Neue PAR-Klassifikation, neue PAR-Leitlinie, neue PAR-Richtlinie
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14 Kassenzahnärztliche Vereinigung Neue PAR-Klassifikation, neue PAR-Leitlinie, neue PAR-Richtlinie Teil 1 – Neue Klassifikation der parodontalen und peri-implantären Erkrankungen Univ.-Prof. Dr. med. dent. Dr. med. Søren Jepsen, MS, Universitätsklinikum Bonn Jetzt fügt sich alles zusammen: An der Neuen Klassifikation aber auch für die Wissenschaft wichtig, um die Prävalenz, die parodontaler Erkrankungen von 2018 ausgerichtet, wurde die Ätiopathogenese von Erkrankungen sowie deren Prognose, Ver- gesamte Therapiestrecke der modernen Parodontitisbehand- lauf und Therapie studieren zu können. In dieser kurzen Über- lung – vom Erstkontakt bis hin zur UPT – 2019 in einen thera- sicht – dieser Bericht basiert auf den vier Konsensusberichten peutischen Stufenplan überführt und dieser mit zahlreichen (Chapple et al., 2018; Papapanou et al., 2018; Jepsen et al., klinischen Empfehlungen Ende 2020 in einer S3-Leitlinie zur 2018; Berglundh et al., 2018) sowie der Einleitung (Caton et al., PAR-Therapie verabschiedet. Damit wichtige Elemente die- 2018) – werden die Ergebnisse des World Workshop on the ses Behandlungskonzepts nun auch in der Praxis wirtschaft- Classification of Periodontal and Peri-implant Diseases and lich umgesetzt werden können, befindet sich eine neue PAR- Conditions vorgestellt. Die Konsensuskonferenz wurde gemein- Richtlinie in Vorbereitung, die im Sommer 2021 in Kraft treten sam von der American Academy of Periodontology (AAP) und soll. In zwei Übersichtsbeiträgen (Ausgabe Mai und Juni des der European Federation of Periodontology (EFP) organisiert RZB) werden die wichtigsten Neuigkeiten anhand von Patien- und im November 2017 in Chicago durchgeführt. Es nahmen tenbeispielen illustriert und aktuelles Informationsmaterial 110 Experten aus aller Welt daran teil. Die Ergebnisse sind im vorgestellt. (Der Beitrag basiert auf einer Publikation in zm Juni 2018 zeitgleich im Journal of Periodontology und im Journal 108, Nr. 13, 1.7.2018, 1556–1562) of Clinical Periodontology publiziert worden. Seit Sommer 2018 gibt es eine neue Klassifikation parodontaler Die Planungen für die neue Klassifikation hatten bereits 2015 be- und peri-implantärer Erkrankungen. Erstmals wurde parodontale gonnen. Ein Organisationsteam [für die EFP: Prof. Jepsen, Prof. Gesundheit definiert, sowohl für ein gesundes als auch für ein re- Sanz, für die AAP: Prof. Caton, Prof. Papapanou, sowie Prof. To- duziertes Parodontium. Die bisherige Einteilung in „chronische“ netti (Editor des JCP) und Prof. Kornman (Editor des JoP)] beauf- und „aggressive“ Parodontitis wurde abgelöst, und die Parodon- tragte ausgewiesene Experten aus aller Welt, insgesamt 19 Über- titis wird jetzt in einer „Staging- und Grading-Matrix“ durch vier sichtsarbeiten zu ausgewählten Themen anzufertigen, die alle re- Stadien und drei Grade beschrieben. Gingivale Rezessionen wur- levanten Bereiche der Parodontologie und der Implantatzahnme- den ebenfalls neu klassifiziert. Erstmals wurde auch eine Klassifi- dizin abdecken und den Hintergrund für die eigentliche Konsen- kation peri-implantärer Gesundheit, peri-implantärer