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Sammlung der Rechtsprechung

                                     SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
                                             ATHANASIOS RANTOS
                                             vom 9. September 2021 1

                                                      Rechtssache C-581/20

         Skarb Państwa Rzeczypospolitej Polskiej reprezentowany przez Generalnego Dyrektora
                                    Dróg Krajowych i Autostrad
                                                gegen
                               TOTO S.p.A. – Costruzioni Generali,
                                        Vianini Lavori S.p.A.

          (Vorabentscheidungsersuchen des Varhoven kasatsionen sad [Oberstes Kassationsgericht,
                                              Bulgarien])

             „Vorlage zur Vorabentscheidung – Justizielle Zusammenarbeit in Zivilsachen –
     Gerichtliche Zuständigkeit und Anerkennung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen –
                Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 – Begriff der Zivil- und Handelssachen –
     Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen – Vertrag über Bauarbeiten an
                                       einer öffentlichen Straße“

     1. Im Jahr 2015 legten die Unternehmen, an die ein öffentlicher Auftrag über den Bau eines
     Autobahnabschnitts vergeben worden war, dem polnischen öffentlichen Auftraggeber Garantien
     vor, die von einer bulgarischen Versicherungsgesellschaft übernommen wurden, um die
     Verpflichtungen aus dem in Polen geschlossenen Vertrag zu sichern.

     2. Jahre später beantragten die Auftragnehmer erfolglos bei einem polnischen Gericht eine
     einstweilige Anordnung, um dem öffentlichen Auftraggeber aufzugeben, diese Garantien nicht in
     Anspruch zu nehmen. Außerdem haben die Unternehmen einen entsprechenden Antrag bei
     einem Gericht in Bulgarien eingereicht, wo er in erster Instanz zurückgewiesen und ihm in
     zweiter Instanz stattgegeben wurde.

     3. Der polnische öffentliche Auftraggeber hat beim Varhoven kasatsionen sad (Oberstes
     Kassationsgericht, Bulgarien) Kassationsbeschwerde eingelegt. Im Rahmen des Verfahrens hat
     das Gericht u. a. zu prüfen, ob die bulgarischen Gerichte gemäß Art. 35 der Verordnung (EU)
     Nr. 1215/2012 2 die internationale Zuständigkeit für die Anordnung der beantragten
     einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen 3 besitzen.

     1
         Originalsprache: Französisch.
     2
         Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2012 über die gerichtliche Zuständigkeit und die
         Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2012, L 351, S. 1).
     3
         Ich verwende die Begriffe „einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen“ so, wie in der Verordnung Nr. 1215/2012
         festgelegt. Tatsächlich müsste konkretisiert werden, welcher Kategorie die beantragte Maßnahme jeweils entspricht.

DE           ECLI:EU:C:2021:726                                                                                                     1
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
                                                                  TOTO

4. Wenn ich mich nicht irre, hat sich der Gerichtshof erst einmal zu diesem Artikel geäußert 4. Die
Urteile, die in Bezug auf vorhergehende Rechtsvorschriften ergangen sind 5, tragen zur Klärung
der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen bei, ohne sie jedoch zu beantworten.

5. Auf Wunsch des Gerichtshofs beziehen sich die vorliegenden Schlussanträge nur auf die zweite
Vorlagefrage. Ihre Beantwortung erfordert eine genauere Betrachtung des Verhältnisses zwischen
zwei Gerichten aus verschiedenen Mitgliedstaaten – dem in der Hauptsache zuständigen Gericht
und dem Gericht, das ausschließlich über den einstweiligen Rechtsschutz entscheidet – in
grenzüberschreitenden Verfahren, für die Art. 35 verhindern soll, dass „die Parteien durch die
jedem internationalen Verfahren eigene lange Verfahrensdauer einen Schaden erleiden“ 6.

I. Rechtlicher Rahmen

A. Verordnung Nr. 1215/2012

6. Der 33. Erwägungsgrund lautet:

„Werden einstweilige Maßnahmen, einschließlich Sicherungsmaßnahmen, von einem Gericht
angeordnet, das in der Hauptsache zuständig ist, so sollte ihr freier Verkehr nach dieser
Verordnung gewährleistet sein. Allerdings sollten einstweilige Maßnahmen, einschließlich
Sicherungsmaßnahmen, die angeordnet wurden, ohne dass der Beklagte vorgeladen wurde, nicht
gemäß dieser Verordnung anerkannt und vollstreckt werden, es sei denn, die die Maßnahme
enthaltende Entscheidung ist dem Beklagten vor der Vollstreckung zugestellt worden. Dies sollte
die Anerkennung und Vollstreckung solcher Maßnahmen gemäß einzelstaatlichem Recht nicht
ausschließen. Werden einstweilige Maßnahmen, einschließlich Sicherungsmaßnahmen, von
einem Gericht eines Mitgliedstaats angeordnet, das für die Entscheidung in der Hauptsache
nicht zuständig ist, sollte die Wirkung dieser Maßnahmen auf das Hoheitsgebiet des
betreffenden Mitgliedstaats gemäß dieser Verordnung beschränkt werden.“

7. Art. 2 bestimmt:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

a) ‚Entscheidung‘ jede von einem Gericht eines Mitgliedstaats erlassene Entscheidung ohne
   Rücksicht auf ihre Bezeichnung wie Urteil, Beschluss, Zahlungsbefehl oder
   Vollstreckungsbescheid,   einschließlich  des    Kostenfestsetzungsbeschlusses    eines
   Gerichtsbediensteten.

4
    Urteil vom 3. September 2020, Supreme Site Services u. a. (C-186/19, EU:C:2020:638).
5
    Art. 24 des Brüsseler Übereinkommens von 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher
    Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32, konsolidierte Fassung in ABl. 1998, C 27, S. 1, im Folgenden:
    Brüsseler Übereinkommen) und Art. 31 der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche
    Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 2001, L 12, S. 1, im
    Folgenden: Verordnung Nr. 44/2001). Der Wortlaut dieser Bestimmungen und des aktuellen Art. 35 stimmt nicht überein. Außerdem
    hat der Gesetzgeber den einstweiligen Rechtsschutz in der Verordnung Nr. 1215/2012 an einer anderen Stelle geregelt. Die Änderungen
    schmälern jedoch nicht den Nutzen der früheren Rechtsprechung des Gerichtshofs als Referenz für die vorliegende Rechtssache.
6
    Urteil vom 28. April 2005, St. Paul Dairy (C-104/03, EU:C:2005:255, im Folgenden: Urteil St. Paul Dairy, Rn. 12).

2                                                                                                             ECLI:EU:C:2021:726
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
                                                         TOTO

     Für die Zwecke von Kapitel III umfasst der Ausdruck ‚Entscheidung‘ auch einstweilige
     Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die von einem nach dieser Verordnung in
     der Hauptsache zuständigen Gericht angeordnet wurden. Hierzu gehören keine einstweiligen
     Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, die von einem solchen Gericht
     angeordnet wurden, ohne dass der Beklagte vorgeladen wurde, es sei denn, die Entscheidung,
     welche die Maßnahme enthält, wird ihm vor der Vollstreckung zugestellt;

…“

8. Art. 29 im Abschnitt „Anhängigkeit und im Zusammenhang stehende Verfahren“ legt fest:

„(1) Werden bei Gerichten verschiedener Mitgliedstaaten Klagen wegen desselben Anspruchs
zwischen denselben Parteien anhängig gemacht, so setzt das später angerufene Gericht
unbeschadet des Artikels 31 Absatz 2 das Verfahren von Amts wegen aus, bis die Zuständigkeit
des zuerst angerufenen Gerichts feststeht.

(2) In den in Absatz 1 genannten Fällen teilt das angerufene Gericht auf Antrag eines anderen
angerufenen Gerichts diesem unverzüglich mit, wann es gemäß Artikel 32 angerufen wurde.

