PHILOSOPHISCHE DIALOGE - Brill
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5. PHILOSOPHISCHE DIALOGE 5.1. Eine problematische De�nition Themen, die man im engeren oder weiteren Sinn philosophisch nen- nen kann, sind in der Dialogliteratur allgegenwärtig1. Die inhaltliche Abgrenzung eines Typs ‚philosophischer Dialog‘ ist daher nicht möglich, vielmehr ist es notwendig, andere Merkmale zu �nden, die den phi- losophischen Dialog von Lehrdialogen, Streitgesprächen und selbstbe- trachtenden Dialogen mit philosophischem oder theologischem Inhalt unterscheiden. Diese Aufgabe wird durch den Umstand erschwert, dass es keine Werke gibt, die als leitende Vorbilder wahrgenommen wurden und dadurch der Gruppe Einheitlichkeit gegeben hätten. Augustinus und Boethius scheinen zwar die mittelalterlichen philosophischen Dia- loge mit ihrer Art der Argumentation beein�usst zu haben, nicht jedoch in der formalen Ausgestaltung. Darin orientieren sich viele Autoren an anderen Typen, was die Abgrenzung der philosophischen Dialoge als Gruppe erschwert. Bei der Beschreibung anderer Typen zeigte sich die zentrale Stellung, die der Beziehung zwischen den Dialogpartnern als charakterisierendem Merkmal zukommt. In den Lehrdialogen und den selbstbetrachtenden Dialogen ist sie asymmetrisch, da ein Dialogpartner eine führende Funk- tion hat, die er zur Vermittlung von Wissen oder zur Seelenführung einsetzt. In den Streitgesprächen basiert das Gespräch auf der Kontra- stierung der Meinungen, die von den beteiligten Figuren vertreten, zum Teil gar verkörpert werden. Ihre Beziehung kann asymmetrisch sein, wenn eine Meinung in den Vordergrund gestellt wird, oder symmetrisch, wenn sie sich der Gleichberechtigung annähern. In den philosophischen Dialogen wird die Gleichberechtigung der Partner von vornherein ange- strebt, beide sollen bei der Lösung eines Problems kooperieren. Freilich gelingt die Gestaltung dieser Beziehung unterschiedlich gut. Sie wird vor 1 Dies hat sogar dazu geführt, dass der philosophische Inhalt als ein Merkmal des literarischen Dialogs gesehen wurde, vgl. Aygon, „Le dialogue“, 201–208. Die Bezeichnung „philosophische Dialoge“ kann freilich zu einer rein thematischen De�nition verleiten, die sich allerdings wegen der formalen und funktionalen Vielfalt der Werke als Sackgasse erweist, siehe oben 7–8. © Carmen Cardelle de Hartmann, 2007 | DOI:10.1163/9789047420637_007 This is an open access chapter distributed under the terms of the CC BY-NC 4.0 license. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 211 allem dadurch beeinträchtigt, dass die philosophischen Dialoge häug dem Modell der weit verbreiteten Lehrdialoge folgen und die Figuren als Lehrer und Schüler charakterisieren. Die Abgrenzung gegenüber Lehrdialogen wird jedoch deutlich sichtbar, wenn man nicht nur die Beziehung der Figuren, sondern auch weitere Merkmale berücksichtigt. In den Lehrdialogen wird ein Wissen vermittelt, dass durch die Fragen des Schülers strukturiert wird2. In den philosophischen Dialogen hinge- gen ist die Rolle des Schülers wesentlich aktiver, denn er beteiligt sich an der Argumentation. Allerdings können philosophische Dialoge auch Abschnitte enthalten, in denen der Schüler nur in einer fragenden Rolle vorkommt3. Inhaltlich geht es in ihnen nicht um die Weitergabe von Wissen, sondern um die Diskussion von Problemen, wobei verschiedene Lösungsansätze untersucht werden können. Ein weiterer Unterschied zwischen Lehrdialogen und philosophischen Dialogen besteht in der Strategie, die der Autor befolgt, um aus unterschiedlichen Themen ein einheitliches Werk zu bilden. In ersteren sorgt die Figur des Schülers, der mit seinen Fragen neue Themen einführt, für die Einheitlichkeit des Textes, in den philosophischen Dialogen hingegen ergeben sich Themenwechsel aus dem Gespräch selbst oder sie werden einer Erzäh- lung entnommen, die von einem oder von beiden Gesprächspartnern vorgetragen wird. Schwieriger gestaltet sich die Abgrenzung von einer Gruppe, die in ihrer Anlage Anleihen aus verschiedenen Dialogtypen nimmt: den Streit- gesprächen zwischen Lehrer und Schüler. In ihnen diskutieren beide Figuren strittige Meinungen, wobei dem Schüler die Aufgabe zusteht, die Argumente der Gegner vorzubringen4. Die aktive Beteiligung des Schülers und die Diskussion verschiedener Thesen sind ihnen und den philosophischen Dialogen gemeinsam. Bei der Abgrenzung beider Gruppen sind zwei Begriffe nützlich, die in der Argumentationstheorie entstanden sind: dogmatischer und emergenter Dialog. In einer Untersu- chung über Formen der Argumentation in asymmetrischen Beziehungen 2 Dies gilt auch für einen Lehrdialog, der Ähnlichkeiten mit den philosophischen Dialogen aufweist, nämlich den Dialogus Wilhelms von Ockham, in dem zwar verschie- dene Argumente abgewogen werden, aber dies Aufgabe des Magisters bleibt (dazu siehe oben 74–77). 3 Dieses Oszillieren lässt sich bereits bei Cicero beobachten und später bei im Mittel- alter viel gelesenen Werken, wie den Cassiciacum-Dialogen Augustins und der Consolatio des Boethius, vgl. Lerer, Boethius and Dialogue, der diese Schwankung bereits in den Tusculanae disputationes beobachtet. 4 Zu dieser Gruppe siehe oben 145–149. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
212 philosophische dialoge hat Rühl literarische Dialoge aus Mittelalter, Renaissance und Aufklä- rung mit einer asymmetrischen Gesprächskonstellation analysiert und als Ergebnis beide Varianten folgendermaßen deniert: One key distinction ist the distinction between 1. arguing that can be reconstructed without major problems as a premise(s)/conclusion complex in which the initially problematic point is still fundamentally unmodied at the end and accepted or rejected as such, and, 2. arguing from which because of slight topic shifts most or all of the communicative dynamics would have to be eliminated if it were reconstructed as a premise(s)/conclusion complex5. Diese Unterscheidung erinnert an die Forderung von Moos’, vor- rangig jene Dialoge zu untersuchen, in denen sich das Gespräch als wesentlich für das Werkverständnis erweist6. Dies ist gerade ein Merkmal des emergenten Dialogs, in dem die Thesen sich durch die Gesprächsdynamik verschieben und neue Fragen sich in der Diskussion ergeben können. Freilich sind die Übergänge ießend. Rühl spricht von einem Kontinuum zwischen beiden Formen der Argumentation, wobei die literarischen Dialoge sich selten in einem der beiden Extreme benden, sondern nur tendenziell eher dem einen oder dem anderen zuzurechnen sind7. Die Streitgespräche zwischen Lehrer und Schüler tendieren zum Pol des dogmatischen, die philosophischen Dialoge zum Pol des emergenten Dialogs. Die Praktikabilität dieser Unterscheidung zur Klassizierung eines Dialogs, der aus verschiedenen Traditionen schöpft, wurde von Drews anhand des Dialogus des Petrus Alfonsi gezeigt8. Es bleiben trotzdem einige schwer einzuordnende Texte. So zum Beispiel FitzRalphs De pauperie, in dessen Verlauf nicht nur Thesen geprüft, sondern durchaus auch neue Positionen entwickelt werden9, oder der Dialogus inter Ockhamistam et Dunsistam, der bestimmte Thesen ausgiebig durchleuchtet. In solchen Fällen kann die Berücksichtigung anderer Merkmale zur Klassizierung der Werke beitragen. Bei Fitz- Ralph gibt es einen Bezug zu einem zeitgenössischen, gesellschaftlich brisanten Problem, ein charakteristisches Merkmal der Streitgespräche. 