Neuartige Materialien - Eckpunkte für einen sicheren und nachhaltigen Lebenszyklus

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Neuartige Materialien - Eckpunkte für einen sicheren und nachhaltigen Lebenszyklus
position // märz 2023
Neuartige Materialien
Eckpunkte für einen sicheren und
nachhaltigen Lebenszyklus
Impressum

Herausgeber:
Umweltbundesamt
Fachgebiet IV 2.2
Postfach 14 06
06813 Dessau-Roßlau
Tel: +49 340-2103-0
buergerservice@uba.de
Internet: www.umweltbundesamt.de

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Autorinnen und Autoren:
Kathrin Schwirn, Doris Völker

Mit Zuarbeit von:
Birgit Ahrens, Silvia Berkner, Christopher Blum,
Werner Niederle, Katrin Süring, Lars Tietjen, Julia Vogel,
Petra Weißhaupt

Satz und Layout:
Atelier Hauer + Dörfler GmbH

Publikationen als pdf:
www.umweltbundesamt.de/publikationen

Bildquellen:
Titel: Prostock-studio/AdobeStock

Stand: März 2023

ISSN 2363-8273
position // märz 2023
Neuartige Materialien
Eckpunkte für einen sicheren und
nachhaltigen Lebenszyklus
4
Inhaltsverzeichnis

Inhalt

1 Hintergrund���������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 6

2	Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-,
   Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft���������������������������������������������� 8
      2.1 Neuartige Materialien im Kontext ­Umwelt und Gesundheit������������������������������������������������������ 9
      2.2 Neuartige Materialien – Ressourcen­schonung und Kreislaufwirtschaft������������������������������������� 10
      2.3 Neuartige Materialien für den Klimaschutz und die Energiewende������������������������������������������� 12

3	Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen��������������������������������������� 14

4 Zusammenfassung���������������������������������������������������������������������������������������������������� 20

Endnoten���������������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 21

Abbildungen

Abbildung 1
Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN, aufgeteilt in die Bereiche Biosphäre,
soziale Gemeinschaft und ökonomisches System. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6
Abbildung 2
Anwendungsfelder neuartiger Materialien mit Relevanz für die verschiedenen Themen
des ­Umweltbundesamtes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

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Hintergrund

1 Hintergrund
Die globale Gesellschaft steht vor nie dagewesenen            die Grundlage für das Konzept der planetaren Gren-
Herausforderungen. Der menschengemachte Klima-                zen2. Es definiert die Voraussetzungen für eine nach-
wandel, der zunehmende Biodiversitäts- und Res-               haltige Entwicklung, indem es die planetarischen
sourcenverlust sowie steigende chemische Belastun-            Grenzen beschreibt und quantifiziert, die durch
gen bedrohen die menschliche Existenz, wie wir sie            menschliche Aktivitäten nicht überschritten werden
kennen. Klimawandel und Biodiversitätsverlust hän-            dürfen, um unannehmbare und irreversible Umwelt-
gen zusammen, verstärken sich gegenseitig und müs-            veränderungen zu vermeiden. Die ­Agenda 2030 für
sen darum auch gemeinsam angegangen werden. Der               nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen mit
heutige Wohlstand, insbesondere in den Industrie-             ihren 17 Zielen (Sustainable Development Goals –
staaten, basiert auf der Nutzung von natürlichen Res-         SDG, Abbildung 1)3, 169 Vorgaben und 231 Indika-
sourcen, wie der Nutzung fossiler Energieträger und           toren enthält eine Vision für eine zukünftige globale
einer zunehmenden globalen Inanspruchnahme von                Gesellschaft, die auf den Grundsätzen der Nach-
Landflächen, sowie auf dem steigenden Einsatz von             haltigkeit beruht. Die Agenda 2030 deckt die ökolo-
Chemikalien. Dies hat ebenfalls Einfluss auf Klima-           gische, wirtschaftliche und soziale Dimension der
wandel, Biodiversitätsverlust sowie auf Umweltver-            Nachhaltigkeit integriert ab und bietet Grundsätze
schmutzung und menschliche Gesundheit.                        und Referenzen für lokale, nationale, regionale sowie
                                                              für unternehmerische Entscheidungsträger.
Die Möglichkeit der heutigen und künftigen Genera-
tionen ihre Bedürfnisse zu befriedigen1 setzt voraus,         Um die derzeitige Wirtschaft der EU in eine grünere
innerhalb eines sicheren Raums agieren zu können              und nachhaltigere zu wandeln, hat die Europäische
und dabei die ökologischen Grenzen der Erde zu er-            Kommission den Europäischen Green Deal4 vorgelegt.
kennen und zu respektieren. Dieser Gedanke bildet             Der Green Deal umfasst verschiedene Aktionspläne,

Abbildung 1

Die 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung der UN, aufgeteilt in die Bereiche Biosphäre, soziale Gemeinschaft
und ökonomisches System

                           Ökonomisches System

    Soziale Gemeinschaft

          Biosphäre

                                                        Quelle: Jerker Lokrantz/Azote for Stockholm Resilience Centre, Stockholm University

6
Hintergrund

Strategien und Initiativen zur Minimierung oder, so-            setzung, dass neuartige Materialien selber sicher und
weit möglich, Beseitigung der (schädlichen) Auswir-             nachhaltig über ihren gesamten Lebenszyklus sind.
kungen von Chemikalien, Materialien, Produkten                  Aus Sicht des UBAs ist daher das frühzeitige Erken-
und Dienstleistungen auf die menschliche Gesund-                nen und Abwenden von Herausforderungen für den
heit, das Klima und die Umwelt, um so eine nachhal-             Umweltschutz und die Nachhaltigkeit durch den Ein-
tige Kreislaufwirtschaft zu gewährleisten. Dies erfolgt         satz von neuartigen Materialien von großer Bedeutung.
unter anderem über Aktionspläne zur Kreislaufwirt-              ­Daher möchte das UBA die sichere und nachhaltige
schaft, zur Klimaneutralität, zur Vermeidung von                 Entwicklung von neuartigen Materialien und ihren An-
Umweltverschmutzung, sowie über Strategien wie der               wendungen über den Lebenszyklus mitgestalten. Auch
Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit, der Farm-to-            wenn Chemikaliensicherheit als inhärenter Bestand-
Fork-Strategie, der Initiative für nachhaltige Produkte          teil der Nachhaltigkeit angesehen wird, wird in diesem
oder der Bioökonomie-Strategie.                                  Papier der Fokus explizit auf die Chemikaliensicherheit
                                                                 und die Nachhaltigkeit von neuartigen Materi­alien und
Chemikalien und Materialien sind essentiell für die              ihren Anwendungen gelegt. Dies dient der Verdeut­
Bereitstellung von CO2-armen, schadstofffreien, so-              lichung der Position, dass Chemikaliensicherheit eine
wie energie- und ressourceneffizienten Techniken,                Grundbedingung zur Erreichung von Nachhaltigkeit
Werkstoffen und Produkten. Sie sind für die digitale             ist, welche erfüllt sein muss und nicht durch andere
und grüne Transformation der Gesellschaft und Wirt-              Aspekte der Nachhaltigkeit kompensierbar ist. Somit
schaft unverzichtbar. Neuartige Materialien verspre-             können ein neuartiges Material oder eine Anwendung
chen das Potential technischer Lösungen, für u.a. die            nicht als nachhaltig erachtet werden, wenn ein stoff­
Energie- und Verkehrswende, den Ressourcenschutz,                liches Risiko für Mensch oder Umwelt besteht7.
die Digitalisierung oder die Gesundheitsversorgung
zu bieten5, um so den dringenden globalen Heraus-               Das vorliegende Positionspapier beschreibt aus Sicht
forderungen zu begegnen. So wird in der Chemikali-              des UBAs mögliche Chancen und Risiken neuartiger
enstrategie für Nachhaltigkeit der Europäischen Kom-            Materialien und ihres Einsatzes im Sinne einer nach-
mission dieses Potential neuartiger Materialien zur             haltigen Entwicklung. Im Fokus steht dabei auch das
Unterstützung der grünen und digitalen Transforma-              Spannungsfeld zwischen dem vielversprechenden
tion aufgegriffen und die Förderung von Forschung               Einsatz und möglicher Herausforderungen für den
und Entwicklung neuartiger Materialien für den Ein-             Umwelt- und Gesundheitsschutz und anderen Nach-
satz in verschiedenen Bereichen angekündigt6.                   haltigkeitsdimensionen, verdeutlicht an verschiede-
                                                                nen Beispielen und daraus resultierenden Eckpunk-
Um die Entwicklung zu einer nachhaltigeren Gesell-              ten für die Entwicklung sicherer und nachhaltiger
schaft unterstützen zu können, ist es Grundvoraus-              Materialinnovationen.

