama „R.U.R.“, Isaacs Asimovs SF-Geschichten
                                 Wird das Celluloid verschwinden und damit die Kinos?          „I,Robot“ mit den Robotergesetzen, Retortenkinder in
                                 Wird es keine Film-Regisseure im klassischen Sinne mehr       Aldous Huxleys „Brave New World“, der mechanische
                                 geben? Sind alle Experimente des Films schon gemacht?         Hausgehilfe in Gilbert Chestertons „the Invisible Man“,
                                 Verschwindet das Narrative aus dem bewegten Bild? Wird        der Homunculus, von dem schon Goethe berichtet oder
                                 jeder ein „actor“ mit eigener Kamera? Wird eine digi-         Laurence Sterne in „Tristam Shandy“, H.G.Wells erfun-
                                 tale Internet-Individual-Audience die Cinema-Audience         dene Halbwesen in „The Island of Dr. Moreau“, der Golem
                                 ablösen? Werden die Schauspieler überflüssig?                  des Rabbi Loew, Androiden in Philip K. Dick‘s „Do Andro-
                                 AT: Banal geantwortet: Nein!                                  ids Dream of electric sheep?“ Dies sind nur einige Bei-
                                 BR: Jetzt wirst du plötzlich sehr wortkarg. Das muss du       spiele und sie stehen für eine Kino-Zeit von 1910-1980.
                                 für mich etwas plastischer ausdrücken. Wie kann ich mir       BR: Geht 1980 eine Film-Epoche zuende?
                                 die Geschichte vorstellen?                                    AT: Mit Der Kino-Zeit des „Blade Runners“ beginnt prak-
                                 AT: Retro-aktiviert: Von der Steinzeitmalerei - oder Pla-     tisch, sich die Idee des „virtuellen Reality“/Actors“
                                 tons Interpretation des Höhlenschattens als erste Erken-      durchzusetzen“ – zunächst nur als filmisches Ab-Bild
                                 nung/Erkenntnis einer Virtuellen Welt bis hin zu UBIK =       wie in dem zu früh auf dem Markt geschmissenen „TRON“
                                 ubique (lat. überall) oder ubiquity (Allgegenwart). „ It‘s    von Steven Lisberger (1982), „Videodrome“(David Cro-
                                 moving - its alive - its alive! Now I know what it feels to   nenberg, 1982, als Sonderfall des Übertritts zwischen
                                 be god!” Die Sehnsucht – „the brain of a dead man wai-        materieller und Virtueller Welt, dann in Produktionen wie
                                 ting to live again in a body I made with my own hands”        „The Lawnmower Man“ (Brett Leonard, 1992, nach einer
                                 – und die Warnung liegen beieinander. Der Lehrling            Kurzgeschichte von Stephen King), „Virtuosity“ (eben-
                                 träumt vom Schaffen neuen, künstlichen Lebens und hat         falls Brett Leonard, 1995), „Johnny Mnemonic“(Robert
                                 seinen mehr moralisch denkenden Lehrer wissenschaft-          Longo, 1995, nach einer Kurzgeschichte von William
                                 lich längst überrundet. Die Geschichte von Frankenstein       Gibson, dem Erfinder des Cyberpunk).
                                 nach dem Roman von Mary Shelley Wollstonecraft ist              Max Headroom ist der erste virtuelle Star in der
                                 der bedeutende Schritt in der Filmgeschichte, das Motiv       bewegten Bilderwelt. Ein Computermensch, der eine TV-
                                 vom Künstlichen Menschen als definitives Muster vor-           Show moderiert und dabei ein undenkbares Eigenleben
10                               zulegen.                                                      entwickelt.
Nach einer Kurzgeschichte des Cyberspace-Autors Wil-        älter ist als jenes „Stendhal Syndrom“, von dem in Dario    LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT
liam Gibson aus dem Jahre 1980 entstand der Film            Argentos gleichnamigen Film (1994) die Rede ist: Georg
„Johnny Mnemonic“(1995). Der Fim spielt im 21.Jahr-         Seeßlen spricht vom Eintauchen des Blicks in das Bild,
hundert, wo Wirtschaftkonzerne die Weltherrrschaft          das keine Rückkehr, keine Distanz mehr kennt.
übernommen haben und die Datennetze kontrollieren.          BR: Das heißt, wir sind in der virtuellen Welt gefangen?
Datenschmuggel ist ein subversives Vergehen, gegen das      AT: Damit sind wir im Jahr 1998 angelangt, bei „MATRIX“.
die „LoTeks“ verschwörerisch angehen. Johnny ist einer      Mit MATRIX sind alle bisher in Filmen noch erkennbaren
dieser Schmuggler, der Daten von Beijing nach Newark        realen Grenzen endgültig aufgehoben. MATRIX hat die
bringt und in seinem Gehirn einen Chip implantiert hat,     seit langem unwahrscheinlichste Geschichte, die zum
mit dessen Hilfe er die Daten und Bilder an den Wäch-       Plot eines Science Fiction-Films wurde: Die Menschheit
tern vorbeischmuggelt. Schließlich erleidet der Compu-      ist versklavt von intelligenten Maschinen, die ihre Ener-
ter in seinem Kopf einen Overflow und droht ihn selbst       gie aus menschlichen Embryonen ziehen, die in gigan-
zu vernichten. Wie in den meisten dieser Filme sieht die    tischen Zuchtstationen gehalten werden. Man begegnet
künstliche Wirklichkeit um so faszinierender aus, wie die   im Film einer der bislang radikalsten Ausformulierungen
„wirkliche“ Wirklichkeit unbewohnbar geworden ist!          eines Phänomens, das seit einiger Zeit durchs Holly-