(3) Sobald die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später
angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig.“

9. In Art. 35 („Einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen“) heißt es:

„Die im Recht eines Mitgliedstaats vorgesehenen einstweiligen Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen können bei den Gerichten dieses Mitgliedstaats auch dann beantragt
werden, wenn für die Entscheidung in der Hauptsache das Gericht eines anderen Mitgliedstaats
zuständig ist.“

10. Art. 36 im Abschnitt „Anerkennung“ bestimmt:

„(1) Die in einem Mitgliedstaat ergangenen Entscheidungen werden in den anderen
Mitgliedstaaten anerkannt, ohne dass es hierfür eines besonderen Verfahrens bedarf.

…“

11. Art. 42 Abs. 2 sieht vor:

„Soll in einem Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat ergangene Entscheidung
vollstreckt werden, mit der eine einstweilige Maßnahme einschließlich einer
Sicherungsmaßnahme angeordnet wird, hat der Antragsteller der zuständigen
Vollstreckungsbehörde Folgendes vorzulegen:

a) eine Ausfertigung der Entscheidung, die die für ihre Beweiskraft erforderlichen
   Voraussetzungen erfüllt,

b) die nach Artikel 53 ausgestellte Bescheinigung, die eine Beschreibung der Maßnahme enthält
   und mit der bestätigt wird, dass

     i) das Gericht in der Hauptsache zuständig ist,

ECLI:EU:C:2021:726                                                                           3
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
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      ii) die Entscheidung im Ursprungsmitgliedstaat vollstreckbar ist, und

c) wenn die Maßnahme ohne Vorladung des Beklagten angeordnet wurde, den Nachweis der
   Zustellung der Entscheidung.“

12. Art. 45 Abs. 1 Buchst. c legt fest:

„(1) Die Anerkennung einer Entscheidung wird auf Antrag eines Berechtigten versagt, wenn

c) die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen denselben Parteien im
   ersuchten Mitgliedstaat ergangen ist …“

B. Nationales Recht: Grazhdanski Protsesualen Kodeks 7

13. Von Bedeutung für die vorliegende Rechtssache sind Art. 18 (Staatenimmunität), die Art. 389
bis 396 (Erlass der einstweiligen Anordnung), die Art. 397 bis 403 (Sicherungsmaßnahmen) und
die Art. 274 bis 280 (Rechtsbehelfe gegen Beschlüsse).

14. Da meine Schlussanträge ausschließlich die Auslegung von Art. 35 der Verordnung
Nr. 1215/2012 betreffen, ist es nicht erforderlich, diese Artikel wiederzugeben.

II. Sachverhalt des Ausgangsverfahrens und Vorlagefragen

15. Mit Vertrag vom 30. Juli 2015 beauftragte die Skarb Państwa Rzeczypospolitej Polskiej
reprezentowany przez Generalnego Dyrektora Dróg Krajowych i Autostrad (im Folgenden:
Staatskasse Polens) die als ein in Italien registriertes Konsortium handelnden Unternehmen Toto
S.p.A. Costruzioni Generali und Vianini Lavori S.p.A. mit dem Bau der Schnellstraße S-5
Posen–Breslau, Abschnitt Posen A2, Gluchowo–Wronczyn.

16. Die Parteien vereinbarten in Art. 20.6 des Vertrags die Zuständigkeit der Gerichte am Sitz des
öffentlichen Auftraggebers (d. h. der polnischen Gerichte) 8.

17. Nach dem Vertrag wurden die Garantien Nr. 02900100000348 und Nr. 02900100000818
ausgestellt, um die Erfüllung des Vertrags 9 bzw. die eventuelle Zahlung einer „Vertragsstrafe“
nach Abschluss der Arbeiten 10 zu sichern. Beide Garantien wurden von der bulgarischen
Versicherungsgesellschaft Euroins AD übernommen und unterliegen dem polnischen materiellen
Recht.

18. Die Gesellschaften, die den Zuschlag erhalten hatten, haben beim Sąd Okręgowy w
Warszawie (Bezirksgericht Warschau, Polen) zwei negative Feststellungsklagen gegen die
Staatskasse Polens erhoben. Die Gesellschaften beantragen, „festzustellen, dass … die
7
     Zivilprozessordnung, Bulgarien, im Folgenden: GPK.
8
     Nach Rn. 2 der Erklärungen der polnischen Regierung heißt es in dem Artikel wie folgt: „Das zuständige Gericht am Sitz des öffentlichen
     Auftraggebers … ist für jeden Rechtsstreit zuständig, der sich im Zusammenhang mit der Ausführung [des Auftrags] ergibt.“
9
     Nach dem Vorlagebeschluss wurde diese Garantie „für die vertragsgemäße Erfüllung in Höhe von insgesamt 52 294 272,43 PLN
     [polnische Zloty] [übernommen], wobei mit Annex 4 vom 25. Januar 2019 ihre Wirkung bis zum 31. Juli 2019 in der genannten Höhe als
     Garantie im Falle der Nichterfüllung oder Schlechterfüllung des Vertrags bis zum Höchstbetrag und bis zum 30. Juni 2024 als Garantie
     für die vertragsgemäße Ausführung der Bauarbeiten in Höhe von bis zu 15 877,73 PLN festgelegt wurde“.
10
     Nach dem Vorlagebeschluss wurde diese Garantie „zur Sicherung der Zahlung einer Vertragsstrafe in Höhe von 9 314 671,95 PLN bis
     zum 31. Juli 2019 übernommen …, wodurch die rechtzeitige Fertigstellung der Bauarbeiten gemäß Vertrag gesichert werden sollte“.

4                                                                                                                 ECLI:EU:C:2021:726
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
                                                                    TOTO

Staatskasse … nicht berechtigt sei, die Zahlung der vertraglich vereinbarten Vertragsstrafe zu
verlangen, da die Voraussetzungen dafür nicht vorlägen, [und] keinen Anspruch auf eine
Vertragsstrafe wegen der von ihr behaupteten verspäteten Vertragserfüllung habe“ 11.

19. Weiterhin beantragten sie bei dem genannten Gericht, „eine einstweilige Anordnung zu
erlassen, indem es der Beklagten auferlegt, insbesondere die von der ZD ‚Euroins‘ AD
übernommenen Garantien Nrn. 02900100000348 und 02900100000818 nicht in Anspruch zu
nehmen“ 12.

20. Mit Beschluss vom 7. Juni 2019 lehnte das Sąd Okręgowy w Warszawie (Bezirksgericht
Warschau) die Anordnung der beantragten einstweiligen Maßnahmen ab 13.

21. Am 31. Juli 2019 haben die Gesellschaften im Zusammenhang mit den beim Sąd Okręgowy w
Warszawie (Bezirksgericht Warschau) erhobenen Klagen erneut den Erlass einstweiliger
Maßnahmen beantragt, diesmal beim Sofiyski gradski sad (Stadtgericht Sofia, Bulgarien).

22. Der Antrag wurde in erster Instanz zurückgewiesen, jedoch wurde ihm in zweiter Instanz
vom Sofiyski apelativen sad (Berufungsgericht Sofia, Bulgarien) stattgegeben. Der Sofiyski
apelativen sad ordnete unter der Voraussetzung einer Sicherheitsleistung die Arrestpfändung der
Forderung der Staatskasse Polens, d. h. der von der Versicherungsgesellschaft Euroins AD
übernommenen Garantien Nr. 02900100000348 und Nr. 02900100000818, an.

23. Die Staatskasse Polens hat Kassationsbeschwerde beim Varhoven kasatsionen sad (Oberstes
Kassationsgericht, Bulgarien) eingelegt. Außerdem reichte sie einen Europäischen
Zahlungsbefehl gemäß der Verordnung (EG) Nr. 1896/2006 14, Formblatt E, ein 15.