   Neuartige Materialien

   Das UBA befasst sich seit 2006 mit den Chancen und Risiken von Nanomaterialien8. Im Laufe der Jahre wurde immer
   deutlicher, dass sich die Betrachtung von Materialinnovationen nicht auf eine Obergrenze von 100nm beschränken
   lässt. Daher hat das UBA seinen Blickwinkel auch auf andere neuartige Materialien erweitert. Als neuartige Materia-
   lien werden solche Materialien verstanden, die durch die genaue Kontrolle ihrer Zusammensetzung und ihrer inneren
   und äußeren Struktur bewusst so strukturiert oder gestaltet sind, dass sie neue funktionale Anforderungen erfüllen9.
   Diese grobe Umschreibung schließt eine Vielzahl und Vielfältigkeit von Materialien mit verschiedenen Strukturen,
   ­Eigenschaften und Funktionalitäten unterschiedlichster Komplexität ein, die einen breiten Einsatz finden können.
   Die OECD Working Party on Manufactured Nanomaterials (WPMN) hat eine Arbeitsbeschreibung zu neuartigen Mate-
   rialien entwickelt10, auf deren Grundlagen Fragestellungen zur Chemikaliensicherheit und Nachhaltigkeit bearbeitet
   werden. Beispiele für neuartigen Materialien finden sich auch in Giese et al. 202011.

                                                                                                                          7
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

2	Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-,
   Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft
Die nachhaltige Transformation der Gesellschaft             Zur Bewältigung der oben genannten Herausforderun-
verfolgt das Ziel, über die im Vordergrund stehen-          gen müssen Wege gefunden werden, wie die gesell-
de Senkung der CO2-Emissionen hinaus den Heraus-            schaftlichen Systeme so verändert werden können,
forderungen des Klimawandels, des Diversitäts- und          dass sie mit dem Schutz von Umwelt, Gesundheit und
Ressourcenverlustes, aber auch der steigenden Be-           Klima vereinbar sind12. Dabei sind nicht nur Techni-
lastung durch chemische Stoffe zu begegnen, diese           ken und Produktionsprozesse zu überdenken, son-
abzuwenden und deren negativen Konsequenzen ab-             dern auch Verbrauchsmuster und Lebensweisen. Dies
zumildern. Dabei müssen die dafür getroffenen Maß-          erfordert ein sofortiges und konzertiertes Vorgehen,
nahmen allen Herausforderungen gerecht werden.              bei dem verschiedene Politikbereiche und Akteure der
Diese sind eng miteinander verknüpft und bedingen           gesamten Gesellschaft einbezogen werden müssen,
sich gegenseitig, so dass es nicht zielführend ist, nur     um einen systemischen Wandel zu ermöglichen.
eine dieser Aufgaben lösen zu wollen und dabei die
anderen aus dem Blick zu verlieren oder als nach-           Neuartige Materialien spielen eine wichtige Rolle
rangig zu betrachten. Dies kann zu Zielkonflikten           bei einer nachhaltigen Transformation. In verschie-
führen. Dennoch bestehen diese Zielkonflikte nicht          densten Anwendungsfeldern (Abbildung 2) kann
zwischen den globalen Herausforderungen selber,             ihr Einsatz dazu beitragen, beispielsweise Energie
sondern können zwischen den einzelnen Maßnah-               effizienter zu nutzen, Ressourcen einzusparen, die
men zur Problemlösung entstehen.                            Nutzung problematischer oder wenig nachhaltiger

Abbildung 2

Anwendungsfelder neuartiger Materialien mit Relevanz für die verschiedenen Themen
des ­Umweltbundesamtes

                       Klimaschutz                                        Digitalisierung
                                            Anwendungsfelder
                                          neuartiger Materialien
                                                    IT Technik
                                               Additive Fertigung
                                       Arzneimittel und Medizinprodukte
                Energiewende               Intelligente Verpackungen            Nachhaltiger Konsum
                                            Wasserstofftechnologie
                                                  Baumaterialien
                                                   Photovoltaik
                                                    Batterien
                                                         …

              Ressourcenschutz                                                  Chemikaliensicherheit

                                            Kreislaufwirtschaft

                                                                                             eigene Darstellung, Umweltbundesamt

8
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

Chemikalien zu reduzieren oder gar zu ersetzen. Ihr        ▸ Das Ersetzen von aus Umwelt- und Gesundheits-
Einsatz ist dabei nicht frei von Fragen zur Chemika-         sicht bedenklicher oder in ihrer Anwendung an-
liensicherheit und Nachhaltigkeit ihrer Anwendung            derweitig nicht nachhaltiger Stoffe (z. B. solchen
über dem Lebenszyklus.                                       mit hohem Ressourcenbedarf, hohem Treibhaus­
                                                             potential, hohem Ferntransportpotential, schlech-
Kapitel 2 zeigt den möglichen Nutzen, sowie die er-          ter Recyclingfähigkeit), aber auch die Realisierung
warteten Herausforderungen des Einsatzes neuarti-            neuer technischer Verfahren oder geänderter Wert-
ger Materialien in wichtigen umweltrelevanten Hand-          schöpfungsketten (z. B. chemiefreie Alternativen,
lungsfeldern auf und beschreibt Spannungsfelder              nachhaltigeres Konsumverhalten), die durch neu-
anhand von ausgewählten Beispielen. Die für das              artige Materialien ermöglicht werden können.
Papier verwendeten Referenzen beschreiben neuarti-
ge Materialien und deren potentiellen Anwendungen,         Der Einsatz von neuartigen Materialien kann aber
die bereits auf dem Markt sind, aber auch solche für       auch zu noch unbekannten Risiken oder erhöhten
die nicht abschließend geklärt ist, ob sie tatsächlich     ­R isiken für Umwelt und Gesundheit führen. Denkbar
künftig erfolgreich vermarktet werden können. Auch          in diesem Zusammenhang sind:
ist es basierend auf der aktuellen Informationslage
nicht immer möglich die tatsächlichen Chancen bzw.         ▸ Der Umwelteintrag neuer Stoffe oder neuer Formen
das tatsächliche Ausmaß des Risikos zu beschreiben.          eines Stoffes (z. B. als sogenannte building blocks
                                                             von neuartigen Materialien) mit unbekannten Ei-
2.1 Neuartige Materialien im Kontext                         genschaften oder ein erhöhter oder geänderter
­Umwelt und Gesundheit                                       Umwelteintrag bekannter problematischer Stoffe
Die Kombination bereits bestehender oder neu-                (problematisch z. B. hinsichtlich Persistenz, Mobi-
er (Wirk-)Stoffe und/oder Materialien ermöglicht es          lität, Bioakkumulationspotential oder Toxizität).
neuartige Materialien mit verbesserten oder bisher
nicht erreichten Funktionalitäten oder Eigenschaf-         ▸ Neue Formulierungen und Kombinationen, die
ten herzustellen. Dadurch werden neue Anwendungs-            den Einsatz von (öko)toxischeren (Wirk-)Stoffen
und Therapieformen, sowie technische Lösungen                erst ermöglichen.
möglich. Auch können, abhängig vom Material, ge-
wünschte Effekte durch die Struktur der Materialien        ▸ Vergrößerung des ökologischen Fußabdruckes
hervorgerufen werden, anstelle von oder zusätzlich           und/oder Verschlechterung anderer Nachhal-
zu einer chemischen Wirkung. Damit bieten neuarti-           tigkeitskriterien, beispielsweise wenn die Her-
ge Materialien eine Reihe von möglichen Chancen für          stellung eines neuartigen Materials ein höheres
den Umweltschutz und die menschliche Gesundheit.             Treibhauspotential aufweist oder einen höheren
Diese umfassen unter anderem:                                Rohstoffeinsatz erfordert als die des konventionell
                                                             genutzten Materials oder Stoffes17.
▸ Die Reduktion des Chemikalieneinsatzes und so-
  mit des Stoffeintrages in die Umwelt durch ge-           ▸ Fehlende oder ungeeignete Bewertungsgrund-
  zielteren Einsatz, geringere Dosis und höhere              lagen (z. B. OECD Prüfrichtlinien, Expositions­
  Effizienz und dadurch wiederum weniger uner-               szenarien oder -modelle).
  wünschte Wirkungen auf Mensch und Umwelt.
                                                           ▸ Lücken oder Ausnahmeregelungen in den Vorga-
▸ Ein verbesserter Umwelt- und Gesundheitsschutz             ben bestehender regulatorischer Konzepte, die
  durch die Bereitstellung neuer oder verbesserter           dazu führen, dass Gefährdung und Risiken nicht
  Techniken und Verfahren unter Nutzung neuarti-             erkannt, nicht ausreichend beschrieben oder ad-
  ger Materialien, wie beispielsweise der Separation,        ressiert werden können.
  Absorption oder Katalyse für die (Trink-)Wasser-
  aufbereitung13, für die Entfernung von Schadstof-
  fen14 und für die Umweltanalytik und Diagnostik15;
  Entwicklung von sogenannter Smart Textiles16 für
  beispielsweise das Gesundheitsmanagement.