BR: Künstliche Welten faszinieren, weil die reale Welt      wood-Kino (und nicht nur dort) geistert: einer Art kol-
nicht mehr zu ertragen ist?                                 lektiver Verschwörungsparanoia, in der sich ein tiefes
AT: „In dieser Phase der Filmgeschichte trat neben die      Misstrauen gegenüber der Welt, wie wir sie kennen, arti-
Angst erzeugende Phantasie eines künstlichen Menschen       kuliert. Die Umsetzung folgt gnadenlos den Gesetzen
in einer wirklichen Welt das genaue Gegenbild: der wirk-    des Unterhaltungskinos – und hat funktioniert, wie man
liche Mensch, der sich in einer künstlichen Realität ver-   an Filmen wie Lara Croft, Final Fantasy, A.I., Resident
läuft. Erst als Eindringling, dann als Gefangener eines     Evil und so weiter sieht.
Labyrinths. Wieder führt uns indes die Angstvision in die   BR: Worin liegt das umwälzend Neue dieser Generation
alten Albträume zurück: Hänsel und Gretel verlaufen sich    von Science Fiction-Filmen?
im Cyberwald. Und wir sind nicht mehr eins, begegnen        AT: In der grenzüberschreitenden Art der Verknüpfung
unseren eigenen Doppelgängern, spalten uns endlos,          von virtuellen und wirklichen Welten: Der auslösende
sind hier und woanders gleichzeitig. Das Eintauchen in      Skandal des Phantasmas vom künstlichen Parallel- und
die Cyberworld, das uns in so simplen Erzählungen wie       Nachmenschen beginnt etwa bei Cronenberg damit, dass
TRON als schiere „Verwechslungen“ von Wirklichkeit und      ein Inneres nach außen tritt. So wird der Roboter mit
Simulation begegnete, ist nichts anderes als die elek-      seiner stählernen Haut, die Vollendung jenes Panzers,
tronische Wiederkehr eines Syndroms, das wesentlich         mit dem sich der Krieger seit Urzeiten vor allem semio-                                11
LEGENDEN VOM ENDE DER KINOZEIT   logisch zu wappnen versucht, zu dem Wesen, das end-          nie ausgesprochen, mein NAme, den niemand kennt. Ich
                                 gültig die Trennung von Innen und Außen zu seinem            werde Ubik genannt, aber das ist nicht mein NAme. Ich
                                 Bild gemacht hat: Einen Roboter/Computer/Avatar              bin. Ich werde immer sein.“
                                 zu „öffnen“, heißt in der Regel in unserer Mythologie          Das ist doch die geniale Vorwegnahme der Philosophie
                                 bereits, ihn zu töten. Georg Seeßlen hat diesen Wirkme-      des MATRIX-Universums anhand einer Phraseologie,
                                 chanismus ausführlich beschrieben.                           welche die Eröffnung des Neuen Testaments von Johan-
                                   In den Filmen von David Cronenberg geschieht der           nes nachahmt und den Computer metaphorisch mit (dem
                                 Übertritt zwischen materieller und virtueller Wirklichkeit   christlichen) Gott gleichsetzt.
                                 häufig und auf sehr heftiger Art und Weise. Die zweite          Sic MATRIX! Die Dimension ist Gott! Avatar bezeichnet
                                 Wirklichkeit tritt nicht nur in die Vorstellung, sondern     im Sanskrit eine göttliche Wesenheit, die menschliche
                                 ganz direkt ins Fleisch des Menschen wie in Filmen wie       Gestalt annimmt. In diesem Sinne sind Virtual Actors
                                 VIDEODROM (1982) oder „eXistenZ“ (1999), wo es um die        von heute die guten Geister von morgen, Schnittstellen
                                 Geburt des neuen Menschen als „MetaFlesh Game-Pod“           zu einer autonomen Parallelwelt in einem selbstregeln-
                                 geht. Hier kann die virtuelle WELT nur eine furchtbare       den System.
                                 Abbildung des Bekannten sein. So wie die Gespenster          BR: Siehst du in derartigen virtuellen Welten von Caves
                                 der Irrealität in der Wirklichkeit wüten, so wüten nun       und Avataren die künftige Kinowelt heraufziehen?
                                 die Gespenster der Realität in den Traumreichen. Und         AT: Wer weiß das schon genau. Alle Filme werden heute
                                 Cronenberg geht in seinen Filmen an den Ursprung des         auch digital produziert. Für die Zukunft gilt auf jeden
                                 Mythos zurück, zum „Grauen“ der Geburt, die sich aus         Fall: „Phantasy kills reality!“
                                 der natürlichen Abfolge löst. So schafft sich der ‚artifi-
                                 zierende’ Mann in VIDEODROM so etwas wie eine Vagina,
                                 und in „eXistenZ“ erschafft die Heldin ein Computer-
                                 spiel, das die perfekte Simulation einer Gebärmutter ist,
                                 und vernabelt ihren „Sohn“ mit einem „Bioport“.
                                   In der Literatur gibt es dafür Vorläufer. Da ließe sich
                                 der Ubik von Philipp K. Dick zitieren: „Ich bin Ubik. Mich
                                 gabs schon, bevor es das Universum gab. Ich habe die
                                 Gestirne gemacht, ich habe die Welt erschaffen und den
                                 Raum, in dem es existiert. Ich lenke es hierhin, ich lenke
                                 es dorthin. Es bewegt sich nach meinem Willen, es tut,
12                               was ich sage. Ich bin das Kennwort, mein NAme wird
HÖHLEN
Ein assziativer Bildessay
Bernd Robben

„Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen. Manchmal
fielen mir die Augen, wenn kaum die Kerze ausgelöscht
war, so schnell zu, daß ich keine Zeit mehr hatte zu
denken: „jetzt schlafe ich ein.“ Und eine halbe Stunde
später wachte ich über dem Gedanken auf, daß es nun
Zeit sei, den Schlaf zu suchen; ich wollte das Buch fort-
legen, das ich noch in den Händen zu haben glaubte, und
mein Licht ausblasen; im Schlafe hatte ich unaufhör-
lich über das Gelesene weiter nachgedacht, aber meine
Überlegungen waren seltsame Wege gegangen; es kam
mir so vor, als sei ich selbst, wovon das Buch handelte:
eine Kirche, ein Quartett, die Rivalität zwischen Franz
dem Ersten und Karl dem Fünften. Diese Vorstellung
hielt zuweilen noch ein paar Sekunden nach meinem
Erwachen an; meine Vernunft nahm kaum Anstoß an ihr,
aber sie lag wie Schuppen auf meinen Augen und hin-
derte mich daran, Klarheit darüber zu gewinnen, daß
das Licht nicht brannte. Dann wurde sie immer weni-
ger greifbar, wie nach der Seelenwanderung die Gedan-
ken einer früheren Existenz; … wenn ich mitten in der
Nacht erwachte, wußte ich nicht, wo ich mich befand,
ja im ersten Augenblick nicht einmal, wer ich war: ich
hatte nur in primitivster Form das bloße Seinsgefühl,       13
HOEHLEN   das ein Tier im Innern verspüren mag: ich war hilfloser    In seiner großen Studie über die Höhlenmetapher in der
          ausgesetzt als ein Höhlenmensch; dann aber kam mir        abendländischen Philosophie kommentiert Hans Blu-
          die Erinnerung - noch nicht an den Ort, an dem ich mich   menberg:
          befand, aber an einige andere Stätten, die ich bewohnt      „Einen Anfang der Zeit können wir nicht denken. Er
          hatte und an denen ich hätte sein können - gleichsam      läge schon in der Zeit. … In Hautnähe kommt das alles
          von oben zur Hilfe, um mich aus dem Nichts zu ziehen,     erst durch den fundamentalen Rang der Zeit für das
          aus dem ich mir selbst nicht hätte heraushelfen können;   Bewusstsein als ‚Erlebnisorgan‘: Kein Bewusstsein kann
          in einer Sekunde durchlief ich Jahrhunderte der Zivi-     sich anfangend erleben. Nicht einmal beim alltäglichen
          lisation, und aus vagen Bildern von Petroleumlampen       Erwachen aus dem Schlaf ist jemals ein Augenblick der
          und Hemden mit offenen Kragen setzte sich allmählich      erste; erst recht sind Anfang des Lebens und Weltein-
          mein Ich in seinen originalen Zügen wieder von neuem      tritt der Geburt jeder Erlebbarkeit wesensmäßig entzo-
          zusammen.“ (Marcel Proust, Auf der Suche nach der ver-    gen, was auch immer davon Spur oder Trauma geblieben
          lorenen Zeit 1, Frankfurt/M. 1981, S. 9ff)                sein mag.“ (Hans Blumenberg, Höhlenausgänge, Frank-
             Am Beginn auf der „Suche nach der verlorenen Zeit“     furt/M. 1989, S. 11)
          finden wir keinen Anfang, haben jedoch längst begon-         Und es bleibt im Unbewussten die tiefe Sehnsucht
          nen. Das Immer-schon-da-gewesene markiert eine            der Rückkehr in die Höhle des Mutterleibes. Diese Höhle
          unsichere Grenze. Mein Thema ist das erwachende           hat mir Geborgenheit gespendet, bevor ich irgendet-
          Wirklichkeits-Bewusstsein. Und da bin ich - so Marcel     was - oder gar mich selbst - wahrnehme. Das erste Wort
          Proust - meinen Erinnerungen hilflos wie ein Höhlen-       bewussten Denkens liegt noch in weiter Ferne: Und doch
          mensch ausgeliefert. Vom Traum soll ein Übergang zum      ist schon etwas von mir da - in der Höhle.
          Wirklichen bewusst werden. Das Wissen dieser Differenz      Am Anfang des Lebens steht nicht das Wort, sondern
          von Traum und Wirklichkeit kann aber nicht erlebt, son-   ich werde geboren aus dem Mutterleib. Aber - ist das,
          dern nur erschlossen werden. Der Schlüssel kommt aus      was da geboren wird ein „ich“? Wird aus ‚mir‘ nicht doch
          der Erinnerung. Und woher kommt die Erinnerung? Und       erst durch die Sprache ein ‚ich‘? Lauter nicht zu ent-
          worin besteht sie?                                        scheidende Fragen!
             Bertrand Russell befürchtet, dass die Erinnerung uns     Auch menschheitsgeschichtlich kommt die Höhle
          vormache, die Welt wäre erst vor fünf Minuten aus dem     vor der Sprache. Der Übergang vom Leben zum Erleben
          Nichts geschaffen. Ludwig Wittgenstein verspottet das     beginnt in der Höhle. Allerdings „ist der Mensch nicht,
          Argument. Man könne die fünf Minuten auf eine redu-       wie die Griechen glaubten, aus der Tiefe der Erde, aus
          zieren. Man lasse die Welt samt aller Erinnerung eben     ihren Höhlen ans Licht getreten. Vielmehr waren die
14        genau in dem Augenblick erstehen, da sie stattfinde.       Höhlen seine Zuflucht, die er suchte und bewohnte.“
(Hans Blumenberg, ebenda, S. 25) Wie lange es gedau-          HOEHLEN
ert hat, bis er die Höhlen als seine bildlich erkennbar
machte, wissen wir nicht wirklich. Genauso wenig kennen
wir heute die Funktionen der Höhlenzeichnungen: Waren
es praktische, magische, kultische?
   Klar ist nur: In der Höhle gelang es, Abwesendes anwe-
send zu machen. Beim Durchgang durch die Höhle wurde
der Mensch das träumende Tier. „Im Schutz der Höhle,
unter dem Gebot der Mütter … entstand die Phanta-
sie.“ (Hans Blumenberg, ebenda, S. 30) Statt die ewig
langweiligen Erfolgsgeschichten der heimkehrenden
Jäger immer wieder aufzuwärmen, war es das Privileg
der Schwachen in der Höhle Zurückgebliebenen, in der
Phantasie etwas auszumalen, ohne es zu erleiden. In der
Höhle lässt sich die Kunst ausbilden, die Vorstellungs-
kraft zu bannen und die Phantasie zu beflügeln.
   Aber der Schutz der Höhle ist ambivalent: Ihre Dun-
kelheit nährt auch „das Gefühl des Unheimlichen“, die
„Vorstellung, der Augen beraubt zu werden“ (Sigmund
Freud, Das Unheimliche, Studienausgabe Bd. IV, S. 253).
Dunkle Schatten wirken bedrohlich.
   Deshalb müssen die Schatten gebannt und fixiert
werden. Liegt im Bannen der menschlichen Schatten -
im Nachzeichnen ihres Umrisses - der Ursprung der Male-
rei? Für Plinius den Älteren ist das bei aller Unsicherheit
über ihren Anfang unbezweifelbar der Fall (Vgl. Victor
I. Stoichita, Eine kurze Geschichte des Schattens, Mün-
chen 1999, S. 7).
   Dagegen gibt es einen gewichtigen Einwand: Älter
als gestalthafte Bilder sind die abstrakten Zeichen.
Am Anfang aller Aufzeichnungen steht nicht die naive              15
