RECHTSEXTREMISMUS IN INSTITUTIONEN - Klaus Dörre
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Hef t 4 I 2021 A N A LY S E N I KO N T R O V E R S E N I B I L D U N G RECHTSEXTREMISMUS IN INSTITUTIONEN Parlamente Deutschland: € 12,80, Österreich: € 13,90, Schweiz: sFr 16,90 Verfassungsschutz Bundeswehr Polizei Justiz Hochschulen Gewerkschaften Vierteljahreszeitschrift I 7. Jahrgang I Winter 2021 I ISSN 2364-4737
Ist der Staat auf dem rechten Auge blind? Mag die Behauptung auch pauschal anmuten, so ist es „rechtem Denken“ doch gelungen, in fast alle staatlichen Institutionen vorzudringen. Bedeutung, Rolle und Verbreitungsmöglichkeiten des Rechtsextremismus hängen nicht zuletzt davon ab, ob und wie Institutionen auf rechte und rechtsextreme Organisationen, Ideologien und Gewalttaten reagieren. Je weniger rechtes Denken und Handeln demaskiert und diesem in Institutionen entgegengetreten wird, desto umfas- sender dessen Legitimierung, desto schwieriger dessen (verwaltungs)praktische und juristische Ahndung. Hat Ignoranz gegenüber bekannten rechten Strukturen und rechten Diskursverschiebungen in der Gesellschaft auch diejenigen Institutionen erfasst, die dem Staat und damit dem Wohl aller dienen sollen – ohne Ansehen der Person? Institutionelles Agieren mit Blick auf die Mordserie des NSU, nach den Morden in Hanau oder dem an Oury Jalloh sind nur wenige Beispiele, die Zweifel an diesem Grundsatz säen. Dies ist kein Thema wie jedes andere. Denn es geht um die Institutionen und ihre Funktionsträger*innen, deren zentrale Aufgabe darin besteht, den demokratischen Rechtsstaat und die Menschen zu schützen, die hier leben. Die Grundlage dieses Heftes bildet ein Beitrag, der im Bezug auf den Begriff Rechtsextremismus terminologi- sche Aufräumarbeit leistet. Er klärt, wie die unterschiedlichen Begriffe verschiedene Phänomene erfassen, um zu einer Differenzierung der allgemein beschriebenen Gefahr von rechts beizutragen. Welchen Einfluss hat der Einzug der AfD in alle Landesparlamente und den Bundestag sowie ihre stetige Radikalisierung? Wie steht es um die demokratische Verfasstheit von Polizei, Justiz, Bundeswehr und Verfassungsschutz? Diese Fragen will das vorliegende Heft beantworten. Darüber hinaus beschäftigt es sich mit Rechtsextremis- mus in Gewerkschaften sowie rechtem Denken in Universitäten und Hochschulen, aber auch mit Angriffen von rechts auf (politische) Bildung und Schule – Stichwort Desiderius-Erasmus-Stiftung und Institut für Staatspolitik. Welche Mechanismen lassen sich bestimmen, wenn Institutionen von Rechtsaußen unterwandert werden? Die jeweiligen Beiträge gehen über bloße Diagnosen hinaus. Sie versuchen die Ursachen zu analysieren, weisen darauf hin, dass das Ausmaß des Problems noch nicht ausreichend vermessen ist, schätzen die tatsächlichen Gefahren ein und zeigen Strategien auf, wie es den Institutionen gelingen kann, sich gegen diese Entwicklungen zur Wehr zu setzen und dabei die Demokratie zu schützen. Sabine Achour Peter Massing Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
2 Rechtsextremismus in Institutionen Seite 4 Seite 24 Was ist rechts(extrem)? Begriffsklärung Bundeswehr Der Begriff des „Rechten Extremismus“ ist in der Verschiedene Vorfälle haben die Befürchtung ver- öffentlichen Debatte und in der Politikwissenschaft stärkt, die Bundeswehr sei anfällig für rechtsextreme nicht einheitlich. Die begriffliche Klärung trägt zu Haltungen. Ob diese als Einzelfälle angesehen werden Differenzierung bei und lässt sich dazu nutzen, unter- oder eine generelle Tendenz kennzeichnen, lässt sich schiedliche Formen und Grade rechter Radikalisierung auf Grundlage des vorliegenden Datenmaterials nicht zu beschreiben. seriös beantworten. Seite 10 Seite 30 Deutsche Parlamente „Tiefer Staat“? Die AfD ist mittlerweile in allen Parlamenten vertre- Gesellschaftliche und politische Institutionen bieten ten. Mit ihrer in den