                                                                                                                   9
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

     BEISPIEL – Neuartige Trägersysteme für Wirkstoffformulierungen

     Neuartige Trägersysteme (auch Carrier oder Carriersys-      Cargos nutzbar gemacht werden. Weitere mögliche Vor-
     teme genannt) dienen dem kontrollierten Transport und       teile, die der Gesundheit von Mensch und Umwelt zugu-
     Schutz einer Substanz (Cargo), z. B. eines Wirkstoffes.     tekommen, sind z. B. die Behandlung und Vorbeugung
     Unterschiedliche Typen von Materialien oder Kombina-        von bislang schwer therapierbaren Krankheiten, ein ins-
     tionen davon können als Carrier fungieren. Beschrie-        gesamt geringerer Wirkstoffeinsatz und damit einherge-
     ben sind bislang u. a. Mizellen, Liposomen, (Bio-)Poly-     hend eine Verringerung der potentiellen Exposition von
     mere, Dendrimere, Hydrogele, poröses Siliziumdioxid,        Mensch und Umwelt oder die Reduzierung unerwünsch-
     metallorganische Gerüstverbindungen (metal organic          ter (Umwelt-)Wirkungen.
     frameworks – MOF), DNA Origami, elektrogesponnene
     Fasern oder auch Carrier auf Kohlenstoffbasis18. Aus die-   Forschung und Entwicklung zu Carriersystemen neh-
     sen Möglichkeiten ergeben sich zahlreiche (potentielle)     men seit Jahren kontinuierlich zu. Zunehmend gelangen
     Anwendungsbereiche in der Medizin, aber auch im Kos-        auch bereits entwickelte Produkte auf den Markt19. Aller-
     metik-, Pflanzenschutzmittel- und Biozidbereich. In der     dings fehlt ein ausreichender Überblick darüber, welche
     Medizin sind unterschiedlichste Anwendungen möglich,        der vielgestaltigen Carriersysteme tatsächlich (zukünf-
     wie zum Beispiel für Krebs- oder auch entzündungshem-       tig) zum Einsatz kommen und welche Anwendungsbe-
     mende Medikamente. Ebenfalls können Hormone, En-            reiche betroffen sein werden. Dies ist in Anbetracht der
     zyme oder Nukleinsäuren (z. B. mRNA, siRNA) auf diese       bekannten und vermutlichen Anwendungsbereiche wie
     Art verpackt, geschützt und an den Zielort transportiert    Arzneimittel und Medizinprodukte, Pflanzenschutzmit-
     werden. Größere Bekanntheit erlangten Carriersysteme        tel und Kosmetika, ggf. auch Biozide und Lebens- und
     durch die Verwendung von Lipidnanopartikeln als Vehi-       Futtermittel, von besonderer Relevanz, um für die be-
     kel für COVID-19-mRNA-Impfstoffe.                           troffenen Regelungsbereiche den Anpassungsbedarf
                                                                 für eine Umweltrisikobewertung sachgerecht ableiten
     Mittels des Carriersystems können verschiedene Vor-         zu können. Diesbezüglich stellen sich Fragen inwie-
     teile erlangt werden, wie z. B. eine verbesserte Biover-    weit die verschiedenen Carriersysteme Umweltverhal-
     fügbarkeit des Cargos, der Schutz des Cargos vor früh-      ten und -effekte des eigentlichen Cargos beeinflussen
     zeitiger Metabolisierung/Degradation oder auch die          und ob bestehende Prüfmethoden geeignet sind, um
     Kontrolle über die Freisetzung des Cargos zu einem be-      Umweltverhalten und -effekte des Gesamtsystems und
     stimmten Zeitpunkt an einem bestimmten Ort. Letzteres       der „building blocks“, aus denen die Carriersysteme
     kann über einen Stimulus erfolgen, wie die Änderung         aufgebaut sind, zu bestimmen. Entsprechende Erkennt-
     von Umgebungsbedingungen (z. B. pH-Wert, Tempera-           nisse müssen gewonnen und in eine sachgerechte Um-
     tur, Strahlung). Auf diese Weise kann ein gezielter und     weltbewertung einfließen, da die derzeitigen Metho-
     effektiverer Transport von z.B. Wirkstoffen an den Ort      den zur Umweltbewertung für neuartige Materialien und
     der erwünschten Wirkung erfolgen. Zudem können so           Material-­Wirkstoffkombinationen beträchtliche Lücken
     bislang nicht zugängliche neuartige Wirkmechanismen         aufweisen bzw. nicht existent sind20.
     (z. B. kleinskalige mechanische Wirkmechanismen) des

2.2 Neuartige Materialien – Ressourcen­                          ▸ Effizienzsteigerung durch neue und verbesserte
schonung und Kreislaufwirtschaft                                   Produktionsverfahren mit geringerem Ressour-
Durch die Anwendung neuartiger Materialien in                      cenverbrauch oder reduziertem Aufkommen an
­diversen Produkten ergeben sich verschiedenste                    Industrieabfällen, z. B. durch neuartige Kataly­
 Chancen für die Ressourcenschonung, die Wiede­r­                  satoren21 oder dem gezielteren Einsatz von Chemi-
 verwendung und das Recycling von Produkten:                       kalien/Wirkstoffen.

10
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

▸ Realisierung von neuen Verfahren (z. B. additive             ▸ Erhöhte Langlebigkeit von Produkten durch Ver-
  Fertigung wie 3D Druck oder Elektrospinning22,                 besserung der Wetter- und Abriebfestigkeit bei-
  Herstellung von gedruckter Elektronik23), die neue             spielsweise von Beschichtungen, oder auch durch
  Formen der Wertschöpfung und dezentrale Pro-                   Schutz vor Korrosion, Feuchte und Befall24.
  duktion erlauben, sowie Reparatur oder Rückver-
  folgbarkeit von Produkten ermöglichen.