HOEHLEN   Darstellung der Wirklichkeit. Erinnerungen bilden sich
          im Abstrakten, graben sich als Spuren ins Gedächtnis
          ein. Ihre ältesten, in Höhlen gefundenen Zeugnisse sind
          Kritzeleien und Graphismen. Schon bevor es Zahlwör-
          ter in der Sprache gibt, werden einfache Zahlzeichen
          in Knochen geritzt. Derartige makabre Zeugnisse des
          auf die Zukunft gerichteten theoretisch planenden Den-
          kens - eingraviert in Gebeine - legen die Lebenden den
          Gestorbenen in die Höhle des Grabes. Wo auch immer
          der Anfang genau liegt. Sicher ist: Höhlen schaffen eine
          Erinnerungskultur und damit die Voraussetzung für ein
          reflektierendes Wirklichkeits-Bewusstsein.
            Wie Sie alle sicher schon erwarten, muss zum Thema
          Wirklichkeits-Bewusstsein das berühmteste Höhlen-
          gleichnis der westlichen Philosophiegeschichte kommen.
          Lauschen wir Platos Aufzeichnungen. Sokrates erzählt:
            „Stelle dir vor: Da befinden sich Menschen in einem
          unterirdischen höhlenartigen Gehäuse. Nach oben zum
          Licht hin verläuft ein langer Gang an der Höhle entlang.
          In dieser Höhle sind sie von Kindheit an, gefesselt an
          Schenkeln und Nacken. Sie können sich nicht von der
          Stelle bewegen und nur vor sich hin blicken. Die Köpfe
          zu wenden, verwehrt ihnen die Fesselung. Licht fällt auf
          sie von einem Feuer, das oberhalb und rückwärtig ent-
          fernt von ihnen brennt. Zwischen dem Feuer und den
          Gefesselten liegt etwas höher ein Weg, an dem entlang
          du dir ein Mäuerchen vorstellen mußt, wie die Gaukler
          Schranken zwischen sich und den Zuschauern aufrich-
          ten, um über diesen ihre Kunststücke vorzuführen.
            Ich sehe es vor mir, sagte (Glaukon).
16          Dann stelle dir weiter vor, wie an diesem Mäuerchen
entlang Leute allerlei Gebilde tragen, die über das Mau-   Sphäre der Ideen, welche der Philosoph ans Licht bringt.   HOEHLEN
erwerk hinausragen. Es sind steinerne wie hölzerne Dar-    Wer die Welt erleuchtet im Licht der Ideen sieht, wird
stellungen von Menschen und Tieren sowie mancherlei        zunächst geblendet sein. Geht der so Aufgeklärte gar
andere Kunstformen. Die Vorführer dieser Gebilde mögen     in das Dunkle der Höhle zurück, so wird man ihm nicht
sich wohl unterhalten, einige werden still sein.           glauben und ihn wegen seiner frevelhaften Äußerungen
  Von einem wunderlichen Bild erzählst du und von          über den Charakter der Wirklichkeit - genau wie Sokrates
wunderlichen Gefangenen, sagte (Glaukon).                  - mit dem Tode bedrohen.
  Aber doch ganz ähnlich uns, sagte ich. Menschen in         Der kritische Einwand gegen Sokrates und Plato lautet:
dieser Lage haben, das wirst du zugeben, von sich selbst   Das Licht der Idee ist nur eine andere blendende Meta-
und voneinander seit jeher keine andere Kenntnis als       pher. Aus der Höhle der Zeichen von Dichtern und Künst-
durch die Schatten, die das Feuer auf die Höhlenwand       lern gibt es kein Entkommen. Wirklichkeits-Bewusstsein
vor ihnen, wirft.                                          hat die Welt nie direkt, sondern nur vermittelt. Und wie
  Wie sonst, sagte er, wenn sie durch Zwang auf Lebens-    unterscheiden wir die Wirklichkeit dann vom Traum?
zeit die Köpfe unbewegt halten müssen?                       Ungefähr 2000 Jahre nach Plato, hält der Beginn des
  Was aber sehen sie von den Gebilden, die hinter ihnen    Winters einen anderen Philosophen in einer anderen
vorgeführt werden? Etwas anderes (als deren Schat-         Höhle, in einer Ofenstube eingeschlossen, in der er alle
ten)?                                                      Muße hatte, sich mit seinen Gedanken zu beschäftigen.
  Was sonst?                                                 Am Martinsabend 1619 gerät René Descartes beim
  Könnten sie nun miteinander erörtern, was sie da         Grübeln in höchste Erregung. Natürlich ist es Nacht, als
sehen, würden sie es nicht auch deiner Meinung nach        ihn die Phantome von Träumen bedrängen:
für das Seiende selbst halten?                               Immer wenn er aufwacht, die Studierstube wieder
  Es bleibt ihnen nichts anderes übrig.“                   erkennt und über seinen Traum nachdenken will, schläft
  Mit dieser ziemlich brutalen Schilderung des Zwang-      er wieder ein. Schließlich beschert ihm der Traum ein
scharakters der Höhle ist das Höhlengleichnis noch         Wörterbuch und die Frage, welchen Lebensweg er ein-
nicht zuende. Plato öffnet die Höhle, um die Differenz     schlagen soll. Immer wenn er im Wörterbuch nachschla-
zwischen Denken und Wahrnehmung bewusst zu machen.         gen will, fehlen die entsprechenden Stellen. Die Träume
Traue dem Schein nicht, so lautet seine Botschaft:         in der Studierstube deutet Descartes als Botschaft. Sein
Dichter und Maler täuschen uns mit ihren Kunstwer-         Leben lang wird er nachdenken über das Wahre und Fal-
ken. Die sophistischen Philosophen fallen auf sie rein.    sche.
Wahre Erkenntnis lässt sich mit den getäuschten Sinnen       Auf der Suche nach der evidenten Wahrheit kommen
nicht erfahren. Das Wahre und Gute findet sich in der       die Zweifel an den Sinnen. Fast alles fällt der Fiktion        17
HOEHLEN   zum Opfer: die innere und äußere Sinneserfahrung. Auch
          die Mathematik bietet keine letzte Gewissheit. Und Des-
          cartes beschließt:
            „Jetzt schließe ich meine Augen, stopfe meine Ohren
          zu, rufe alle Sinne zurück und tilge ebenfalls alle Abbil-
          der körperlicher Dinge aus meinem Denken oder erachte
          sie wenigstens wegen ihres eitlen Truges für nichts, weil
          das andere schwerlich möglich ist; indem ich aber mit
          mir alleine spreche und mich genauer anschaue, versu-
          che ich allmählich mir selber bekannter und vertrauter
          zu werden.“ (zitiert nach Rainer Specht, Descartes,
          Reinbeck bei Hamburg 2001, S. 86)
            „Täusche mich, wer immer kann, er wird doch nie
          bewirken, daß ich nichts bin, solange ich denke, daß ich
          ich etwas bin. … Das Denken ist, nur dies kann man mir
          nicht entwinden; ich bin, ich existiere, ist gewiß. Wie-
          lange aber? Nun, solange ich denke.“ (ebenda, S. 88f)
          Für das Wirklichkeits-Bewusstsein zählt letztendlich nur
          das Denken.