letzten Jahren beobachtbaren immer noch Spielräume für Konservatismus und programmatischen und personellen Radikalisierung Autoritarismus. Damit Extremismusprävention wächst die Gefahr einer Normalisierung rassistischer dort gelingen kann, benötigen Bund und Länder gut und rechtsextremer Positionen. ausgestattete wissenschaftliche Einrichtungen zur Erforschung von Rechtsextremismus und Demokratie. Seite 16 Seite 38 Verfassungsschutz Justiz Zahlreiche Pannen, besonders im Zusammenhang Rechtes Denken findet sich auch in der Justiz, obwohl mit dem NSU, haben zu heftiger Kritik an der Behörde diese als rechtsstaatliches Korrektiv gegen Rechtsextre geführt. Doch lässt sich der Pauschalverdacht, der mismus wirken sollte. Die Justiz spielt die rassistische, Verfassungsschutz sei auf dem rechten Auge blind, antisemitische und rechtsextreme Ideologie herunter aufrechterhalten? oder blendet sie mitunter sogar aus. Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Rechtsextremismus in Institutionen 3 Rechtsextremismus in Institutionen Alexander Häusler Was ist rechts und was extrem? Begriffsklärung 4 Wolfgang Schroeder und Bernhard Weßels Seite 44 Die AfD auf dem Weg der Radikalisierung. Juristische Ausbildung Rechtsextremismus in deutschen Parlamenten 10 Das Selbstverständnis der Justiz in Deutschland ist noch Florian Hartleb häufig vom Bild eines unpolitisch-neutralen Rechts Auf dem rechten Auge blind? und eines objektiven Richters geprägt. Doch juristische Rechtsextremismus und der Verfassungsschutz 16 Regeln können in einer Gesellschaft nicht neutral oder Klaus Naumann objektiv sein. Umso wichtiger, dass dies in der Ausbil- Brandmauern und Brückendiskurse. dung der Akteur*innen ausreichend berücksichtigt wird. Rechtsextremismus in der Bundeswehr 24 Interview mit Gideon Botsch Man muss noch keinen „tiefen Staat“ befürchten – aber höchste Wachsamkeit ist geboten30 Christoph Kopke Vorkommnisse, Vorfälle, Einzelfälle? Seite 50 Rechtsextremismus in der Polizei 34 Gewerkschaften Maximilian Pichl Das Rechte im Recht. Sympathien für Parteien der radikalen Rechten sind Rechtsextremismus in der Justiz 38 unter Gewerkschaftsmitgliedern teilweise überdurch- schnittlich verbreitet. Weder die Mitgliedschaft in Doris Liebscher einer Gewerkschaft noch aktives gewerkschaftliches Mehr Rassismus(selbst)kritik in der juristischen Handeln schützt vor Rechtsextremismus oder gibt eine Ausbildung. Ein Plädoyer 44 Garantie für antifaschistisches Handeln. Klaus Dörre und Jakob Köster Von klarer Kante und geduldigem Überzeugen. Gewerkschaften und die radikale Rechte 50 Christiane Leidinger und Heike Radvan Extrem rechte Studierende. Eine Herausforderung für Hochschulen am Beispiel Sozialer Arbeit 56 Seite 68 Forum Bildungspolitik von Rechtsaußen Thomas Gill „Politische Bildung“ von rechts: Spielte Bildungspolitik in der Programmatik der AfD zu Das Institut für Staatspolitik 62 Anfang nur eine geringe Rolle, so hat sich das geändert. Am Beispiel Berlin lässt sich deutlich machen, wie die MBR Partei vor allem mit dem Kampfbegriff „Neutralität“ der Bildungspolitik von Rechtsaußen. Schule gegen eine vielfalts- und inklusionsorientierte Das Berliner Beispiel 68 Pädagogik vorgeht. Rezensionen 72 Impressum80 Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
© picture alliance/dpa | Armin Weigel Von klarer Kante und geduldigem Überzeugen Gewerkschaften und die radikale Rechte von Klaus Dörre und Jakob Köster Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Rechtsextremismus in Institutionen 51 G ewerkschaften sind ihrem Selbstverständnis nach antifaschistische Vereinigungen. Dennoch sind rechtsradikale Orientierungen unter Gewerkschaftsmitgliedern heute überdurchschnittlich verbreitet. Wie passt das zusammen und wie sollte man damit umgehen? Ihrem Selbstverständnis nach sind die im Deutschen ergebnis von 10,3 %). Auch Gewerkschaftsmitglieder Gewerkschaftsbund