Rezension Zitation: Schleicher, Janine Leona. "Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg. Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018" ...

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Rezension Zitation: Schleicher, Janine Leona. "Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg. Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018" ...
Rezension
Zitation: Schleicher, Janine Leona. »Murphy, Graham J. und Lars Schmeink,
Hg. Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018«. Zeitschrift für
Fantastikforschung 7.1 (2019): 1–7. DOI: https://doi.org/10.16995/zff.1275.
Erstveröffentlichung: 10. Juli 2019

Copyright:
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Schleicher, Janine Leona. »Murphy, Graham J. und Lars
                                 Schmeink, Hg. Cyberpunk and Visual Culture. Routledge,
                                 2018«. Zeitschrift für Fantastikforschung 7.1 (2019):
                                 1–7. DOI: https://doi.org/10.16995/zff.1275.

REZENSION

Murphy, Graham J. und Lars Schmeink,
Hg. Cyberpunk and Visual Culture.
Routledge, 2018.
Janine Leona Schleicher
Freie Universität Berlin, DE
janine.schleicher@fu-berlin.de

Book Review.
2                                   Schleicher, Janine Leona: Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg.
                                                        Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

Cyberpunk als (Sub-)Genre und Bewegung wird meist in den 1980er-Jahren und in
der Literatur verortet – das Bild prägen Autoren wie William Gibson, Bruce Sterling
oder John Shirley. Zeitgenössische Ausformungen des Genres lassen sich hingegen
eher im Bereich des Films – etwa Blame! (JP 2017, Regie: Hiroyuki Seshita,), Ghost in
the     Shell (US 2017, Regie: Rupert Sanders), Blade Runner 2049 (US 2017, Regie: Denis
Villeneuve), Mute (GB/DE 2018, Regie: Duncan Jones), Ready Player One (US 2018,
Regie: Steven Spielberg), Alita: Battle Angel (US 2018, Regie: Robert Rodriguez,) –, der
TV-Serien Mr. Robot (USA Network 2015, Idee: Sam Esmail) und Altered Carbon (Net-
flix 2017, Idee: Laeta Kalogridis) sowie des Videospiels1 und damit verstärkt in visuel-
len Medien finden. Während die Technologie und Digitalisierung alle Aspekte des
alltäglichen menschlichen Lebens verändert und restrukturiert, scheinen die thema-
tischen wie visuellen Ausformungen des Cyberpunk aktueller denn je – »we are sur-
rounded, inundated, and saturated by media technologies« (xxii). Daraus ergibt sich
die Notwendigkeit, Cyberpunk als immer auch rückwärtsgewandte und historisierte
Form produktiv in die sozial- und kulturtheoretische Spezifik des 21. Jahrhunderts,
in aktuelle und visuelle Modi des »techno-cultural engagement« (xvii) zu integrieren.
        Mit dieser Absicht versammelt der vorliegende Sammelband einige große
Namen der Science-Fiction-, Fantastik- und Cyberpunk-Forschung, um eine wichtige
Leerstelle in der bisherigen Beschäftigung mit Cyberpunk als allgegenwärtigem
und ausgeprägt visuellem Bestandteil der zeitgenössischen Medienkultur zu fül-
len. Diese wurde so explizit zuvor nur – wohlweislich gebunden an einen sehr viel
engeren nationalen wie theoretischen Kontext – in Tokyo Cyberpunk: Posthumanism
in Japanese Visual Culture von Stephen T. Brown angesprochen (welcher allerdings
nur in einem Artikel kurz Erwähnung findet (97) und es nicht einmal in den Index
schafft). Als grundlegende theoretische Herangehensweise wird die Visualität – die
Sichtbarkeit im Sinne der Fähigkeit zu sehen und gesehen zu werden in Anlehnung an
Nicholas Mirzoeff (xxv) – von Cyberpunk-Narrativen ins Zentrum der ­akademischen
Untersuchung wie auch der kulturellen Relevanz des Genres gerückt. Gleichwohl wird

    1
        Beispielsweise in Observer (2017), Ruiner (2017), Rain of Reflections (2018), Detroit: Become Human (2018),
        The Last Night (angekündigt) und Cyberpunk 2077 (angekündigt).
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Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