   BEISPIEL – Additive Fertigung im Kontext Stoffströme, Ressourcennutzung, Abfall und Umwelt-
   und ­Gesundheitsschutz

   Additive Fertigung, umgangssprachlich häufig auch 3D        bietet. Weitere mit der additiven Fertigung verbundenen
   Druck genannt, beschreibt Fertigungsverfahren, bei de-      Vorteile sind die Herstellung von Produkten mit weniger
   nen Bauteile Schicht für Schicht aus einem (oder meh-       Ausschuss und Energiebedarf oder der Einsatz für den
   reren) Ausgangsmaterial(ien) aufgebaut werden. Dies         Leichtbau. Durch die erhöhte Produktlebensdauer kön-
   eröffnet vielfältige Möglichkeiten zur Herstellung kom-     nen Ressourcen und Energie eingespart werden28.
   plexer Verbundwerkstoffe oder neuem Design, wie zum
   Beispiel dem Design geometrisch komplexer Struktu-          Dennoch stellt die additive Fertigung eine Herausforde-
   ren, die mit konventionellen subtraktiven Fertigungs-       rung für die Chemikaliensicherheit und die Nachhaltig-
   verfahren nicht realisierbar sind. Additive Fertigung       keit dar29. So können die Ausgangsmaterialien gefährli-
   umfasst verschiedenste Verfahren, die zunehmend an          che Stoffe enthalten und die genaue Zusammensetzung
   Bedeutung gewinnen. Sie finden in unterschiedlichsten       nicht angegeben sein30. Während des Druckprozesses
   Industriezweigen Anwendung, werden aber auch zuneh-         kann es zur Freisetzung von flüchtigen organischen
   mend von professionellen Anwenderinnen und Anwen-           Verbindungen, (nanoskaligen) festen Verbindungen,
   dern, Verbraucherinnen und Verbrauchern und im Bil-         Weichmachern, Flammschutzmitteln und Monomeren
   dungswesen genutzt . Typische Ausgangsstoffe für die
                        25
                                                               kommen31. Auch sind Emissionen in die Luft oder ins
   additive Fertigung sind je nach verwendeter Methode         Abwasser bei Nachbehandlungsprozessen wie Polie-
   flüssige, pulverförmige und feste Metalle, Keramiken,       ren, Abschleifen und Reinigen des gedruckten Produkts
   Polymere und Kunstharze, aber auch Beton, Zement            denkbar. Offene Fragen bestehen in Bezug auf die Halt-
   oder Holz. Additive Fertigung wird angewendet für die       barkeit der Druckprodukte, wie zum Beispiel zur mecha-
   Fertigung von Modellen, Mustern und Prototypen aber         nischen Stabilität während der Nutzungsphase oder zur
   auch für Bauteile, Werkzeuge und maßgeschneiderte           Freisetzung von Komponenten in die Umwelt.
   Endprodukte für eine breite Palette an Anwendungsbe-
   reichen26. Diese reichen von Medizinprodukten über So-      Aufgrund der Vielfältigkeit der Druckerzeugnisse und
   larzellen bis hin zu Gebäuden. Eine Weiterentwicklung       deren Anwendungsbereiche, aber auch aufgrund der
   des 3D Drucks ist der 4D Druck, der die Herstellung von     Komplexität in Struktur und Zusammensetzung der Dru-
   Formgedächtnismaterialien, selbstheilenden Materiali-       ckerzeugnisse und der fehlenden Transparenz darü-
   en oder sogenannte Metamaterialien ermöglicht . Die
                                                    27
                                                               ber ist derzeit nicht geklärt, wie eine Abfallerfassung,
   vierte Dimension bezieht sich auf die Zeit, denn die-       -aufbereitung und ein Recycling der Druckerzeugnis-
   se Materialien haben die Fähigkeit ihre Eigenschaften       se realisiert werden kann. Additive Fertigung hat einen
   durch einen äußeren Reiz zu verändern.                      hohen Energiebedarf, welcher zwischen den einzelnen
                                                               Verfahren und auch je nach Anwendungsgebiet variiert;
   Die Möglichkeiten des dezentralen Betriebes verspre-        im Vergleich zu konventionellen Produktionsmethoden
   chen einen reduzierten Transport- und Lageraufwand.         kann der Energiebedarf geringer sein. Mit den Vortei-
   Additive Fertigung bietet die Chance Bau- oder Ersatztei-   len durch die additive Fertigung steigt zudem auch die
   le einfacher zur Verfügung zu stellen, was die Reparatur-   Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Rebound-Effek-
   fähigkeit und damit Lebensdauer von Produkten verlän-       ten, wenn die Möglichkeiten der Nutzung zu unnötigem
   gert und Anreize für Produkt-Service-Geschäftsmodelle       Konsum anregen.

                                                                                                                          11
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

Die Anwendung von neuartigen Materialien kann               2.3 Neuartige Materialien für den Klima-
aller­dings auch zu erhöhter Nutzung von Ressourcen         schutz und die Energiewende
in komplexen Zusammensetzungen führen. Dies birgt           Für die Energiewende und zum Schutz des Klimas
folgende Herausforderungen:                                 sind ressourceneffiziente Materialien ebenso wichtig
                                                            wie auch Materialinnovationen, die technische Lö-
▸ Die Herstellung neuartiger Materialien kann mit           sungen für die erneuerbare Energiegewinnung und
  dem Einsatz neuer Rohstoffe oder einem erhöhten           Energiespeicherung ermöglichen. Der Einsatz neuar-
  Verbrauch von Rohstoffen einhergehen32, deren             tiger Materialien soll dabei die Effizienz erhöhen, zur
  Förderung nicht nachhaltig ist oder die zu neuen          Langlebigkeit sowie zur Energieeinsparung beitra-
  Rohstoffabhängigkeiten führt.                             gen. Folgende Einsatzbereiche sollen dabei Klima-
                                                            schutz und Energiewende unterstützen:
▸ Die zunehmende Komplexität und Vielfältigkeit
  von neuartigen Materialien, aber auch der diffuse         ▸ Neuartige Materialien befinden sich in der For-
  Einsatz von Rohstoffen für deren Herstellung er-            schung und Entwicklung für die Verwendung in
  schwert die Rückverfolgbarkeit, Risikobewertung             Techniken zur Gewinnung von erneuerbaren Ener-
  und Kreislaufwirtschaft (Wiederverwendung,                  gien (z. B. für die Herstellung von Solarpanels34
  Recycling) zusätzlich; dies kann ebenso dazu füh-           und Windkraftanlagen35) oder grüner Wasserstoff-
  ren, dass Recyclingprozesse chemikalienlastiger             produktion36 sowie für die Energiespeicherung37
  und energieintensiver werden. Dies ist insbeson-            und um diese Techniken effizienter zu machen.
  dere dann eine unerwünschte Folge, wenn dafür
  fossile Energieträger eingesetzt werden. Auch kön-        ▸ Neuartige Materialien tragen dazu bei Verfahren
  nen neuartige Materialien den Recyclingprozess              und Prozesse (z. B. Katalysatoren38, Leichtbau)
  physikalisch stören oder zur Anreicherung proble-           energieeffizienter zu gestalten. Diese Gestaltung
  matischer Stoffe führen.                                    geht bis hin zur Entwicklung sogenannter Smart
                                                              Textiles für die Energiegewinnung39.
▸ Arbeiten mit und an Abfällen sind aufgrund ihrer
  Unvorhersehbarkeit und der schwankenden Zu-               ▸ Im Baubereich kommen neuartige Materialien
  sammensetzung von Abfällen risikoreich: Wie zu-             zum Einsatz, um den Energieverbrauch in Gebäu-
  vor schon für carbonfaserverstärkte Kunststoffe33           den zu senken (z. B. als Dämmmaterial40 oder in
  gezeigt, kann die Abfallbehandlung von neuarti-             Fensterscheiben zur Regulierung von Licht und
  gen Materialien zu Risiken für Arbeitnehmerinnen            Wärmeeinstrahlung41).
  und Arbeitnehmer und der Umwelt führen, z. B.
  durch die Freisetzung problematischer Bestandtei-         Der Einsatz neuartiger Materialien in Techniken zur
  le bei der Verwertung.                                    Förderung des Klimaschutzes und der Energiewende
                                                            führt allerdings auch zu Herausforderungen, Risiken
▸ Das Auftreten von Rebound-Effekten: Durch die             und offenen Fragestellungen. Diese umfassen:
  oben beschriebene Effizienzsteigerungen ist denk-
  bar, dass sich Angebot und Nachfrage bestimm-             ▸ Die Herstellung neuartiger Materialien für Techni-
  ter Anwendungen erhöhen, was dazu führt, dass               ken der Energiewende umfasst oftmals u. a. auch
  die durch den Einsatz erzielten Einsparungen (z. B.         den Einsatz problematischer Stoffe, die insbeson-
  Umwelteintrag von Chemikalien, Treibhausgase,               dere während der Herstellung und am Produkt-
  Ressourcen) teilweise wieder aufgehoben werden.             lebensende bzw. bei der Abfallbehandlung zur
  In diesem Kontext ist auch ein Einsatz neuartiger           Exposition von Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
  Materialien denkbar, der keinen technischen Vor-            nehmern und der Umwelt führen können.
  teil bringt, sondern vor allem dazu dient, neue Pro-
  dukte werbewirksam auf den Markt zu bringen.              ▸ Häufig fehlt es an geeigneten Methoden und Sam-
                                                              melkonzepten für ein Recycling zur Rückgewin-
                                                              nung der eingesetzten Materialien aus den techni-
                                                              schen Anwendungen.