zusammengeschlossenen Arbeit- stimmten mit 12,2 % überdurchschnittlich für die nehmerorganisationen antifaschistische Vereinigun- AfD. Einmal mehr bestätigte sich, was empirische gen. Dies ergibt sich schon aus ihrer Geschichte. Nach Untersuchungen seit langem belegen. Eine Gewerk- der nationalsozialistischen Machtergreifung wurden schaftsmitgliedschaft allein schützt nicht vor Rechts- die Gewerkschaften zerschlagen und verfolgt. An die radikalismus (z. B. Zeuner et al. 2007) und, so muss Stelle freiwilliger Zusammenschlüsse trat die Zwangs- man hinzufügen, selbst aktives gewerkschaftliches mitgliedschaft in der „Deutschen Arbeitsfront“. Als Engagement bietet keine Garantie für überzeugten Lehre aus der Geschichte sollte nach 1945 die Spal- Antifaschismus. Wie lässt sich die überdurchschnitt tung in Richtungsgewerkschaften vermieden werden. liche Attraktivität radikal rechter Positionen bei Ar- Von einer Mitgliedschaft in der sich nun konstituie- beitern und Gewerkschaftsmitgliedern erklären? renden Einheitsgewerkschaft ausgeschlossen waren Zur Beantwortung dieser Frage bemühen wir uns lediglich Mitglieder der NSDAP sowie Personen, die zunächst um eine Begriffsklärung, fassen sodann sich „an den Maßnahmen und Verbrechen der Natio- wichtige Forschungsergebnisse zusammen und be- nalsozialisten beteiligt haben“ (IGM o. J.). Das anti- schäftigen uns abschließend mit demokratiepoliti- faschistische Selbstverständnis prägt die deutschen schen Konsequenzen. Gewerkschaften und ihren Funktionärskörper bis heute. Zahlreiche Gewerkschafter*innen beteiligen Rechtsradikalismus als Mehrebenenphänomen sich aktiv an Aktionen gegen Fremdenfeindlichkeit Um zu verstehen, worin sich die Herausforderung für und Rassismus. Aktionen wie „Mach meinen Kumpel gewerkschaftliche Interessenpolitik gründet, müssen nicht an!“ erreichten in den Betrieben große Ausstrah- rechtsradikale Orientierungen begrifflich eingegrenzt lungskraft. Folgerichtig waren die Gewerkschaften an werden. Die Bezeichnung Rechtsextremismus ist hier den Protesten gegen die Wahl eines Thüringer Minis- problematisch, weil sie das Phänomen eher an den terpräsidenten mit Stimmen der rechtsradikalen AfD Rändern der Gesellschaft verortet. Gewerkschaften federführend beteiligt. und ihre aktiven Mitglieder gehören jedoch zum Zen- Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere Seite trum demokratischer Zivilgesellschaften. Rechtspo- gerät in den Blick, wenn man in Rechnung stellt, dass pulismus ist ebenfalls unpräzise, weil die Grenzen zur menschenfeindliche Einstellungen und Sympathien extremen oder gar neofaschistischen Rechten, die für Parteien der radikalen Rechten unter Gewerk- vor gewaltsamer Systemveränderung nicht zurück- schaftsmitgliedern teilweise überdurchschnittlich schreckt, fließend geworden sind (Heitmeyer 2018). verbreitet sind. Die Gewerkschaften sind hier keines- Mit einem synthetisierenden Begriff sprechen wir wegs nur ein Spiegel der Gesellschaft (Zick/Küpper 2021, 101). Sie müssen sich damit auseinanderset- zen, dass rechtsradikale Orientierungen mittlerweile bei entwickeln sich selbst im aktiven Funktionärskörper verbreitet sind. sistis ch e Einstellungen „R as , sonder im n Das Ergebnis der Bundestagswahl vom September ei ni ch t im lu ftleeren Raum der Poliz Diskurses.“ 2021 liefert Anschauungsunterricht. Zwar hat die AfD sellschaf tlichen Kontex t des ge deutlich verloren, bei den erwerbstätigen Arbeitern e, Univ. Bochum as Sing el ns te in, Kriminolog blieb sie jedoch mit 21 % zweitstärkste Kraft (Gesamt- Tobi Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