Cyberpunk viel weniger als Genre denn als ästhetische Position (51) und vor allem
als kulturelle Formation nach Thomas Foster verstanden (xxi). Wie Mitherausgeber
Graham J. Murphy in seinem Beitrag abschließend feststellt: »Cyberpunk-as-genre
may continue to have traction, but it is cyberpunk-as-cultural-formation where cyber-
punk truly lives and thrives in the 21st century« (52). Eine wichtige Rolle spielt hier-
bei die Einordnung von Cyberpunk als Element der visuellen Kultur in den Kontext
der Postmoderne (xxi), in welchem das Sichtbare und die Bilder zunehmend den
Alltag dominieren und die mediale Perspektive sich auf primär visuell konzipierte
Formen verschiebt, deren Verständnis und Analyse wiederrum nach ebensolchen
neuen theoretischen Systemen verlangen (xxiii).
    Das    elegant    geschriebene      Vorwort     von    first-wave-Cyberpunk-Forscher
Scott Bukatman liefert neben einer kurzen theoriegeschichtlichen Einordnung
gleichzeitig die Terminologie für die inhaltliche Grundstruktur, entlang derer sich
die Argumentation in den folgenden drei Teilen entfaltet: von der literarischen
zur visuellen Form, vom Visuellen zum Virtuellen und von dort aus hin zur
Fruchtbarmachung des Cyberpunk als »fiction capable of engaging with the world as
shaped by information technology« (xvi).
    Im ersten Teil wird Cyberpunk erfolgreich von seinen literarischen Wurzeln
losgelöst, indem ausführlich und aus differenzierten Blickwinkeln die Dominanz
visueller Metaphern und die notwendige Allgegenwart bildhafter, hyperdeskriptiver
Sprache in der Cyberpunk-Prosa verdeutlicht wird, deren visuelle Ästhetik wiederum
als maßgeblich für Konstitution und Verbreitung des Cyberpunk geltend gemacht
wird (u. a. 81). Indem Cyberpunk als visuelle Ausformung der sozialen Wirklichkeit
und dementsprechend als visuelle Kultur verstanden wird (xxiii), erklärt sich
gleichzeitig auch seine fortdauernde Präsenz und Relevanz in zeitgenössischer (Pop-)
Kultur und im kulturellem Bewusstsein, wo er von primär visuellen Medien wie
Videospielen, Comics, Film, Fernsehen und digitaler Kunst festgehalten und weiter
geprägt wurde, wie im zweiten Teil des Bandes näher erläutert wird.
    Die Beiträge bewegen sich dabei auf einem nahezu durchgängig hohen Niveau
und verfolgen eine gemeinsame theoretische Grundlage, die im Verlauf des Buches
aufrechterhalten, geteilt und erweitert wird. Als gemeinsame Referenzpunkte
4                        Schleicher, Janine Leona: Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg.
                                             Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

dienen unter anderem Marshall McLuhan, N. Katherine Hayles, Donna J. Haraway,
Frederic Jameson, Jean Baudrillard, aber auch Rosi Braidotti, Nicholas Mirzoeff,
Thomas Foster und Sherryl Vint. Diese und andere häufig zitierte Autoren knüp-
fen die einzelnen Beiträge zu einem konzeptuellen Ganzen zusammen, wiederho-
len sich mitunter allerdings doch auch etwas zu häufig. Was bei Vints Diagnose der
Möbiusband-ähnlichen Verflechtung des Materiellen und des Simulierten in der
heutigen Welt (xxiii, 36, 104, 187, 191, 194, 247) noch durchaus verkraftbar und der
Argumentation zuträglich ist, wird bei der vierten und fünften Wiederholung von
William Gibsons berühmter Anekdote zu spielenden Kindern in Game-Arkaden als
Inspiration für seinen Entwurf des Cyberspace (21, 101, 155, 178, 264), so passend sie
auch sein mag, etwas mühsam.
    Doch durch die kurzen Einführungen zu den einzelnen Sektionen werden diese
redaktionell sehr gut in der Gesamtargumentation situiert und verlieren trotz ihrer
teils engeren theoretischen oder analytischen Ausrichtung auf ihren spezifischen
Gegenstand nie völlig die Relevanz zur Grundthese des Werkes. Murphy bindet
beispielweise mit seiner Analyse der Volltext-Comic-Adaption von Do Androids
Dream of Electric Sheep? auch Philip K. Dick trotz des zeitlichen Abstands stimmig
in eine Entstehungs- und Wirkungsgeschichte des Cyberpunk ein – und zwar recht
kontrovers nicht nur als einen das Genre antizipierenden, sondern es gleichsam
definierenden Autor (52). Immer wieder wird auch der retrofuturistische Bezug des
Genres fruchtbar erläutert, angefangen in Christian Hviid Mortensens Diskussion
von Transmetropolitan, in welcher er immer wieder auf anachronistische Momente
und Technologien zu sprechen kommt, um diese Verbindung von Medienfuturismus
und Medienanachronismus als zentral für eine Cyberpunk-Poetik herauszuarbeiten
(6, 13). Paweł Freliks medien- und epochenübergreifendes Kapitel »›Sillhouettes of
Strange Illuminated Mannequins‹: Cyberpunk’s Incarnations of Light« beschäftigt
sich hingegen mit der Verwendung bestimmter Lichtinszenierungsstrategien, deren
visuelle Nostalgie er mit gelungener Bezugnahme auf Jamesons Überlegungen zur
kulturellen Amnesie und der Vergangenheit als Bildersammlung (93, 97) feststellt.
    Den Beiträgen des dritten und letzten Teils liegen die Annahme und der
Eindruck einer Konvergenz von Zukunft und Gegenwart, von Science Fiction
Schleicher, Janine Leona: Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg.                  5
Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