5 Rühl, Arguing, 258. 6 Von Moos, „Zwischen Schriftlichkeit“, 302; „Literatur- und bildungsgeschichtliche“, 6–7, Anm. 5; „Le dialogue“, 350. 7 Rühl, Arguing, 260 –261. 8 Drews, „Dogmatischer oder emergenter Dialog?“, zum Dialog des Petrus Alfonsi siehe oben 112. 9 Zu diesem Werk siehe oben 147–148. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 213 Im anonymen Dialogus inter Ockhamistam et Dunsistam ist der entspannte, geradezu spielerische Ton bei der Auslotung der Argumente auffallend. Noch entscheidender ist das offene Ende: Es geht hier nicht darum, eine These zu verizieren oder zu falsizieren, sondern die Argumente für und wider zu ergründen. Als Ergebnis der Abgrenzung der philosophischen Dialoge von den Lehrdialogen und den Streitgesprächen10 lässt sich festhalten, dass die philosophischen Dialoge eine partnerschaftliche Diskussion inszenieren, wobei ein Partner eine führende Rolle einnehmen kann. Die behan- delten Themen ergeben sich aus einer vorgetragenen Erzählung oder aus dem Gespräch selbst, sie sind philosophischen oder moralphiloso- phischen Inhalts und stehen nicht im Mittelpunkt einer gesellschaft- lichen Kontroverse. In der Regel gehen die Gesprächspartner nicht von vorgegebenen Thesen aus, sondern entwickeln und probieren ihre eigenen Lösungsvorschläge. Die philosophischen Dialoge des Spätmittelalters lassen sich in zwei Gruppen einteilen, die sich durch die behandelten Themen, den Stil und die Art der Argumentation unterscheiden. In der ersten Gruppe ist das Thema klar eingegrenzt oder besteht aus einer Frage, deren Antwort von den Figuren gemeinsam erarbeitet wird. Die Argumentation zeigt sich von der scholastischen Methode beeinusst. Diese Gruppe setzt sich aus folgenden Werken zusammen: dem Liber de locutione angelorum (R32u) des Raimundus Lullus, dem Dialogus de apprehensione des Stepha- nardus de Vicomercate (R35), dem Dialogus curiosus de formalitatibus eines nicht näher identizierten Robertus Anglicus (R50) und dem Rationale divinorum operum des Matthäus von Krakau (R75b). Die Werke der zweiten Gruppe behandeln sehr unterschiedliche, zum Teil nur lose zusammenhängende Fragen, zumeist moralischen Inhalts11, die sich entweder aus dem Gespräch ergeben oder durch den Bezug auf eine erzählte Geschichte sich zusammenschließen. Die inhaltliche Vielfalt lässt den Eindruck eines Gespräches entstehen, was in einigen Werken durch den Sprachduktus und durch die sich verändernde Beziehung zwischen den Personen noch verstärkt wird. Die Argumentation ist 10 Die Abgrenzung zu den selbstbetrachtenden Dialogen ergibt sich aus den Figuren, die in diesen eine Doppelung des Autor-Ichs darstellen. Siehe dazu 163–165. 11 Mit „moralisch“ ist gemeint, dass sowohl moralphilosophische als auch moralthe- ologische Fragen, die im Mittelalter ja nicht streng getrennt waren, behandelt werden. Zum moralischen Denken des Humanismus und seinen literarischen Formen vgl. Kristeller, „Das moralische Denken“, zur Begriffsbestimmung vor allem 42–43. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
214 philosophische dialoge hautptsächlich rhetorisch, auf Exempeln und Zitaten basierend. Diese Merkmale kommen in folgenden Werken vor: in der Chronica de gestis illustrium principum ac regum Poloniae des Vincentius Kaddubek (R9), im Serium senectutis des Elias von Thriplow (R18), in De lite inter Naturam et Fortunam des Albertino Mussato (R47b), und in den Dialogen des Giovanni Conversino da Ravenna: Dialogus inter Johannem et Litteram (R71a), Dolosi astus narratio (R71b), Violatae pudicitiae narratio (R71c), De consolatione de obitu lii (R71d) und Dragmalogia de eligibile vitae genere (R71e). Die erste Gruppe bezeichnen wir als dialektische Dialoge, da in ihnen die scholastische Argumentationsweise dominant ist12, die Werke der zweiten Gruppe nennen wir wegen der bevorzugten Themen mora- lische Gespräche13. Vor der Beschreibung der zwei spätmittelalterlichen Gruppen wird der diachronische Hintergrund skizziert, denn darin zeigt sich, wie es zum Rückgriff auf Elemente anderer Dialogtraditionen kam. Die Abgren- zung der Typen, die bisher in Hinblick auf die spätmittelalterlichen Dialoge diskutiert wurde, wird am Ende des diachronischen Überblicks in Bezug auf die hochmittelalterlichen Werke besprochen. 5.2. Philosophische Dialoge im Früh- und Hochmittelalter In seiner Untersuchung der christlichen Dialoge der Spätantike deniert P. L. Schmidt die Gruppe der philosophischen Dialoge durch die part- nerschaftliche Beziehung der Dialogteilnehmer und ihre gemeinsame Suche nach der Lösung eines Problems. Er beobachtet ferner den Einuss des ciceronischen Dialogs und die Wichtigkeit der Diskussi- onsmethode an sich: 12 ‚Dialektische Dialoge‘ wird hier für diese kleine Gruppe verwendet, um sie von den zeitgenössischen, anders gestalteten und bewusst antischolastischen moralischen Gesprächen der Humanisten abzusetzen. Von Moos, „Literatur- und bildungsgeschicht- liche Aspekte“, benutzt hingegen diese Bezeichnung für die philosophischen Dialoge des Mittelalters. Bei Perelman („La méthode“, „Dialectique“ ) sind die ‚dialektischen Dialoge‘ wiederum ein Untertyp der epochenübergreifenden Gattung des philoso- phischen Dialogs. Ihr unterscheidendes Merkmal ist, dass die Personen von allgemein anerkannten Thesen ausgehend neue entwerfen. Die zwei weiteren Untertypen sind die kritischen Dialoge, die die Vereinbarkeit einer These mit anderen, bereits als wahr erkannten prüfen, und die eristischen, in denen beide Kontrahenten versuchen, die gegnerische Argumentation zu demontieren. 