52 Rechtsextremismus in Institutionen deshalb von einer radikalen Rechten, die als Mehr und Gewerkschaftsmitgliedern als Funktionsträger ebenenphänomen zu verstehen ist. Zu unterscheiden der AfD. sind die Ebenen konzeptiver Ideen, formaler Organisa- Deutlich schwieriger wird es auf der dritten Ebene, tionen und Orientierungen des Alltagsbewusstseins. dem Alltagsbewusstsein von Lohnabhängigen. Beschäf- Auf der ersten Ebene agieren Ideologen einer neu- tigte und auch Gewerkschaftsmitglieder, die mit der en Rechten, die sich sehr gezielt darum bemüht, die radikalen Rechten sympathisieren, äußern sich höchst soziale Frage von Auseinandersetzungen zwischen selten öffentlich; sie weichen Diskussionen und Kontro- Klassen („oben-unten“) in einem Innen-Außen-Kon- versen in der Arbeitswelt aus, meiden Anti-Rassismus- flikt (deutsche Staatsbürger versus Migranten ohne Seminare und geben ihre Gesinnung häufig nur in der Anspruchsberechtigung auf das „Volksvermögen) um- Anonymität der Wahlkabine preis – ein Verhalten, das zudefinieren. Die Gewerkschaften müssen in Ideen eine offensive gewerkschaftliche Auseinandersetzung kämpfen ein universalistisches Sozialstaatsprinzip mit entsprechenden Orientierungen erschwert. begründen, das Leistungen auch für Migrant*innen ohne deutsche Staatsbürgerschaft garantiert. Radikalisierung einer rechten Tiefengeschichte Auf der zweiten Ebene agieren Parteien wie die Welche Weltsicht findet sich bei Gewerkschafter*innen, AfD oder auch betriebsoppositionelle Gruppen wie die mit Bewegungen wie Pegida und Organisationen das Zentrum Automobil. Auf dieser Ebene ist die po- wie der AfD oder noch weiter rechts stehenden Klein- litische Auseinandersetzung noch verhältnismäßig parteien sympathisieren? 30 Jahre Forschung im rech- einfach, denn die rechtsradikale Betriebsratsopposi- ten Arbeitermilieu fördert eine Tiefengeschichte zu- tion präsentiert sich als Alternative zu den Mitglieds tage, die sich subjektiv anfühlt wie die Wahrheit, organisationen des DGB. Der Gegner befindet sich ohne tatsächlich wahr sein zu müssen (Hochschild „außen“. Gegenüber der AfD haben einige Gewerk- 2017). Diese Tiefengeschichte, auf die wir erstmals schaften wie die Bildungsgewerkschaft GEW und Ende der 1980er Jahre in einem Bildungszentrum der die Gewerkschaft der Polizei (GdP) Unvereinbarkeits- IG Metall gestoßen sind, lässt sich wie folgt zusam- beschlüsse gefasst, andere reagieren mit Grenzzie- menfassen. Befragte Arbeiter*innen sehen sich in einer hungen auf die aktive Betätigung von Betriebsräten Warteschlange, die geduldig am Berg der Gerechtigkeit © picture alliance / Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa Die AfD hat sich den Kampf um die Zukunft der Arbeitsplätze in der Lausitz auf die Fahnen geschrieben (10.3.2018). Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Rechtsextremismus in Institutionen 53 verharrt, bis es aufwärts geht. Doch ständig zögern verschiedenen Variationen ist sie aber auch im prekä- neue Barrieren den Aufstieg hinaus – Wirtschaftskri- ren Sektor („rebellischer Rechtsradikalismus“) sowie sen, Globalisierung und Standortkonkurrenzen, die bei hochqualifizierten, gut verdienenden Festange- Kosten der deutsche Einheit etc. Plötzlich kommen stellten mit hochgradig affirmativem Leistungsbe- Fremde, die man nicht gerufen hat, und ziehen an den wusstsein („konformistischer Rechtsradikalismus“) Wartenden vorbei. Geflüchtete und andere, die präsent. In der ostdeutschen Peripherie sind solche „nichts zum Volksvermögen“ beigetragen haben, be- Orientierungen besonders verbreitet, weil sie häufig kommen, so viele Äußerungen von Befragten, plötz- lich „alles“, während man selbst weiter im Warte- stand ist. Musste man selbst erleben, wie die öffent- Abgewertet fühlt man sich liche Infrastruktur bröckelt, dass kein Geld für neue nicht nur als Arbeiter, sondern Lehrer da ist und am Wohnort zuerst der Konsum auch als „Ossi“ und Mann schließt, dann die Bushaltestelle verschwindet und schließlich auch kein Arzt mehr präsent ist, fließen nun – sei es real, sei es vermeintlich – Millionen in die dem Empfinden einer dreifachen Abwertung ent- Integration von Menschen aus „Kulturkreisen“, die springen. Abgewertet fühlt man sich nicht nur als sich angeblich mit der deutschen Nationalkultur nicht Arbeiter, sondern auch als „Ossi“ und Mann – eine vertragen. Eben dies wird als zutiefst ungerecht subjektive Haltung, der die AfD mit einer fiktiven empfunden – ein gefühlsbeladener Code, den die ra- politischen Aufwertung, einem „Normale deutsche dikale Rechte für ihre politischen Zwecke zu nutzen ver- Arbeiter zuerst!