12
Neuartige Materialien im Spannungsfeld zwischen Klima-, Umwelt- und Gesundheitsschutz und Kreislaufwirtschaft

▸ Der Einsatz von neuartigen Materialien für die
  Techniken der Energiewende führt zu einem geän-
  derten Rohstoffbedarf, welcher neue oder verän-
  derte Umweltwirkungen (z. B. Eintrag problemati-
  scher Stoffe in die Umwelt, Flächenverbrauch) und
  Abhängigkeiten nach sich zieht.

   BEISPIEL – Elektrochemische Energiespeicher für die Energiewende

   Weltweit steigt die Nachfrage nach elektrochemischen        durch ausrangierte Autobatterien führt zwar zu einer
   Energiespeichern (umgangssprachlich: Batterien).            besseren Ausnutzung von deren Speicherkapazität, kann
   Sie werden für die stationäre und mobile Speicherung        aber das Recycling zusätzlich erschweren, da sich die
   von Energie für beispielsweise Smartphones, Laptops,        Nutzungsphase weiter verlängert und somit Wertstoffe
   E-­Bikes, E-Autos oder als Zwischenspeicher für Solar-      weiter verzögert zur Verfügung stehen45. Auch die rapide
   strom genutzt. Mit der zunehmenden Digitalisierung          Weiterentwicklung der Elektrodenmaterialien erschwert
   und Elektrifizierung des Alltags kommen zudem immer         die Etablierung eines Standes der Technik zum Recycling.
   neue Anwendungen hinzu. Elektrochemische Energie-           So besteht hinsichtlich der Kreislaufführung von elekt-
   speicher spielen eine wichtige Rolle für die Energiewen-    rochemischen Energiespeichersystemen und ihrer Be-
   de, da sie Energie aus nicht speicherbaren erneuerbaren     standteile noch erheblicher Forschungsbedarf. Für eine
   Quellen (Sonne, Wind) speichern und zu einem späte-         Vielzahl von Techniken oder Teilsystemen gibt es bisher
   ren Zeitpunkt zur Verfügung stellen können. Neuartige       keine aus ökologischer Sicht hinreichend zufriedenstel-
   elektrochemische Energiespeicher sind vielfältige und       lenden ­Recycling- und Wiederverwendungskonzepte.
   komplexe Systeme mit Einsatz einer Vielzahl von Mate-
   rialien. Fokus der Weiterentwicklung von elektrochemi-      Die verwendeten Stoffe und Materialien für elektroche-
   schen Energiespeichern ist vor allem ihre Leistung und      mische Energiespeicher stellen eine Herausforderung für
   Lebensdauer zu erhöhen, die Produktionskosten zu sen-       die Chemikalien- und Anlagensicherheit dar, insbeson-
   ken sowie Störfälle zu vermeiden. Neuartige Materiali-      dere bei der Herstellung und beim Recycling, aber auch
   en spielen eine wichtige Rolle für die Bereitstellung von   im Rahmen von unsachgemäßem Gebrauch und Entsor-
   Elektrodenmaterial, Membranen zur Trennung bzw. La-         gung oder durch Stör- und Unfälle. Elektrodenmateriali-
   dungsübertragung oder Elektrolytmaterialien42.              en beinhalten (öko-)toxische Metalle wie beispielswiese
                                                               Cobalt, Chrom, Kupfer, Nickel, Thallium und Silber46. In
   Potentielle Umwelteffekte von elektrochemischen Ener-       Bezug auf LIB basiert die Kathodenherstellung auf der
   giespeichern lassen sich nicht pauschal beschreiben.        Verwendung von fluorhaltigen Polymeren wie Polyvinyli-
   Sie hängen vom jeweiligen Batteriesystem, vom betrach-      dendifluorid sowie dem toxischen und erbgutschädigen-
   teten Lebenszyklus und Möglichkeiten des Recyclings         den Lösungsmittel N-Methyl-2-Pyrrolidon. Die Forschung
   ab43. Eine besondere Herausforderung für den weltwei-       zu wasserlöslichen und fluorfreien Binder ist vielverspre-
   ten Umweltschutz stellt der aufgrund der Marktentwick-      chend, aber ein bisher wenig untersuchtes Feld47. Un-
   lung von Batterien enorm steigende Bedarf an kritischen     tersuchungen zeigen, dass es bei der Alterung von LIB
   Metallen dar, insbesondere wenn deren Gewinnung mit         zu einer Zersetzung des Elektrolyten kommt, welche im
   fehlenden Umwelt- und Sozialstandards verbunden ist44.      weiteren Verlauf zur Bildung von toxischen Organofluoro-
   Das Recycling von Energiespeichern ist sehr aufwändig,      phosphaten führt48. Auch die Entstehung von Fluorwas-
   aber ökologisch vorteilhafter als die Nutzung von Primär­   serstoff und Phosphorsäure ist möglich, wenn eine geal-
   rohstoffen. Die Wirtschaftlichkeit des Recyclings ist ab-   terte Batterie geöffnet wird (z. B. durch einen Unfall oder
   hängig vom Aufkommen an Altbatterien und von Wert-          während des Recyclings). LIB zeichnen sich durch eine
   stoffpreisen. Die wünschenswerte lange Nutzungsphase        hohe Energiedichte aus. Im Fall von mechanischen Be-
   erschwert allerdings die Etablierung von Recyclingstrate-   schädigungen, thermischen Einwirkungen oder einer un-
   gien. Die Zweitnutzung von Lithiumionenbatterien (LIB),     sachgemäßen Lagerung kann die in der Zelle gespeicher-
   z. B. über die stationäre Speicherung von Solarstrom        te Energie explosionsartig freigesetzt werden.