Mukositis susarbeit liefern sollten. Ziel war es, die bestehende Klassifikation und Peri-implantitis verabschiedet. [Armitage, 1999] zu aktualisieren und erstmals auch eine Klassi- fikation für peri-implantäre Erkrankungen zu entwickeln. Großer Klassifikationen in der Medizin/Zahnmedizin sind erforderlich, Wert wurde darauf gelegt eindeutige Falldefinitionen zu entwi- damit Behandler/-innen ihre Patienten/-innen richtig diagnosti- ckeln und diagnostische Kriterien festzulegen, die dem Kliniker zieren und anschließend adäquat behandeln können. Sie sind die Anwendung am Patienten erleichtern sollen. Abbildung 1a: Konsensuskonferenz in Chicago Abbildung 1b: Ausgewiesene Experten aus aller Welt waren einge- laden, um eine zukünftige globale Akzeptanz und Verbreitung der neuen Klassifikationen sicherzustellen. RZB 5 | 05.05.2021
Kassenzahnärztliche Vereinigung 15 Parodontale Erkrankungen und Zustände Parodontale Gesundheit, Parodontitis Andere das Parodont betreffende Gingivale Erkrankungen Zustände Chapple, Mealey, et al. 2018 Papapanou, Sanz et al. 2018 Jepsen, Caton et al. 2018 Consensus Report Consensus Report Consensus Report Trombelli et al. 2018 Jepsen, Caton et al. 2018 Consensus Report Papapanou, Sanz et al. 2018 Consensus Report Tonetti et al. 2018 Case Definitions Systemische Erkrankungen und Zustände mit Einfluss auf das Parodontium Parodontitis als Manifestation Mukogingivale Deformitäten Nekrotisierende Parodontale Parodontale Abszesse und systemischer Erkrankung und Gingivale Gesundheit Gingivale Erkrankungen: Parodontale Gesundheit Zahn- und Zahnersatz Nicht-Biofilm-induziert Endo-Paro-Läsionen bezogene Faktoren Biofilm-Induziert okklusale Kräfte und Zustände Erkrankungen Traumatische Parodontitis Gingivitis: Peri-Implantäre Erkrankungen und Zustände Berglundh, Armitage et al. 2018 Consensus Report Peri-Implantäre Gesundheit Peri-Implantäre Mukositis Peri-Implantitis Peri-Implantäre Weich- und Hartgewebs-defizite Tabelle 1: Themen und Konsensusberichte in der Übersicht. Diese 19 Manuskripte wurden einem sehr rigiden mehrfachen zukünftige globale Akzeptanz und Verbreitung der neuen Klas- Begutachtungsprozess durch Experten unterzogen, bevor sie sifikation sicherzustellen. In Tabelle 1 sind Themen und Konsen- dann rechtzeitig vor der eigentlichen Konsensuskonferenz allen susberichte in der Übersicht dargestellt. Teilnehmern zur Verfügung gestellt werden konnten. Aus deutscher Sicht sehr erfreulich war es, dass die deutsch- In Chicago galt es dann, in vier Arbeitsgruppen die Schlüsseler- sprachigen Teilnehmer sehr zahlreich vertreten waren, was das gebnisse im Konsens zu verabschieden (Abbildung 1) und die mittlerweile hohe Ansehen der deutschen Parodontologie in der Konsensusberichte zu verfassen. Ausgewiesene Experten aus Welt dokumentiert (Abbildung 2). aller Welt waren dazu eingeladen, auch um auf diese Weise eine Parodontale Gesundheit, Gingivitis und gingivale Erkrankungen Im Workshop wurde erstmals parodontale Gesundheit beschrie- ben und es wurden Schwellenwerte festgelegt, die einen Fall von Gingivitis im Gegensatz zu vereinzelten Messstellen mit gingiva- ler Entzündung definieren. Dabei wurde die Sondierungsblutung als primäre Messgröße vereinbart [Lang & Barthold, 2018; Trom- belli et al., 2018]. Eine besondere Herausforderung bestand da- rin, parodontale Gesundheit und gingivale Entzündung eines re- duzierten Parodonts nach Abschluss erfolgreicher PAR-Therapie zu beschreiben. Konkret: Wenn ein solcher Patient erneut Zei- chen gingivaler Entzündung zeigt, ist er dann ein Gingivitis-Pa- tient? Dies würde außer Acht lassen, dass ein Patient mit behan- Abbildung 2: Die deutschsprachigen Teilnehmer waren sehr zahlreich vertreten. delter Parodontitis das Risiko in sich trägt, erneut an Parodontitis In der Mitte, hinten, der Autor, Prof. Dr. Dr. Søren Jepsen zu erkranken. Deshalb wurden konkrete Definitionen auf der RZB 5 | 05.05.2021
16 Kassenzahnärztliche Vereinigung Grundlage von Sondierungstiefen und Blutungswerten verein- Klassifikation von 1999 gibt es einen großen Wissenszuwachs aus bart, um zwischen gingivaler Gesundheit und Entzündung nach epidemiologischen, klinischen und grundlagen-wissenschaftlichen abgeschlossener Parodontitistherapie unterscheiden zu können. Studien. Die eingehende Sichtung aller vorliegenden Evidenz führ- Dies ist wichtig, um die umfassendere Betreuung und Kontrolle te dazu, dass auf dem 2017er Workshop ein neues Rahmenwerk (Unterstützende Parodontaltherapie = UPT) derjenigen Patienten zur Klassifikation der Parodontitis entwickelt wurde [Papapanou et zu gewährleisten, deren aktive PAR-Therapie erfolgreich abge- al., 2018]. In Übereinstimmung mit dem aktuellen Wissensstand zur schlossen wurde. Übereinstimmung bestand nämlich darin, dass Pathophysiologie und dem klinischen Krankheitsbild können drei ein Patient mit Gingivitis in einen Zustand der Gesundheit ge- Formen der Parodontitis unterschieden werden: Nekrotisierende bracht werden kann, wohingegen ein Parodontitis-Patient lebens- Parodontitis [Herrera et al., 2018], Parodontitis als Manifestation lang ein solcher bleibt, sogar nach erfolgreicher Therapie, und le- systemischer Erkrankungen [Albandar et al., 2018, Jepsen et al., benslanger unterstützender Betreuung (UPT) bedarf, um ein Wie- 2018] und diejenigen Formen der Erkrankung, die bisher in „chro- derauftreten der Erkrankung zu verhindern [Chapple et al., 2018]. nisch“ oder „aggressiv“ eingeteilt wurden und jetzt vereint sind in ei- ner einzigen Kategorie „Parodontitis“ [Papapanou et al., 2018, Die große Gruppe der nicht-plaque-induzierten gingivalen Er- Needleman et al., 2018, Billings et al., 2018, Tonetti et al., 2018]. krankungen und Zustände wurde ebenfalls neu beschrieben und untergliedert [Murakami et al., 2018]. Darüber hinaus wurde vereinbart, „Parodontitis“ im Rahmen ei- ner multi-dimensionalen „Staging and Grading“-Matrix näher zu Neue Klassifikation der Parodontitis charakterisieren. In den letzten 30 Jahren wurde die Klassifikation der Parodontitis immer wieder modifiziert, um sie mit den jeweils neuen wissen- Dabei ist Staging – das Stadium der Erkrankung – abhängig schaftlichen Erkenntnissen in Einklang zu bringen. Seit der letzten vom Schweregrad bei Diagnose und auch von der Komplexität Parodontitis-Stadium STAGING Stadium I Stadium II Stadium III Stadium IV Schweregrad interdentaler CAL an 1–2 mm 3–4 mm 5 mm 5 mm Stellen mit höchstem Verlust KA 33% Zahnverlust aufgrund kein Zahnverlust 4 Zähne 5 Zähne von Parodontitis Komplexität lokal • ST 4 mm • ST 5 mm Zusätzlich zu Zusätzlich zu Stadium III: • vorwiegend • vorwiegend Stadium II: Komplexe Rehabilitation erfor- horizontaler KA horizontaler KA • ST 6 mm derlich aufgrund von: • vertik. KA 3 mm • mastikatorischer Dysfunktion • FB Grad II oder III • sekundärem okklusalen Trauma (Zahnbeweglichkeit Grad 2) • Zahnwanderung • ausgeprägtem Kammdefekt • Bisshöhenverlust •