“ entspricht (zu den Ergebnissen diver- mag. ser Studien ausführlich: Dörre 2020). Die skizzierte Tiefengeschichte findet sich vor Unsere empirischen Forschungsergebnisse wider- allem bei männlichen Produktions- und Industriear- sprechen Erklärungen, die Motive für Arbeitersympa- beitern in relativ sicheren Positionen und mit halb- thien mit der radikalen Rechten schematisch nach dem wegs akzeptablen Einkommen, die um ihren Status Muster Sozialprotest versus Kulturkampf deuten. In fürchten („konservierender Rechtsradikalismus“). In den Statements der Befragten findet sich in der Regel © picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Patrick Pleul Mitarbeiter protestieren vor dem Haupteingang des Braunkohlekraftwerkes Jänschwalde (30.9.2019). Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
54 Rechtsextremismus in Institutionen beides: der Einsatz von Ressentiments im Kampf um Unsere Forschungen deuten indes darauf hin, dass Statusverbesserung oder -erhalt auf der einen und der es die eine Antwort auf rechtsradikale Herausfor- Wunsch nach Anerkennung und Bewahrung des eige- derungen in der Arbeitswelt nicht gibt. Was sich als nen Lebensentwurfs auf der anderen Seite. Das erklärt wirksam erweist und was nicht, hängt stark von den auch, weshalb männliche Arbeiter und Gewerkschafter spezifischen betrieblichen Problemlagen, Akteuren deutlich stärker als Frauen aus dem gleichen Milieu zur und Ausprägungen des Rechtsradikalismus ab. Drei radikalen Rechten tendieren. Bei den Männern korres- Erkenntnisse halten wir jedoch für gesichert. pondieren die unhintergehbaren Zwänge der sozialen Erstens dürfen sich die Gewerkschaften nicht als Lage mit Präferenzen für einen konformistischen, auf bloße Dienstleister verstehen (Bose 2018), die auf eine einer klaren geschlechterspezifischen Rollenteilung Vermittlung eigener Werte und die Ausübung eines beruhenden Lebensentwurf, der Machtverschiebung politischen Mandats verzichten. „Rechte und Linke innerhalb nun stärker egalitärer Geschlechterordnung gemeinsam in einer Organisation – so könnte gewerk- als männliche Verlusterfahrung ausweist. schaftliche Stärke entstehen“, lautet das Argument Im Längsschnitt von 30 Jahren empirischer For- rechtsaffiner Gewerkschaftsmitglieder. Ein Problem schungen zeigt sich zudem, dass wir es mit einer ist, dass die Gewerkschaften, folgten sie diesem Rat, Radikalisierung und Verfestigung der skizzierten Tie- auf eine sozialpolitische Stimme verzichten müssten. fengeschichte zu tun haben. Bei einem erheblichen Der Anspruch, alle Lohnabhängigen unabhängig von Teil der aktiven Gewerkschafter und Betriebsräte, die Nationalität und Staatsbürgerschaft zu vertreten, wir befragt haben, handelt es sich um Überzeugungs- wäre dann uneinlösbar. täter. In ihren Anschauungen und Klassifikationen folgen sie bereits der Programmatik einer Partei; sie nutzen einschlägige Informationskanäle und sind Es besteht die Gefahr, bereit, sich aktiv an Aktionen der radikalen Rechten dass soziale und ökologische zu beteiligen. Diese Gruppe dürfte mit Argumenten Fragen gegeneinander kurzfristig nicht zu überzeugen sein. Doch alle, bei denen Protestmotive subjektiv den Ausschlag geben, ausgespielt werden können, langen Atem vorausgesetzt, für die demokra- tische Zivilgesellschaften zurückgewonnen werden. Um der Ethnisierung der sozialen Frage wirksam Die Auseinandersetzung führen – aber wie? zu begegnen, werden die Gewerkschaften zweitens Wie solche Rückholaktionen aussehen können, ist den