Modellierung und Simulation multiphysikalischer Phänomene in der Ingenieurausbildung am Beispiel von Rube-Goldberg-Mechanismen - wiete
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Global J. of Engng. Educ., Vol.10, No.3 © 2006 UICEE Published in Australia Modellierung und Simulation multiphysikalischer Phänomene in der Ingenieurausbildung am Beispiel von Rube-Goldberg-Mechanismen Thorsten Pawletta Sven Pawletta Forschungsgruppe Computational Engineering und Automation, Hochschule Wismar - University of Technology, Business and Design, Philipp-Müller-Straße 21, PF 1210, D-23952 Wismar, Deutschland Im Beitrag werden Rube-Goldberg-Mechanismen vorgestellt; absurde technische Konstruktionen, die auf einfachen multiphysikalischen Phänomenen basieren. Anhand von zwei konkreten Mechanismen und den mit ihnen verbundenen Modellierungs- und Simulationsproblemen wird gezeigt, dass diese sich hervorragend als multiphysikalische Anwendungsbeispiele im Rahmen der Ausbildung zur Modellbildung und Simulation eignen. EINFÜHRUNG zurückgegriffen, deren Lösungen bereits in einer Vielzahl von Fachbüchern veröffentlicht wurden. Damit eignen Die Grundlagen der Modellbildung und Simulation werden sich diese nur bedingt für selbstständig zu bearbeitende in der Ingenieurausbildung in verschiedenen Lehrfächern Aufgaben. Dennoch sei an dieser Stelle auf die sehr vermittelt. In der Regel wird zwischen der Modellbildung/ gute Aufgabensammlung in Ref. [1] verwiesen. Simulation vorrangig kontinuierlicher Systeme, oft als In diesem Beitrag werden Rube-Goldberg- Simulation technischer Systeme bezeichnet, und der Mechanismen vorgestellt; absurde technische Modellbildung/Simulation ereignisorientierter Systeme, Konstruktionen, die auf einfachen multiphysikalischen oft als Simulation von Fertigungs- und Logistiksystemen Phänomenen basieren. benannt, unterschieden. Die Finite-Elemente-Methode Anhand von zwei konkreten Mechanismen und den wird zumeist fachbezogen im Rahmen verschiedener mit ihnen verbundenen Modellierungs- und Simulations- Lehrgebiete, wie zum Beispiel der Technischen problemen soll gezeigt werden, dass diese sich hervor- Mechanik oder der Elektrotechnik, behandelt. Dieser ragend als selbstständig zu bearbeitende Aufgaben- Beitrag befasst sich ausschließlich mit allgemeinen stellungen eignen und dazu beitragen, die Kunst des Problemen der Modellbildung und Simulation vorrangig Modellierens und Simulierens zu erlernen. kontinuierlicher technischer Systeme. Die Ausbildung auf dem Gebiet der Modellbildung und RUBE-GOLDBERG-MECHANISMEN Simulation technischer Systeme beginnt in der Regel im Hauptstudium und soll mathematische sowie Rube Goldberg ist der Künstlername des 1883 in San softwaretechnische Grundlagen mit technischem Francisco geborenen Reuben Lucius Goldberg. Anwendungsbezug vermitteln. Während zumindest vom Bekannt wurde er durch die comic-artige Darstellung Studienablauf her problemlos auf das Grundwissen der absurder Maschinenmechanismen in der ersten Hälfte vorgelagerten Mathematik- und Informatikausbildung des 20. Jahrhunderts. Einen guten Einblick in seine aufgesetzt werden kann, ist es oft schwierig einen Arbeiten geben [2] und [3]. umfassenden Bezug zu realitätsnahen technischen Aus der Sicht eines dynamischen Systems bestehen Systemen herzustellen, da das dafür notwendige Rube-Goldberg-Mechanismen aus verketteten Teil- Fachwissen noch nicht ausreichend verfügbar ist. Aus systemen, die sich bei Erreichen von Schwellwerten diesem Grund wird oft auf Standardbeispiele aufeinanderfolgend aktivieren. Die Mechanismen 257