13 Wir verwenden Gespräche statt Dialoge zur besseren Unterscheidung von den moralischen Lehrdialogen, siehe oben 95–101. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 215 Den Dialogpartnern als Vor-Bild des Publikums soll nicht einfach Infor- mation weitergegeben werden, sondern in der gemeinsamen Erarbeitung des Problems werden sie für die Entscheidung engagiert; mehr als auf den Ausgang kommt es auf den Gang des Diskurses an.14 Im Frühmittelalter werden die philosophischen Dialoge rar, ein pro- blematisierendes Gespräch wie das Periphyseon des Johannes Scottus Eriugena bleibt die Ausnahme15. Allerdings formiert sich nun eine Gruppe, die zwei Merkmale der spätantiken philosophischen Dialoge – ciceronischen Einuss und partnerschaftliche Diskussion – beibehält, nämlich die biographischen Dialoge, die das ciceronische Modell über den Dialog des Sulpicius Severus rezipierten. In ihnen diskutiert eine Gesprächsrunde die Lebensleistung einer (in der Regel umstrittenen) Persönlichkeit, wobei die Erzählung Anlass zur Diskussion einer Fülle von Themen gibt, moralische, philosophische und theologische Fragen eingeschlossen. Die biographischen Dialoge nden eine Fortsetzung in den moralischen Gesprächen des Spätmittelalters, wobei schwer zu entscheiden ist, ob eine direkte Abhängigkeit vorliegt16. Im Hochmittelalter ndet das Bestreben, theologisches Wissen durch die Vernunft abzusichern oder sogar allein auf die Vernunft zu gründen, auch in Dialogschriften Niederschlag. Für die Wahl der Dialogform dürfte der Einuss von Boethius und Augustin den Anstoß gegeben haben, aber die Gestaltung des Gesprächs – Figurenwahl, Einbettung in eine ktive Situation – variiert und lässt den Rückgriff auf verschiedene literarische Traditionen erkennen. Die Suche nach der geeigneten Form für eine auf der dialektischen Methode basierenden Erörterung ist bereits in der beginnenden Scho- lastik zu beobachten. Anselms von Canterbury Monologion und Proslogion sind als Meditationen verfasst, das Proslogion gar in der Form eines an Gott gerichteten Gebets. Anselm geht in seinem Bestreben, Einsicht in Glaubensinhalte zu gewinnen, von seiner Lektüre Augustins aus, der ihn auch formell beeinusst hat. Das mit Reexion durchsetzte Gebet ist nämlich eine für Augustin charakteristische Einleitung; auf diese Weise beginnen seine Soliloquia, auf deren Titel sich wohl die 14 P. L. Schmidt, „Zur Typologie“, 115; zum Typ des philosophisch-theologischen Dialogs ebda. 114–115. 15 Zum Periphyseon vgl. von Perger, „Deliberativa theoria“, zu Leben und Werk Eriugenas vgl. die Übersicht bei Schrimpf, Art. „ Johannes Scottus Eriugena“. 16 Zu den biographischen Dialogen siehe oben 89–90. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
216 philosophische dialoge Neubildung Monologion bezieht17, auch die lange Gottesansprache der Confessiones leitet immer wieder zum Abwägen philosophischer und theologischer Fragen über18. Auf das ontologische Argument im Proslogion antwortete Gaunilo mit kritischen Bemerkungen. Anselm, der sich bei seinen Werken immer um die genaue Form der Überlieferung kümmerte, beschloss, dem Proslogion Gaunilos Kritik und seine eigene Antwort beizufügen19. Der Unterschied zu den Doppeltraktaten Lan- francs und Berengars ist aufschlussreich20: Anselm versucht nicht, seinen eigenen Standpunkt gegen Gaunilos Einwände durchzusetzen, indem er Argument für Argument und Satz für Satz erwidert, sondern will dem Leser geschlossene Argumentationsketten zur Verfügung stellen, die einen Ausgangspunkt für die Reexion bilden können21. Anselms spätere philosophische Werke sind als Lehrdialoge zwischen Magister und Discipulus gestaltet, nur in seinem bekanntesten Dialog, Cur Deus homo, wird die gemeinsame Suche nach einer vernunftgemäßen Antwort im Gespräch zwischen Anselmus und Boso dargestellt. Vordergründig bendet sich das Werk in der Tradition des monastischen Dialogs: Zwei Mönche unterhalten sich als Lehrer und Schüler über Fragen des Glaubens in einem anscheinend außer Zeit und Ort stattndenden Gespräch. Doch gestalten sich die Beziehung der Personen und die Art ihrer Argumentation anders als in der monastischen Tradition. Obwohl die Figur Anselmus mitunter Erklärungen in langen Lehrvorträgen gibt, formuliert doch Boso immer wieder entscheidende Erkenntnisse. Lehrer und Schüler werden dadurch Partner in ihrer Suche nach Erkenntnis22. Die Figur Boso ist eine historische Person, ein Schüler und enger 17 Anselm suchte länger nach einem geeigneten Titel für seine Schrift. Seine Wahl el zuerst auf Exemplum meditandi de ratione dei, dann auf Monoloquium, das schließlich durch das endgültige Monologion ersetzt wurde, vgl. Southern, Saint Anselm, 119 –120. Er erklärt selbst das ungewohnte Wort: illud quidem Monologion, id est soliloquium, istud vero Proslogion, id est alloquium nominavi (Proslogion, Praef., Opera, Ed. Schmitt, Bd. 1, 94, 11–13). 18 Zum formalen Einuss der Confessiones und der Meditationen des Johannes de Fécamp auf das Proslogion, das er als „kontemplatives Gebet“ deniert, vgl. Kienzler, „Proslogion 1“. Zum allgemeinen Einuss der Werke Augustins auf das Proslogion, vgl. Van Fleteren, „Augustine’s Inuence“. 19 Zu Gaunilos Einwänden vgl. Hopkins, „Anselm’s Debate“. 20 Zu den Doppeltraktaten siehe oben 133, 153–155. 21 Für Anselm sind philosophische Reexion und Gebet Formen der Meditation. Die Leser seiner Gebete fordert er ausdrücklich auf, seinen Text als Ausgang für die Meditation zu nehmen. Zu dieser Beziehung zwischen dem Vorgehen bei den Gebeten und Meditationen und bei den ersten philosophischen Schriften vgl. Sweeney, „Anselm“, 101–107; Southern, Saint Anselm, 120 –123; Cottier, Anima mea, lv–lxiii. 22 Vgl. die Analyse der Dialoge von Sweeney, „Anselm“, und insbesondere ihre Beobachtungen zur Charakterisierung der Personen, ebda. 123–124. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 217 Freund Anselms. Southern ist der Meinung, Anselm sei in Diskussionen mit ihm zu neuen Einsichten gekommen und habe deshalb mit dieser Dialoggestaltung Bosos Beitrag würdigen wollen23. Anselm hat in seinen Werken eine vernunftgemäße Argumentation unter weitgehendem Verzicht auf Autoritäten vorgeführt, die häug in den hochmittelalterlichen Streitgesprächen gegen Juden nachgeahmt wurde. Anselm selbst verweist im Prolog zu seinem Cur Deus homo auf die Einwände der indeles gegen das Christentum: . . . in duos libellos distinxi. Quorum prior quidem indelium Chris- tianam dem, quia rationi putant illam repugnare, respuentium continet obiectiones et delium responsiones. Ac tandem remoto Christo, quasi numquam aliquid fuerit de illo, probat rationibus necessariis esse impos- sibile ullum hominem salvari sine illo24. In der Forschung gibt es keine Einigkeit darüber, wer hier mit indeles gemeint ist: Juden, Muslime, von ihnen verunsicherte Christen oder gar Christen, die von ihrer Beschäftigung mit den Artes zum Zweifeln an der Autorität gebracht worden waren25. In der Schrift lässt sich keine Polemik gegen Ungläubige erkennen, und es stellt sich die Frage, ob Anselm auf wirkliche Widersacher antworten oder nicht vielmehr durch den Hinweis auf die Ungläubigen eine in seiner Zeit strittige Methode rechtfertigen will. Der Verweis darauf, dass es durchaus Ungläubige gäbe, die sich nur der allen Menschen gemeinsamen Vernunft beugen würden, sollte eine Erklärung für sein Vorgehen liefern. Der Kunst- griff, einen Nichtchristen anzusprechen, um die Einsetzung einer auf Vernunftgründen basierenden Argumentation zu erklären, dürfte die reiche Produktion von Streitgesprächen gegen Juden im Hochmittelalter 23 Southern, Saint Anselm, 202–205. 24 Ed. Schmitt, Bd. 2, 42. 25 Vor allem Southern ist der Meinung, dass Anselm hier auf Einwände und Vorwürfe der Juden gegen den christlichen Glauben an der Menschwerdung Gottes reagieren wollte und mit seiner Argumentation dadurch verunsicherte Christen beruhigen wollte (Saint Anselm, 197–202). Dafür spricht, dass die Arbeit an Cur Deus homo in London abge- schlossen wurde, wo sein Schüler Gilbert Crispin um dieselbe Zeit die Anwesenheit von Juden bezeugt und seine Disputatio Judaei et Christiani abfasste. Eine nuancierte Position nimmt Dahan, „Saint Anselme“, ein: Die Einwände der Juden mögen den Anstoß zu den Überlegungen Anselms gegeben haben, ihre Erwiderung sei jedoch nicht sein Ziel gewesen. Gauss, „Die Auseinandersetzung“, ist der Meinung, dass er sich auf Juden und Muslime bezieht. Abulaa, Christians and Jews, 43–45, vermutet hingegen, dass die indeles zweifelnde Christen sind. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
218 philosophische dialoge zum Teil erklären26. Dies lässt sich zum Beispiel bei Anselms Schüler Gilbert Crispin beobachten und auch bei Odo von Cambrai, der in seiner Disputatio contra Judaeum Leonem nomine Anselms Argumentation wieder aufnimmt27. Die Vermutung, dass Dialogautoren durch die Wahl der Personen die besondere Form der Argumentation rechtfertigen wollten, wird durch andere Schriften erhärtet, die einen Dialog mit einem Heiden insze- nieren. Es sind dies eine in der Überlieferung Anselm zugeschriebene Schrift28 und ein Werk seines Schülers Gilbert Crispin29. Doch stellt ein solches Gespräch den Autor vor das Problem, ihm einen Rahmen zu geben. In dem Anselm zugeschriebenen Dialog ndet sich kein narra- tiver Rahmen, Gilbert erzählt in seiner Einleitung von einem Treffen heidnischer Philosophen in London, was sein Werk in ein Niemandsland zwischen den Dialogen mit plausiblen Gesprächskonstellationen einer- seits und den Schriften mit allegorischem Rahmen andererseits stellt30. Eleganter und in Übereinstimmung mit einer reichen literarischen Tradition beginnt Abaelard seine Collationes mit einem Traumgesicht: Ein Philosoph, ein Jude und ein Christ suchen einen Richter für ihr Streitgespräch und wenden sich an den Ich-Erzähler, einen Christen, der mit beiden Gesetzen sowie mit der Philosophie vertraut ist. Es folgen ein Gespräch zwischen dem Juden und dem Philosophen und ein weiteres zwischen letzterem und dem Christen. Die Collationes sind ein komplexes, nicht einfach zu interpretierendes Werk, doch lässt sich festhalten, dass es nicht vorrangig eine Auseinandersetzung mit dem Judentum anstrebt31. Die zwei Gespräche behandeln zentrale Themen 26 Hinzu kommen freilich andere Faktoren. Zu den Hintergründen, den Verfassern und dem Publikum dieser Schriften siehe oben 108–121. 27 Zu den Streitgesprächen gegen Juden im Hochmittelalter und ihre Beziehung zur beginnenden Scholastik siehe oben 111–112. 28 Ediert von Mews, „St. Anselm and Roscelin“. Zu dieser Schrift vgl. Abula a, Christians and Jews, 85–86. 29 Zu diesem Werk siehe oben 111–112. 30 Die meisten Streitgespräche der Zeit werden als Wiedergabe eines stattgefun- denen Disputs präsentiert. Ob dies nun zutrifft oder nicht, ist hier nicht von Belang; wichtig ist, dass dies eine beliebte Inszenierungs- und Rechtfertigungsstrategie der Autoren ist (siehe oben 110–111). Gilbert folgt ihr zwar in seiner Schilderung, wie es zu diesem Disput gekommen sei, aber seine Darstellung ist im Unterschied zu den anderen Streitgesprächen nicht plausibel. Einige Werke entscheiden sich für einen allegorischen Rahmen, dieser ist dann jedoch durch den Auftritt allegorischer Figuren oder die Bezeichnung als Traum oder Vision als solcher deutlich charakterisiert (siehe oben 179). 31 Vor allem von Moos, „Les Collationes“, hat überzeugend gegen die Lesart des Werks als antijüdische Polemik argumentiert. Bereits der Titel der Schrift weist darauf C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 219 in Abaelards Philosophie, wobei alle Gesprächsteilnehmer zeitweise Standpunkte des Autors verteidigen. Im Mittelpunkt stehen nicht vorge- gebene, konträre Positionen, die kontrastiert werden, sondern vielmehr eine bestimmte Methode, sich in der Diskussion aller Meinungen der Wahrheit anzunähern32. Abaelard ließ sich nicht nur von den Streitgesprächen anregen, um eine offene Diskussion zu inszenieren. Von ihm ist ebenfalls ein kurzer Text erhalten, in dem Petrus und A33 über die Impli- kationen der Bezeichnung Christianus diskutieren. Christus gibt dem Christen seinen Namen, und da er auch die Weisheit (Sophia) und das Wort (Logos) ist, sollen die Christen Philosophi und Logici sein. In dieser Inszenierung eines Selbstgespräches ist dieselbe Verbindung zwischen Meditation und philosophischer Reexion zu entdecken, die bereits bei Anselm beobachtet wurde. Im 12. Jahrhundert entstand ebenfalls ein Werk, das für die Darstel- lung eines philosophischen Themas direkt auf die Antike zurückgreift. Es ist Aelreds von Rievaulx De spiritali amicitia, das inhaltlich und in der Darstellung Ciceros Laelius als Vorbild folgt. Auch hier schwankt allerdings die Form: Das erste Buch, ein Gespräch zwischen Aelredus als Lehrer und seinem Freund Ivo, orientiert sich eher an den mona- stischen Dialogen; das zweite und das dritte Buch hingegen zeigen eine Diskussion zwischen Aelredus, Galterus und Gratianus, in der jede Figur eine andere Meinung zum Thema vertritt und ihrer Einstellung entsprechend charakterisiert wird34. Ein letztes Beispiel für das Experimentieren mit verschiedenen For- men bei problematisierenden Dialogen ist der Dialogus Ratii et Everardi von Eberhard von Ypern (Évrard d’Ypres)35, einem Schüler Gilberts von Poitiers. Bernhard von Clairvaux hatte Gilberts Theologie scharf hin, dass es sich nicht um ein Streitgespräch (gewöhnlich disputatio oder dialogus genannt), sondern um Erörterungen komplexer Fragen handelt. Zur Bedeutung von collatio vgl. Cizek, „Zur literarischen“, 114, Anm. 12. 