            Der zentrale Punkt bei Descartes ist der Dualismus
          zwischen der Welt des Bewusstseins und der materiellen
          Welt, zwischen der Seele und dem Körper. Aus der Vor-
          stellung der Dualität von Körper und Geist ergibt sich
          das Problem, wie sich die beiden zueinander verhalten.
          Descartes zeichnet ein Funktionsbild und erklärt:
            Im mittleren Gehirnventrikel schwebt die Zirbeldrüse
          (H), welche die umgebenden Animalgeister zu steuern
          vermag. Die kleinen Kreise sind die Endungen der Ner-
          venschläuche, durch welche die Drüse Animalgeister in
18        die Muskeln transportiert, um sie aufzublähen.
„Durch Empfindungen … belehrt mich die Natur, daß             HOEHLEN
ich in meinem Körper nicht wie ein Kapitän in seinem
Schiffe weile, sondern so überaus enge mit ihm verbun-
den und gleichsam vermischt bin, daß ich mit ihm eine
Einheit bilde; andernfalls würde ich nämlich, da ich nicht
anderes bin als ein denkendes Ding, bei einer Verletzung
des Körpers keinen Schmerz empfinden, sondern diese
Verletzung mit meinem bloßen Verstande wahrnehmen,
so wie ein Kapitän es mit dem Auge wahrnimmt, wenn
etwas an seinem Schiffe bricht.“ schreibt Descartes
(ebenda, S. 125).
  Der moderne Philosoph positioniert den Menschen in
der Höhle seines Denkens, in den Spalten des Geistes.
Offensichtlich folgen daraus philosophische Schwierig-
keiten mit der Positionierung des Körpers.
  Statt diesen vergeistigten philosophischen Schwierig-
keiten weiter nachzugehen, befrage ich zum Thema des
Wirklichkeits-Bewusstsein die Techniker, also Künstler,
Designer, Ingenieure.
  Der moderne Künstler Filipo Brunelleschi hat dem
meditierenden Menschen schon über ein Jahrhundert
vor Descartes eine Höhle voller Harmonie gebaut. Mit
einem revolutionär neuen Konstruktionsverfahren - der
Errichtung eines riesigen Gewölbes ohne Lehrgerüste
und Hilfskonstruktionen - schafft er in Florenz eine Kir-
chenkuppel mit einer mystischen Athmosphäre. Diese ist
genau geplant, die Wirkung von diffusem und gedämpf-
ten Licht päzise vorherbestimmt.
  Hier steht der Mensch im Mittelpunkt der Höhle. Seine
Sicht auf die Welt ist berechnet, nach den Erfordernissen
der perspektivischen Darstellung. Die von Brunelleschi           19
HOEHLEN   gefundenen Regeln perspektivischer Projektion prägen
          von nun an den Blick.
            Um in den Bildnissen der Kuppel - von Vasari und Zuc-
          cari - Szenen von realistischer Wirklichkeit zu sehen,
          muss der Betrachter sich selbst in die richtige Position
          begeben. Wenn er sich an den adäquaten Platz stellt,
          dann taucht er meditierend ein in eine mystische Ath-
          mosphäre des Geheimnisses von Innen und Außen. Er
          empfindet den Bildraum als real gegenwärtig.
            Dieser etwa 1475 entstandene Holzschnitt ist die
          erste bekannte Darstellung einer ganzen Stadt als
          autonomes Kunstwerk, die kein Phantasiegebilde ist.
          Er basiert auf einer Konstruktion, die sich die Möglich-
          keiten der Perspektive zu Kontrolle und Korrektur der
          direkten Beobachtung nach der Natur zunutze macht
          und die Topografie zur Überprüfung des planimetrischen
          und volumetrischen Aufbaus. Um die Stadt Florenz her-
          vorzuheben, hat der Zeichner einen erhöhten Aussichts-
          punkt gewählt. Die mathematisch konstruierte Ansicht
          rückt die Kuppel von Brunelleschi in den Mittelpunkt
          der Stadt.
            Auf das perspektivisch konstruierten Tafelbild ist
          unser Auge inzwischen so trainiert, dass es sich auf den
          richtigen Standpunkt positioniert, ohne dass wir den
          Körper zum richtigen Standpunkt bewegen.. Das Bild
          hat sich in „ein Fenster verwandelt, durch das wir in
          den Raum hindurchzublicken glauben“ (Erwin Panofsky,
          Die Perspektive als symbolische Form, in: ders., Auf-
          sätze zur Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin
          1992, S. 99). Die korrekte geometrische Konstruktion
20        stellt das Bild als einen planen Durchschnitt durch die
sogenannte Sehpyramide vor. Angeblich geben die Seh-        HOEHLEN
strahlen objektiv die Lage der Bildpunkte vor, welche
korrespondierende Punkte in der Wirklichkeit repräsen-
tieren.. Um die Gestaltung eines völlig rationalen, d.h.
unendlich stetigen und homognen Raumes zu gewährlei-
sten, werden stillschweigend zwei wesentliche Voraus-
setzungen gemacht:
  Erstens, dass wir nur mit einem völlig fixierten unbe-
weglichem Auge sehen, zweitens dass der ebene Durch-
schnitt durch die Sehstrahlen als adäquate Wiedergabe
des Sehbildes gelten darf (vgl. ebenda S. 101).
  Seit Jahrhunderten leben wir in der Höhle der per-
spektivischen Repräsentation. Unser Blick ist fixiert.
Fotorealistische Darstellungen repräsentieren für uns
die Wirklichkeit. Wir schauen sie auf kunstvollen Tafel-
bildern bzw. heute eher auf den chemisch fixierten
Hochglanzabbildungen der Illustrierten, dem gemeinen
Fenster zur Welt-Anschauung.
  Dieses einfache Verhältnis der Repräsentation der
Wirklichkeit, das den Betrachter immer außerhalb posi-
tioniert, verkompliziert sich in den neuen technischen
Höhlenbildern.
  Als die auf der rechten Seite abgebildete Installation
1974 in Köln aufgestellt werden soll, schreibt der Künst-
ler Num June Paik an an den Ausstellungsleiter Wulf
Herzogenrath:
  „I got a very good idea, which is simple, inexpensive,
yet very beautiful. For the opening night and one more
day, I will become a „LIVING BUDDHA“ myself, watching
also TV. Therefore there will be two Buddhas watching
TV, one is the old wooden Buddha, the other is myself.“         21
HOEHLEN                        Das Bild wird selbst-reflexiv. Denken Sie also einen
                               Augenblick darüber selbst. Wer nicht selbst denken kann