24. Die Gesellschaften erhoben mittels des Formblatts F der Verordnung Nr. 1896/2006
Einspruch und reichten dieses in der Stellungnahme zur Kassationsbeschwerde ein.

25. Vor diesem Hintergrund hat der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht) dem
Gerichtshof die folgenden Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 1 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 dahin auszulegen, dass ein Verfahren wie das im
   vorliegenden Vorlagebeschluss beschriebene zur Gänze oder teilweise als eine Zivil- oder
   Handelssache im Sinne von Art. 1 Abs. 1 dieser Verordnung anzusehen ist?

11
     Vorlagebeschluss, Rn. 2.
12
     Vorlagebeschluss, Rn. 4.
13
     Nach Rn. 4 des Vorlagebeschlusses ging das polnische Gericht „… davon aus, dass die Anträge auf Erlass einer einstweiligen Anordnung
     mangels Rechtsschutzinteresses unbegründet seien, da es keinen akzeptablen Grund dafür gebe, dass die Beklagte keinen weiteren
     Annex unterzeichnen werde, und die Unternehmen zudem nicht begründet hätten, dass es wahrscheinlich erscheine, dass die
     Versagung einstweiligen Rechtsschutzes die Vollstreckung einer möglichen zukünftigen Entscheidung, die potenzielle Ansprüche der
     Antragstellerinnen berücksichtigen würde, unmöglich machen oder wesentlich erschweren würde. Ebenso wenig hätten die
     Unternehmen dargetan, dass es wahrscheinlich erscheine, dass die Versagung einstweiligen Rechtsschutzes zu einem irreparablen
     Schaden führen würde und in welchem Ausmaß die möglichen Vertragsstrafen ihre finanzielle Stabilität gefährden könnten.“
14
     Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 zur Einführung eines Europäischen Mahnverfahrens
     (ABl. 2006, L 399, S. 1).
15
     Der Zahlungsbefehl war ausgestellt zugunsten der Staatskasse Polens gegen die Versicherungsgesellschaft „Euroins“ AD über einen
     Betrag von 4 086 197,80 PLN als Kapitalbetrag, Zinsen in Höhe von 3 322 112,05 PLN sowie über einen Betrag von 76 405,75 PLN.

ECLI:EU:C:2021:726                                                                                                                     5
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
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2. Ist nach Ausübung des Rechts, einen Antrag auf Anordnung von einstweiligen
   Maßnahmen/Sicherungsmaßnahmen zu stellen, über den das Gericht, das für die
   Entscheidung in der Hauptsache zuständig ist, bereits entschieden hat, das mit einem Antrag
   auf einstweiligen Rechtsschutz auf derselben Grundlage und nach Art. 35 der Verordnung
   (EU) Nr. 1215/2012 angerufene Gericht ab dem Zeitpunkt, in dem Nachweise vorgelegt
   werden, dass das Gericht der Hauptsache hierzu eine Entscheidung erlassen hat, für nicht
   zuständig zu erachten?

3. Falls sich aus den Antworten auf die ersten zwei Vorlagefragen ergibt, dass das mit einem
   Antrag nach Art. 35 der Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 angerufene Gericht zuständig ist,
   sind die Voraussetzungen für die Anordnung von Sicherungsmaßnahmen nach Art. 35 der
   Verordnung (EU) Nr. 1215/2012 autonom auszulegen? Soll eine Vorschrift unangewendet
   gelassen werden, die in einem Fall wie dem vorliegenden die Anordnung einer
   Sicherungsmaßnahme gegen eine öffentliche Einrichtung nicht zulässt?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

26. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 5. November 2020 beim Gerichtshof eingegangen.
Die Einleitung eines Verfahrens nach Art. 105 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs wurde
abgelehnt.

27. TOTO – Costruzioni Generali und Vianini Lavori, die Republik Polen und die Europäische
Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Sie alle sowie die Staatskasse Polens
haben an der mündlichen Verhandlung vom 15. Juli 2021 teilgenommen.

IV. Würdigung

28. Wie ich bereits vorweggenommen habe, werden sich meine Schlussanträge auf die zweite
Vorlagefrage beschränken. Diese betrifft im Wesentlichen das Verhältnis zwischen Gerichten
verschiedener Mitgliedstaaten, bei denen gemäß der Verordnung Nr. 1215/2012 nacheinander
einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt werden.

29. Für die Beantwortung dieser Frage ist eine Auslegung von Art. 35 der Verordnung
Nr. 1215/2012 erforderlich, um festzustellen, ob ein in der Hauptsache unzuständiges Gericht
(im vorliegenden Fall ein bulgarisches Gericht) einstweilige Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen anordnen kann, wenn das in der Hauptsache zuständige Gericht (im
vorliegenden Fall ein polnisches Gericht) bereits über einen identischen Antrag entschieden hat.

30. Bevor ich eine Antwort auf diese Frage vorschlage, werde ich auf einige allgemeine Aspekte
der Verordnung Nr. 1215/2012 eingehen, die für die Konzentrierung des Streitstoffes nützlich
sein können.

6                                                                                       ECLI:EU:C:2021:726
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
                                                                    TOTO

A. Vorüberlegungen: einstweiliger Rechtsschutz in der Verordnung Nr. 1215/2012

1. Internationale gerichtliche Zuständigkeit und freier Verkehr von Entscheidungen über
einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen

31. Die Verordnung Nr. 1215/2012 führt eine zweigleisige Zuständigkeitsregelung für den Erlass
einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen im Rahmen von in ihren
Anwendungsbereich fallenden Rechtssachen ein:

– Erstens überträgt sie die internationale Zuständigkeit auf die Gerichte, die gemäß Kapitel II
  Abschnitte 1 bis 6 auch für die Entscheidung in der Hauptsache zuständig sind 16. Die
  Zuständigkeit dieser Gerichte wird nicht davon abhängig gemacht, dass eine besondere
  Verbindung zwischen dem Gegenstand der Maßnahme und dem Gerichtsstand besteht 17.
  Außerdem gelten für eine Maßnahme, die von einem in der Hauptsache zuständigen Gericht
  angeordnet wurde, mit der von mir nachstehend erläuterten Ausnahme die Anerkennungs-
  und Vollstreckungsregelungen aus der Verordnung Nr. 1215/2012.

– Zweitens können nach Art. 35 der Verordnung auch Gerichte, die für die Entscheidung in der
  Hauptsache    nicht   zuständig     sind,   einstweilige   Maßnahmen         einschließlich
  Sicherungsmaßnahmen anordnen.

32. Für diesen zweiten Fall, in dem ein Gericht, das für die Entscheidung in der Hauptsache nicht
zuständig ist, dessen ungeachtet über einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz entscheiden
kann, hat der Gerichtshof bestimmte Voraussetzungen festgelegt 18:

– Die einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen müssen darauf abzielen,
  „eine Sach- oder Rechtslage [zu] erhalten, um Rechte zu sichern, deren Anerkennung im
  Übrigen bei dem in der Hauptsache zuständigen Gericht beantragt wird“ 19.

– Es dürfen keine Maßnahmen angeordnet werden, die aufgrund ihrer Wirkung faktisch das
  Hauptsacheverfahren ersetzen, d. h., die dazu verwendet werden können, in der der
  Entscheidungsfindung vorgelagerten Verfahrensphase die Zuständigkeitsregeln zu umgehen 20.

– Zwischen dem in der Hauptsache unzuständigen Gericht und der beantragten Maßnahme
  muss eine echte Verknüpfung bestehen. Der Erlass der Maßnahme „verlangt … besondere
  Umsicht und genaue Kenntnis der konkreten Umstände, in deren Rahmen die beantragten
  Maßnahmen wirken sollen“ 21.