32 Zur zentralen Rolle der Methode in den Collationes vgl. Westermann, „Wahrheits- suche“; Seit, „Abaelards Gespräch“, 93–95. 33 Der Text wurde vom Editor Burnett Soliloquium genannt, da er Augustins Soliloquia als Vorbild der Schrift vermutet. Die Personen werden in einem Einleitungssatz PA und AP genannt, die Praenotatio nominum verwendet nur P und A. A nennt P in seinem ersten Beitrag Petre. Dies, der Inhalt und die Überlieferung mit Werken Abaelards (und Berengars von Poitiers) machen seine Autorschaft sehr wahrscheinlich. 34 Vgl. Kunzmann, „Aelred“. 35 Zu diesem Werk vgl. von Moos, „Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte“, „Le dialogue“; Jacobi, „Dialogus“. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
220 philosophische dialoge angegriffen und Gilbert selbst 1148 in Reims der Häresie bezichtigt. Eberhard trat als älterer Mann ins Kloster Clairvaux ein, wodurch er in eine Koniktsituation geriet. Sie ndet ihren Niederschlag in diesem Werk, das sich durch eine lebhafte Rahmenhandlung und eine sorgfältige Charakterisierung der Personen auszeichnet. Handlung und Figuren werden zur Veranschaulichung der diskutierten Themen ein- gesetzt. Ratius aus Athen macht auf seiner Reise im Kloster Clairvaux Halt und unterhält sich mit Everardus. In einem lebhaften Gespräch, an dem sich auch die Mitreisenden des Ratius beteiligen, wird eine Darstellung der Theologie Gilberts angeboten und eine Diskussion darüber geführt. Dabei verteidigt Everardus die Kritik Bernhards. Wenn ein heiliger Mann wie Bernhard Gilberts Theologie ablehnte, muss es in ihr inakzeptable Lehrmeinungen geben. Ratius kontert: Bernhard war gewiss ein heiliger Mann, das bedeute jedoch nicht, dass er alles wüsste. Im Dialogus konnte von Moos den Einuss Augustins und Boe- thius’ feststellen sowie Elemente der Komödie, des Streitgesprächs, des Lehrdialogs und des selbstbetrachtenden Dialogs beobachten. Es ist ein in seiner Komplexität einmaliges Werk. Hochmittelalterliche Dialoge können zwar den Einuss von antiken (Cicero) oder von spätantiken Gesprächen (Augustin, Boethius) auf- weisen, doch ist dieser häug nicht augenfällig oder er ist von anderen Einüssen durchsetzt. Gerade in den ktiven Aspekten (Situierung des Gesprächs, Wahl der Figuren) macht sich der Rekurs der Autoren auf verschiedene literarische Traditionen bemerkbar. Der Wechsel zwischen lehrhaftem Vortrag und problematisierendem Gespräch korrespondiert in hochmittelalterlichen Werken mit einer Vermengung der dialektischen Beweisführung und der rhetorischen Überredung36. Die Unterscheidung zwischen Lehrdialogen und philosophischen Dialogen muss sich häug danach richten, welches Element im Werk überwiegt. Auch zwischen Streitgesprächen und philosophischen Dialogen besteht im Hochmit- telalter eine enge Verwandtschaft. Der Unterschied zwischen beiden Gruppen liegt in der Beziehung der Personen: Bei den Streitgesprächen werden unvereinbare Positionen vorgetragen, bei philosophischen Dialogen wird in der gemeinsamen Argumentation nach einer Lösung gesucht. Die doppelte Inszenierung des Autors in zwei verschiedenen 36 Vgl. von Moos, „Le dialogue“, 372–375; „Literatur- und bildungsgeschichtliche Aspekte“, 28–30. Über die Synthese von Rhetorik und Dialektik im Hochmittelalter vgl. von Moos, Geschichte als Topik, 238–285. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 221 Rollen im sogenannten Soliloquium Abaelards verweist auf die Tradition der selbstbetrachtenden Dialoge. Diese haben allerdings eine doppelte Ausrichtung, die sie den Meditationen annähert: Einkehr zur Erkennung der eigenen Sünden und Verfehlungen einerseits, andererseits Erhebung zu Gott. Bei Abaelard ist jedoch die vernunftmäßige Diskussion anderer Themen dominant. 5.3. Philosophische Dialoge im Spätmittelalter 5.3.1. Dialektische Dialoge In den dialektischen Dialogen des Spätmittelalters suchen zwei Figuren nach gemeinsamen Antworten, wobei eine der beiden eine führende Rolle einnehmen kann. Dies gilt für Philosophia bei Stephanardus und für den Filius bei Matthäus. Ihre Führung besteht allerdings nur darin, den Partner durch Fragen anzuleiten, und nicht in der Vermittlung von Wissen oder Erfahrung. Die zwei Engel im Liber de locutione angelo- rum diskutieren gleichberechtigt, während Ockhamist und Scottist als Gegner auftreten. Im Unterschied zu den Streitgesprächen legen sie jedoch eine geradezu ludische Einstellung an den Tag. Beide Positionen werden geprüft und Argumente für und wider werden erwogen, was den Eindruck einer intellektuellen Auseinandersetzung, nicht einer feindlichen Opposition entstehen lässt. Die Werke dieser Gruppe besprechen klar umrissene Fragestellungen: Stephanardus behandelt die Wahrnehmung und ihre Formen, Matthäus die Theodizee, Robertus Anglicus die Formbestimmungen der Dinge, der Liber de locutione angelorum des Lullus die Engelsprache. Methodisch konzentrieren sich alle Autoren auf logische Beweise, insbesondere der Dialogus curiosus richtet sich streng nach der scholastischen Methode. Die ktive Situation der Gespräche spielt eine untergeordnete Rolle; nur der Liber de locutione angelorum hat eine kurze Einleitung, in der der Erzähler sagt, er habe von einem Gespräch zwischen den Erzengeln Gabriel und Michael geträumt und sich daraufhin überlegt, wie Engel wohl miteinander sprechen können. Der folgende Dialog soll seine Überlegungen wiedergeben. Bei Stephanardus und Matthäus ergibt sich aus dem Prolog, wer die Gesprächspartner sind und in welcher Bezie- hung sie zueinanderstehen. Bei Stephanardus sagt ein Ich-Erzähler, er sei zur Dame Philosophia gegangen und habe gebeten, sich von ihrer Brust ernähren zu dürfen. Daraufhin beginnt das Gespräch zwischen C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