          Nachdruck verboten
                               oder mag, möge einige Gedenksekunden für John Cage
                               einlegen.
                                 Das Bild beerdigen, das heißt, ein Bild zu schaf-
                               fen. Das Bild ist gerade das, was visuell in der Leere
                               übrig bleibt. Es legt den Grund offen, zieht sich zurück
                               und uns hinein. Im Akt des Blicks treffen Trauer und
                               Begehren zusammen. Und dann haben wir es mit einer
                               Phantasmatik der Zeit zu tun. In der Höhle erstrahlen
                               Bewegungs- und Zeitbilder. Ab jetzt befinden wir uns in
                               der Höhle des kinematischen technischen Bildes.

                                 Die normalen Ordnungen perspektivischer Reprä-
                               sentation werden gerade durch die Instrumente zum
                               Verschwinden gebracht, deren Zweck eine technische
                               Verbesserung der Wiedergabe der Wirklichkeit ist. Sie
                               formen künstliche Höhlen, in denen wir wie die Fliege
                               im Glas gefangen sind. Optik kreiert die Sichtweisen, die
                               sie zu beschreiben vorgibt. Künstliche Perspektive und
                               Belichtung und künstliche Beleuchtung schaffen neue
                               Ordnungen der Sichtbarkeit. Durch die Vermischung
                               von Wissenschaft und Kunst werden komplexe Vorgänge
                               nicht nur dargestellt, sondern auch erst produziert. Mit
                               der Camera Obscura beginnt das Zeitalter der Sehma-
                               schinen und Medienkultur. Nicht der homogene Blick
                               durch ein Fenster ist hier möglich, sondern das Starren
                               auf den Bildschirm. Zunehmend wird nicht ein Abbild,
                               wie es in der Welt aussieht, sondern ein Vorbild, wie die
                               Welt zu sehen ist, in die Wohnzimmer gestrahlt. Und die
22                             Bilder der Sehmaschinen behaupten immer ein objekti-
ves, nach wissenschaftlichen Regeln produziertes Welt-     HOEHLEN
bild zu liefern.
   Seitdem es möglich ist, Bilder im Zehntel-Sekunden-
Takt zu schießen, sehen wir den Körper, wie wir ihn
vorher nie gesehen haben. Solche Bewegungsstudien im
Geiste der Naturfreunde-Bewegung bilden das Material
für Frederick Winslow Taylors wissenschaftliche Begrün-
dung der Arbeitsteilung. Technische Vorbilder ermög-
lichen die effektive kapitalistische Ausbeutung und
Organisation der Arbeit.
   Aber die neckischen Körper-Bilder sind auch der erste
Schritt für die Erbauung der Höhlen, in denen man den
tristen Arbeitsalltag vergessen kann, für die modernen
Höhlen der Illusion. Gemeint ist natürlich das Kino. Nur
noch Dogmatiker glauben, dass es die Aufgabe des Kinos
sei, die Wirklichkeit abzubilden. Aber über die Montage
von Zeit- und Bewegungsbildern werden hier - im Kino
- Berufenere als ich sicher noch Fundierteres sagen.
   Ich werfe stattdessen einen Blick in verschiedene
andere Höhlen des technisch produzierten und program-
mierten Bildes.
   „Der Schoß ist zu einem Operationsgebiet geworden:
So wie über ihn gesprochen wird, so wie seine Überwa-
chung, Verteidigung und Versorgung geplant wird, …
ist das Werden „unter dem Herzen der Frau“ zu einem
öffentlichen Prozeß gemacht worden. Die secreta mulie-
rum sind zu einem Gelände geworden, auf dem gesehen,
eingegriffen, entschieden werden kann.“ diagnostiziert
die Historikerin Barbara Duden.
   Der Blick ist schamlos geworden. Vor Leornardo da
Vinci galt es noch als ein Verbrechen, Leichen zu sezie-       23
HOEHLEN   ren. Heute ist es ein anstößiges Schauspiel, sie als
          Körper-Welten zur Schau zu stellen. Inzwischen geht der
          Blick weit unter die Haut, tiefer als jedes Seziermesser,
          tiefer auch als Röntgenstrahlen. Programmierte Bilder
          machen Gene sichtbar und manipulierbar.
            Die technischen Bilder sind keine Abbilder, sondern
          visuell realisierte Modelle oder Datenverdichtungengen.
          Bilder, die wir von atomaren Vorgängen haben, beruhen
          nicht auf einer optischen, sondern im Falle der Raster-
          sondenmikroskopie auf einer „taktilen“ Erfassung der
          Oberfläche von Atomen oder im Falle der Magnetreso-
          nanzspektroskopie auf einer Aufzeichnung der Frequenz
          der Präzessionsbewegung des Kernspins. Erst am Schluss
          werden die Daten in Bilder übersetzt und in Relation
          gebracht zu anderen wissenschaftlichen Darstellungen,
          zum Beispiel zu chemischen Formeln. Ob die Sache so
          ausssieht, wie die Bilder sie uns zeigen, ist eine unsin-
          nige Frage. Denn außer den technischen Bildern gibt es
          hier nichts zu sehen. Atome sind unsichtbar. Erst tech-
          nische Verfahren in den Höhlen der wissenschaftlichen
          Laboratorien produzieren die Schatten für den auf diese
          Weise fixierten Blick.
            Zwischen dem Auge des Astronomen und der Galaxie,
          die er beobachten will, liegt ein ganzes Areal verketteter
          Apparaturen, die die ursprüngliche Information Schritt
          für Schritt auswählen, transformieren und übersetzen,
          bis sie schließlich als eine visuelle Konfiguration das
          Auge des Betrachters erreicht:
            Satelliten, Spiegelanlagen, Teleskoplinsen, Fotovor-
          richtungen, Abtastgeräte, Übertragunsgeräte und vor
24        allem Computerprogramme. Am Ende stehen bildförmig
präsentierte Daten, als Kitsch für Kalender oder als Roh-   ten Höhle, dem CAVE, dem Computer Animated Virtual         HOEHLEN
material für die Interpretation der Experten der Astro-     Environment, taucht der Betrachter dagegen ein in die
nomie.                                                      Höhlenbilder. Mit seinen Aktionen werden - Compu-
   Programmierte Bilder liefern aber weit mehr als sta-     ter gesteuert - die Ansichten generiert, die er gerade
tische Visualisierungen. Sie stellen Simulationen der       durchfahren und erleben will. In einer Mixed Reality
theoretischen Modelle zur Verfügung, mit denen eine         Umgebung wird die erlebte virtuelle Welt in dem Augen-
virtuelles Probehandeln möglich wird.                       blick erschaffen, in dem sie erlebt wird - worüber Witt-
   Wer heute etwas wissen und verstehen will, kann den      genstein sich so lustig machte. Wie das wirkt, kann man
Höhlen also nicht entfliehen. Kritikfähigkeit heißt, die     nicht erzählen. Das muss man erleben.
Höhlen wahrzunehmen. Man darf sich nicht blenden
lassen durch die Bilder. Auf der Suche nach der Wirk-
lichkeit, die sie abbilden, wird man nur Leere finden.
Man muss begreifen, wie die Bilder das Wirklichkeits-
Bewusstsein konstrieren, lernen ihre Beziehungen
zueinander zu sehen.
   Seit den steinzeitlichen Höhlen hat sich schein-
bar nicht so viel oder doch alles verändert. Zahlen
und Bilder und Wörter werden zusammengebracht. Sie
schaffen Erinnerungen und Wirklichkeitsbewusstsein.
Aber in den heutigen Höhlen der Virtualität werden sie
neu komponiert, programmiert und prozessiert. In der
Komplexität der prozessierenden technischen Überset-
zungen lässt sich das, was wir wissen können, präziser
als jemals zuvor aufschreiben. Es wird programmiert.
Programmiertes Wissen, dessen Darstellung die prozes-
sierende Logik des Computers generiert, wird paradoxer-
weise auch anschaulicher oder verführerischer:
   Filmbilder mögen uns erschrecken oder faszinieren.
Aber sie laufen doch außerhalb von uns auf der Lein-
wand. Wir schauen ihnen auf dem Sessel sitzend zu.
In einer avancierten Form der heutigen programmier-                                                                        25
26
SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IN MIXED REALITY
Technische Möglichkeiten, Grenzen und Risiken
Willi Bruns