16
     Die Zuständigkeit dieser Gerichte für die Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen wird nicht
     ausdrücklich festgelegt, ergibt sich aber naturgemäß aus ihrer Kenntnis der Rechtssache. Implizit geht sie aus dem 33. Erwägungsgrund
     der Verordnung Nr. 1215/2012 hervor; vgl. auch Urteil vom 17. November 1998, Van Uden (C-391/95, EU:C:1998:543, im Folgenden:
     Urteil Van Uden, Rn. 19).
17
     Urteil vom 27. April 1999, Mietz (C-99/96, EU:C:1999:202, Rn. 41).
18
     Diese Voraussetzungen wurden im Zuge der Auslegung der maßgeblichen Bestimmungen des Brüsseler Übereinkommens und der
     Verordnung Nr. 44/2001 entwickelt.
19
     Urteile vom 26. März 1992, Reichert und Kockler (C-261/90, EU:C:1992:149, Rn. 34), Van Uden, Rn. 37, und vom 3. September 2020,
     Supreme Site Services u. a. (C-186/19, EU:C:2020:638, Rn. 50).
20
     Urteile Van Uden, Rn. 43 ff., vom 27. April 1999, Mietz (C-99/96, EU:C:1999:202, Rn. 42) und St. Paul Dairy, Rn. 18.
21
     Urteil Van Uden, Rn. 38.

ECLI:EU:C:2021:726                                                                                                                      7
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
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33. Diese Voraussetzungen beruhen darauf, dass Art. 35 der Verordnung Nr. 1215/2012 der
Partei, die einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beantragt, einen
Vorteil verschafft und die Gegenpartei benachteiligen kann. Die Vorschrift sieht eine Ausnahme
von dem durch die Verordnung geregelten Zuständigkeitssystem vor und ist aus diesem Grund
eng auszulegen 22.

34. Außerdem könnte Art. 35 durch die Eröffnung eines zusätzlichen Gerichtsstands zu „forum
shopping“ 23 und Missbrauch führen 24.

35. Die Befugnis der Gerichte zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen im Rahmen von Art. 35 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist zudem stark
eingeschränkt: Die Wirkung dieser Maßnahmen ist auf das Hoheitsgebiet des betreffenden
Mitgliedstaats beschränkt 25.

36. Es ist jedoch zu berücksichtigen, dass die Zulässigkeit der Anordnung einstweiliger
Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen durch ein anderes Gericht als das, das in der
Hauptsache entscheidet oder entscheiden wird 26, auf die leicht nachzuvollziehenden besonderen
praktischen Bedürfnisse des einstweiligen Rechtsschutzes zurückzuführen ist 27.

37. Diese Bestimmung gibt der betroffenen Partei die Möglichkeit, einstweilige Maßnahmen
einschließlich Sicherungsmaßnahmen in dem Mitgliedstaat zu beantragen, in dem sich der
Vermögensgegenstand oder die Person befinden, gegen die die Maßnahme vollstreckt werden
soll. Auf diese Weise werden Nachteile vermieden, die sich ergäben, wenn zunächst im Ausland
ein Verfahren eingeleitet und anschließend die Anerkennung der an einem anderen
Gerichtsstand erlassenen Entscheidung beantragt werden müsste 28.

22
     Urteil St. Paul Dairy, Rn. 11. Art. 35 stellt in dem System sicherlich eine Ausnahme dar: Dies zeigt sich auch an seiner Stellung in einem
     eigenen Abschnitt, der von den eigentlichen Zuständigkeitsregeln gesondert ist, jedoch innerhalb von Kapitel II der Verordnung
     Nr. 1215/2012 liegt.
23
     Die Teilnehmer der mündlichen Verhandlung haben diese Besorgnis geäußert, sind sich jedoch über das tatsächliche Ausmaß des
     Risikos uneinig. Die Kommission merkt insbesondere an, dass Art. 35 Merkmale einer Selbstbeschränkung enthalte. Das ist richtig: Der
     Gesetzgeber und ebenso der Gerichtshof in seiner Auslegung haben den Anwendungsbereich des Artikels eingeengt. Einigen
     Argumenten der Kommission kann ich jedoch nicht zustimmen, namentlich nicht dem Argument, für die im Rahmen von Art. 35
     anzuordnenden Maßnahmen müsse Eilbedürftigkeit bestehen. Erstens wird einstweiliger Rechtsschutz in den meisten Fällen für
     dringliche Rechtssachen beantragt, was de facto die Wirksamkeit dieser angeblichen Beschränkung aushöhlen würde. Zweitens ist noch
     unklar, ob die Eilbedürftigkeit eine Voraussetzung für die Anwendung von Art. 35 ist. Sollte dies bejaht werden, ist diese Voraussetzung
     autonom auszulegen.
24
     In der mündlichen Verhandlung wurde insbesondere auf die Gefahr einer „Übersicherung“ hingewiesen, zu der es kommen könne, wenn
     zwei unterschiedliche Gerichte, die insoweit nicht zur Kommunikation untereinander verpflichtet seien, verschiedene
     Sicherungsmaßnahmen zu demselben Zweck anordneten (zu dem gescheiterten Versuch, eine entsprechende Pflicht in die Verordnung
     Nr. 1215/2012 aufzunehmen, siehe unten Fn. 38 der vorliegenden Schlussanträge). Die Verordnung bietet für diese Situation keine
     andere Lösung als die, die sich aus der Anwendung der Regeln zur Rechtshängigkeit oder Anerkennung ergibt.
25
     33. Erwägungsgrund und Art. 2 Buchst. a Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012. Diese Einschränkung war bereits in der
     vorhergehenden Regelung angedeutet, wonach zwischen dem Gegenstand der beantragten Maßnahme und der gebietsbezogenen
     Zuständigkeit des angerufenen Gerichts eine reale Verknüpfung bestehen musste.
26
     Dabei kann es sich um das Gericht handeln, das gegenwärtig mit der Hauptsache befasst ist, oder um das Gericht, das dies in der Zukunft
     tun wird, wenn die Maßnahme vor Beginn des Hauptverfahrens erlassen wird.
27
     Urteile vom 21. Mai 1980, Denilauler (125/79, EU:C:1980:130, Rn. 15 und 16) und vom 26. März 1992, Reichert und Kockler (C-261/90,
     EU:C:1992:149, Rn. 33). In Bezug auf den Schaden, der durch die lange Verfahrensdauer von internationalen Verfahren entsteht, siehe
     auch Urteil St. Paul Dairy, Rn. 12.
28
     Diese Nachteile bestehen selbst im vereinfachten System der automatischen Anerkennung und Vollstreckung ohne Exequaturverfahren
     aus der Verordnung Nr. 1215/2012: Die betroffene Person muss die Schriftstücke im Herkunftsstaat beschaffen und im ersuchten
     Mitgliedstaat vorlegen. Dabei kann weder von vornherein ausgeschlossen werden, dass die Partei, gegen die die Anerkennung oder
     Vollstreckung geltend gemacht wird, auf dem geeigneten Verfahrensweg die Versagung beantragt, noch, dass eine in einem
     Mitgliedstaat angeordnete Maßnahme für die Vollstreckung in einem anderen Mitgliedstaat angepasst werden muss.

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38. Diese Möglichkeit ist umso wichtiger, als für einstweilige Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen, die von dem in der Hauptsache zuständigen Gericht ohne Anhörung
des Antragsgegners angeordnet wurden (und deren Anordnung einen gewissen
Überraschungseffekt aufweist), grundsätzlich 29 nicht der freie Verkehr 30 gemäß der Verordnung
Nr. 1215/2012 31 zwischen den Mitgliedstaaten vorgesehen ist.