222 philosophische dialoge P und D. Matthäus behauptet in seinem Wid- mungsbrief an den Bischof Heinrich von Worms, mit diesem Werk Fragen Heinrichs zu beantworten. Er präsentiert sich als der demütige Sohn, der trotz seines mangelnden Könnens den Wünschen des geistigen Vaters Folge leistet, und leitet zum Dialog mit dem Satz Pater examinans lium quaerit über. Das Gespräch entspricht jedoch nicht dieser angedeu- teten Prüfungssituation: Die Fragen des Pater sind echte ergebnisoffene Fragen, der Filius nimmt die führende Rolle ein und leitet den Pater auf den Weg zu einer Lösung. Der Dialogus curiosus de formalitatibus hat in der jetzigen Form keine Einleitung, allerdings könnte der Beginn des Textes verloren gegangen sein. In keinem Werk der Gruppe wird der ktive Rahmen im Gespräch aufgegriffen und er bleibt ohne Einuss auf die Charakterisierung der Figuren. Die Frage nach dem Publikum lässt sich kaum beantworten. Das Rationale divinorum operum wurde vom Universitätsdozenten Matthäus von Krakau für einen Auftraggeber, der dieser Institution nicht (oder nicht mehr) angehörte, verfasst. Es lässt sich hingegen kaum mutmaßen, für wen die Werke des Stephanardus de Vicomercate und des Robertus Anglicus bestimmt waren, da von jedem nur eine Handschrift bekannt ist. Diese fast zufällige Erhaltung ist immerhin ein Beweis dafür, dass die Schriften keine Textbücher waren. Das bezeugte Vorkommen der einzigen Handschrift des Stephanardus in seinem Heimatkonvent könnte ein Hinweis dafür sein, dass er diesen Traktat für seine Mitbrüder schrieb37. Das Rationale ist in einer großen Anzahl von Handschriften erhalten, es fehlt aber eine Untersuchung der Überlieferung, um den Kreis der Rezipienten zu bestimmen. 5.3.2. Moralische Gespräche Die moralischen Gespräche sind durch die Vielzahl der behandelten Themen charakterisiert. Obwohl die hier besprochenen Werke sich einer schwerfälligen Sprache bedienen, die von dem konversationellen Ton der Renaissance-Dialoge noch weit entfernt ist, nähern sie sich durch andere Mittel dem Duktus einer Unterhaltung an. 37 Auch im Fall des Richard Rufus vermutete Wood, dass das in diatribischer Form abgefasste Speculum animae (A11) für seine Mitbrüder intendiert war und in einer Phase entstand, in der Richard weder als Student noch als Dozent einer Universität angehörte, vgl. Wood, „Richard Rufus“, 98–99. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 223 Dem Gesprächston am entferntesten ist ein in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts entstandenes Werk, das Serium senectutis des Elias von Thriplow (R16). Darin diskutieren die Freunde Helias und Philippus ein breites Spektrum an Fragen, von der rechten Verwendung der Allegorie bis hin zu mythographischen Problemen. Die besprochenen Themen werden in Beziehung zu einer übergreifenden Frage gestellt: der Übereinstimmung von Vernunft und Sprache (animus und lingua) als Voraussetzung für die Weisheit. Das Gespräch hat keinen narrativen Rahmen, die zwei Figuren diskutieren freundschaftlich miteinander. Auch wenn sie gegeneinander argumentieren, hat die Auseinanderset- zung das Ziel, eine gemeinsame Antwort zu nden. Die Unterhaltung hat gleichwohl einen artiziellen Charakter. Dies liegt zum einen an den Gesprächsbeiträgen, – Helias und Philippus halten sehr lange Reden, die zum Teil mehr als ein Buch in Anspruch nehmen – und zum anderen an der prosimetrischen Form, denn der Stand der Diskussion wird regelmäßig in Gedichten zusammengefasst. Im Gegensatz dazu weist die Gesprächsgestaltung in De lite des Alber- tino Mussato geradezu dramatische Qualitäten auf. Die Figuren halten zwar abschnittsweise längere Reden, aber immer wieder verdichtet sich der Dialog zu einem schnellen Gespräch, in dem theatralische Tech- niken zu beobachten sind: grammatikalische Ellipsen und Fortsetzung eines Satzes über den Sprecherwechsel hinaus, Antworten, die aus einer Sententia bestehen und Floskeln mit rein phatischer Funktion38. Die 38 Die Abschnitte in den antiken Tragödien, die sich durch häugen Rednerwechsel charakterisieren, wurden von Seidensticker als „Gesprächsverdichtung“ deniert und detailliert untersucht (Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung). Die bei Mussato beobach- teten Stilmittel stimmen nur zum Teil mit Senecas bevorzugten Techniken (Sententiae als Antworten, Wiederholung von Begriffen in den unterschiedlichen Dialogteilen, Knappheit des Ausdrucks, alexandrinischer Stil mit gelehrten Anspielungen) überein, sie sind jedoch alle im senecanischen Tragödienkorpus zu beobachten (dazu Seidensticker, Die Gesprächsverdichtung; zu den Interaktionsmustern in Senecas Tragödien vgl. Speyer, Kommunikationsstrukturen, insbesondere seine Beobachtungen zum Tempowechsel in den Dialogen). Eine Untersuchung von Mussatos Dialogtechnik in Ecerinis und in De lite wäre wünschenswert. Hier seien lediglich einzelne Beispiele aus den von Moschetti edierten Exzerpten von De lite gegeben. Beispiele für Ellipse und Fortsetzung der Konstruktion: Natura – Mirum fortuna quam bene fausta, ut dixi, civitas, quanta laude meis doctata [sic] muneribus, quam frugi, quam fertilis, quam salubri celo, quam sinceris gaudet elementis a stirpe, ut bene nosti, genus antiquum troicum. Fortuna – Et nobile. Natura – Consobrinum romanorum nec impar origine. Fortuna – Certum est (Ed. Moschetti, 591–592); Sententia als Antwort: Natura – Humane mentis intima quis umquam norit, nisi qui eam corporis claustro reposuerit deus? (Ed. Moschetti, 598); Antworten mit rein phatischer Funktion (d. h., zur Bestätigung der funktionie- renden Kommunikation): Rite, Et digne, Verum, Ita, Certe sic u. ä. Zur phatischen Funktion im Theater vgl. Pster, Das Drama, 161–162. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