Wert von Arbeitnehmer-, also von Klassensoli- innerhalb der Gewerkschaften umstritten. Die Po- darität wieder entdecken müssen, denn wenn „man sitionierungen bewegen sich zwischen „klarer Kan- ,Klassen‘ und Klassenverhältnisse einfach aus den te“ und „geduldigem Überzeugen“. Das richtige Mi- Kategorien des Denkens und Begreifens und damit schungsverhältnis ist offenkundig schwer zu finden. aus dem politischen Diskurs entfernt“, verhindert Als sich der IG-Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann mit man keineswegs, „dass sich all jene kollektiv im Stich den Worten „Wer hetzt, der fliegt“ für eine Politik der gelassen fühlen, die mit den Verhältnissen hinter die- klaren Abgrenzung aussprach, zog das in machen Ge- sen Wörtern objektiv zu tun haben“ (Eribon 2016, schäftsstellen seiner Gewerkschaft eine Austrittswel- 122). Anders gesagt, gewerkschaftliche Solidarität le nach sich. Offenkundig stößt die Politik der „klaren kann nur funktionieren, wenn sie ethnische und ge- Kante“ an Grenzen. Gewerkschaftsausschlüsse sind schlechterspezifische Spaltungen überwindet und juristisch nur schwer zu realisieren. Arbeitsrechtliche die Gemeinsamkeiten abhängig Arbeitender in den Konsequenzen, die das beschäftigende Unternehmen Vordergrund rückt. einleiten müsste, sind selbst beim in der militanten Politische Bildung kann hierfür, drittens, einen wich- rechten Szene verankerten Zentrum Automobil weit- tigen Beitrag leisten. Gerade in der Bildungsarbeit gehend ausgeblieben. Hinzu kommt, dass sich Gesin- werden Foren der Selbstreflexion benötigt, die der nung nicht verbieten lässt. Deshalb setzen man in äußersten Rechten mit Experimentierfreudigkeit Teilen der Gewerkschaften stärker auf geduldiges, begegnen. Foren der Selbstreflexion können die Ta- partizipatives Überzeugen. buisierung rechtspopulistischer oder rechtsradikaler Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Rechtsextremismus in Institutionen 55 Tendenzen auch in den eigenen Reihen beenden und Li t e r at ur die internen Diskursregeln verändern. All jene, die Prä- Bose, Sophie 2018: „Klare Kante“ gegen rechts? Befunde senz und Wirken rechtspopulistischer Orientierungen einer qualitativen Untersuchung zum Umgang der in Betrieben und Gewerkschaften offen ansprechen, Gewerkschaften mit dem Rechtspopulismus. In: Becker, dürfen unter keinen Umständen als Nestbeschmut- Karina/Dörre, Klaus/Reif-Spirek, Peter (Hg.): Arbeiterbe- wegung von rechts? Ungleichheit – Verteilungskämpfe- zer verunglimpft werden. Im Gegenteil, sie agieren populistische Revolte. Frankfurt/M., S. 227–241. als verantwortungsbewusste Aufklärer*innen. Ein gewerkschaftlicher Erfahrungsaustausch quer über Dörre, Klaus 2020: In der Warteschlange. Arbeiter*innen und die radikale Rechte. Münster. Betriebs-, Unternehmens- und Organisationsgrenzen hinweg, der die Bedingungen erfolgreicher Gegenpo- Heitmeyer, Wilhelm 2018: Autoritäre Versuchung. Signa- litik klärt, wäre ein mutiger, bisher nur in Ansätzen turen der Bedrohung. Berlin. realisierter Schritt zu wirksamer Gegenwehr. Bleibt Eribon, Didier 2016: Rückkehr nach Reims. Berlin. er aus, kann Sympathie für die extreme Rechte weiter Hochschild, Arlie 2017: Fremd im eigenen Land. Eine Reise im Verborgenen gedeihen. Zerstörerische Folgen für ins Herz der amerikanischen Rechten. Frankfurt/M. die Fundamente gewerkschaftlicher und zivilgesell- IG Metall (o.O., o.J.): Satzung der Industriegewerkschaft schaftlicher Solidarität sind dann absehbar. Metall für die Bunderepublik Deutschland. http://library. Halten wir fest: Die imaginäre Revolte von rechts ist fes.de/prodok/fa97-01687.pdf ein gesellschaftliches Phänomen, und nur der erfolg- Köster, Jakob/Bose, Sophie/Dörre, Klaus/Lütten, John reiche Kampf für eine bessere Gesellschaft vermag 2020: Nach der Braunkohle. Konflikte um Energie und ihr letztendlich Grenzen zu setzen. Dies zu vermitteln, regionale Entwicklung