258 T. Pawletta & S. Pawletta basieren in der Regel auf einfachen optischen, mechanischen, elektrischen und thermodynamischen Phänomenen und stellen damit multiphysikalische Systeme dar. Die Abbildungen 1 und 2 zeigen zwei typische Rube-Goldberg-Mechanismen. Die Erläuterungen zur Alarm Clock können direkt der Abbildung 1 entnommen werden. Der Pencil Sharp- ener in Abbildung 2 arbeitet nach folgendem Grundprinzip: Nach Öffnen des Fensters A fliegt der Drachen B und spannt die Schnur C, welche den Mottenkäfig D öffnet. Die Motten E zerfressen den Mantel F, wodurch sich der Schuh G absenkt und den Schalter H des Bügeleisens I einschaltet. Dadurch verbrennt der Stoff J und es steigt Qualm K im hohlen Baum L auf. Dadurch springt das Opos- sum M in den Korb N, welcher absinkt und über die Schnur O den Käfig P des Vogels Q öffnet. Dieser spitzt mit dem Schnabel den Bleistift R an. Sollten der Vogel oder das Opossum krank sein, muss manuell mit dem Messer S gearbeitet werden. Aufgrund der relativ einfachen physikalischen Grundprinzipien eignen sich Rube-Goldberg- Mechanismen bereits zu Beginn des Fachstudiums als Anwendungsbeispiele für die Modellbildung/ Abbildung 1: Alarm Clock nach Rube Goldberg [3]. Simulation vorrangig kontinuierlicher technischer Systeme. Da viele Sachverhalte nur abstrakt dargestellt spezifizierten Systembeschreibungen schwer. Ist der sind und keine Angaben bezüglich der Parametrierung Detaillierungsgrad erst einmal festgelegt, ein System vorliegen, verlangen sie vom Modellierer ein gewisses freigeschnitten und sind zulässige Annahmen bezüglich Maß an Abstraktionsvermögen und Kreativität. Damit Reibungseinflüssen, idealen Gaseigenschaften, etc, eignen sie sich sehr gut, die Kunst des Modellierens getroffen, wird die weitere Modellbildung, d.h. die und Simulierens zu erlernen. Spezifikation von Bilanzgleichungen, konstitutiven Unter der Kunst des Modellierens soll insbesondere Beziehungen und Zufallseinflüssen, von den meisten die erste Phase der Modellbildung, der Abstraktions- Studenten relativ sicher beherrscht. Die Kunst des prozess, verstanden werden. Dieser fällt Lernenden Simulierens umfasst insbesondere die software- gerade bei multiphysikalischen und unscharf technische Umsetzung, die Auswahl geeigneter Abbildung 2: Pencil Scharpener nach Rube Goldberg [3].
Modellierung und Simulation Multiphysikalischer... 259 numerischer Lösungsverfahren, und die Planung von Wassersack lautet dm/dt=μ*ρ*A*vab(t) Simulationsexperimenten. Bei den Rube-Goldberg- (μ Ausflusszahl, ρ Dichte, A Querschnittsfläche, vab Mechanismen ergeben sich aufgrund der sequentiell Ausflussgeschwindigkeit). Unterschiedliche Modelle zu aktivierenden Teilsysteme entsprechende folgen hier aufgrund der vom Füllstand h(t) abhängigen Anforderungen hinsichtlich der Programm- Abflussgeschwindigkeit vab(t), deren Berechnung von strukturierung. Die fehlenden Parametervorgaben der Geometrie des Wassersackes abhängt. Auf Basis erfordern oft mehrere Simulationsexperimente zur eigener Experimente mit Einkaufstüten modellierte ein Bestimmung sinnvoller Parameterkombinationen. Student auch eine füllstandsabhängige Sackgeometrie. Dabei entstehen bei ungünstigen Parametrierungen Die Modellierung des dritten und vierten Teilsystems schnell dynamisch steife Systeme. Untersuchungen beruht auf bekannten mechanischen Beziehungen. mit Studenten zeigten, dass bei einer unabhängigen Dennoch gibt es verschiedene Modellansätze, zum Aufgabenbearbeitung sehr