und realtechnologischen Entwicklungen zugrunde. Besonders hier eröffnen sich
spannende Forschungsperspektiven, die ein breiteres internationales Spektrum
­
miteinschließen. So bringen zum Beispiel Evan Torners Fundstücke im bundes-
deutschen Kino der 1980er-Jahre eine erfrischende Bewegung weg vom engen Fokus
auf US-amerikanische und japanische Kulturerzeugnisse mit sich, die den Horizont
und das Verständnis von Cyberpunk als visuelle Kultur erweitert. Seine Analyse des
dort zu findenden Zukunftspessimismus (196, 209 f.) liefert eine wohlinformierte
und differenzierte Einbettung in die deutsche und europäische Filmgeschichte, die
dem Band sehr zugute kommt, wenn auch oder gerade weil sie etwas abseits der
sonst recht linearen Argumentation operiert. Ähnlich bereichernd ist Mark Boulds
Betrachtung afrikanischer Filme, die nicht nur einen Kontinent in den Vordergrund
stellt, der im Kontext des Cyberpunk oft marginalisiert, vernachlässigt oder ganz
ausgelassen wird, sondern auch das Augenmerk auf die politischen Aspekte des
Cyberpunk lenkt, die im gesamten letzten Teil stärker verhandelt werden.
    Die viel zitierte Sherryl Vint ist schließlich auch mit einem eigenen Artikel
­vertreten, der sich der Konvergenz von Cyber- und Militärkultur im Cyberpunk-Kino
annimmt. Besonders ihre Analyse von Ender’s Game (US 2013, Regie: Gavin Hood)
bindet sich nicht nur nahtlos in den vorher im Buch geführten Diskurs über die
Visualität von Videospielen sowie das Raum- und Ideenkonzept des Cyberspace
ein, sondern überträgt die Bildsprache des Cyberpunk auch treffsicher auf den
Zusammenhang zwischen visueller Science-Fiction-Kultur und militärpolitischer
Realität bis hin zu Kriegsführung (257).
    Lars Schmeinks verhältnismäßig kurzer, aber konziser Schlusstext fasst die vergan-
genen Beiträge in jeweils kurzer Erwähnung noch einmal zusammen und integriert
sie in seine Argumentation von Cyberpunk als countervisuality im Spätkapitalismus,
der in einer post-panoptischen Welt die Möglichkeit bietet, als Subjekt die Autorität
über das Sehen und die Interpretation des Gesehenen zurückzugewinnen (277).
Verhandlungen einer posthumanen Subjektivität und Verkörperung werden
ebenso wieder aufgegriffen wie die fortlaufende Beschäftigung mit Materialität und
Menschlichkeit, Simulation und Wirklichkeit sowie dem subversiven Potenzial des
cyberpunk-as-cultural-form.
6                        Schleicher, Janine Leona: Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg.
                                             Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

    Gerahmt und miteinander in Verbindung gesetzt durch die jeden Teil
­einführenden Überlegungen der Herausgeber ergibt sich insgesamt eine kohärente
und überzeugende Argumentation, die die Visualität des Cyberpunk medienüber-
greifend in den Vordergrund stellt und im aktuellen Zeit- und Kulturgeschehen
verortet. Die eingangs formulierte Einschätzung »Cyberpunk has become part
of our cultural web of references and provides a cornerstone of our imagining a
technology-driven futurity« (xxv) wird im Verlauf des Bandes ausführlich bestätigt
und erweitert, wodurch sich im Ganzen ein beachtenswerter Beitrag zur aktuellen
Kultur- und Medienanalyse, besonders natürlich im Bereich der Fantastik, ergibt,
dessen Ergebnisse auch als Ausgangspunkt weiterer Arbeiten sinnvoll und l­ angfristig
relevant erscheinen.

Autorin
Janine Leona Schleicher studiert derzeit im Master Filmwissenschaft an der Freien
Universität Berlin und im Bachelor Medieninformatik an der Beuth Hochschule
für Technik Berlin. Zu ihren Interessensgebieten gehören filmische Inszenierun-
gen von Erinnerung, Science Fiction, Neurophilosophie, Körpertheorie und Digital
­Humanities.

Konkurrierende Interessen
Die Autorin hat keine konkurrierenden Interessen zu erklären.

Zitierte Werke
Brown, Steven T. Tokyo Cyberpunk: Posthumanism in Japanese Visual Culture. Palgrave
    Macmillan, 2010. DOI: https://doi.org/10.1057/9780230110069.
Schleicher, Janine Leona: Murphy, Graham J. und Lars Schmeink, Hg.                              7
Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018.

 How to cite this article: Schleicher, Janine Leona. »Murphy, Graham J. und Lars Schmeink,
 Hg. Cyberpunk and Visual Culture. Routledge, 2018«. Zeitschrift für Fantastikforschung
 7.1 (2019): 1–7. DOI: https://doi.org/10.16995/zff.1275.

 Published: 10 Juli 2019

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