Psychoanalytische Therapie des ADHS - Hans Hopf 1. Theoretische Vorüberlegungen zur Diagnostik
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Psychoanalytische Therapie des ADHS Hans Hopf 1. Theoretische Vorüberlegungen zur Diagnostik Aus Sicht der Neurophysiologie choanalyse wiedergibt. In diesem erinnern an das Bild der beruht die Aufmerksamkeits- Zusammenhang ist es faszinierend, Hyperaktivität von Vorschul- Defizit-Störung mit oder ohne dass der Psychoanalytiker Winnicott kindern mit der genannten Hyperaktivität auf einer erblich in seiner Arbeit über die Ich- Diagnose. bedingten hirnorganischen Man- Integration in der Entwicklung der gelfunktion des kortikalen- Kinder bereits 1962 einen sehr frü- In der Regel wird der Patient striatalen Netzwerkes. Allerdings hen Faktor, welcher von den ersten von einem Arzt nach gründli- gehen auch neurobiologisch Tagen oder Stunden des Lebens an cher Untersuchung mit einer argumentierende Fachleute bestünde, für die Ätiologie von Diagnose nach ICD 10 zu- davon aus, dass organisch verur- Ruhelosigkeit, Hyperkinese und gewiesen, also F90 bis F90.9. sachte Symptome von belasten- Unaufmerksamkeit verantwortlich Innerhalb der Kinder- den familiären (und natürlich gemacht und die zuvor erwähnten Psychoanalyse ist Konsens, auch gesellschaftlichen) Fakto- Zusammenhänge letztendlich vor- dass die Entstehung einer ren verstärkt werden können, weggenommen hat. Aus Sicht der ADHS auf einer primären insbesondere bei aggressiven Psychoanalyse wäre dieser frühe Neurotisierung beruht. Der und dissozialen Verhaltensstö- Faktor ein Entgleisen des Dialogs Psychoanalytiker wird darum rungen (Knölker, U. (Hrsg.) zwischen Mutter und Kind, ein eine Diagnose nach neuro- 2001). Dies entspräche im psy- Scheitern des sogenannten Contain- senpsychologischen Aspek- choanalytischen Sprachgebrauch ments mit einer Störung früher ten erstellen. Die Psychothe- einer sekundären Neurotisierung. Mentalisierungsprozesse. rapie-Richtlinien verlangen unmissverständlich, dass eine Wir wissen heute, dass sich die Auch die Bindungstheorie hat einen neurotische, krankheitswerti- Entwicklung des Gehirns auch bedeutsamen Beitrag zum Verstehen ge Symptomatik vorliegen nach der Geburt fortsetzt und der ADHS geliefert. Karl-Heinz muss, damit von einer seeli- von der Interaktion mit der Brisch hat die Untersuchungen zur schen Krankheit gesprochen Umwelt und durch Erfahrungen Bindungsforschung hinsichtlich werden kann, die dann mit- lebenslang beeinflusst wird (vgl. ADHS gesichtet und interpretiert tels einer aufdeckenden Perry et al., zit. n. Pozzi, 2002; (2002). Das Bindungsverhalten von tiefenpsychologisch fundier- Hüther, 2001, 2002). Das heißt, Kindern, welches ursprünglich nicht ten oder psychoanalytischen entscheidend ist die Beziehung klassifiziert werden konnte, wurde Psychotherapie behandelt und somit auch bei psychothera- später als desorganisier- werden kann. Dazu muss peutischen Interventionen die tes/desorientiertes Bindungsmuster eine aktuell wirksame Psy- Arbeit über und an der Bezie- bezeichnet. Diese Kinder zeigen chodynamik herausgearbeitet hung. Aus Sicht der Psychoana- auffällige, in sich widersprüchliche werden. Anders formuliert: lyse ist darum die ADHS – wie Verhaltensweisen, welche große Mit psychoanalytischer andere Krankheitsbilder auch - Ähnlichkeiten mit Vorschulkindern Therapie werden alle Krank- ein Ergebnis von Traumata und mit der Diagnose ADHS haben. heitsbilder behandelt, deren unbewussten Konflikten des Sowohl die immer wieder und ge- zugrundeliegende neuroti- Patienten mit