                                                                                                                             13
Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen

3	Eckpunkte für sichere und
   nachhaltige M
               ­ aterialinnovationen
Neuartige Materialien können in vielerlei Hinsicht
zum gesellschaftlichen Wohlergehen und zu den Lö-                Risikogovernance neuartiger ­Materialien
sungen beitragen, die für die Bewältigung von glo-
balen Herausforderungen, wie der Energiewende,                   Um einen Austausch von Perspektiven und Infor-
nachhaltiger Mobilitätskonzepte oder dem Gesund-                 mationen zwischen den verschiedenen betroffenen
heitsschutz erforderlich sind. Die Art und Weise, wie            Akteuren zu ermöglichen, führte das UBA 2019 bis
neuartige Materialien hergestellt, verwendet und                 2021 eine Reihe von internationalen Themenkonfe-
entsorgt werden, sowie die potenziellen negativen                renzen zur Sicherheit und Nachhaltigkeit neuartiger
Auswirkungen ihrer inhärenten Eigenschaften kön-                 Materialien und ihrer Anwendungen durch50. Auf de-
nen ­jedoch auch dazu beitragen, die großen Umwelt-              ren Grundlage entwickelten die drei Bundesoberbe-
krisen Klimawandel, Ressourcenverlust, Verlust der               hörden UBA, BAuA und BfR eine gemeinsame Pers-
biologischen Vielfalt und Umweltverschmutzung zu                 pektive zur Risikogovernance neuartiger Materialien.
verstärken. Zudem hat möglicherweise nicht jedes                 Diese umfasst fünf wichtige Handlungsfelder:
neuartige Material oder dessen Anwendung einen ge-               ▸   Frühwarnsysteme zur Identifizierung bedenk­
sellschaftlichen Nutzen. Es gilt somit einen ganzheit-               licher Materialien und Anwendungen
lichen Ansatz zu verfolgen, der auf der einen Seite die          ▸   Prüfung und Anpassung der Chemikalien­
Nutzung dieser Materialien in Anwendungen zur För-                   regulierung und Risikobewertungsinstrumente
derung einer nachhaltigen Zukunft ermöglicht, aber               ▸   Förderung von Safe-&-Sustainable-by-Design
auf der anderen Seite auch die Sicherheit und Nach-                  für neuartige Materialien
haltigkeit dieser Materialien und ihrer Anwendungen              ▸   Kommunikation und Netzwerken
über den Lebenszyklus gewährleistet.                             ▸   Interdisziplinäre Forschung (Vorlauf- und
                                                                     ­regulativ motivierte Forschung)
Dabei ist damit zu rechnen, dass es zu Zielkonflikten
kommt, beispielsweise bei einem unvermeidlichen                  Darüber hinaus geben BAuA, BfR und UBA in dem
Einsatz bedenklicher neuartiger Materialien für (neue)           ­Papier Handlungsempfehlungen zu neuartigen
Techniken mit hohem gesellschaftlichen Nutzen (z. B.             ­Poly­meren, additiver Fertigung, Fasern, intelligen-
beim Einsatz für erneuerbare Energien). Daher gilt es            ten Verpackungen und Nanocarriern. Die Diskussion
Umgangsweisen zu entwickeln, die ein Abwägen zwi-                zu neuartigen Materialien im Kontext dieser Hand-
schen dem Einsatz neuartiger Materialien zur Bekämp-             lungsfelder wird seither auf nationaler und interna-
fung der großen Krisen unserer Zeit und ihrer ggf.               tionaler Ebene fortgeführt. Unter anderem besteht
vorhandenen eingeschränkten Chemikaliensicherheit                seit 2020 in Deutschland eine bundesoberbehör-
oder Nachhaltigkeit über den Lebenszyklus ermögli-               denübergreifende Arbeitsgruppe zu neuartigen Ma-
chen. Dabei müssen Zielkonflikte frühzeitig erkannt              terialien. Seit 2021 beschäftigt sich eine Steue-
und Maßnahmen rechtzeitig abgeleitet werden.                     rungsgruppe im Rahmen der OECD Arbeitsgruppe zu
                                                                 Nanomaterialien mit neuartigen Materialien und Fra-
Bereits Anfang 2022 veröffentlichte das UBA zusam-               gestellungen ihrer Sicherheit, Nachhaltigkeit aber
men mit dem Bundesinstitut für Risikobewertung                   auch angemessenen Bewertung.
(BfR) und der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und
Arbeitsmedizin (BAuA) erste Empfehlungen zur Risi-
kogovernance von neuartigen Materialien aus Pers-             Die in der behördenübergreifenden Perspektive zur
pektive der Chemikaliensicherheit49:                          Risikogovernance genannten Handlungsfelder sind
                                                              schutzgutübergreifend relevant und somit auch für
                                                              die Betrachtung notwendiger Maßnahmen für die
                                                              Sicherheit und Nachhaltigkeit von neuartigen Mate-
                                                              rialien aus Umweltsicht wichtig (für Details zu den
                                                              genannten Feldern wird an dieser Stelle auf das Pa-
                                                              pier verwiesen). Darüber hinaus ergeben sich weitere

14
Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen

Eckpunkte zur Unterstützung eines sicheren und               zu. Aktivitäten hierzu möchte die EU-Kommission im
nachhaltigen Einsatzes neuartiger Materialien, die           Jahr 2023 starten. Bislang liegt eine Konzeptstudie
im Folgenden dargelegt sind:                                 vor, die konkrete Ausgestaltung ist aber noch offen53.

Anknüpfungspunkte in der EU-Chemikalien­                     Um schadstofffreie Kreislaufströme sicherzustellen,
strategie für Nachhaltigkeit                                 sollten bedenkliche Chemikalien und Materialien in
Auch wenn neuartige Materialien in der Chemikali-            Produkten generell vermieden werden. Da neuarti-
enstrategie für Nachhaltigkeit der Europäischen Kom-         ge Materialien oftmals auch wertvolle Metalle und
mission keinen besonderen Schwerpunkt darstellen,            kritische Rohstoffe enthalten, die bei herkömmlicher
sind die dort angekündigten Initiativen geeignet, um         Abfallbehandlung verloren gehen, gilt es Behand-
auch Maßnahmen zur Sicherheit und Nachhaltigkeit             lungsverfahren für ein Recycling der verschiedenen
von neuartigen Materialien voranzutreiben. Mit einer         Abfallpfade zu ermöglichen. Damit diese Optimierung
Reform der stoffbezogenen Regulierungen strebt die           möglich ist, muss auch jenseits der Innovations- und
EU-Kommission an, den Rechtsrahmen weiterzuent-              Entwicklungsphase bekannt sein, welche Materiali-
wickeln und eine verbesserte Informationsbasis zu            en in welchen Abfällen zu erwarten sind. Außerdem
schaffen. Dies betrifft z.B. die Einführung weiterge-        muss es wirtschaftlich lohnend sein, Materialien mit
hender Pflichten zur Registrierung bestimmter Poly-          geringen Mengen oder die sich schwer aus Verbund-
mere im Rahmen der REACH-Verordnung.                         werkstoffen herauslösen lassen, zurückzugewinnen.
                                                             Digitale Produktpässe mit entsprechenden Informa-
Als Bestandteil der EU-Chemikalienstrategie für Nach-        tionsstandards könnten die notwendige Transparenz
haltigkeit werden technische Kriterien und Indikato-         zur Verfahrensoptimierungen für die Abfallaufberei-
ren für das Konzept „Safe and Sustainable by Design“         tung neuartiger Materialien unterstützen. Die Euro-
(SSbD) entwickelt51. SSbD bezieht sich auf die Leitinstru­   päische Kommission hat einen rechtlichen Rahmen
mente grüner und nachhaltiger Chemie und zielt dar-          zur Ausgestaltung von digitalen Produktpässen im
auf ab, Innovationen in Richtung einer nachhaltigeren        Rahmen der Initiative für nachhaltige Produkte54 vor-
industriellen Transformation zu lenken. In dieser Hin-       geschlagen. Weiterhin hat die OECD digitale Produkt-
sicht wird angestrebt, die Produktion und Verwendung         pässe, welche Informationen für Reparatur, Wieder-
bedenklicher Stoffe und Materialien zu ersetzen oder         verwendung und Recycling beinhalten, vorgelegt55.
zumindest zu minimieren, sowie die Auswirkungen auf          Neben verschiedenen Angaben zur Herstellung, War-
Klima und Umwelt während des gesamten Lebenszyklus           tung, Rückbau und Recycling könnten diese Pässe
von Chemikalien und Materialien zu verringern. Auch          auch Auskunft über Wert- und Schadstoffe enthalten.
plant die EU-Kommission SSbD in der Forschungs- und
Innovationsförderung stärker aufzugreifen. Daneben           Grundsätzlich gehen diese Initiativen in die richtige
prüft die EU-Kommission entsprechende Aspekte in der         Richtung. Es ist allerdings damit nicht automatisch
Regulierung aufzugreifen. Teilaspekte von SSbD werden        gewährleistet, dass den Besonderheiten neuartiger
bereits in den Rechtssetzungsverfahren zur geplanten         Materialien ausreichend Rechnung getragen wird.
EU-Batterieverordnung und EU-Ökodesignverordnung             Dies ist insbesondere der Fall, wenn die gewählten
diskutiert. Es ist noch unklar, ob entsprechende Aspek-      Ansätze in erster Linie nur bekannte Herausforderun-
te auch in der Weiterentwicklung des EU-Chemikalien-         gen berücksichtigen. So muss beispielsweise das Er-
rechts aufgegriffen werden. Grundsätzlich bieten diese       kennen und angemessene Bewerten möglicher abwei-
Rechtssetzungsverfahren die Chance, solche Aspekte           chender Risiken durch unterschiedliche Formen eines
auch rechtlich zu verankern.                                 Stoffes aber auch völlig neuer Risiken durch Materia-
                                                             linnovationen sichergestellt werden.
Auch die in der EU-Chemikalienstrategie für Nach-
haltigkeit angestrebte verbesserte Kooperation der           Auch bleibt offen, ob die Transformation von Gesell-
EU-Agenturen im Rahmen des „one substance, one               schaft und Unternehmen in Richtung Nachhaltigkeit
assessment“-Ansatzes52 und das angestrebte besse-            mit den getroffenen und von der EU-Kommission ange-
re Zusammenwirken der stoffbezogenen Regulierun-             kündigten Initiativen erreicht werden kann. Vermut-
gen kann dazu beitragen Risiken früher zu identi-            lich wird es nötig sein, weitere Anreize und Vorgaben zu
fizieren. Dies trifft auch auf die geplante Schaffung        schaffen, um eine solche umfassende, aber notwendige
eines allgemeinen Frühwarnsystems für Chemikalien            Transformation zu erreichen.