unterschiedliche Modelle Beispiel aufgrund von unterschiedlichen Annahmen zu und Simulationsprogramme entwickelt werden [4]. Reibungseinflüssen oder den Seileigenschaften (starr, Damit eignen sich die Mechanismen hervorragend für federelastisch). selbstständig zu bearbeitende Aufgaben. Die Implementierungen der Simulationsmodelle Im folgenden Abschnitt werden die beiden unterscheiden sich trotz Verwendung der gleichen vorgestellten Mechanismen auszugsweise detaillierter Simulationsumgebung (Matlab/Simulink) gravierend. betrachtet. Es werden beispielhaft die Herangehens- Bezüglich der Simulation zeigte sich, dass bei etwas weise der Studenten, d.h. der Abstraktionsprozess, detaillierterer Modellierung das Modell oft nicht mehr aufgezeigt und einige Simulationsergebnisse präsentiert. mit den einfachen expliziten Runge/Kutta-Verfahren (ode23, ode45) berechenbar ist. Die besten Ergebnisse MODELLEIRUNGSANSÄTZE, ergaben sich in der Regel mit dem für steife Systeme SIMULATIONSPROBLEME UND - geeigneten ode23tb Verfahren. ERGEBNISSE Für den in Abbildung 2 dargestellten Pencil-Sharp- ener-Mechanismus sind in Abbildung 3 beispielhaft die Der in Abbildung 1 dargestellte Alarm-Clock- Simulationsergebnisse eines Anspitzvorganges Mechanismus besteht aus dynamischer Sicht aus vier dargestellt, welcher in diesem Fall etwa 3 Minuten über Zustandsereignisse verketteten Teilsysteme: und 15 Sekunden dauerte. Die Aktivierung der dynamischen Teilsysteme und die dazu definierten • Einbrennen Auslaufloch in Wassersack (A,B); Zustandsereignisse können im wesentlichen der wenn υsack(t) ≥ υzünd B 2; Abbildung 3 entnommen werden. Da der Sprung des • Auslaufender Wassersack (B); wenn Opossums M und damit der sinkende Korb N sowie mwasser,ab(t) ≥ mkritisch B 3; der sich öffnende Vogelkäfig P eine hohe Dynamik • Kellenhebel (C,D); wenn ϕhebel(t) ≥ ϕ besitzen, sind deren Zeitfunktionen gezoomt im Plot klappe,oben B 4; A1 der Abbildung 3 dargestellt. Der Anspitzfortschritt • Kugel-Klappbett (E,F,G,H); wenn ϕ bett(t) ≥ 90° durch den Vogel Q zeigt der gezoomte Plot A2 der B STOP. Abbildung 3. Hinsichtlich der Modellbildung/Simula- tion bietet der Pencil-Sharpener-Mechanismus Großen Gestaltungsspielraum bei der Modellierung ähnliche Gestaltungsfreiräume und Anforderungen wie bietet insbesondere das erste Teilsystem. Das der Alarm-Clock-Mechanismus. Einbrennen eines Auslaufloches wird in der Regel mit Dies soll beispielhaft an der Herangehensweise einer einfachen Leistungsbilanz dEthermisch eines Studenten bei der Modellierung des Mottenaus- /dt= Pzu(t) – Pab(t) für ein finites Sackelement flugs aus dem Käfig (D, E) sowie der Mantelmassen- beschrieben. Bei der Berechnung von Pzu(t) werden änderung durch Mottenfraß (E, F) aufgezeigt werden. sehr unterschiedliche Ansätze verfolgt. Während einige Studenten nur eine konstante Sonnenleistung ... Motten können aus dem Käfig ent- ansetzten und die Lupenfläche sowie einen Lupen- weichen, wenn die Käfigtür durch den Albedowert berücksichtigen, gehen andere sehr Drachen einen Mindesthub erreicht hat. detailliert vor. Sie modellieren: den tageszeitlichen Die Anzahl der aus dem Käfig entwichenen Sonnstand, den Einfallswinkel Sonne B Lupe und Lupe Motten B Sack, die Bewegung des Lupenbrennpunktes NMa(t) ergibt sich aus einer beziehungsweise zufallsbedingte Wettereinflüsse in Proportionalitätsbetrachtung. Es wird Form von Bewölkung und Wind. postuliert, dass mit zunehmender Motten- Der generelle Modellansatz für den auslaufenden dichte (Mottenanzahl/Volumeneinheit)