seiner Umwelt vor häuft auftretenden Verhaltenssym- schen Konflikte aufgearbeitet dem Hintergrund einer vorhan- ptome des Innehaltens und In-Sich- werden können, also auch denen möglichen Vulnerabilität, Versinkens, was an einen Vorläufer Bewegungsunruhe und Auf- die genetisch bedingt ist oder der Aufmerksamkeitsstörung erin- merksamkeitsstörungen, die erworben wurde. Ich möchte nert, als auch die motorische Unruhe fast immer von weiteren betonen, dass dieses Verständnis mit widersprüchlichen motorischen Symptomen begleitet werden den aktuellen Stand der Diskus- Verhaltensweisen und impulsiven (Komorbidität). sionen innerhalb der Kinderpsy- Richtungswechseln in der Aktivität, 1
2. Diagnostische Untersuchung nach neurosenpsychologischen Aspekten von zwei Behandlungsfällen auf unterschiedlichem Strukturniveau Nach meinen Beobachtungen Beeinträchtigung bis hin zu leichten schiedlichem Strukturniveau beruht die unterschiedliche neurotischen Unruhezuständen - darstellen. Beide Fälle wur- Ausprägung der ADHS wie bei letztendlich sind heute sehr viele den zuvor gründlich kinder- anderen psychischen Störungen Kinder unruhiger als noch vor vier- und jugendpsychiatrisch auch auf dem Vorhandensein zig Jahren. Im Folgenden will ich die untersucht, beide nahmen von unterschiedlichen Struktur- neurosenpsychologischen Untersu- regelmäßig Methylphenidat. niveaus, von der schwersten chungen von zwei Fällen auf unter- Fall 1: Jan, 10 Jahre 5 Monate Symptombeschreibung Jan wird vom Kinder- und Ju- mit dem Jungen nicht auszuhalten. gungen, er reagiert nicht gendpsychiater mit der Diagnose Jan beschreibt mir seine Befindlich- selten mit grandiosen Wutan- ADHS einem analytischen KJPT keit mit den folgenden Worten: „Ich fällen. Danach weint er oft, zugewiesen, er habe eine Auf- kann nicht ruhig sein. Ich mache meint, alles falsch zu ma- merksamkeitsstörung und zeige auch alles falsch.“ Nach Aussagen chen. Vor fremden Situatio- hyperaktives Verhalten. Die der Mutter kam es in der Vergan- nen und im Dunkeln hat er Symptomatiken werden seit 3 genheit zwischen ihr und dem Jun- Angst, kriecht nachts fast Jahren mit Methylphenidat gen zu ständigen Auseinanderset- immer in das Bett des Bru- behandelt und ohne Medikament zungen. Der Junge verträgt keine ders. sei es nach Meinung der Mutter Einschränkungen oder gar Versa- Anamnestische Daten Nach Meinung der Mutter habe versorgt, war er wütend oder quen- unbeherrscht, gelegentlich sich der Patient völlig normal gelig. Wenig später kam Jan in den schlug sie Jan auch, wenn er entwickelt und sie sei auf ihr Kindergarten und zeigte große Ängs- seinen Bruder besonders grob erstgeborenes Kind stolz gewe- te, sich zu trennen. War er aber dort, behandelte. Danach tat ihr sen. Einen Einbruch bedeutete fiel er durch ständige Unruhe auf, das wiederum leid, und sie jedoch die Geburt des 2;8 Jahre durch Zerstören von Dingen und kuschelte mit dem Jungen. jüngeren Bruders. Dieser war in durch aggressive Attacken gegen Der Vater war immer beruf- seinem ersten Lebensjahr häufig Gleichaltrige. Die Mutter meint, dass lich eingespannt, außerdem krank und zog somit die gesamte sie zunehmend entsetzt über ihr Kind war er der Meinung, dass Aufmerksamkeit der Eltern auf gewesen sei und sich geschämt hätte. Erziehung Frauensache sei. sich. Jan reagierte mit unge- Hinzu kommt, dass sie von sich wöhnlicher Eifersucht. Wurde selbst glaubt, wenig aushalten zu der kleine Bruder gestillt und können. Sie reagierte nicht selten Psychodiagnostische Untersuchung Jan ist ein stämmiger Junge mit hinaus. Es fällt auf, wie