Kassenzahnärztliche Vereinigung 17 Parodontitis GRADING GRAD A: GRAD B: GRAD C: langsame moderate rasche Progressions- Progressions- Progessionsrate rate rate Primäre direkte Evidenz longitudinale kein Verlust
18 Kassenzahnärztliche Vereinigung Abbildung 3: Patientin, 19 Jahre mit der Diagnose „Generalisier- te Parodontitis im Stadium III, Grad C“: a) klinische Ansicht, b) parodontaler Attachmentstatus, c) Röntgenstatus Quelle: Dr. Sven Wenzel (Aachen/Bonn) lisierten Medizin” (precision medicine). Dieses System hat au- (2019)]. Mit der Neuen Klassifikation arbeiten: Staging und ßerdem den großen Vorteil, dass es erlaubt, in der Zukunft jeder- Grading der Parodontitis am Patientenfall, zm 109, Nr. 12, zeit Aktualisierungen und Anpassungen vorzunehmen, sobald 16.6.2019). neue Erkenntnisse – beispielsweise validierte Biomarker – vor- liegen sollten. Die 57-jährige Patientin stellte sich im Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde des Universitätsklinikums Bonn vor. Ihr Die EFP hat klinische Leitfäden und Trainingsmaterial mit Ent- Wunsch war ein maximaler Zahnerhalt. Hauptbeschwerden äu- scheidungsbäumen entwickelt, die in deutscher Übersetzung ßerte die Patientin am Zahn 26, von dem kürzlich ein Abszess auf der Homepage der DG PARO kostenfrei abgerufen werden ausging. In der Vergangenheit hatte die Patientin mehrere Zäh- können (Abbildung 5). ne aufgrund von Zahnlockerung verloren. Die Patientin war Nichtraucherin, Allgemeinerkrankungen wurden verneint und Konkretes Vorgehen anhand eines es bestand keine regelmäßige Medikation. Die Familienanam- Patientenfalls nese ergab, dass bei der Mutter bereits im Alter von 40 Jahren Im Folgenden werden das konkrete Vorgehen und die Anwen- Zähne durch Parodontitis verloren gegangen waren und ein dung der Systematik aus den Entscheidungsbäumen anhand Zahnersatz vorlag. Ihre Mundhygiene war als mäßig zu be- eines Patientenfalls gezeigt [Quelle: Bunke, J & Jepsen, K zeichnen. Abbildung 4: Patientin, 48, Jahre mit den Diagnosen „Generali- sierte Parodontitis im Stadium IV, Grad B“ sowie „Peri-implantitis“: a) klinische Ansicht, b) parodontaler Attachmentstatus, c) Röntgenstatus Quelle: Dr. Tobias Waller, PD Dr. Karin Jepsen (Bonn) RZB 5 | 05.05.2021
Kassenzahnärztliche Vereinigung 19 Abbildungen 5.1–7: Die klinischen Leitfäden und das Trainingsmaterial der EFP mit Entscheidungsbäumen können in deutscher Übersetzung auf der Homepage der DG PARO kostenfrei abgerufen werden. (www.dgparo.de) Extraoraler und intraoraler Befund Schritt 1: Es lagen Gelenkgeräusche und eine Deviation bei Mundöffnung Neuer Patient bei ansonsten unauffälligem extraoralem Befund vor. Die • Die Patientin hat erkennbaren röntgenologischen Knochen- Schleimhäute waren ohne pathologischen Befund. Es fehlten abbau (KA) die Zähne 17, 27, 37, 47. Das Gebiss war konservierend ver- sorgt, am Zahn 21 zeigte sich eine erneuerungsbedürftige Fül- • Die Patientin hat klinisch interdentalen Attachmentverlust lung (Sekundärkaries). Alle Zähne reagierten auf den CO-Kälte- (CAL) test, Zahn 26 zeigte eine verzögerte Reaktion. Perkussionsemp- findlichkeiten lagen nicht vor. Es fanden sich generalisierte harte -> Es besteht der Verdacht auf eine Parodontitis. und weiche Beläge. Die marginale Gingiva war generalisiert ent- zündlich verändert, an Zahn 14 entleerte sich putrides Exsudat Schritt 2: aus der Zahnfleischtasche (Abbildung 6). Es traten Sondie- Patient mit Verdacht auf Parodontitis rungstiefen von bis zu 12 mm auf; im Ober- und Unterkieferfront- • Der klinische Attachmentverlust ist nicht nur durch lokale zahnbereich lagen Sondierungstiefen von maximal 4 mm vor. Faktoren (Endo-Paro-Läsionen, vertikale Wurzelfrakturen, Der maximale interdentale klinische Attachmentverlust (CAL) Karies, Restauration oder impaktierte dritte Molaren) verur- lag bei 13 mm (Zahn 35). Es zeigten sich Furkationsbeteiligun- sacht. gen von Grad II oder III an allen Molaren sowie von Grad II an ei- nem oberen ersten Prämolaren. Eine Zahnbeweglichkeit von • Der klinische Attachmentverlust ist an mehr als einem nicht- Grad I konnte an den Zähnen 26, 36 und 46 und von Grad II am benachbarten Zahn vorhanden. Zahn 35 festgestellt werden (Abbildung 7). -> Es handelt sich um einen Fall von Parodontitis. Wenn Sondie- Röntgenbefund rungstiefen (ST) von 4 mm oder mehr vorliegen, sollte nun Auf dem Röntgenstatus zeigt sich an den Zähnen 16, 13, 12, 11, eine Beurteilung von Stadium und Grad vorgenommen 26, 35, 31, 41, 45 und 46 ein horizontaler Knochenabbau bis in werden. das mittlere Wurzeldrittel oder darüber hinaus. Zahn 35 zeigt zu- sätzlich vertikalen Knochenabbau mesial und distal. Eine inter- Schritt 3a: radikuläre Aufhellung ist an den Zähnen 26, 36 und 46 zu sehen. Der Patient ist ein Fall von Parodontitis, dessen Stadium Am Zahn 26 liegt eine periapikale Aufhellung vor. An Zahn 46 fin- festgelegt werden muss (Tabelle 2) det sich eine röntgendichte Ablagerung auf der Wurzelfläche im Sinne eines Konkrements. Der Zahn 11 ist elongiert (Abbildung 8) Ausmaß Es handelt sich nach der Beurteilung der Attachmentwerte be- Klassifizierung zur Diagnosefindung ziehungsweise des Knochenabbaus um eine generalisierte (schrittweises Vorgehen nach der im klinischen Leitfaden „Parodon- Form der Erkrankung, da mehr als 30 Prozent der Zähne betrof- titis: Klinischer Entscheidungsbaum“ beschriebenen Systematik) fen sind. RZB 5 | 05.05.2021
20 Kassenzahnärztliche Vereinigung Quelle: ZÄ Jennifer Bunke, PD Dr. Karin Jepsen (Bonn) Abbildung 6: 57-jährige Patientin, Schwere • Die Patientin hat vertikale Defekte (zum Beispiel Zahn 35). • Die Patientin hat erkennbaren röntgenologischen Knochen- abbau (KA) bis ins mittlere Wurzeldrittel oder darüber hinaus. Schritt 3b: Stadium III und IV versus I und II • Die Patientin hat interdentalen Attachmentverlust (CAL) von Bei der Patientin liegt aufgrund von Ausmaß, Schwere und Kom- 5 mm an der Stelle mit dem höchsten Verlust. plexität eine generalisierte Parodontitis im Stadium III oder IV vor (Tabelle 