                                                                                                                     15
Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen

 Ansätze für grüne und nachhaltige                            ▸ 2020 postulierte die UNEP-Initiative for Green and
­Chemie ­stärken                                                Sustainable Chemistry zehn Ziele und Leitgedan-
Die zweite Ausgabe des Global Chemicals Outlook                 ken für eine grüne und nachhaltige Chemie als
GCO-II der UNEP56 zeigt eindrücklich, dass sich Pro-            Teil des UNEP Green and Sustainable Framework
duktionskapazität und der Umsatz der chemischen                 Manual62. Sie reichen von Moleküldesign bis zur
Industrie alle 15 Jahre verdoppeln. Gleichzeitig                Sicherstellung, dass die Verwendung von Chemi-
nimmt die Anzahl an neuen Chemikalien zu. Auch                  kalien zur Erfüllung gesellschaftlicher Bedürfnis-
die Vielfalt und Verbreitung der chemischen Verwen-             se frei von Verschmutzung oder anderen negati-
dungen und Kombinationen steigt an, was sich auch               ven Auswirkungen ist. In dieser Hinsicht liefert
durch die Entwicklungen im Bereich neuartiger Ma-               das UNEP eine Blaupause für die Ausrichtung von
terialien zeigt. Vor diesem Hintergrund ist es notwen-          Innovationen in der Chemie auf Nachhaltigkeit.
dig, an Nachhaltigkeit ausgerichtete Lösungen für
neuartige Materialien zu erarbeiten. Diese müssen ei-         ▸ Ergänzend zu den UNEP-Bemühungen hat das
nerseits den menschlichen Bedürfnissen dienen und               ­International Sustainable Chemistry ­Collaborative
weltweit zu einem ausreichenden Maß an Wohlstand                 Centre (ISC3)63 2020 in einem Stakeholder-­Prozess
sowie zu einer nachhaltigen Entwicklung beitragen.               die “Ten Key Characteristics of S
                                                                                                 ­ ustainable
Andererseits dürfen sie die planetaren Grenzen nicht             Chemistry”64 entwickelt. Diese erweitern die
belasten oder überschreiten.                                    UNEP-Perspektive um allgemeine Nachhal-
                                                                tigkeitsprinzipien wie Suffizienz, Konsistenz, Effi-
Die internationale Weltgemeinschaft hat das für 2020            zienz und Resilienz. Vorsorge und die Einhaltung
gesetzte ehrgeizige Ziel eines vernünftigen Umgangs             der planetaren Grenzen sind Kernprinzipien. Die
mit Chemikalien57 verfehlt58. Die kritischen Analysen           Chemie wird als wissenschaftliches und wirt-
weisen aber auch darauf hin, dass es durchaus zahl-             schaftliches Gut betrachtet, das die Lieferketten
reiche geeignete Instrumente, Werkzeuge und Lösun-              und den gesamten Lebenszyklus umfasst. Folg-
gen gibt. Diese müssen jedoch dringend noch inten-              lich zielen die “Ten Key Characteristics of Sustain-
siver als bisher umgesetzt und durch ehrgeizigere               able Chemistry” darauf ab, neue wirtschaftliche
weltweite Maßnahmen aller Beteiligten ausgeweitet               Möglichkeiten zu schaffen, die nicht rein gewinn-
werden („business as usual is not an option“59).                und wachstumsorientiert sind.

Für eine nachhaltige Entwicklung in der Chemie, für           ▸ Des Weiteren gibt es verschiedene praxisorientier-
Chemikalien und neuartige Materialien sind ein po-              te Instrumente zur Beschleunigung und Umset-
litisches Gesamtkonzept und kohärente, technische               zung von mehr Nachhaltigkeit. Die in der Substi-
Kriterien erforderlich. Neben SSbD existieren bereits           tution and Alternatives Assessment Toolbox65 der
zahlreiche Ansätze, wie Chemikalien und neuartige               OECD gesammelten Bewertungsschemata befassen
Materialien nachhaltiger produziert, verbraucht und             sich hauptsächlich mit der Vermeidung und Be-
verwendet werden müssen:                                        wältigung gefährlicher Eigenschaften. Einige In-
                                                                strumente umfassen einen breiteren Blick auf die
▸ 1998 haben Anastas und Warner die “Twelve Prin-               Nachhaltigkeit, wie der UBA-Leitfaden Nachhaltige
  ciples of Green Chemistry”60 beschrieben. Diese               Chemikalien66 und das dazugehörige IT-Tool Sub-
  sind nicht nur für die Synthese von ­Chemikalien              Select67. Innovative und nachhaltigkeitsorientierte
  wichtig, sondern haben auch einer verantwor-                  Geschäftsmodelle wie Chemikalienleasing ergän-
  tungsvollen Chemie neue Dringlichkeit verliehen.              zen diese Instrumente in der Praxis.

▸ In einem internationalen Workshop über nach-                ▸ Im Rahmen ihrer Arbeiten zum Konzept zur För-
  haltige Chemie im Jahre 2004 entwickelten das                 derung von sicherer und nachhaltiger Innovati-
  UBA und die OECD ausführliche Kriterien für eine              on von Nanomaterialien und anderen neuartigen
  nachhaltige Chemie, die ökologische, soziale und              Materialien hat die OECD WPMN ihre Arbeitsbe-
  wirtschaftliche Aspekte der Nachhaltigkeit in der             schreibungen der Begriffe Nachhaltigkeit und Safe
  Chemie miteinander verbinden61.                               and Sustainable by Design veröffentlicht68.