häufig von wäre. In weiteren Fantasien rundem Kopf und aufgerissenen, Bewegung, Fliegen, Fahren, Lau- will er anderen helfen, aber das fragenden Kulleraugen, und fen gesprochen wird. Die kineti- gelingt ihm nicht, weil er es während der gesamten Begeg- sche Funktion ist auffallend stark falsch anpackt. Darüber ist er nung spüre ich eindringliches libidinös besetzt. Die Mutter verzweifelt und traurig. Im Werben mit gleichlaufender zeichnet er als dickhäutiges, wenig Sceno-Test baut er alles so zu, Angst, etwas falsch zu machen. sensibles Tier, von dem er sich dass ein einziges Durcheinan- Verkrampft sitzt er mir gegen- verzweifelt wegzubewegen sucht. der entsteht und er die Orien- über, wirkt angespannt und Er erzählt von Angstträumen, in tierung verliert. überhört dennoch im Übereifer denen er in einen Abgrund fiel und Vieles, schießt oft über das Ziel einmal sogar beinahe ertrunken 2
Psychodynamische Ergebnisse der neurosenpsychologischen Untersuchung Die Fähigkeiten des Patienten der liebende Blick der Mutter von dürfnissen ausreichend gehal- zur motorischen, aber auch zur ihm abwandte. Nach damaligem ten sieht. Bewegungsunruhe ist Impuls- und Affektkontrolle Muster, als er seine Mutter und die auch eine Form von Aggressi- brechen immer dann ein, wenn Welt nicht mehr verstand, reagiert vierung, die den Individuati- er narzisstische Kränkungen er heute noch. Er wehrt aufkom- onskonflikt mit der Mutter erfährt, bei realer oder fantasier- mende depressive Ängste mit durch Fortbewegungsimpulse ter Kritik oder Ablehnung und aggressiven Durchbrüchen und ausdrückt. Mit dem Fehlen des vor allem dann, wenn er nicht manischer Abwehr ab. Charakte- – psychisch abwesenden – bemerkt oder beachtet wird. In ristisch für die manische Abwehr Vaters als Triangulierungsob- der Terminologie der Selbstpsy- ist die Omnipotenz, das Entwerten jekt ist der Junge hin- und chologie hieße das, wenn er im des anderen und die Kontrolle, hergerissen zwischen dem anderen keine Selbstobjektfunk- auch um das Objekt festzuhalten. Wunsch, mit der Mutter nar- tion spüren kann. An dieser Dies ist bei einer Mutter, welche zisstisch zu verkleben und sich Stelle ist der Patient verwundbar, von sich selbst meint, sich nicht zu individuieren; er zappelt weil er in jene Phase seiner beherrschen zu können, wohl gleichsam am Angelhaken und Entwicklung regrediert, als der notwendig. Sie schafft es nicht, sucht sich gewaltsam zu befrei- Bruder geboren wurde und sich dass sich Jan in seinen Selbstbe- en. Diagnose Hyperkinetische Störung mit zisstische Störung mit manischer Aufmerksamkeitsdefizit auf Abwehr von depressiven Ängsten. mittlerem Strukturniveau. Nar- Fall 1: Hyperkinetische Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit auf mittlerem Strukturniveau Erworbene Vulnerabilität mit Fixierungen Geburt des Bruders und Abwenden der Mutter Störung der narzisstischen Regulation, Beginn einer narzisstisch-depressiven Entwicklung Unbewusste Konflikte mit der Umwelt Durchbrüche narzisstischer Wut, manische Abwehr. Mit dem Fehlen des Vaters als ausreichendes Triangulierungsobjekt ist der Junge hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mit der Mutter narzisstisch zu verkleben und dem Wunsch, sich zu individuieren und darum auf der Suche, sich gewaltsam zu befreien (Aggressivierung). Fall 2: Marco, zur Zeit seiner Aufnahme in das Therapiezentrum 7;9 Jahre Anamnestische Daten Marco ist das zweite von insge- sie störten, wurden sie körperlich machte der leibliche Vater eine samt vier Kindern. Beide Eltern schwer misshandelt. Als Marco Entwöhnungsbehandlung und waren heroinabhängig. Die drei Jahre alt war, trennten sich die nahm die Jungen zu sich, fühlte Kinder wurden schwer vernach- Eltern und ein neuer Mann zog sich jedoch rasch überfordert lässigt, oft eingesperrt, damit die unmittelbar nach Auszug des und brachte Marco zur Mutter Eltern ihre Ruhe hatten. Wenn Vaters ein. Nach der Trennung zurück. Es kam zu wechseln- 3