260 T. Pawletta & S. Pawletta Abbildung 3: Simulationsergebnisse des Systems Pencil Sharpener.
Modellierung und Simulation Multiphysikalischer... 261 mehr Motten pro Zeiteinheit durch die 4. Studenten der Hochschule Wismar: Käfigöffnung entweichen. Desweiteren Abschlussbelege im Lehrgebiet Simulation soll die Änderungsrate direkt proportional technischer Systeme. Wismar: Hochschule zu der geöffneten Fläche A des Käfigs Wismar (2001-2005). sein, die vom Türhub h(t) durch den Drachen abhängt. Damit folgt für die BIOGRAPHIE Änderungsrate der Mottenanzahl im Käfig dNMi /dt= – (K*A*NMi(t))/ V, mit K Thorsten Pawletta ist 1960 Propotionalitätsfaktor und V Käfig- in Meyenburg/Brandenburg volumen. geboren. Er studierte Für die Anzahl ausgeflogener Motten gilt Maschinenbau an der damit Ingenieurhochschule Wismar, NMa(t) = NMi(t0) – NMi(t). Die Flugzeit arbeitete anschließend am der Motten vom Käfig zum Mantel wird Forschungszentrum für vernachlässigt. Weiterhin wird Hafentechnik/Industrie- angenommen, dass die Motten über keine automation Wismar und am Eigenmasse verfügen und somit den Man- Fachbereich Informatik der tel nicht beschweren. Sie erhalten auch Universität Rostock. Seine keine Masse durch den Verzehr des Man- Promotion erwarb er 1991 auf dem Gebiet der tels. Die von ihnen gefressene Mantel- Angewandten Informatik an der Technischen materie wird sofort wieder ausgeschieden Hochschule Wismar. Seit 09/1994 ist er Professor für und fällt zu Boden. Außerdem wird von Angewandte Informatik am Fachbereich Maschinen- einem sinusähnlichen Fresszyklus der bau/Verfahrens- und Umwelttechnik der Hochschule Motten ausgegangen, d.h. der Motten- Wismar und lehrt dort schwerpunktmäßig hunger schwankt zwischen Null und Programmierung, Modellbildung und Numerische einer maximalen Fressrate FR. Damit Verfahren. Im Jahr 2002 gründete er gemeinsam mit folgt für die Änderungsrate der Mantel- den Professoren Sven Pawletta und Peter Dünow die masse fachbereichsübergreifende Forschungsgruppe Com- dmmantel /dt= – FR * NMa(t)* sin(w* t). putational Engineering und Automation, in welcher zur Zeit 9 Promotionsvorhaben bearbeitet werden. ZUSAMMENFASSUNG Sven Pawletta ist 1964 in Die Autoren nutzen seit fünf Jahren Rube-Goldberg- Wittstock/Brandenburg Mechanismen als selbstständige Übungsaufgaben im geboren. Er studierte Elektro- Rahmen des Lehrgebietes Simulation technischer technik an der Universität Systeme, welches durch Maschinenbau-, Verfahrens- Rostock, arbeitete anschließend technik- und Elektrotechnikstudenten belegt wird. Die als wissenschaftlicher Mit- Studenten können ihre Aufgaben aus einem Pool arbeiter an den Fach- wählen und es zeigte sich, dass die Rube-Goldberg- bereichen Elektrotechnik Mechanismen vor allem von sehr guten Studenten und Informatik der Uni- ausgewählt und mit enormem Eifer bearbeitet werden. versität Rostock sowie am In einigen Jahrgängen entwickelte sich ein regelrechter Institut für Automatisierungs- Wettbewerb hinsichtlich der Modelldetaillierung und technik und Navigation MATNAV Warnemünde. der Bestimmung sinnvoller Systemparameter. Seine Promotion erwarb er 1998 auf dem Gebiet der Parallelverarbeitung an der Universität Rostock. Seit REFERENZEN 11/2001 ist er Professor für Anwendungs- programmierung am Fachbereich Elektrotechnik und 1. Scherf, H.E., Modellbildung und Simulation Informatik der Hochschule Wismar und lehrt dort Dynamischer Systeme. München: Oldenbourg schwerpunktmäßig Computational Engineering sowie Verlag (2003). Verteilte und Parallele Systeme. 2. Wolfe, M.F., Rube Goldberg Inventions. New In der fachbereichsübergreifenden Forschungs- York: Simon & Schuster (2000). gruppe Computational Engineering und Automation 3. The Official Rube Goldberg Web Site, http:// vertritt er den Schwerpunkt Verteilte und Parallele www.rube-goldberg.com Systeme.
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