                                                       Die höchste Stupidität und der höchste Verstand haben darin eine
                                                       gewisse Affinität miteinander, dass beide nur das Reelle suchen, und für
                                                       den bloßen Schein gänzlich unempfindlich sind.
                                                       Nur durch die unmittelbare Gegenwart eines Objektes in den Sinnen wird
                                                       jene aus ihrer Ruhe gerissen, und nur durch Zurückführung seiner Begriffe
                                                       auf Tatsachen der Erfahrung wird der letztere zur Ruhe gebracht;
                                                       mit einem Wort, die Dummheit kann sich nicht über die Wirklichkeit erhe-
                                                       ben und der Verstand nicht unter der Wahrheit stehen bleiben.

                                                       Friedrich Schiller: Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe
                                                       von Briefen, 26. Brief

InformatikerInnen sind Gestaltende und Erlebende von           eliminieren, überlässt ihm aber die Aufgaben, die er
Schein, von Zeichenwelten, prozessierenden Zeichen. Sie        selbst nicht verstanden hat oder automatisieren kann,
erleben die Leichtigkeit der Zeichen (F. Nake), aber sie          2. die von Böhle und Milkau (1988) in industrieso-
gehen auch mit der Nachdrücklichkeit von Materie um.           ziologischen Studien erkundete einseitige Orientierung
                                                               von Maschinenbauern an objektivierenden Perspektiven
  Ausgangspunkte unserer Forschungen und Entwick-              von Maschinennutzung unter Vernachlässigung ebenso
lungen in artec waren                                          wichtiger subjektivierender Perspektiven,
  1. die als Ironie der Automation bezeichnete Feststel-          3. die Bedeutung physikalisch gegenständlicher Model-
lung von Lisanne Bainbridge (1983):                            lierung als Ergänzung zu virtuellen Modellen und digita-
der Designer versucht den Bediener von Maschinen zu            ler Simulation, die wir in Industrieprojekten erfuhren.                  27
MIXED REALITY                                                 Unsere Konsequenz daraus ist der Versuch, eine ausge-       wechselung von Simulation und Realität begünstigt. Die
                                                              wogene Arbeit (mit objektivierenden und emphatischen        unendliche Vielfalt von Zeichen, die ein realer Prozess
                                                              Anteilen) in automatisierten Systemen dadurch zu unter-     vermitteln kann, lässt sich nicht auf einen Rechner über-
                                                              stützen, dass wir Konzepte für eine Systementwicklung       tragen. Abb. 1-4 zeigen jeweils eine Kugel hinter und
                                                              verfolgen, die eben diese Ausgewogenheit auch schon         vor einer Wand. Ein aufmerksamer Betrachter könnte aus
                                                              in der Entwicklungsphase von Maschinen und Systemen         den statischen Bildern folgern, dass im ersten Bild keine
                                                              unterstützt. Dies könnte gelingen, wenn Ingenieure und      Kugel hinter der Wand sein kann, weil man ja keinen
                                                              Künstler zusammen gebracht werden. Ingenieurwissen-         Schatten sieht. Würde er die dynamische Simulation vor-
                                                              schaft stärkt die rationale, Kunst die komplementäre        gespielt bekommen, so würde er sehen, wie ein Kugelbild
        Abb. 1                                                Perspektive. Uns interessiert die Frage, wie wir durch      von rechts auf die Wand zu fliegt, hinter ihr verschwindet
Kugel hinter einer Wand
                                                              experimentelles Spielen in gemischten Welten, denen         und nach einem bestimmten Zeitintervall auf der linken
                                                              der Realität und denen des Scheins, Mixed Reality, einen    Seite mit gleicher Geschwindigkeit weiterfliegt. Seine
                                                              neuen Zugang zur Sicht auf Mensch-Maschine Interak-         Beobachtungen wären in einem Widerspruch, aber letzt-
                                                              tionen und zum Systemdesign bekommen können.                endlich würde er sich wohl entscheiden, den fehlenden
                                                                                                                          Schatten als Abstraktion oder fehlende Beleuchtung zu
                                                              TECHNISCHE MÖGLICHKEITEN VON MIXED REALITY                  interpretieren und eine kontinuierliche Bewegung einer
                                                              Hinter dem vom Computer über seine Ein-Ausgabegeräte        Kugel anzunehmen. Dasselbe Erscheinungsbild wäre
                                                              vermittelten Schein stehen programmierte Verhaltens-        aber auch durch einen elastischen Stoss einer bewegten
         Abb. 2                          Abb. 4               modelle, die mehr oder weniger genau die uns bekann-        Kugel auf eine ruhende Kugel gleicher Masse hinter der
  Kugel vor einer Wand             Eine magische Wand
                                                              ten physikalischen Gesetze repräsentieren. Sie reichen      Wand zu erzeugen (Abb.3). Es stellt sich die Frage, ob
                                                              von Animationen, in denen trickfilmartig Einzelbilder so     diese Fortsetzung eines physikalischen Phänomens (der
                                                              erzeugt werden, dass sie den Eindruck einer Bewegung        ankommenden Kugelmasse) nicht auch in einer durch
                                                              vermitteln, ohne dass hinter der Bilderzeugung ein im       den Computer vermittelten Weise über eine trennende
                                                              Rechner formalisiertes physikalisches Gesetz steht, bis     Wand hinaus, wie in Abb. 5 dargestellt, erfolgen kann.
                                                              zu Simulationen, die auf der Basis möglichst genauer        Dieses ist in der Tat möglich, indem der Impuls der ein-
                                                              physikalischer Repräsentanz bestimmter ausgewählter         gehenden Kugel gemessen und dann gespeichert wird
                                                              Phänomene beruht. Sind diese bei der Simulation immer       und auf der anderen Seite ein entsprechender Impuls
           Abb. 3                         Abb. 5              erfolgenden Abstraktionen (Konzentration auf ausge-         mit einer neuen Kugel erzeugt wird. Diese technische
Elastischer Stoß zweier Kugeln       Reale Kugel (rot)        wählte Phänomene, Vernachlässigung anderer) für die         Möglichkeit lässt sich nun in vielfältiger Weise für eine
                                 und virtuelle Kugel (grün)   Nutzer der Simulationssysteme nicht mehr einsichtig, so     Durchdringung von Realität und Virtualität nutzen. Eine
28                                                            kann ein Verlust an Urteilskraft eintreten, der eine Ver-   virtuelle Kugel (grün) trifft auf eine virtuelle Trennwand
und der computergesteuerte versteckte Mechanismus           MIXED REALITY
generiert eine reale Kugel (rot), die mit gleichem Impuls
aus einer realen Wand fliegt. Diese Lösung kommt einer
Idee sehr nahe, die schon von dem Computergraphik
Pionier Sutherland (1965) geäußert wurde: „The ulti-
mate display would, of course, be a room within which
the computer can control the existence of matter …. a
bullet displayed in such a room would be fatal.”
  Unsere Forschung und Lehre beschäftigt sich mit tech-
nischen Möglichkeiten und Grenzen dieser Verdoppelung
und Fortsetzung von physikalischen Phänomenen in
Schein und umgekehrt.

BREMER STUDENTEN SPIELEN MIT SCHEIN UND WIRKLICHKEIT
Es sollen vier Projekte vorgestellt werden, die von Stu-
dentinnen und Studenten der Bremer Studiengänge
Informatik, Digitale Medien und Kulturwissenschaft
durchgeführt wurden: Theater der Maschinen, Sensoric
Garden, Mixed Reality Stages, Wedding Rehearsal in
Cybertown und Mixed Reality Caves.

Theater der Maschinen
Diese Theaterinszenierung thematisierte die Auseinan-
dersetzung zwischen
         einem Avatar, einer Holzmarionette
         zwei Robotern, einem Robot-Schauspieler und
         einem Cellisten
um die Frage:
Wer kontrolliert wen in einem Mensch-Machine System
oder welchen Spielraum haben Menschen und Maschinen
in einem hochtechnisierten System?                                    29
MIXED REALITY   Der Cellist spielte mit großer Hingabe ein klassisches
                Stück nach der Partitur des Komponisten. Der auf eine
                Leinwand projizierte Avatar bewegte sich, interaktiv von
                seinem Designer gesteuert, nach dieser Musik und steu-
                erte gleichzeitig über ein Programm die Bewegungen
                einer Holzmarionette, die an einem Servo-Motor-Gerüst
                hing (Abb. 8-12). Als die künstlichen Figuren begannen
                ein gewisses unabhängiges Eigenleben zu zeigen, wurde
                der Cellist über Handy aufgefordert, die Steuerung des
                Avatars und der Marionette über einen Sensorgalgen zu
                übernehmen. Daraus entwickelte sich eine Szene mit
                Auftritten weiterer Maschinen , die dem Zuschauer die
                Interpretationsmöglichkeiten eröffnete, der Cellist kon-
                trolliere die Maschinerie oder er sei selbst kontrolliert
                von ihr.