den Unterbringungen und einer Jungen sehr gründlich untersuchte, besuchte dort wiederum eine Fülle von Abbrüchen und Tren- diagnostizierte eine ADHS und Schule für Erziehungshilfe. nungen. Wegen seiner Entwick- verordnete Methylphenidat, was Weil in dieser Einrichtung alle lungsrückstände musste Marco jedoch zu keiner spürbaren Besse- Mitarbeiter mit den Kindern einen Förderkindergarten besu- rung führte. Marco kam in eine zusammenleben, kann ich über chen, wo er die Erzieherin bald Schule für Erziehungshilfe, welche ein Jahr Leben und Therapie an ihre Grenzen brachte. Er war ihn nach wenigen Wochen aus- mit Marco berichten, wobei in ständiger Unruhe, zerstörte schloss. Er fiel durch ständige noch wichtig ist zu erwähnen, Dinge anderer Kinder und hielt Unruhe auf, gab Geräusche von dass das Methylphenidat in sich an keinerlei Vorgaben oder sich, es kam zu ständigen verbalen Absprache mit dem Kinder- Regeln. Zu Hause eskalierte die Provokationen mit derben Ausdrü- und Jugend-Psychiater der Situation rasch, als ein weiteres cken sowie körperlichen Attacken. Einrichtung abgesetzt wurde. Kind – aus der neuen Beziehung Er wurde in einem Therapiezent- – geboren wurde. Ein Kinder- rum aufgenommen, dessen thera- und Jugend-Psychiater, der den peutischer Leiter ich war, und Verhalten Die Erzieherinnen im Haus, in zu reagieren begannen. Marco Berge von Nahrung mit, die er welchem Marco mit anderen zeigte eine unglaubliche Dünnhäu- nicht selten achtlos wegwarf. Kindern lebte, meinten den tigkeit. Seine Ich-Grenzen schie- Immer musste er etwas im Jungen an vielerlei Orten gleich- nen völlig durchlässig zu sein, und Mund haben, Stifte, Radier- zeitig wahrnehmen zu können. er hielt nichts in sich und nichts gummis oder gar Uhu. Er las Er rannte durch das Zimmer, aus; alles ging zum einen Ohr rein auch alte Kaugummis auf oder eilte die Treppe hinauf, rutschte und zum anderen raus. Die ersten schmutzige Papierschnipsel. das Geländer herunter, zwi- Wochen waren die Erzieherinnen Hauptsache, er hatte etwas im schendrin bekam ein Kind einen damit befasst, den Jungen so ein- Mund. Tritt, einem Erwachsenen wurde zugrenzen, dass er den therapeuti- der Stinkfinger gezeigt, alles schen Rahmen der Einrichtung Alles was nicht niet- und na- geschah mit einer Energie, wel- einhielt, wobei er immer wieder gelfest war, nahm er sich und che fassungslos machte. Inner- über alle Grenzen hinwegschoss. hortete es. Dabei schien er halb weniger Minuten brach er Dennoch zeigten sich langsam keinerlei Gewissensprobleme mindestens fünf Regeln, und kleine Verbesserungen. zu haben, er bestahl jeden, gleichzeitig fragte er mit Un- auch seine Therapeutin. Wurde schuldsmiene, warum sich denn Wie ein Verhungernder schaufelte er ertappt, erfand er Geschich- alle so aufregen würden. Bereits das dünne, jedoch zähe und für ten, oder hatte die Gegenstände um sechs Uhr morgens war er sein Alter winzige Bürschchen „gefunden“. Er schien anfäng- wach, begann wieder herumzu- Nahrung in sich herein, und immer lich nicht zu erreichen zu sein, rennen und damit alle Kinder schöpfte er sich noch mal einen reagierte offenkundig auf aufzuwecken, wobei er wie ein Teller, den er nicht