16
Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen

Als weiteren Beitrag zur Belebung der dynamischen      Sensibilisierung und Wissensaufbau
Diskussion veranstaltete das UBA im November 2021      Transformation zu mehr Chemikaliensicherheit und
seine zweite internationale Konferenz zur Nachhal-     Nachhaltigkeit wird häufig in der Innovationsphase
tigkeitstransformation mit dem Titel “Socio-ecolo-     der Materialforschung nicht ausreichend mitbetrach-
gical Transformation: Production, Use and Manage-      tet. Dies liegt u. a. darin begründet, dass die Material-
ment of Chemicals to serve People without Polluting    forschung vorrangig daran ausgerichtet ist, verbesser-
the Planet”. Zum Abschluss der Konferenz fasste das    te oder neue Funktionalitäten zu erreichen, um eine
UBA sechs Hauptziele zusammen, die sich alle auf die   technische Aufgabe zu lösen. Dennoch gibt es durch-
nachhaltige Produktion und Nutzung von Chemikali-      aus auch zunehmend Bestrebungen, einzelne Nach-
en beziehen69:                                         haltigkeitsaspekte in der Entwicklung von neuartigen
                                                       Materialien und deren Anwendungen zu integrieren,
1. bevorzugte Verwendung von Chemikalien mit           sofern die Erreichbarkeit einer Funktionalität generell
   geringem Gefahrenpotenzial, wann immer dies         geklärt ist und das Bewusstsein über problematische
   möglich ist,                                        Eigenschaften eines eingesetzten Materials oder Stof-
                                                       fes vorhanden ist. Um diese Situation zu verbessern,
2. Beschränkung der gefährlichsten Chemikalien auf     bedarf es einer inhärenten Förderung von Forschung
   wesentliche Verwendungszwecke,                      zu und Innovation von sicheren und nachhaltigen
                                                       ­Materialien. Dabei müssen alle Bereiche der Sicher-
3. angemessene Bedingungen für eine Kreislauf­           heit und Nachhaltigkeit über den gesamten Lebens-
   wirtschaft mit schadstofffreien Stoffströmen,         zyklus mitgedacht werden und nicht nur Teilaspekte.
                                                         In diesem Zusammenhang besteht auch der Bedarf,
4. ein nachhaltiges Maß für den Bedarf an Chemi-         Wissen über die Auswirkung von bedenklichen Stof-
   kalien einschließlich eines nachhaltigen Energie-     fen und Materialien auf Mensch und Umwelt sowie
   und Ressourcenverbrauchs,                             auf deren Nachhaltigkeit an derzeitige und zukünfti-
                                                         ge Entwicklerinnen und Entwicklern von Materiali-
5. Klimaneutralität von Chemikalien während ihres        en und deren Anwendungen zu vermitteln. Zudem gilt
   gesamten Lebenszyklus und                             es, bei diesen Akteuren Expertise zum regulatorischen
                                                         Umfeld aufzubauen. Aber auch Förderinstitute soll-
6. klare Nachhaltigkeitskriterien und -indikatoren,      ten die fachliche Expertise haben, Förderanträge für
   um Abwägungsprozesse transparent zu gestalten        ­Materialinnovationen hinsichtlich einer zielführen-
   und eine wesentliche Grundlage für den notwen-        den Berücksichtigung von Sicherheits- und Nachhal-
   digen deutlichen Schub bei der globalen Verwirk-      tigkeitsaspekten bewerten zu können. Erste Angebote
   lichung der Ziele der Agenda 2030 für nachhaltige     zum Wissensaufbau bieten hier zum Thema Sicherheit
   Entwicklung zu liefern.                               von Nanomaterialien beispielsweise verschiedene ab-
                                                         geschlossene und laufende Projekte des NanoSafety­
Diese Ziele stellen eine Zusammenfassung einer grü-      Cluster70 oder das EU H2020 Projekt Nanomet71, die
nen und nachhaltigen Chemie dar und adressieren        es sich unter anderem zur Aufgabe machen Informa-
alle Interessensgruppen und chemieverwendenden         tions-, Lehr- und Fortbildungsmaterial zur Verfügung
Sektoren. Trotz dieser erfolgreichen Bemühungen ist    zu stellen. Diese gilt es aufzugreifen und weiter auszu-
es wichtig, diese Ansätze zur Stärkung der nachhal-    bauen. Hierbei kann das EU HEU Project PARC72 mit-
tigen Entwicklung und Transformation von Chemie,         wirken, welches neben anderen Arbeiten auch eine
Chemikalien und neuartigen Materialien weiterzuent-      Wissens- und Informationsplattform sowie Lehrmate-
wickeln und mehr als bisher anzuwenden sowie wei-        rialien zur Sicherheit und Nachhaltigkeit von Chemi-
tere Lösungen für eine nachhaltige Transformation zu     kalien und Materialien aufbauen wird. Auch das ISC3
etablieren und zu verbreiten.                            fördert den Wissenstransfer zur nachhaltigen Chemie,
                                                         u.a. mit einer internationalen Wissensplattform, einem
                                                         globalen Start-Up Service, einer Summer School für
                                                         nachhaltige Chemie und einem internationalen Netz-
                                                         werk. Damit fördert das ISC3 durch Zusammenarbeit,
                                                         Innovation, Bildung, Forschung und Informationsaus-
                                                         tausch den Wandel zu einer nachhaltigen Chemie.

                                                                                                               17
Eckpunkte für sichere und nachhaltige ­Materialinnovationen

Sicherheit und Nachhaltigkeit in                              Bedenkliche Materialien frühzeitig erkennen
den ­Innova­tionsprozess integrieren                          und identifizierte Wissens- und Bewertungs­
Wie bereits oben erwähnt, wurde als Bestandteil               lücken schließen
der EU-Chemikalienstrategie für Nachhaltigkeit ein            Im Sinne des Vorsorge- und Vorbeugeprinzips be-
SSbD-­Konzept entwickelt, welches Aspekte der Si-             darf es einer frühzeitigen Identifizierung derjenigen
cherheit, der Kreislauffähigkeit und der Funktiona-           neuartigen Materialien, die Anlass zur Besorgnis ge-
lität von Chemikalien und Materialien mit der Be-             ben, sei es aus Perspektive eines möglichen Gesund-
rücksichtigung der Nachhaltigkeit während ihres               heits- oder Umweltrisikos, der Nachhaltigkeit oder ei-
gesamten Lebenszyklus und der Minimierung ihres               ner unzureichenden regulatorischen Abdeckung. Im
ökologischen Fußabdrucks integriert. Das heißt, Lö-           Rahmen von Frühwarnsystemen können bedenkliche
sungen, beispielsweise für die Vermeidung des Ein-            neuartige Materialien und neue Anwendungen iden-
satzes problematischer Chemikalien und Materialien,           tifiziert, Besorgnisse formuliert und Wissenslücken
Abfallvermeidung, schadlose Abfallentsorgung und              aufgetan sowie Handlungsbedarfe beschrieben wer-
optimale Wertstoffrückgewinnung, müssen bereits in            den. Zu empfehlende Handlungen können zum einen
der Entwicklung- und Innovationsphase von Materia-            die Erhebung von Daten zur Be- oder Widerlegung
lien und deren Produkten mitgedacht werden.                   der formulierten Besorgnis, aber auch die Entwick-
                                                              lung von Methoden zur angemessenen Bewertung der
Um in der Lage zu sein, den ökologischen Fußab-               Materialien enthalten. Auch kann das Ergebnis eines
druck oder mögliche stoffliche Risiken insbesonde-            Frühwarnsystems Empfehlungen für ein Re-Design
re neuer oder wenig untersuchter Materialien und              des Materials oder dessen Anwendung im Sinne des
Chemikalien bewerten zu können, muss eine geeig-              SSbD Konzepts liefern. Ein Vorschlag für ein auf die
nete Datengrundlage auf Basis des FAIR-Data-Prin-             Besorgnisse von neuartigen (Nano)Materialien ausge-
zips73 geschaffen werden. Zur Erhebung der Daten be-          richtetes Frühwarnsystem liegt vor (Early4AdMa74),
darf es wiederum allgemein akzeptierter Methoden,             aber auch andere Systeme kommen in Frage (The EU
die geeignet sind neuartige Materialien sachgerecht           Foresight System – FORENV75). Die Betrachtung von
hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die menschliche           neuartigen Materialien in Frühwarnsystemen bleiben
Gesundheit, die Umwelt, ihre Recyclingfähigkeit oder          jedoch immer Einzelfallbetrachtungen. Die Auswahl
ihren ökologischen Fußabdruck zu bewerten. Dies ist           der betrachteten Materialien, die Durchführung, Er-
sowohl notwendig, um Materialentwicklerinnen und              gebnisse und die sich daraus ergebenen Schlussfolge-
-entwickler in die Lage zu versetzen, überprüfen zu           rungen werden somit abhängig von der Kapazität, der
können, ob für eine Innovation SSbD-Kriterien erfüllt         Expertise und dem Interesse der Beteiligten sein.
sind, als auch um bei einem späteren Markteintritt re-
gulatorische Akzeptanz zu gewährleisten. Allgemein            Das Schließen von Bewertungslücken sollte auch
akzeptierte Bewertungsmethoden sind somit ein wich-           die Auswirkung der Umweltrisiken auf die mensch-
tiger Baustein um Innovation auch aus ökonomischer            liche Gesundheit berücksichtigen. Der Gedanke des
Sicht erfolgreich zu machen. Zum einen gewähren sie           One-Health-Ansatzes76 kann Grundlage für eine ver-
Rechtssicherheit bei der Erfüllung von Datenanfor-            besserte integrative Bewertung z. B. von Arzneimit-
derungen. Zum anderen kann, wie im Falle der OECD             teln bilden und sollte auch für die Risikobewertung
Prüfrichtlinien, auf Grundlage der gegenseitigen An-          von auf neuartigen Materialien basierenden Arznei-
erkennung von Daten vermieden werden, bei Markt-              mitteln berücksichtigt werden.
zugang in anderen OECD Mitgliedsländern Prüfungen
unnötig wiederholen zu müssen. Eine umfassende
Datenlage ist aber auch für Entscheidungsträgerinnen
und -träger und für Behörden notwendig, um beste-
hende Wissenslücken, Besorgnisse oder Zielkonflikte
zu identifizieren und darauf basierend geeignete Maß-
nahmen ableiten und umsetzen zu können.

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