2). • Die Patientin hat einen Zahnverlust aufgrund von Parodontitis von vier Zähnen. Schritt 3c: Stadium III oder IV (Abbildung 8: Röntgenstatus) • Der Zahnverlust aufgrund von Parodontitis ist nicht größer als 4; es finden sich keine Zahnwanderungen, keine Auffäche- Komplexität rungen, kein Bisskollaps, keine schweren Kammdefekte, und • Die Patientin hat Sondierungstiefen (ST) von 6 mm und mehr. es liegen 10 oder mehr okkludierende Zahnpaare vor. • Die Patientin hat Furkationsbeteiligungen von Grad II und -> Die Patientin hat eine generalisierte Parodontitis im Stadium Grad III. III. RZB 5 | 05.05.2021
Kassenzahnärztliche Vereinigung 21 Schritt 4a: Grad-Einteilung, wenn keine früheren Patientenunterlagen vorhanden sind (Tabelle 3) Indirekte Evidenz für Progression • Verhältnis Knochenabbau (in Prozent)/Alter: 80 Prozent/56 >1,00 (Grad C) • Fall-Phänotyp: Parodontale Destruktion entspricht dem Bio- film (Grad B). Quelle: ZÄ Jennifer Bunke, PD Dr. Karin Jepsen (Bonn) Risikofaktoren • Nichtraucherin, kein Diabetes (Grad A) -> Da der Grad C nicht modifiziert (herabgestuft) werden kann, liegt bei der Patientin eine „generalisierte Parodontitis im Sta- dium III, Grad C“ vor. Systemische Erkrankungen mit Verlust parodontaler Stützgewebe Die neue Klassifikation parodontaler Erkrankungen beinhaltet auch systemische Erkrankungen und Zustände, die sich auf die parodontalen Stützgewebe auswirken [Albandar et al., 2018, Abbildung 7: 57-jährige Patientin, parodontaler Attachmentstatus Jepsen et al. 2018]. Seltene systemische Erkrankungen wie zum Beispiel das Papillon-Lefèvre-Syndrom führen in der Regel früh- zeitig zu einer schweren Parodontitis. Diese Erkrankungen sind und beziehen auch eine Beurteilung des Zustands der exponier- in der Gruppe „Parodontitis als Manifestation systemischer Er- ten Wurzeloberfläche und der Detektion der Schmelzzement- krankungen“ zusammengefasst (siehe Tabelle 1), und ihre Klas- grenze ein [Cortellini & Bissada, 2018]. Der Konsensusbericht sifizierung basiert auf der zugrunde liegenden systemischen Er- stellt eine neue Klassifikation gingivaler Rezessionen vor, die kli- krankung. nische Parameter einschließlich des gingivalen Phänotyps als auch Charakteristika der Wurzeloberfläche beinhaltet. Der Be- Andere systemische Zustände hingegen, zum Beispiel neoplas- griff „parodontaler Biotyp“ wurde durch „parodontaler Phäno- tische Erkrankungen, können die parodontalen Stützgewebe typ“ ersetzt [Jepsen et al., 2018]. unabhängig von einer plaque-induzierten Parodontitis betreffen [Jepsen al., 2018]. Auch solche klinischen Zustände werden auf Okklusales Trauma und traumatische okklusale Kräfte Basis der primären systemischen Erkrankung klassifiziert und in Traumatische okklusale Kräfte, bisher als „exzessive okklusale der neuen Klassifkation unter „Systemische Erkrankungen oder Kräfte“ bezeichnet, sind Kräfte, welche die adaptativen Mög- Zustände mit Auswirkung auf parodontale Stützgewebe“ grup- lichkeiten des Parodontiums und/oder der Zähne überschreiten. piert (siehe Tabelle 1). Es gibt aber auch weitaus häufigere sys- Traumatische okklusale Kräfte können zu okklusalem Trauma temische Erkrankungen, wie beispielsweise unkontrollierter Dia- (die histologische