39. Der Ausschluss solcher Maßnahmen vom freien Verkehr wird durch die Definition des
Begriffs „Entscheidung“ in Art. 2 Buchst. a Unterabs. 2 der Verordnung Nr. 1215/2012 geregelt.
In der Praxis schlägt sich dies in den Anforderungen aus Art. 42 Abs. 2 nieder: Soll in einem
Mitgliedstaat eine in einem anderen Mitgliedstaat vom in der Hauptsache zuständigen Gericht
erlassene einstweilige Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme vollstreckt werden,
ist eine nach Art. 53 ausgestellte Bescheinigung vorzulegen. Diese Bescheinigung enthält
spezielle Angaben zur der Eigenschaft des Gerichts sowie über die Ladung des Beklagten bzw. in
Ermangelung dessen darüber, dass die Entscheidung zugestellt wurde.

2. Beziehung zwischen den Gerichtsständen

40. Zwischen den einzelnen Gerichtsständen, die dem Antragsteller, der einstweiligen
Rechtsschutz begehrt, zur Verfügung stehen, herrscht keine formale Hierarchie, und er kann
zwischen ihnen wählen. Daher kann es zu Situationen kommen, in denen mehrere einstweilige
Rechtsschutzverfahren laufen. Der Gesetzgeber hat es unterlassen, hierfür ausdrücklich eine
bestimmte Lösung vorzusehen.

a) Mehrere Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz

41. Die Verordnung Nr. 1215/2012 enthält eine spezielle Bestimmung (Art. 35) zur Regelung von
einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen. Es könnte die Ansicht
vertreten werden, dass auf diese Weise die natürliche Befugnis des in der Hauptsache
zuständigen    Gerichts    zur  Anordnung       einstweiliger  Maßnahmen         einschließlich
Sicherungsmaßnahmen ergänzt wird. Diese Bestimmung eröffnet aber auch die Möglichkeit
identischer Verfahren vor verschiedenen Gerichten, was die Gefahr sich widersprechender
Entscheidungen mit sich bringt.

42. Der Prioritätsgrundsatz, der nach Art. 29 (im Abschnitt „Anhängigkeit und im
Zusammenhang stehende Verfahren“) der Verordnung Nr. 1215/2012 bei mehreren Verfahren
zwischen identischen Parteien und wegen desselben Anspruch gilt, kann meiner Auffassung
nach auf die Phase des einstweiligen Rechtsschutzes erstreckt werden 32.

29
     Ihr freier Verkehr ist nur dann möglich, wenn der Antragsgegner vorgeladen wurde oder ihm die entsprechende die Maßnahme
     enthaltende Entscheidung vor der Vollstreckung zugestellt wurde.
30
     Nach dem 33. Erwägungsgrund gilt die Beschränkung sowohl für die Vollstreckung als auch für die Anerkennung.
31
     Anders sieht es gemäß dem 33. Erwägungsgrund jedoch aus, wenn dies nach einzelstaatlichem Recht zulässig ist.
32
     Es ist mir nicht entgangen, dass es Zweifel an einer automatischen Anwendung von Art. 29 auf einstweilige Maßnahmen einschließlich
     Sicherungsmaßnahmen gibt, und zwar aus Gründen, die je nach dem Hintergrund der verschiedenen Verfahren variieren.

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43. Nach diesem Grundsatz „setzt das später angerufene Gericht … das Verfahren von Amts
wegen aus, bis die Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht“. Sobald die
Zuständigkeit des zuerst angerufenen Gerichts feststeht, erklärt sich das später angerufene
Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig 33.

44. Wie ich erläutert habe, bietet das Nebeneinander von Anträgen auf einstweilige Maßnahmen
einschließlich Sicherungsmaßnahmen vor einem in der Hauptsache zuständigen Gericht und
einem in der Hauptsache unzuständigen Gericht (das jedoch gemäß Art. 35 der Verordnung
Nr. 1215/2012 angerufen wird) dem Antragsteller die Möglichkeit, Verzögerungen zu vermeiden,
die gewöhnlich mit der Geltendmachung einer in einem anderen Mitgliedstaat angeordneten
Maßnahme verbunden sind.

45. Insoweit könnte es als widersinnig angesehen werden, wenn eine Partei, die bei einem zweiten
Gericht eine einstweilige Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme gerade deswegen
beantragt, um Verzögerungen durch das erste Gericht entgegenzuwirken, nach der
Rechtshängigkeitsregel, nur weil der Antrag auf eine solche Maßnahme zuerst im Staat des
Hauptverfahrens gestellt wurde, dies ausschließlich dort tun kann 34.

46. Alternativ könnte in Betracht gezogen werden, die allgemeine Rechtshängigkeitsregel (Art. 29
der Verordnung Nr. 1215/2012) bei einstweiligen Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen nicht zur Anwendung kommen zu lassen und das Problem zweier sich
widersprechender Entscheidungen, sofern diese erlassen werden, zu lösen, indem nachträglich
über ihre Anerkennung und Vollstreckung entschieden wird 35.

47. Ich bin jedoch der Meinung, dass dies nicht mit der Verordnung vereinbar wäre.

48. Der Gerichtshof hat hierzu zwar nicht Stellung bezogen, sich aber in Verbindung mit Art. 24
des Brüsseler Übereinkommens ablehnend zur „Häufung von Gerichtsständen in Bezug auf ein
und dasselbe Rechtsverhältnis …, die im Widerspruch zu den Zielen des Übereinkommens
steht“ 36 geäußert.

49. An dieser Stelle soll die Feststellung genügen, dass die Ausnahmen von der
Rechtshängigkeitsregel in der Verordnung selbst festgelegt sind und dass keine dieser
Ausnahmen der beschriebenen Situation entspricht 37. Die diesbezüglichen Vorschläge zur

33
     Der Prioritätsgrundsatz wird ausnahmsweise umgekehrt, wenn eine ausschließliche Zuständigkeit vereinbart wurde: siehe Art. 31 Abs. 2
     und 3. Im vorliegenden Fall wurde der erste Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz bei dem polnischen Gericht gestellt, dessen
     Zuständigkeit zur Beilegung ihrer Streitigkeiten die Vertragsparteien vereinbart hatten.
34
     Dieses Argument überzeugt jedoch nicht jeden. In dem im Auftrag der Kommission erstellten Report on the Application of Regulation
     Brussels I in the Member States (Study JLS/C4/2005/3) wird vorgeschlagen, aufgrund seiner besseren Kenntnis der Rechtssache dem in
     der Hauptsache zuständigen Gericht Vorrang einzuräumen, siehe Rn. 777. Im Einklang hiermit steht Art. 15 der Verordnung
     (EU) 2019/1111 des Rates vom 25. Juni 2019 über die Zuständigkeit, die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in
     Ehesachen und in Verfahren betreffend die elterliche Verantwortung und über internationale Kindesentführungen (ABl. 2019, L 178,
     S. 1), für den sich in keinem anderen Instrument ein Vorbild findet.
35
     So wird es zum Teil in der Rechtslehre vorgeschlagen: vgl. Eichel, F., „Art. 35 Brüssel Ia-VO“, in Wieczorek/Schütze, Zivilprozessordnung
     und Nebengesetze, Bd. 13/2, 4. Ausgabe, 2019, Rn. 83, mit weiteren Verweisen.
36
     Urteil St. Paul Dairy, Rn. 20.
37
     Ich weise außerdem darauf hin, dass das Argument der übermäßig langen Verfahrensdauer als Grund für die Nichtanwendung des
     (damaligen) Art. 21 des Brüsseler Übereinkommens vom Gerichtshof im Urteil vom 9. Dezember 2003, Gasser (C-116/02,
     EU:C:2003:657), abgelehnt wurde.