                Sensoric Garden
                Dieses Projekt METHEA (Medien und Theater) setzte
                sich mit dem Erleben in realen und virtuellen Welten
                auseinander. Höhepunkt des Projekts waren nächtliche
                Installationen Sensoric Garden in der gleichzeitig statt-
                findenden Rosenausstellung „A rose is a rose is a ...“
                auf dem ehemaligen Theaterberg anlässlich der 200-
                Jahrfeier der Bremer Wallanlagen.
                  Diese Installationen kreisten um eine Skulptur von
                Gerhard Marks, die als virtuelle Figur erwachte und mit
                der die Besucherinnen interagieren konnten.
                  Aegina, Erwachen einer Skulptur
                  Tempel der Philosophen unter Feuer und Wasser
                  Flirt-Bank, Treffen mit Aegina
30                Klaviatur, Tanz oder Komposition
Wedding Rehearsal in Cybertown                            MIXED REALITY
                                                        Gegenstand dieser kleinen Theateraufführung waren
                                                        unterschiedliche Handlungs- und Kommunikationsbezie-
                                                        hungen bei der Vermischung von realer Bühne, virtueller
                                                        Bühne im Cyberspace, realen und virtuellen Schauspie-
                                                        lern und Zuschauern, die örtlich anwesend im Auffüh-
                                                        rungsraum oder verteilt im Internet waren. Es wurde das
                                                        verrückte Stück einer durcheinander geratenen Hoch-
                      Flirt-Bank                        zeitsprobe gespielt. 18 studentische Akteure steuerten
                                                        jeweils über PCs ihre selbst entworfenen Avatare in
                                                        einem Cyberraum im Internet und agierten gleichzeitig
                                                        miteinander in physischer Präsenz untereinander und
                                                        mit den real anwesenden Zuschauern im realen Auffüh-
                                                        rungsraum.

         Klaviatur                 Philosophen-Tempel   Mixed Reality Caves
                                                        Drei parallele Projekte beschäftigten sich mit unter-
Mixed Reality Stages                                    schiedlichen Konzepten der räumlich geschlossenen
In diesem Projekt wurden zukünftige Formen von Thea-    Bildprojektion von 3D-Phantasiewelten, die über Senso-
terbühnen und Aufführungstechniken erkundet.            rik und Aktorik steuerbar waren.

                                                                                                                            31
MIXED REALITY   FORSCHUNGSPERSPEKTIVEN                                     - die zeitliche Dynamik von Sensor-Aktor-Prozessor
                Neben den vorgestellten spielerisch performativen            Kopplungen und Übertragungen im Netz,
                Erkundungen der Möglichkeiten von Mixed Reality            - Manipulationstechniken und gesellschaftliche
                beschäftigt uns deren Anwendung in neuen Formen              Normen
                  - von Kooperation,
                  - von Systementwicklung,
                  - von Lernumgebungen,                                   Gefahren und Chancen der Durchdringung sind:
                  - und von darstellender und bildender Kunst.
                                                                           - Verlust/Gewinn von Realitätssinn
                                                                           - Aufspaltung/Verbindung von Wirklichkeit      und
                Welche Möglichkeiten bietet diese Technik für die Inge-      Schein
                nieursausbildung? Bezogen auf die von Böhle & Milkau       - Zerstreuung/Integration von Persönlichkeit
                geforderten Dimensionen der Ingenieursbildung können       - Verlust/Gewinn an Urteilskraft
                wir folgendes Potenzial erkennen:                          - Manipulierbarkeit/Standfestigkeit
                • objektive, wissenschaftlich-technische Dimension
                  - Verständnis von augmented reality (angereicherter
                    Realität)
                  - Grundlagen und Perspektiven von mixed reality
                  - Grenzen und Widersprüche der Automation
                  - Stärken und Schwächen formaler Methoden
                • subjektive Dimension
                  - Auseinandersetzung mit Freiheit und Zwang- men-
                    schen-zentrierte Entwicklungsperspektiven
                  - Expressivität und Performanz
                  - Erkundung von Spiel versus Zweckrationalität

                Grenzen der Durchdringung von Realität und Virtualität
                sind:
                  - Begrenzte Kenntnisse und Fähigkeiten in der Erken-
32                  nung und Erzeugung physikalischer Phänomene,
L ITERATUR                                                              and Simulation. (W. H. Lunceford & E. H. Page (Ed.)),   MIXED REALITY
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34
SCHEIN UND WIRKLICHKEIT IM THEATER
Peter Lüchinger

Schönen guten Abend,                                       Prolog aus Heinrich V.

ach es ist ja noch Tag. Was ist eigentlich für eine Zeit   Oh wären wir erleuchtet wie mit Feuer
draußen, was ist für eine Zeit drinnen? Draussen ist       den hellsten Himmel voller Phantasie
es hell, hier drin ist es dunkel. Ein spannender Unter-    zu wölben über diesem Bühnenkönigreich,
schied. Ich bin Schauspieler bei der bremer shakespeare    mit Prinzen als Figuren und Monarchen,
company und wurde vor zwei Monaten gefragt, ob ich         das brodelnde Spektakel anzuschaun!
einen Vortrag bei dieser Veranstaltung halten könnte,      Dann käm der kreigerische Heinz, ganz wie er war,
„na klar mache ich“ und ich habe zugesagt. Aber ein        im Helm des Mars zurück, und ihm bei Fuß,
Schauspieler, wie ich, kann keine Vorträge schreiben, er   wie Doggen angeleint, jauln Hunger, Schwert und
kann eigentlich nur Texte vortragen, sein Wissen weiter-   Feuer,
geben, weiter erzählen. Dieses Wissen hat sehr viel mit    auf Beute lauernd. Doch verzeiht, Ihr Edlen,
dem Autor Shakespeare zu tun. Die bremer shakespeare       dem seichten, unentfachten Geist, der´s wagt,
company, der Name sagt es, beschäftigt sich, segnet        auf dieses klägliche Gerüst zu bringen
sich mit diesem Autor. Ich werde gleich eine Textstelle    solch grossen Gegenstand. Kann dieser Hühnerstall
vortragen, und danach könnten wir feststellen: Das war     die Weite Englands fassen? Dürfen wir
der Vortrag, in diesem Text wird eigentlich schon alles    in dieses O aus Holz die Truppen zwängen,
zum Thema Schein und Wirklichkeit gesagt, alles gesagt,    die eine Welt erschüttern bei Azincourt?
was das Theater zur Scheinwirklichkeit macht. Aber ich     Verzeiht: kann nicht die schiefe, kleine Zahl
soll einen Vortrag halten so werde ich anschliessend,      auf einem Zettel für Millionen stehn?
zwei, drei Thesen aufstellen. Ob das gesagte wahr ist,     So laßt uns, Ziffern dieser grossen Summe,
das zu bewerten, überlasse ich Ihnen.                      heut abend Eure Phantasie entfachen!                35
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