224 philosophische dialoge Dialogtechnik Mussatos, einmalig im Vergleich zu früheren und zeitge- nössischen Dialogen39, dürfte auf seine langjährige, intensive Beschäf- tigung mit Senecas Tragödien zurückzuführen sein. Mussatos Lehrer Lovato Lovati hatte den sogenannten Codex Etruscus der Tragödien Senecas40 entdeckt und eine Abhandlung zu ihrer Metrik verfasst41. Mussato setzte dessen Arbeit fort: Er verfasste einen kurzen Lehrdialog zur Metrik der Tragödien, der wohl zum großen Teil auf Erkenntnis- sen Lovatis fußt, Argumenta sowie einen fragmentarisch erhaltenen Kommentar zu den Tragödien und war einer der ersten Rezipienten des Kommentars von Nicholas Trevet42. Sein bekanntestes Werk, die Tragödie Ecerinis, weist den Einuss der Tragödien Senecas auf und folgt insbesondere der pseudosenecanischen Octavia als Vorbild43. Eine Untersuchung seiner Dialogtechnik in Ecerinis und in De lite und ein Vergleich mit Senecas Tragödien wäre wünschenswert. Zur agilen und neuartigen Gesprächsführung kontrastiert die durchaus konventionelle allegorische Rahmenhandlung, in der die Personizierungen Natura und Fortuna beschrieben und zum Schluss der triumphale Einzug von Christus König geschildert wird44. Unter den Dialogen des Conversino weist der letzte, die Dragmalogia, die freieste Gesprächsgestaltung auf. Ein Paduaner und ein Venezianer unterhalten sich; einigen Bemerkungen ist es zu entnehmen, dass sie gemeinsam unterwegs sind. Das Leitthema, auf das sie immer wieder zurückkehren, ist die von den Humanisten häug diskutierte Frage nach dem richtigen Lebenswandel. Ihr Gespräch führt sie jedoch assoziativ zu einer Fülle von Nebenfragen, wie dem Vergleich der Anreden Dominus und Magister oder dem delikaten moralischen Problem, ob und wie durch ein Übel Gutes entstehen kann. 39 Ähnliches lässt sich lediglich in dem Werk eines anderen Seneca-Lesers beo- bachten, nämlich des Eugenius Vulgarius, der Anfang des 10. Jahrhunderts in Neapel einen Streitdialog über die Gültigkeit der von Papst Formosus durchgeführten Weihen schrieb. Der Text des Vulgarius hatte nur eine sehr eingeschränkte Verbreitung; er ist lediglich in drei Handschriften überliefert, vgl. Cenni „Eugenius Vulgarius“ und siehe oben 131. 40 Zu diesem wichtigen Codex aus dem 11. Jahrhundert vgl. den Katalogeintrag von De Robertis und Fiesoli in De Robertis / Resta, 129 –132. 41 Zu Lovato und Seneca vgl. H. Müller, Früher Humanismus, 22–28. 42 Zu Mussatos Lehrdialog, der Evidentia tragoediarum Senecae, siehe oben 70–71. Die Argumenta und Exzerpte des Kommentars wurden von Megas ediert. Zu Mussatos Kommentar vgl. McGregor, „Mussato’s Commentary“; zu seiner Rezeption von Trevets Kommentar und seiner Glossierung zu den Tragödien vgl. Billanovich, „Abbozzi e postille“. 43 Vgl. Pittaluga, „Modelli classici“; H. Müller, Früher Humanismus, 47–55. 44 Vgl. Quillet, „Remarques“, 170. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 225 Das früheste Werk dieser Gruppe, die Anfang des 13. Jahrhunderts entstandene Chronica de gestis illustrium principum ac regum Poloniae des Vincentius Kaddubek und die vier restlichen Dialoge Conversinos ver- wenden als Klammer für die Vielzahl der behandelten Themen eine Erzählung, die von den Gesprächspartnern kommentiert wird: Bei Kaddubek ist es die Geschichte Polens, bei Conversino sind es in den zwei Narrationes die novellenartigen Anekdoten, im Dialogus und in De consolatione jeweils die Lebensschilderungen des Onkels Tommaso da Frignano und des verstorbenen Sohnes Israele. Dabei erzählt eine der Figuren die Geschichte, während die andere die Geschehnisse kommen- tiert, manche Aussagen des Erzählers diskutiert oder weitere Details verlangt. Diese Aufteilung der Aufgaben wird jedoch nur in den zwei kurzen Narrationes streng eingehalten. In ihnen bleiben die kommentie- renden Abschnitte inhaltlich nah an der Erzählung, so dass sich kein freies Gespräch entfaltet. Anders verhält es sich in Kaddubeks Chronica und in den zwei längeren Dialogen Conversinos mit biographischem Inhalt: Die Geschichte Polens und die Lebensschilderungen geben Anlass zu Unterhaltungen über verschiedene, mit dem Hauptthema nur lose verbundene Fragen, wobei sich die Aufgaben der Dialogteil- nehmer nicht streng eingrenzen lassen. Bei Kaddubek ändert sich der Gesprächsgang nur dadurch, dass die Figuren sich gelegentlich in den Aufgaben des Erzählens und des Kommentierens abwechseln. Anders bei Conversino, dessen Figuren manche Fragen durchaus kontrovers, unter Abwägung verschiedener Aspekte diskutieren. Dabei vermeiden sie eine streng dialektische Argumentation, sondern stellen eher mora- lische Überlegungen an, die durch Zitate und Exempel unterstützt werden. Die Verwendung einer Erzählung als Rahmen eines Gesprächs, in dem auch andere, damit nur lose verbundene Themen behandelt werden, rückt diese Werke in die Nähe der biographischen Dialoge in der Nachfolge des Sulpicius Severus. Auf diese Nähe hat bereits Plezia hingewiesen45, der allerdings Kaddubeks Chronik, die biographischen Dialoge und die monastischen Dialoge mit integrierten Exempeln als eine einheitlicheTextsorte, die „dialogisierte Geschichte“, betrachtet. An anderer Stelle wurde gezeigt, dass es sich dabei jedoch um unterschied- liche Dialogtraditionen handelt46, was sich auch anhand der moralischen 45 Vgl. Plezia, „L’histoire dialoguée“. 46 Siehe oben 89–92. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
226 philosophische dialoge Gespräche zeigen lässt. Was ein Werk wie den Dialogus miraculorum des Caesarius von Heisterbach von den biographischen Dialogen und den moralischen Gesprächen trennt, ist die Beziehung zwischen Erzählung und Argumentation. Caesarius verwendet die Exempel als illustrierende Beispiele der vermittelten Doktrin, während in den anderen Texten die erzählte Geschichte als roter Faden verwendet wird, der unterschied- liche Themen miteinander verbindet; in ihnen ist die Erzählung kein Exemplum, sondern eher ein Casus, ein besonderer Fall, der die Norm bricht und deshalb eine Erklärung und eine Diskussion verlangt47. Trotz der Ähnlichkeit zwischen moralischen Gesprächen und biogra- phischen Dialogen, sind auch Unterschiede zu beobachten, sie betreffen hauptsächlich den Inhalt der Erzählungen. Nur in einem Fall wird in den spätmittelalterlichen Werken die Leistung eines Kirchenmannes besprochen, nämlich im Dialogus inter Johannem et Litteram. Die anderen Themen bedeuten jedoch Neuland: die Geschichte Polens, die Bio- graphie des früh verstorbenen Sohnes Conversinos, die nur für seinen Vater von Bedeutung sein konnte, und zwei Erzählungen, die anekdo- tenhaften Charakter tragen und dem Begriff eines Casus entsprechen, da ihr Interesse vor allem in der Bewertung der hier vorkommenden Ausnahmefälle und Normzuwiderhandlungen liegt. Bei den humanistischen Autoren drängt sich die Frage nach der Anknüpfung an mittelalterliche und antike Traditionen besonders auf, da man hier auf erste Hinweise auf einen Umbruch in der Dialoglitera- tur stoßen könnte. Bei Mussato ist ein Unterschied in der sprachlichen Ausgestaltung zu bemerken, die dem Dialog dramatische Qualitäten verleiht. Dagegen wirkt Conversino sperrig: Sein Bemühen um rhe- torische Ausgestaltung zwingt den Leser zu einer langsamen Lektüre, seine lateinischen Wortschöpfungen sind zuweilen skurril, noch weit vom Klassizismus späterer Autoren entfernt48. Trotzdem ist auch bei Conver- sino eine Annäherung des Dialogs an die Konversation zu beobachten, allerdings nicht durch die Sprache, sondern durch die changierende Beziehung der Personen und die assoziativen Themenwechsel. Inhaltlich ist bei Conversino die Thematisierung des eigenen Lebens auffallend. In der Dragmalogia kommt seine Biographie zur Sprache, im Dialogus bildet sie sogar einen zweiten Mittelpunkt und den eigentlichen Fokus der 47 Zum Unterschied zwischen Exemplum und Casus, vgl. von Moos, Geschichte als Topik, 27–31, und „L’exemplum“, 289 –290. 48 Vgl. Nason, „Note“, in Bezug auf die Dragmalogia. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