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Änderung zu Art. 35 wurden nicht in die Verordnung Nr. 1215/2012 aufgenommen, und dies
spricht dafür, dass im derzeitigen System die Rechtshängigkeit von Anträgen auf einstweilige
Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen keine Sonderbehandlung verdient 38.

50. Im Ergebnis bin ich der Ansicht, dass die Rechtshängigkeitsregel aus Art. 29 der Verordnung
Nr. 1215/2012 auf Anträge auf Erlass einstweiliger Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen anzuwenden ist. Daraus ergeben sich zwei Folgen: a) das zuerst
angerufene Gericht hat Vorrang, sobald es sich für zuständig erklärt hat, und b) ab diesem
Zeitpunkt hat sich das später angerufene Gericht zugunsten dieses Gerichts für unzuständig zu
erklären.

b) Unvereinbarkeit   zwischen       einstweiligen                                       Maßnahmen                  einschließlich
Sicherungsmaßnahmen verschiedener Gerichte

51. Der Gerichtshof ist in der Rechtssache Italian Leather 39 im Rahmen von Art. 27 Nr. 3 des
Übereinkommens        auf   den    Fall   von     einstweiligen    Maßnahmen     einschließlich
Sicherungsmaßnahmen eingegangen, die von zwei verschiedenen Gerichten (ein Gericht mit
Zuständigkeit nach Art. 24 des Brüsseler Übereinkommens und ein Gericht, dessen
Zuständigkeit für die Hauptsache die Parteien vereinbart hatten) angeordnet wurden.

52. In diesem Urteil stellt der Gerichtshof klar, dass

– sich die Unvereinbarkeit, die der Anerkennung einer ausländischen Entscheidung
  entgegensteht, bei den Wirkungen gerichtlicher Entscheidungen zeigen muss; sie betrifft nicht
  das Vorhandensein unterschiedlicher rechtlicher Rahmen in den Mitgliedstaaten oder die
  unterschiedliche Beurteilung derselben Voraussetzung durch die jeweiligen Gerichte 40,

– eine Unvereinbarkeit vorliegt, wenn die gleichzeitig in einem Mitgliedstaat sich auswirkenden
  Folgen der in Rede stehenden Entscheidungen das Rechtsleben in einem Staat stören 41, und

– unter diesen Umständen in Anbetracht dessen, dass der in Art. 27 Nr. 3 des Brüsseler
  Übereinkommens vorgesehene Grund für die Versagung der Anerkennung von
  Entscheidungen zwingenden Charakter hat, das Gericht des Vollstreckungsstaats verpflichtet
  ist, die Anerkennung der ausländischen Entscheidung zu versagen 42.

53. Die Identität zwischen Art. 27 Nr. 3 des Brüsseler Übereinkommens und dem derzeitigen
Art. 45 Abs. 1 Buchst. c der Verordnung Nr. 1215/2012 43 lässt die Schlussfolgerung zu, dass im
Rahmen der Verordnung die gleiche Lösung heranzuziehen ist.

38
     Siehe der Report on the Application of Regulation Brussels I in the Member States (Study JLS/C4/2005/3), zitiert in Fn. 34. Der
     Vorschlag der Kommission für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über die gerichtliche Zuständigkeit und die
     Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen, KOM(2010) 748 endgültig, wonach sich die Gerichte
     zwecks Koordinierung der Verfahren gegenseitig informieren sollten, hatte ebenso wenig Erfolg.
39
     Urteil vom 6. Juni 2002 (C-80/00, EU:C:2002:342, im Folgenden: Urteil Italian Leather).
40
     Ebd., Rn. 44.
41
     Ebd., Rn. 48.
42
     Ebd., Tenor 2.
43
     „Die Anerkennung einer Entscheidung wird … versagt, wenn … die Entscheidung mit einer Entscheidung unvereinbar ist, die zwischen
     denselben Parteien im ersuchten Mitgliedstaat ergangen ist“.

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B. Antwort auf die zweite Vorlagefrage

54. Die Zweifel des vorlegenden Gerichts, aufgrund deren es die zweite Vorlagefrage gestellt hat,
sowie das entsprechende Vorbringen der Parteien beruhen auf mehreren Punkten, auf die ich in
der folgenden Reihenfolge eingehen werde:

– Zunächst werde ich auf die Folgen der vertraglichen Gerichtsstandsvereinbarung zugunsten
  der polnischen Gerichte eingehen.

– Anschließend werde ich mich mit der realen Verknüpfung zwischen den beantragten
  Maßnahmen und dem bulgarischen Hoheitsgebiet befassen.

– Abschließend möchte ich klären, welche Bedeutung der polnischen Gerichtsentscheidung, mit
  der einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen abgelehnt wurden, vor
  dem bulgarischen Gericht zukommt.

1. Die Gerichtsstandsvereinbarung: ein Hindernis für den Erlass von Maßnahmen durch
bulgarische Gerichte?

55. Die Zuständigkeit des Gerichts in der Hauptsache zur Anordnung einstweiliger Maßnahmen
einschließlich Sicherungsmaßnahmen ist nicht davon abhängig, dass eine besondere Verbindung
zwischen dem Gegenstand der Maßnahme und dem Gerichtsstand besteht. Es genügt, wenn
Voraussetzungen vorliegen, die nach der Verordnung Nr. 1215/2012 eine Zuständigkeit in der
Hauptsache rechtfertigen.

56. Eine solche Voraussetzung besteht darin, dass die Parteien mit einer Klausel im Sinne von
Art. 25 der Verordnung Nr. 1215/2012 die ausschließliche Zuständigkeit des Gerichts vereinbart
haben.

57. Da eine solche Vereinbarung auf dem Grundsatz der Vertragsfreiheit beruht, kann
berechtigterweise in Zweifel gezogen werden, ob sich jede Gerichtsstandsvereinbarung
automatisch auch auf einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen bezieht.
Umgekehrt gilt dies jedoch auch für die Frage, ob eine Gerichtsstandsvereinbarung die in Art. 35
der Verordnung Nr. 1215/2012 vorgesehene Möglichkeit systematisch ausschließt.

58. Der Gerichtshof hat diese Problematik noch nicht geklärt. Das Urteil Italian Leather stellt
aber auf jeden Fall klar, dass die Zuständigkeit nach Art. 35 und die Zuständigkeit eines anderen,
von den Parteien für die Entscheidung in der Hauptsache gewählten Gerichts nebeneinander
bestehen können.

59. Meiner Auffassung nach können die Parteien, sofern sie sich in einer von der Verordnung
Nr. 1215/2012 erfassten Situation befinden, die internationale Zuständigkeit für den
einstweiligen Rechtsschutz vertraglich erweitern oder aufheben (oder zumindest sehe ich keinen
Grund, der dagegen spricht). Für welche Streitigkeiten die Gerichtsstandsvereinbarung gilt und
für welche nicht, ist eine Frage der Auslegung der im jeweiligen Fall geschlossenen Vereinbarung.

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60. Es wäre für die Parteien natürlich ratsam, ausdrücklich den Willen zu bekunden, dass die
Klausel auch den einstweiligen Rechtsschutz abdeckt. Ist dieser eindeutige Wille nicht
ersichtlich, könnte vermutet 44 werden, dass sich bei einer allgemein gefassten
Gerichtsstandsvereinbarung die Zuständigkeit des gewählten Gerichts auch auf den Erlass
einstweiliger Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen erstreckt.

61. Diese Lösung würde jedoch nicht für den Ausschluss der Zuständigkeit der Gerichte eines
anderen Mitgliedstaats als desjenigen des vereinbarten Gerichtsstands gelten 45: Der Verzicht auf
den durch Art. 35 der Verordnung Nr. 1215/2012 gewährten Vorteil darf nicht vermutet werden.