in der Lausitz. In: Dörre, Klaus u. a. wäre dringliche Aufgabe einer emanzipatorischen ge- (Hg.): Abschied von Kohle und Auto? Sozial-ökologische werkschaftlichen Interessenpolitik, die sich offen und Transformationskonflikte um Energie und Mobilität. Frankfurt/M., S. 71–127. vorurteilsfrei, aber auch kritisch und offensiv mit der deep story rechtsaffiner Arbeiter*innen befasst. „Pro- Zeuner, Bodo/Gester, Jochen/Fichter, Michael/Kreis, blemrohstoff“ für die radikale Rechte wird es schon Joachim/Stöss, Richard 2007: Gewerkschaften und Rechtsextremismus. Münster. aufgrund der bis 2045 anstehenden Dekarbonisierung der Wirtschaft weiter zur Genüge geben. Konflikte Zick, Andreas/Küpper, Beate 2021: Die geforderte Mitte. um ökologischen Umbau, Arbeitsplatzerhalt und Kli- Rechtextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland 2020/21. Bonn. maschutz haben mit der Auto- und Zulieferbranche mittlerweile das Herz der deutschen Exportindustrie erreicht. Wie sich bereits in den Auseinandersetzun- Dr. Klaus Dörre ist Professor für gen um den Braunkohleausstieg gezeigt hat, besteht Arbeits-, Industrie- und Wirt- schaftssoziologie an der die Gefahr, dass soziale und ökologische Fragen ge- Friedrich-Schiller-Universität © Angelika Osthues geneinander ausgespielt werden (Köster et al. 2018). Jena. Die extreme Rechte verneint oder verharmlost den menschengemachten Klimawandel. Sie möchte der Braunkohle und dem Verbrennermotor eine lange Zu- kunft gewähren. Damit findet sie bei Lohnabhängigen Gehör, die eine – erneute – Deindustrialisierung fürch- ten. Doch überdurchschnittlich hohe Wahlergebnisse Jakob Köster ist wissenschaftli- in vom Strukturwandel gebeutelten Regionen sind cher Mitarbeiter am selben Institut. kein Naturereignis, denn die Propaganda der radikalen Rechten ziel auf eine Wiederherstellung von Verhält- nissen, die nicht wiederherstellbar sind. Das beste Gegengift ist eine offene, demokratische Auseinan- dersetzung um die gesellschaftliche Zukunft, die den Menschen Ängste vor der anstehenden sozial-ökolo- gischen Transformation nimmt, indem sie eine Bes- Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: serung von Gesellschaft glaubhaft in Aussicht stellt. DOI https://doi.org/10.46499/1760.2192 Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
POLITIKUM lesen | besser informiert sein www.politikum.org Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
Impressum Erscheint im 6. Jahrgang in der Nachfolge der Zeitschrift „politische Neuerscheinung bildung“ als Vierteljahreszeitschrift des Wochenschau Verlags. Verleger Bernward Debus, Dr. Tessa Debus Wie, von wem, Herausgeber mit welcher Absicht Prof. Dr. Sabine Achour und in welchen achour@zedat.fu-berlin.de Kontexten wird das Prof. Dr. Hans-Jürgen Bieling Wort verwendet? hans-juergen.bieling@uni-tuebingen.de Welche Gründe hat Prof. Dr. Peter Massing massingr@zedat.fu-berlin.de das (erneute) Ringen Prof. Dr. Stefan Schieren um „Heimat“ in stefan.schieren@ku-eichstaett.de Politik, Gesellschaft Prof. Dr. Johannes Varwick und Wirtschaft? johannes.varwick@politik.uni-halle.de Dieses Heft wurde federführend herausgegeben von: Jens Korfkamp/Ulrich Steuten Sabine Achour und Peter Massing Was ist Heimat? Beirat Klärung eines umkämpften Begriffs Prof. Dr. Gabriele Abels (Univ. Tübingen), Prof. Dr. Uwe Andersen (Univ. Bochum), Prof. Dr. Anja Besand (TU Dresden), Prof. Dr. ISBN 978-3-7344-1371-1, 160 S., € 12,90 Gotthard Breit (Univ. Magdeburg), Prof. Dr. Thorsten Faas (FU Ber- PDF ISBN 978-3-7344-1372-8, € 11,99 lin), Prof. Dr. Sven Bernhard Gareis (Univ. Münster), Prof. Dr. Wilhelm Knelangen (Univ. Kiel), Prof. Dr. Sabine Kropp (FU Berlin), Prof. Dr. Bernd Ladwig (FU Berlin), Prof. Dr. Stephan Lessenich (Univ. Mün- chen), Prof. Dr. Andreas Nölke (Univ. Frankfurt/M.), Prof. Dr. Monika Oberle (Univ. Göttingen), Prof. Dr. Kerstin Pohl (Univ. Mainz), Prof. Nachweis der Zitate in