philosophische dialoge 227 Schrift, die den einussreichen Onkel zur Unterstützung des mittellosen und unsteten Lehrers und seiner Familie bewegen soll. Ungewöhnlich ist ebenfalls, in De consolatione die Biographie seines jung verstorbenen Sohnes zum Thema zu machen, auch wenn diese den Ausgangspunkt für allgemeinere moralische Betrachtungen bildet. Die Gestaltung eines Dialoges als Gespräch ist zwar ein häuges Anliegen der Renaissance-Autoren, doch dürfte der tatsächliche Einuss von Mussato und Conversino auf die spätere Dialogliteratur sehr gering gewesen sein. Insbesondere Mussatos Dialoge sind anscheinend nicht über den Raum Venedig-Padua hinausgelangt. De lite, das nur in zwei voneinander abhängigen Handschriften überliefert ist, hatte eine viel geringere Rezeption als Mussatos historische Werke und seine Tragödie und war wohl nur wenigen Lesern zugänglich49. Conversino hatte in seinem bewegten Leben Beziehungen zu Schulen, Universitäten und Höfen der norditalienischen Städte, in denen er lebte (zeitweise Flo- renz, aber vornehmlich im Raum Venedig-Padua). Das humanistisch interessierte Publikum dürfte in diesem Raum zu Conversinos Lebzeiten bereits zahlreich gewesen sein und sich aus Lehrern, Juristen und Stadt- beamten sowie aus Höingen und Adligen zusammengesetzt haben. Es gibt verschiedene Hinweise, dass Conversino insbesondere für die Höinge und Adligen schrieb. Während seines zweiten Aufenthaltes am humanistisch orientierten Hof der Familie Carrara in Padua verfasste er seine Narrationes. Sie inszenieren Höinge als Dialogteilnehmer und als Figuren der Handlung und sind auf die Interessen dieses Publikums ausgerichtet50. Vier erhaltene Codices der Werke des Conversino zeu- gen von der Wertschätzung eines adligen Schülers, des venezianischen Patriziers Francesco Barbaro. Dem Vorbild Petrarcas folgend, ließ die- ser bald nach Conversinos Tod fünf Handschriften mit Werken seines Lehrers herstellen und mit Autorenporträts schmücken51. 49 Die Handschrift in Sevilla wurde im 16. Jahrhundert von Fernando Colón in Padua erworben. Eine heute verschollene Handschrift in der Bibliothek Visconti- Sforza in Pavia dürfte als Kriegsbeute dorthin gelangt sein. De lite wurde lediglich von Petrarca, Domenico Bandini und Sicco Polenton zitiert oder erwähnt. Vgl. Billanovich / Travaglia, 280 –289 und Mussato, Contra casus fortuitos, Ed. Lo Monaco, 109 –112. 50 Vgl. Leoncini, „La novella“, 189 –195. Leoncini setzt beide Werke in Verbindung mit einer Novelle, die Conversino in seiner ersten Zeit am Hof der Carrara schrieb: Familie Carrariensis natio, eine im Ton und Inhalt ähnliche Novelle, allerdings nicht in Dialogform. 51 Es handelt sich um die Codices in Paris, BnF 6494, in Zagreb, in Oxford, Balliol College und in Venedig, Biblioteca Querini-Stampalia, vgl. die Untersuchung dieser Handschriften bei Leoncini, „Forme editoriali“. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
228 philosophische dialoge Die Gestaltung der Dialoge Mussatos und Conversinos als Gespräche lässt die Frage nach dem Bezug zur Mündlichkeit und zu realen Inter- aktionsmustern aufkommen. Ihre Beantwortung würde zwar eine eigene Untersuchung verlangen, aber der Eindruck bei beiden Autoren ist, dass sie literarischen Vorbildern folgen, und nicht reale Formen der Kommunikation nachbilden wollen52. Bei Mussato dürfte seine Ausei- nandersetzung mit Senecas Tragödien für die eigene literarische Praxis entscheidend gewesen sein. Bei Conversino ist diese Frage schwieriger zu beantworten. Seine reiche Bibliothek wurde nach seinem Tod verkauft und zerschlagen. Einige Handschriften konnten allerdings identiziert werden und zeigen die Breite seiner Interessen: Ciceros Dialoge sind reich vertreten und dürften als Vorbilder für die Dialoggestaltung fun- giert haben, aber auch viele Werke der mittelalterlichen Philosophie sind dabei, darunter das Dragmaticon Wilhelms von Conches53. Leoncini sieht in Petrarca das wichtigste Vorbild Conversinos; zum Beispiel könnte seine Griseldis latina den Anstoß für die beiden novellistischen Narrationes gegeben haben54. Eaker und Kohl sehen in Petrarcas De otio religioso die wichtigste Anregung für den Dialogus, daneben verschiedene Dia- loge Ciceros (De amicitia, De senectute, De ofciis, Tusculanae disputationes)55. Conversino zeigt sich durchaus als origineller Autor, der verschiedene Einüsse und Anregungen verarbeitet. Dass dabei schwer einzuordnende Werke entstehen, ist ihm bewusst. Im Dialogus inter Johannem et Litteram, in dem sein Rollen-Ich Johannes dem Brief an den Onkel Anweisungen gibt, stellt ihm Littera die Frage, unter welchem Namen sie sich dem Rezipienten vorstellen soll: Si rogaverit „Quidnam offers?“ quo pacto satisfaciam ne mendax redar- guar edoce. Haud enim cum pueris agitur causa sed coram mortalium cordatissimo. „Heccine epistola,“ deposcet, „historiane, an liber? Ede nomine quicquid exhibes“ Quid ergo reddam? Frons prima librum simulat, sed liber non est. Nam ubi elegantia festivitasque verborum? Sententia- rum pondus et maiestas abest, diluciditas ordinem, conpositionem nervi deciunt, caret gravitate et dignitate materia. Forte mentiar si epistolam voco, quoniam vultus, sonus, habitus refellunt; transilit enim epistolarem 52 Die Aufsatzsammlung Guthmüller / Müller geht der Frage nach dem Bezug zwi- schen literarischem Dialog und Konversationskultur in der Renaissance nach. W. Müller, „Dialog“, 17–24, diskutiert die Ursprünge dieser Gesprächskultur, er bezieht sich jedoch auf spätere Entwicklungen. 53 Zur Bibliothek des Conversino vgl. Gargan, „Per la biblioteca“. 54 Leoncini, „Forme editoriali“, 486, Anm. 3, „La novella“, 191. 55 Ed. Eaker / Kohl, „Introduction“, 8–13. C. Cardelle De Hartmann - 9789047420637 Downloaded from Brill.com03/07/2022 12:58:06PM via free access
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