Läsion) und fortgeschrittenem Verlust von betes mellitus, mit Auswirkungen auf den Verlauf einer Parodon- titis. Auf dem Workshop wurde vereinbart, dass eine Diabetes- assoziierte Parodontitis keine eigenständige Diagnose mit ein- Quelle: ZÄ Jennifer Bunke, PD Dr. Karin Jepsen (Bonn) zigartiger Pathophysiologie sei, obwohl anerkannt wird, dass unkontrollierter Diabetes ein bedeutender Risikofaktor mit Aus- wirkung auf Auftreten, Schwere und Therapieantwort der Paro- dontitis ist. Deshalb erscheint Diabetes in der neuen Klassifika- tion der Parodontitis (siehe oben) als wichtiger Modifikator im Grading-Prozess [Tonetti et al., 2018]. Entwicklungsbedingte und erworbene parodontale Deformitäten und Zustände Mukogingivale Zustände Die neuen Falldefinitionen bezüglich gingivaler Rezessionen basieren auf dem approximalen klinischen Attachmentverlust Abbildung 8: 57j-ährige Patientin, Röntgenstatus RZB 5 | 05.05.2021
22 Kassenzahnärztliche Vereinigung Zahnhartsubstanz und Zahnfrakturen führen [Jepsen et al., Beginn der Peri-implantitis kann bereits frühzeitig nach Implan- 2018]. Es gibt keine Evidenz aus humanen Studien, welche ei- tatinsertion eintreten. Ohne Behandlung scheint die Peri-implan- nen Anteil traumatischer okklusaler Kräfte an der Progression titis in einem nicht-linearen und akzelerierenden Muster voran- des Attamentverlusts bei Parodontitis zeigt [Fan & Caton, 2018]. zuschreiten [Schwarz et al., 2018]. Die Falldefinition für eine Pe- ri-implantitis beinhaltet dementsprechend: Blutung und/oder Zahnersatz und zahnbezogene Faktoren Pusaustritt nach Sondierung, vergrößerte Sondierungstiefen im In der neuen Klassifikation wurde der Bereich der Zahnersatz- Vergleich zu vorangehenden Untersuchungen und Knochenab- bezogenen Faktoren ausgeweitet. Auch wurde der Begriff „Bio- bau, der über die initiale Knochenremodellierung hinausgeht. logical width“ durch „Supracrestal attached tissues“ ersetzt Wenn keine früheren Befunde vorliegen, kann die Diagnose ei- [Jepsen et al., 2018]. Klinische Maßnahmen im Rahmen der An- ner Peri-implantitis aufgrund der Kombination von Blutung und/ fertigung indirekter Restaurationen wurden aufgrund neuerer oder Pusaustritt nach Sondierung, Sondierungstiefen 6 mm Daten einbezogen, die zeigen, dass diese Maßnahmen Rezes- und eines Knochenniveaus 3 mm apikal des am meisten koro- sionen und klinische Attachmentverluste verursachen können nal befindlichen intraossären Implantatanteils gestellt werden. [Jepsen et al., 2018]. Dies wird in den Abbildungen 4a–c illustriert. Peri-implantäre Erkrankungen und Zustände Hart- und Weichgewebsdefekte am Implantationsort Auf dem Workshop wurde erstmalig auch eine neue Klassifikati- Der normale Heilungsverlauf nach Zahnverlust führt zu verrin- on für peri-implantäre Gesundheit [Araujo & Lindhe, 2018], peri- gerten Dimensionen des Alveolarkammes mit Weich- und Hart- implantäre Mukositis [Heitz-Mayfield & Salvi, 2018] und Peri-im- gewebsdefekten. Zu größeren Kammdefekten kann es an Stel- plantitis [Schwarz et al., 2018] erarbeitet und verabschiedet. len mit schweren parodontalen Schäden, mit Extraktionstrauma, Falldefinitionen sowohl für individuelle Fallsituationen in der Pra- mit endodontischen Infektionen, mit