mehr schaffte. nichts und zeigte keinerlei Strudel wirkte, in dessen Sog die Er wirkte dabei unglaublich gierig Gefühle, keine reale Angst und anderen Kinder mit ihrem Ver- und war voller Neid den anderen keine Schmerzen. halten und ihren Affekten hi- Kindern gegenüber, wenn die sich neingezogen wurden und ähnlich auch aus der Schüssel nahmen. In die Schule nahm er sich anfänglich Psychodiagnostik Marco wurde mit verschiedenen war kaum auszuhalten. Er eilte In sämtlichen Tests erlebte er projektiven Tests untersucht. Mit rasch - als könnte er es mit sich sich verfolgt und schwer von einem erschreckend leeren Ge- selber nicht länger aushalten - von Vernichtungsangst bedroht, sichtsausdruck kam er in das Aufgabe zu Aufgabe, hibbelig, war alles war erfüllt von Misstrauen Zimmer gehuscht. Die trostlose aber dennoch konzentriert bei der und Selbst-Misstrauen. Die Verlassenheit, welche er aus- Sache. Baum-Krone, welche er zeich- strahlte und die sich in der Ge- nete, war formlos-verblasen genübertragung niederschlug, und zeigte außerdem die Flucht 4
vor der inneren Leere nach durch die Gegend, später begleitet eckte nur damit an. Zum Außen an. Auf diesem Flucht- von einem ebenfalls autofahrenden Schluss äußerte der Junge eine weg gab es jedoch keinen berei- Huhn. Ein einsam herumliegendes Sehnsucht: Der Hund gefiel chernden, um einander besorgten Baby schlief, während ein „nettes ihm wegen seiner schönen Zusammenhalt, und auch im Krokodil“ herumschlich und auf- Augen und dem Halsband und Scenospiel erschienen nur ge- passte. Das einzig Sichere im er gab der Untersucherin die trennte, ja isolierte Welten, die Leben des Jungen schien die Ge- Hand, nahm die gebotene keinen Sinnzusammenhang fahr: Gutes und Schlechtes konn- Verbindung auf – er wollte hatten. Die Hauptfigur, ein ten noch nicht unterschieden wer- offenkundig die Angebote der Junge, sauste dabei auf einem den. Über seine Unruhe schien er Einrichtung für neue Bin- Auto, richtungs- und heimatlos das Gutsein zu suchen, aber er dungserfahrungen nutzen. Kurze Diagnose nach neurosenpsychologischen Aspekten Hyperkinetische Störung mit in allen psychosexuellen Phasen. Therapie, heilpädagogischen Aufmerksamkeitsstörung auf Vielfache traumatisch wirkende Gruppen, war der Junge bin- niederem Strukturniveau bei Trennungen hatten zudem zu einer dungs- und beziehungsfähiger, möglicher organischer Schädi- Lähmung des Fantasieerlebens und er hielt sich zumeist an die gung; beide Eltern waren dro- Störung der Symbolbildung ge- vorgegebenen Regeln und er genabhängig. Schwere Bin- führt: Die Welt und ihre Dinge zeigte kaum mehr unruhiges dungs- und Beziehungsstörung waren für den Jungen mit keiner Verhalten. Kinder mit dem auf Grund eines Scheiterns des symbolischen Bedeutung ausges- Störungsbild von Marco habe frühen Containments. Traumati- tattet. ich während meiner Arbeit im sche Einflüsse haben verhindert, Osterhof viele kennen gelernt. dass sich ein strukturiertes Selbst Nach einem Jahr stationärer Psy- konstituieren konnte. Fixierung chotherapie mit supervidiertem Leben in der Gruppe, Einzel- Fall 2: Hyperkinetische Störung mit Aufmerksamkeitsdefizit auf niedrigem Strukturniveau Genetisch bedingte und erworbene Vulnerabilität Mögliche organische Schädigung bei drogenabhängigen Eltern. Schwere Bindungs- und Beziehungsstörung auf Grund eines Scheiterns des frühen Containments; ein reifes Selbst mit entsprechenden Selbst- und Objektrepräsentanzen konnte sich nicht strukturieren Unbewusste Konflikte mit der Umwelt Verlust des Vaters. Traumatisch erlebte Trennungen (Dunkelheitsängste). Geburt der Halbschwester, erlebt zunehmend Ablehnung. Lähmung des Fantasieerlebens und Störung der Symbolbildung. Fixierungen in allen psychosexuellen Phasen 3. Zusammenfassung Eine Reihe von Fachleuten welche ein diagnostisches Vorge- samkeitsprobleme vorgestellt kritisiert, dass das Krankheits- hen u.a. mittels testpsychologi- werden, ADHS diagnostiziert. bild mittlerweile zu rasch, zu scher bzw. neuropsychologischer ungenau und darum auch zu Verfahren empfehlen, werden Ich will noch auf eine häufig diagnostiziert wird. Die nicht immer umgesetzt; nicht Besonderheit der ADHS Leitlinien der Deutschen Gesell- selten wird bei Kindern, die wegen eingehen. Es fällt eine extreme schaft für Kinder- und Jugend- einfacher Unruhe oder Aufmerk- Asymmetrie der Ge- psychiatrie und Psychotherapie, schlechtsverteilung zugunsten der Jungen auf: So sind es 5
sind es mindestens vier mal so Situationen lässt sich dies bekannt- scheinen, sondern eher als viele Jungen wie Mädchen, lich bei allen Menschen beobach- Objekte derer Projektionen. welche die Symptomatik in ten. Die Psychoanalytikerin Mar- Eine solche unterdrückte Indi- voller Ausprägung zeigen, bis garet Mahler hat in diesem Zu- viduation führt reaktiv zu einer hin zu einem Verhältnis von - bis sammenhang auch von „Gefühls- Suche nach Befreiung, Aggres- zu - 1 : 9. Zur ambulanten psy- inkontinenz“ gesprochen (vgl. sion und Identität. Dieser choanalytischen Behandlung des Mahler, 1944). Suche nach Befreiung und hyperkinetischen Syndroms mit Aggression stehen wiederum oder ohne Aufmerksamkeitsstö- Mit der körperlichen Unruhe wer- die strengen Erwartungen und rung kommt schließlich nur ein den nicht selten unbewältigte Forderungen elterlicher Projek- wesentlich geringerer Prozent- Trennungstraumata zu bewältigen tionen gegenüber, was einen satz an Mädchen, weil diese versucht und die zugehörigen Circulus vitiosus bewirkt und weniger sozial auffällig werden. depressiven Ängste abgewehrt, das Symptom aufrecht erhält. In meiner Gutachterstatistik für was – wie auch in Fall 1 zu erken- 2001 betrug das Verhältnis 1:7. nen war - als „manische Abwehr“ Psychoanalytisch begründete bezeichnet wird. Die Kinder flie- Verfahren schließen eine paral- Dies rührt zum einen daher, weil hen in die Bewegung, der zu lel erfolgende Stimulanzienbe- die kinetische Funktion bei Grunde liegende – meist depressi- handlung nicht aus. Der konsi- Jungen stärker libidinös besetzt ve - Konfliktbereich wird gleich- liarisch untersuchende und wird. Das hyperaktive Kind ist sam maskiert und unkenntlich zuweisende Arzt kann sich bei zudem eng mit seiner Mutter gemacht. Es verwundert dabei strenger Indikation – wie bei verschmolzen. Diese Nähe zur nicht, dass der Anteil von Kindern anderen Krankheitsbildern Mutter wird – wegen der häufig alleinerziehender Mütter (oder auch und in Absprache mit emotional abwesenden Väter – fehlender Väter) erhöht ist. Bilden dem Therapeuten – für eine auch bedrohlich erlebt und über sich während einer Behandlung medizinische Mitbehandlung Aggressivierung und mittels des hyperkinetischen Syndroms entscheiden. Ideal wäre ein Unruhe zu vermeiden gesucht die Symptome zurück, werden in dynamischer Umgang mit dem (vgl. auch Fall 1 / vgl. Heine- der Regel die zu Grunde liegenden Medikament, mit dem Ziel, es mann, E. und Hopf, H., 2001). Selbstwertprobleme und depressi- in Nutzung des Behandlungs- ven Affekte erst erkennbar. Trau- bündnisses mit dem Patienten Im Folgenden will ich noch kurz matisch erfahrene Trennungen und seinen Eltern und in enger einige