62. In der vorliegenden Rechtssache nahmen die Parteien in ihren Vertrag eine Klausel auf, in der
sie, da Polen der Sitz des öffentlichen Auftraggebers ist, für die Entscheidung über ihre
Rechtsstreitigkeiten allgemein die Zuständigkeit der polnischen Gerichte vereinbarten 46.

63. Das vorlegende Gericht zweifelt nicht an der ausschließlichen Zuständigkeit der polnischen
Gerichte in der Hauptsache. Es fragt sich jedoch, ob diese auch im Bereich des einstweiligen
Rechtsschutzes ausschließlich zuständig sind.

64. Die polnische Regierung und die beauftragten Gesellschaften sind sich in ihren Erklärungen
hinsichtlich des Umfangs der vertraglichen Gerichtsstandsvereinbarung nicht einig 47. Ich stimme
mit der Kommission darin überein, dass die Entscheidung über die Frage, ob diese Vereinbarung
einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen beinhaltet und andere
Zuständigkeiten ausschließt, Sache des vorlegenden Gerichts ist 48.

65. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass zum Schutz der Vorhersehbarkeit für die Parteien „[e]ine
Gerichtsstandsvereinbarung … nur eine bereits entstandene Rechtsstreitigkeit oder eine künftige
aus einem bestimmten Rechtsverhältnis entspringende Rechtsstreitigkeit betreffen [kann], was die
Geltung einer Gerichtsstandsvereinbarung auf die Rechtsstreitigkeiten einschränkt, die ihren
Ursprung in dem Rechtsverhältnis haben, anlässlich dessen die Vereinbarung geschlossen wurde
…“ 49.

66. Die Gerichtsstandsvereinbarung erstreckt sich somit nicht auf einen Rechtsstreit, der „für das
geschädigte Unternehmen im Zeitpunkt seiner Zustimmung zu der genannten Klausel nicht
hinreichend vorhersehbar war“ 50.

67. Unbeschadet der Tatsache, dass die Entscheidung, wie bereits erwähnt, Sache des
vorlegenden Gerichts ist, vertrete ich den Standpunkt, dass die Parteien der im vorliegenden Fall
vereinbarten Klausel vernünftigerweise vorhersehen konnten, dass eine der Parteien gegebenenfalls
eine einstweilige Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme beantragen würde, um

44
     Gegen diese Vermutung wäre logischerweise der Gegenbeweis möglich.
45
     Hier sind die Folgen zu beachten: Für jede Maßnahme, die im Mitgliedstaat des gewählten Gerichtsstands nicht vollstreckt werden
     könnte, wäre eine Anerkennung und Vollstreckung erforderlich. Vgl. hierzu Fn. 28 der vorliegenden Schlussanträge.
46
     Vgl. Nr. 16 der vorliegenden Schlussanträge. Ich gehe davon aus, dass die Staatskasse Polens die Zuständigkeit der bulgarischen Gerichte
     auf der Grundlage dieser Klausel angefochten hat.
47
     Rn. 7 ff., insbesondere Rn. 11, der Erklärungen der Republik Polen sowie Rn. 28 und 29 der Erklärungen von TOTO – Costruzioni
     Generali und Vianini Lavori.
48
     Rn. 19 der schriftlichen Erklärungen der Kommission. Siehe u. a. Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide (C-352/13,
     EU:C:2015:335, Rn. 67).
49
     Vgl. entsprechend Urteil vom 21. Mai 2015, CDC Hydrogen Peroxide (C-352/13, EU:C:2015:335, Rn. 68).
50
     Ebd., Rn. 70.

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sich gegen die Inanspruchnahme der Garantien zu wehren. Im Rahmen von öffentlichen
Aufträgen kommt es häufig zu Streitigkeiten über die Inanspruchnahme von Garantien durch die
öffentlichen Auftraggeber.

2. Reale Verknüpfung

68. Sollte die Ansicht vertreten werden, dass die Gerichtsstandsvereinbarung für den
einstweiligen Rechtsschutz nicht gilt, und damit eine ausschließliche Zuständigkeit der
polnischen Gerichte verneint werden, hätte dies jedoch nicht unmittelbar zur Folge, dass nach
Art. 35 der Verordnung Nr. 1215/2012 die bulgarischen Gerichte zuständig wären.

69. Insoweit würde sich die Zuständigkeit der bulgarischen Gerichte in erster Linie nach den
einschlägigen nationalen Vorschriften richten. Außerdem müsste zwischen dem Gegenstand der
einstweiligen Maßnahme und der gebietsbezogenen Zuständigkeit des Mitgliedstaats (Bulgarien)
eine reale Verknüpfung existieren.

70. Aus zwei Gründen wurden in der vorliegenden Rechtssache Zweifel an der Existenz einer
realen Verknüpfung geäußert:

– Bei den im bulgarischen Hoheitsgebiet befindlichen Vermögensgegenständen, an denen die
  Maßnahme vollstreckt werden soll, handelt es sich um bewegliche Gegenstände,

– und die tatsächliche Zahlung aus der angefochtenen Garantie erfolgt an die polnische
  Staatskasse, auf polnischem Hoheitsgebiet und wegen Mängeln bei der Ausführung eines in
  Polen geschlossenen und ausgeführten Vertrags über Bauarbeiten 51.

71. Die Voraussetzung der realen Verknüpfung steht in direktem Zusammenhang mit der
Existenzberechtigung von Art. 35 der Verordnung Nr. 1215/2012, d. h. mit dem Umstand, dass
die Maßnahme im selben Mitgliedstaat angeordnet und vollstreckt werden soll. Aus diesem
Grund bezieht sich die reale Verknüpfung tatsächlich auf die Vermögenswerte, für die
einstweilige Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen angeordnet werden.

72. Der Erfüllungsort der Garantie ist hingegen nicht von Bedeutung.

73. In der vorliegenden Rechtssache betrafen die einstweiligen Maßnahmen einschließlich
Sicherungsmaßnahmen, wie ich bereits dargelegt habe, die beantragte Feststellung, dass die
Staatskasse Polens keinen Anspruch auf Zahlung der garantierten Beträge habe. Im Rahmen der
Vollstreckung dieser Maßnahmen ordnete das bulgarische Berufungsgericht die Arrestpfändung
der    Forderung      des   polnischen    Auftraggebers    gegenüber     der    bulgarischen
Versicherungsgesellschaft Euroins AD an.

74. Die reale Verknüpfung zwischen den bulgarischen Gerichten und den einstweiligen
Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen hängt letztlich davon ab, ob die erwähnte
Forderung als in Bulgarien belegen gilt 52, was das vorlegende Gericht zu prüfen hat.

51
     Erklärungen der Republik Polen, Rn. 36.
52
     Als immaterieller Vermögenswert verfügt die Forderung über keine physische Belegenheit. Ihre Belegenheit kann anhand des Kontos, auf
     dem sie ausgewiesen ist, oder durch eine juristische Fiktion festgestellt werden.

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SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN RANTOS – RECHTSSACHE C-581/20
                                                                    TOTO

3. Die Entscheidung des polnischen Gerichts als Hindernis für den Erlass von Maßnahmen
durch die bulgarischen Gerichte

75. Hat sich das bulgarische Gericht im Rahmen des Antrags auf Anordnung einer einstweiligen
Maßnahme einschließlich einer Sicherungsmaßnahme für unzuständig zu erklären, wenn ein
identischer Antrag 53 bei dem in der Hauptsache zuständigen (polnischen) Gericht gestellt wurde
und dieses Gericht die Maßnahme abgelehnt hat?