Wurzelfrakturen, mit dün- xis als auch für epidemiologische Studien wurden ebenfalls ent- nen bukkalen Knochenwänden, mit ungünstiger Zahnposition wickelt [Berglundh et al., 2018; Renvert et al., 2018]. sowie mit Verletzungen der Kieferhöhle kommen [Hämmerle & Tarnow, 2018]. Peri-implantäre Gesundheit Peri-implantäre Gesundheit wurde sowohl klinisch als auch his- Zusammenfassung und Ausblick tologisch definiert. Klinisch ist peri-implantäre Gesundheit Die wichtigsten Veränderungen der neuen im Vergleich zur bis- durch die Abwesenheit sichtbarer Entzündungszeichen und herigen Klassifikation zusammengefasst: Sondierungsblutung gekennzeichnet. Sie kann an Implantaten mit normalem, aber auch mit reduziertem Knochenniveau beste- 1. eine erstmalige Falldefinition für parodontale Gesundheit, so- hen. Es ist nicht möglich, einen Bereich von Sondierungstiefen wohl für ein normales als auch für ein reduziertes Parodont, zu definieren, der mit peri-implantärer Gesundheit einhergeht [Araujo & Lindhe, 2018]. 2. eine neue Klassifikation und Falldefinition für Parodontitis an- hand einer Staging- und Grading-Matrix, welche die bisherige Peri-implantäre Mukositis Einteilung in „aggressive” und „chronische” Parodontitis ablöst, Eine peri-implantäre Mukositis ist durch Sondierungsblutung und sichtbare Entzündungszeichen charakterisiert. Es liegt kein 3. eine neue Klassifikation mit Falldefinition für mukogingivale Knochenabbau vor, der über die initiale Remodellierung hinaus- Defekte (Rezessionen), geht. Starke Evidenz besteht dafür, dass eine peri-implantäre Mukositis durch einen Plaque-Biofilm verursacht wird, wohinge- 4. eine neue Klassifikation peri-implantärer Gesundheit und gen nur sehr begrenzte Evidenz für eine nicht-Plaque-Biofilm-in- Erkrankung mit Falldefinitionen. duzierte peri-implantäre Mukositis vorliegt. Die peri-implantäre Mukositis kann durch Maßnahmen der Plaquebeseitigung rück- Auf der EuroPerio9, dem weltweit größten Kongress zur Paro- gängig gemacht werden [Heitz-Mayfield & Salvi, 2018]. dontologie und Implantatzahnmedizin mit 10.000 Teilnehmern aus aller Welt, wurde die neue Klassifikation Ende Juni 2018 Peri-implantitis erstmals der weltweiten Fachöffentlichkeit vorgestellt. Die EFP Peri-implantitis wurde als ein Plaque-Biofilm-assoziierter patho- hat danach für ihre nationalen Mitgliedsgesellschaften (darun- logischer Zustand definiert, der in den Geweben um dentale Im- ter als europaweit größte die DG PARO) detailliertes Anschau- plantate auftreten kann und durch Entzündung der peri-implan- ungsmaterial mit Fallbeispielen für die praktische Anwendung tären Mukosa und anschließenden progressiven Knochenab- vorbereitet. Dieses ist durch die DG PARO seit Herbst 2019 bau charakterisiert ist. Es wird angenommen, dass eine peri-im- auch der deutschen Zahnärzteschaft zugänglich gemacht wer- plantäre Mukositis einer Peri-implantitis vorausgeht. Eine Peri- den. Mittlerweile wird den Studierenden an allen deutschen implantitis steht im Zusammenhang mit schlechter Plaquekon- Universitätsstandorten die Neue Klassifikation im Unterricht trolle und mit einer Vorgeschichte schwerer Parodontitis. Der vermittelt. RZB 5 | 05.05.2021
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