der Reihenfolge des Abdrucks im Heft: Dr. Lothar Probst (Univ. Bremen), Prof. Dr. Marion Reiser (Univ. Jena), M. Meisner/H. Kleffner, in dies.: Extreme Sicherheit, Freiburg Prof. Dr. Armin Schäfer (Univ. Münster), Prof. Dr. Norman Weiß 2019 | J. Radek, in: https://www.tagesspiegel.de/politik/ (Univ. Potsdam), Prof. Dr. Wichard Woyke (Univ. Münster) rechte-tendenzen-bei-polizei-und-bundeswehr-da-ist-bei- vielen-beamten-etwas-in-schieflage-geraten/24487944.html | Verlag und Vertrieb F. Merz, Interview in „Bild am Sontag“ v. 22.6.2019 | A. Merkel, WOCHENSCHAU VERLAG, Dr. Kurt Debus GmbH, Eschborner in https://www.bundeskanzlerin.de/bkin-de/aktuelles/pres- Landstr. 42-50, 60489 Frankfurt/M. Gesamtherstellung: Wochenschau Verlag • www.wochenschau-verlag.de sestatement-erklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-zu-den- morden-von-hanau-1723562 | S. Başay-Yıldız, in: https://www. Aboservice / Heftbestellungen tagesspiegel.de/politik/braune-staatsdiener-rechtsradikale-in- Abonnementbestellungen: www.politikum.org, sicherheitsbehoerden-bedrohen-die-demokratie/25010400. Tel.: 069/7880772-0, politikum@wochenschau-verlag.de html | T. Singelnstein (2 Zitate), in: Meisner/Kleffner (Hg.): Ex Bestellungen von Einzelheften: wochenschau@brocom.de, treme Sicherheit. Freiburg 2019 | S. J. Kramer, in https://hei- Tel.: 07154/1327-30 matkunde.boell.de/de/dossier-rechter-terror | F.-W. Steinmeier, Bezugsbedingungen in: https://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/ Es erscheinen 4 Hefte jährlich. Preise: Einzelheft € 12,80; Jahres DE/Frank-Walter-Steinmeier/Reden/2020/01/200129-Geden- abopreis € 39,20; Jahresabopreis für Studierende und Referendare ken-Bundestag.html | S. Salzborn (2 Zitate), in ders.: Rechts- € 19,60; alle Preise zzgl. Versandkosten. Kündigung 8 Wochen extremismus. Erscheinungsformen und Erklärungsansätze, (30. April bzw. 31. Oktober) vor Ende des aktuellen Abrechnungs- Baden-Baden 2020, S. 145 | Brandenburg. LZ in https://www. zeitraums. Bankverbindung für Überweisungen: Volksbank Wein- politische-bildung-brandenburg.de/blog/gewerkschaften- heim, IBAN DE59 6709 2300 0001 2709 07, BIC GENODE61WNM. und-rechtsextremismus-0 | M. Quent (2 Zitate), in ders.: Lieferung gegen Rechnung oder Lastschrift Deutschland rechts außen. Berlin 2019 | R. Behr, in https:// Anzeigen www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/interview-rafael- Wochenschau Verlag, Tel.: 069/7880772-0, Fax: 069/7880772-25, behr-rechtsextremismus-sek-103.html | M. May/G. Heinrich, anzeigen@wochenschau-verlag.de in dies.: Rechtsextremismus pädagogisch begegnen. Mün- Der Zeitschrift liegt eine Verlagsbeilage bei. chen 2020 | R. Stöss, in ders.: Gewerkschaften und Rechtsex- tremismus in Europa. Berlin 2017 | J. Radek, in: https://www. © WOCHENSCHAU VERLAG, Frankfurt/M. deutschlandfunk.de/rechtsextremismus-problem-die-polizei- Alle Beiträge sind gesetzlich geschützt. Kein Teil dieser Zeitschrift muss-besser-sein-als.694.de.html?dram:article_id=484236 | W. darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages – außer in Heitmeyer, in https://www.deutschlandfunk.de/rechte-be- den gesetzlich vorgesehenen Ausnahmen – reproduziert oder unter wegungen-an-hochschulen-universitaeten-nehmen-die.680. Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden. Zuwider- de.html?dram:article_id=440346 | D. Bertrand-Pfaff, in ders.: handlungen werden strafrechtlich verfolgt. Radikaler Antipluralismus. Vom Umgang von Kirche und christ- Digitale Ausgabe: ISBN 978-3-734-1377-3 (PDF) licher Sozialethik mit dem Rechtsextremismus, https://www. ISSN 2364-4737 • eISSN 2701-1267 academia.edu/13303604/Radikaler_Antipluralismus DOI https://doi.org/10.46499/1760 Coverbild: © picture alliance / Rolf Haid/dpa www.politikum.org www. facebook.com/ZeitschriftPolitikum Copyright Wochenschau Verlag, Frankfurt/M.
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