76. Je nachdem, ob die Entscheidung des polnischen Gerichts gegen die Anordnung von
einstweiligen Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen formell rechtskräftig ist oder
nicht, kommen zwei verschiedene Antworten in Betracht. Da die vorgelegten Informationen
keine eindeutigen Rückschlüsse auf die Rechtskraft der Entscheidung zulassen, werde ich auf
beide Möglichkeiten eingehen.

a) Formell rechtskräftige Entscheidung: die eventuelle Anerkennung

77. Nach dem System der Verordnung Nr. 1215/2012 kann ein in einem Mitgliedstaat in der
Hauptsache oder im einstweiligen Rechtsschutz eingeleitetes Verfahren beendet werden, indem
auf dem geeigneten Verfahrensweg die Rechtskraft 54 einer in einem anderen Mitgliedstaat in
derselben Sache ergangenen Entscheidung geltend gemacht wird.

78. Den Erklärungen der Parteien entnehme ich, dass die Rechtskraft 55 der polnischen
Entscheidung streitig und vom vorlegenden Gericht zu klären ist. Anstatt allgemein von
Rechtskraft (ein Begriff, der auf den einstweiligen Rechtsschutz bezogen schwierig ist) spreche
ich lieber von formeller Rechtskraft, d. h. von der Endgültigkeit und Unanfechtbarkeit der
gerichtlichen Entscheidung.

79. Wird die einstweilige Entscheidung als in Polen rechtskräftig bestätigt, ist sie auch in
Bulgarien wirksam und kann somit (solange der Sachverhalt derselbe ist) 56 den Erlass einer
anderen Maßnahme in Bezug auf dieselben Parteien und denselben Anspruch verhindern.

80. Der Varhoven kasatsionen sad (Oberstes Kassationsgericht, Bulgarien) fragt auch nach dem
Zeitpunkt, zu dem er die rechtlichen Schlüsse aus der Existenz einer ausländischen Entscheidung
ziehen muss. Insbesondere hat er Zweifel, ob er sich für unzuständig erklären muss, sobald der
Nachweis einer solchen Entscheidung erbracht wird.

81. Dies ist grundsätzlich zu bejahen. Nach Art. 36 Abs. 1 der Verordnung Nr. 1215/2012 ist für
die Anerkennung der Entscheidung eines Mitgliedstaats in einem anderen Mitgliedstaat kein
Verfahren erforderlich. Wer eine Anerkennung geltend macht, muss jedoch die formalen
Voraussetzungen aus Art. 37 erfüllen und eine beweiskräftige Ausfertigung der Entscheidung
und eine nach Art. 53 ausgestellte Bescheinigung vorlegen, die nach dem Wortlaut der
53
     Das vorlegende Gericht zweifelt nicht daran, dass es sich um identische Anträge handelt, und nennt auch keine zwischenzeitliche
     Änderung der Umstände, und daher werde ich auf diesen Punkt nicht näher eingehen.
54
     Zur Anerkennung einer ausländischen Entscheidung, die nicht formell rechtskräftig ist, siehe Nr. 85 der vorliegenden Schlussanträge.
55
     Auf die Rechtskraft wird sowohl im Vorlagebeschluss als auch in den Erklärungen der Parteien Bezug genommen.
56
     Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass die Identität der Parteien und des Anspruchs gegeben sein muss: Ist dies nicht der Fall
     (z. B. weil Ereignisse eingetreten sind, die die ursprüngliche Situation erheblich verändern), wäre ein neuer Antrag auf einstweilige
     Maßnahmen einschließlich Sicherungsmaßnahmen, und zwar auch vor einem ausländischen Gericht, das in der Hauptsache nicht
     zuständig ist, möglich. Es liegt in der Natur der Sache, dass solche Maßnahmen abhängig von den Umständen, die dem Gericht zum
     konkreten Zeitpunkt nachgewiesen werden, angeordnet oder abgelehnt werden. Ändern sich diese Umstände, so schließt eine
     anfängliche Ablehnung eine spätere Anordnung nicht aus.

ECLI:EU:C:2021:726                                                                                                                     15
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Verordnung unerlässlich ist 57. Das Gericht oder die Behörde, bei dem oder der die ausländische
Entscheidung geltend gemacht wird, kann nach Art. 37 Abs. 2 außerdem eine Übersetzung oder
eine Transliteration anfordern.

82. Es ist Sache der durch die Anerkennung der bereits ergangenen Entscheidung
beeinträchtigten Partei, sofern sie dies für geboten erachtet, aus einem der in Art. 45 genannten
Gründe die Versagung der Anerkennung zu beantragen. Ein solcher Antrag kann gemäß Art. 36
Abs. 3 der Verordnung im Rahmen eines Zwischenstreits gestellt werden.

83. Art. 45 Abs. 1 Buchst. c kann insoweit nicht geltend gemacht werden: Im vorliegenden Fall
existiert in Bulgarien noch keine Maßnahme mit Wirkungen, die denen der polnischen
Entscheidung widersprechen würden, und somit kann dieses Argument nicht gegen eine
Anerkennung eingewendet werden.

b) Nicht formell rechtskräftige Entscheidung: die Rechtshängigkeitsregel

84. Sollte gegen die polnische Entscheidung in Polen ein Rechtsmittel eingelegt werden können,
ist im Sinne der Verordnung Nr. 1215/2012 davon auszugehen, dass das Verfahren des
einstweiligen Rechtsschutzes in Polen weiterhin anhängig ist.

85. Somit kann der Betroffene zwar einen Antrag auf Anerkennung der Maßnahme in Bulgarien
stellen 58. Da gegen die Maßnahme noch ein Rechtsbehelf eingelegt werden kann, könnte dieser
Antrag jedoch als verfrüht angesehen werden. Nach der Verordnung kann das ersuchte Gericht
die Anerkennung einer ausländischen Entscheidung aussetzen, wenn die Entscheidung im
Ursprungsmitgliedstaat angefochten wird 59.

86. Da in Bulgarien ein identischer und später eingereichter Antrag auf einstweiligen
Rechtsschutz anhängig ist, erscheint mir die Rechtshängigkeitsregel, die das später angerufene
Gericht verpflichtet, das Verfahren von Amts wegen auszusetzen, angemessener.

87. Mit der Bescheinigung der polnischen Entscheidung werden die zentralen Elemente aus
Art. 29 der Verordnung Nr. 1215/2012 nachgewiesen (bzw. können nachgewiesen werden, wenn
sie die in den geltenden Rechtsvorschriften 60 festgelegten Bedingungen erfüllt):

– Anhand der Bescheinigung kann die Identität der Parteien und des Anspruchs in beiden
  Verfahren überprüft werden.

– Sie enthält das Datum, zu dem bei zuerst angerufenen Gericht der Antrag gestellt wurde.

57
     Die Vorlage scheint, anders als in der vorhergehenden Verordnung, Pflicht zu sein: Nach Art. 55 der Verordnung Nr. 44/2001 bestand
     die Möglichkeit, auf die Bescheinigung aus Anhang V der Verordnung zu verzichten oder sie durch gleichwertige Urkunden zu ersetzen.
     Fraglich ist, ob die im gegenwärtigen Art. 42 geforderten Angaben enthalten sein müssen, da sie dem Wortlaut nach nur für die
     Vollstreckung der Maßnahme erforderlich sind. Der 33. Erwägungsgrund bezieht sich jedoch auf eine Einschränkung des freien
     Verkehrs auch für die Anerkennung, und die Definition des Begriffs „Entscheidung“ in Art. 2 gilt für das gesamte Kapitel III. In der
     vorliegenden Rechtssache kann diese Frage offenbleiben.
58
     Nach der Verordnung Nr. 1215/2012 ist die Anerkennung oder Vollstreckung ausländischer Entscheidungen nicht von deren
     Rechtskraft abhängig.
59
     Art. 38 Buchst. a.
60
     Die nationalen Rechtsvorschriften des ersuchten Mitgliedstaats oder die in einem Übereinkommen festgelegten Rechtsvorschriften. Die
     Verordnung Nr. 1215/2012 enthält hierzu keine Regelung.

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