zentrale Konflikte, die an können auch zu einer Lähmung Zusammenarbeit mit dem Arzt, der Entstehung einer ADHS des Phantasieerlebens und einer bei fortschreitender Symptom- beteiligt sein können, darstellen. Störung der Symbolbildung füh- verbesserung, auszuschleichen. Bekanntlich divergieren die am ren; ein auffallender Mangel an Lebensanfang noch ungetrennten den Dingen zu haften, zu spielen Werden bei einem Krankheits- Teilbereiche der Motilität – und zu symbolisieren ist hiervon bild zu Grunde liegende spezi- Ausdrucksmotilität und Leis- die Folge. fische intrapsychische und tungsmotorik – mit zunehmen- interpersonale Konflikte er- dem Entwicklungsalter. Kommt Auffällig bei Kindern mit einer kannt und beschrieben, sind es in diesem Bereich zu Störun- ADHS erscheint auch, dass sie aufdeckende psychoanalytische gen, bleiben die Kinder in der oftmals in den Vorstellungen ihrer Verfahren bei der Behandlung affektmotorischen Sphäre fixiert: Eltern weniger als eigenständige, der ADHS ohne Einschränkun- Die Affekte werden dann wei- klar abgegrenzte und unabhängige gen indiziert, um die deutlich terhin über die Motorik abge- Persönlichkeiten mit ihren ganz im Verborgenen liegenden führt - in spannungsgeladenen spezifischen Besonderheiten er- Konflikte aufzuarbeiten. 4. Literatur Brisch, K.-H. (2002): Bindung - Trauma - Desorganisation und ADHD. Beiträge der Bindungsforschung zum Verständnis der ADHD, in: Bovensiepen, G./ Hopf, H./, Molitor, G. (Hrsg.): Unruhige und unaufmerk- same Kinder. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt am Main Heinemann, E. / Hopf H. (2001): Psychische Störungen in Kindheit und Jugend. Symptome – Psychodynamik – Fallbeispiele – psychoanalytische Therapie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart, Berlin, Köln 6
Hüther, G. (2001): Kritische Anmerkungen zu Ritalin. AKJP, Heft 112, XXXII Jg. 4/2001, S. 471 Hüther, G. (2002): Nachbemerkungen, in: Bovensiepen, G/ Hopf, H./, Molitor, G. (Hrsg.): Unruhige und un- aufmerksame Kinder. Brandes & Apsel Verlag, Frankfurt am Main Knölker, U. (Hrsg.) (2001): Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS). Bremen, UNI-MED CONGRESS, S. 15 Mahler, M. (1944): Tics und Triebdurchbrüche bei Kinder, in: Studien über die drei ersten Lebensjahre, Klett Cotta, Stuttgart 1985 Perry et al. zit n. Pozzi, M: Wie können wir das Bedürfnis nach Ritalin in der psychodynamischen Beratung von Familien verstehen. AKJP 112, XXXII. Jg. 4/2002, S. 519-541 Winnicott, D. W. (1962): Ich-Integration in der Entwicklung des Kindes. In: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Frankfurt a. M., Fischer Taschenbuch Verlag 1985, S. 78 Vita Hans Heinz Hopf, Dr. rer. biol. „Osterhof“, Baiersbronn. Dozent und fundierte und analytische Psy- hum., geb. 1942, analytischer Kontrollanalytiker am Psychoanaly- chotherapie bei Kindern und Kinder- und Jugendlichen- tischen Institut „Stuttgarter Gruppe“. Jugendlichen seit 1999. Stellver- Psychotherapeut, Promotion an Wissenschaftliche Veröffentlichun- tretendes Mitglied im Wissen- der Universität Ulm und an der gen, schriftstellerische Arbeiten und schaftlichen Beirat seit 1998. Seit Forschungsstelle für Psychothe- Beiträge für Rundfunk und Fernse- 2003 wieder in eigener Praxis rapie Stuttgart, bis 1995 in eige- hen. Von der Kassenärztlichen Bun- tätig. ner Praxis, danach Therapeuti- desvereinigung ernannter Gutachter scher Leiter im Therapiezentrum für ambulante tiefenpsychologisch Dr. Hans Hopf Seebachweg 14 74395 Mundelsheim drhopf@yahoo.de 7
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