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Das Strafrecht in der Krise Eine Untersuchung der Strafbestimmungen in der COVID-19-Verordnung 2 und welche Lehren daraus zu ziehen sind Gian Ege / David Eschle *% Der Bundesrat hat im Rahmen der Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19) Strafvorschriften auf Verordnungsebene erlassen und diese als Reaktion auf die sich rasch ändernden Umstände häufig angepasst. Das wirft die Fragen auf, ob der Bundesrat überhaupt Strafvorschriften erlassen darf und welchen Anforde- rungen diese genügen müssen. Eine Analyse der Strafbestimmungen in der COVID- 19-Verordnung 2 zeigt, dass sich diese auf eine – wenn auch diskussionswürdige – Grundlage stützen können. Die konkrete Ausgestaltung verletzt allerdings teilweise das Verhältnismässigkeitsprinzip und das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot. Aus- serdem vermag die Notverordnungskompetenz des Bundesrates die Anwendung des Ordnungsbussenverfahrens auf gewisse Übertretungen nicht zu decken. Insge- samt ist es angezeigt, dass der bundesrätliche Umgang mit den Strafvorschriften überdacht wird, um für zukünftige Krisensituationen die richtigen Schlüsse zu zie- hen. I. Einleitung............................................................................................................ 280 II. Entwicklung ......................................................................................................... 281 III. Darf der Bundesrat Strafbestimmungen erlassen? ............................................282 IV. Analyse der Strafbestimmungen ......................................................................... 287 1. Vergehen (Art. 10f Abs. 1) ............................................................................... 287 2. Übertretungen (Art. 10f Abs. 2) ...................................................................... 291 V. Ausblick................................................................................................................294 Zitiervorschlag: Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise, Eine Untersuchung der Strafbestimmungen in der COVID-19-Verordnung 2 und welche Lehren daraus zu ziehen sind, in: sui-generis 2020, S. 279 URL: sui-generis.ch/137 DOI: https://doi.org/10.21257/sg.137 ____________________________ * Dr. iur. Gian Ege (gian.ege@rwi.uzh.ch), Oberassistent für Strafrecht und Strafprozessrecht, Uni- versität Zürich. David Eschle, MLaw (david.eschle@rwi.uzh.ch), wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht, Wirtschafts- und Verwaltungsstrafrechts von Prof. Dr. iur. Marc Thommen, Universität Zürich. Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise I. Einleitung achtung erhielt dabei der Umstand, dass 1 der Bundesrat in seinen Verordnungen Das Jahr 2020 wird als Jahr der Pande- auch Strafvorschriften erliess.7 Eine Un- mie in Erinnerung bleiben. Zu Beginn tersuchung dieser Normen drängt sich des Jahres breitete sich ein neuartiges jedoch auf, da einerseits ungeklärt ist, ob Coronavirus (SARS-CoV-2) und die der Bundesrat diese Bestimmungen dadurch verursachte Lungenkrankheit überhaupt so hätte erlassen dürfen, und (Covid-19) weltweit rasant aus und wur- die Straftatbestände andererseits selbst de von der World Health Organization grossen Klärungsbedarf aufweisen. (WHO) am 11. März 2020 zur Pandemie erklärt.1 Auch in der Schweiz verbreitete 2 Dieser Beitrag zeichnet den Erlass sowie sich das Virus ab Ende Februar 2020 die häufigen und raschen Änderungen stark.2 Als Reaktion rief der Bundesrat der Strafvorschriften nach (II.). An- am 28. Februar 2020 die besondere Lage schliessend wird beleuchtet, ob der Bun- im Sinne des Epidemiengesetzes (EpG)3 desrat überhaupt Strafvorschriften erlas- aus.4 Diese Einschätzung wurde am sen darf und welchen Anforderungen 16. März 2020 revidiert und die Situation diese genügen müssen (III.). Die Strafbe- zur ausserordentlichen Lage heraufge- stimmungen der Verordnungen werden stuft.5 Zur Eindämmung der Virusver- sodann ausführlich auf ihre Rechtmäs- breitung sowie zur Abfederung ihrer sigkeit hin untersucht (IV.). Aufgrund Auswirkungen hat der Bundesrat zahlrei- der daraus gewonnenen Erkenntnisse che Verordnungen erlassen. Die rasch wird abschliessend aufgezeigt, welche ändernden Umstände unterwarfen diese Lehren für eine ähnliche Situation in der Regelungswerke einem steten Wandel, Zukunft zu ziehen sind (V.). was zu verschiedenen rechtlichen Un- klarheiten führte. Mit deren wissen- schaftlichen Aufarbeitung beschäftigt sich mittlerweile eine Vielzahl von Publi- kationen.6 Vergleichsweise geringe Be- ____________________________ 1 WHO, WHO Director-General's opening remarks at the media briefing on COVID-19, 11. März 2020. 2 Schweizerische Eidgenossenschaft, COVID-19 in der Schweiz. 3 Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragba- che Situationen verlangen nach ausserordentli- rer Krankheiten des Menschen vom chen Lösungen.», ZBl 121/2020, S. 268 ff.; An- 28. September 2012 (Epidemiengesetz, EpG; dreas Stöckli, Regierung und Parlament in Pan- SR 818.101). demiezeiten, ZSR 139/2020, Sondernummer 4 Medienmitteilung des Bundesrats vom «Pandemie und Recht», S. 9 ff.; Emanuel Georg 28. Februar 2020 (Coronavirus: Bundesrat ver- Tschannen, Das Corona-Massnahmenpaket des bietet grosse Veranstaltungen). Bundesrats, Jusletter vom 14. April 2020; Dami- 5 Medienmitteilung des Bundesrats vom 16. März an Wyss, Sicherheit und Notrecht, Jusletter vom 2020 (Coronavirus: Bundesrat erklärt die «aus- 25. Mai 2020; Andreas Zünd/Christoph Errass, serordentliche Lage» und verschärft die Mass- Pandemie – Justiz – Menschenrechte, ZSR nahmen). 139/2020, Sondernummer «Pandemie und 6 Z.B. Giovanni Biaggini, «Notrecht» in Zeiten des Recht», S. 69 ff. Coronavirus, ZBl 5/2020, S. 239 ff.; Florian 7 Vgl. allerdings Annika Burrichter/Moritz Vischer, Brunner/Martin Wilhelm/Felix Uhlmann, Das Der Vergehenstatbestand nach Art. 10f Abs. 1 der Coronavirus und die Grenzen des Notrechts, AJP COVID-19-Verordnung 2, forumpoenale online 2020, S. 685 ff.; Andreas Kley, «Ausserordentli- first 2020. sui-generis 2020, S. 280
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise II. Entwicklung und private Veranstaltungen wurden 3 gänzlich verboten und mittels als Verge- Mit der am 28. Februar 2020 in Kraft hen ausgestalteter, besonderer Strafvor- getretenen Verordnung über Massnah- schrift unter Strafe gestellt.13 Mit Inkraft- men zur Bekämpfung des Coronavirus8 treten am 21. März 2020 wurde ein Ver- verbot der Bundesrat Grossveranstaltun- bot von öffentlichen Menschenansamm- gen.9 In dieser Verordnung waren keine lungen von mehr als 5 Personen in die Strafvorschriften vorgesehen. Da sich die Verordnung aufgenommen.14 Der Massnahme auf Art. 6 i.V.m. Art. 40 EpG Verstoss dagegen wurde als Übertretung stützte, hätte eine Verletzung des Veran- eingestuft und gleichzeitig wurde für die staltungsverbots eine Bestrafung nach Ahndung das Ordnungsbussenverfahren Art. 83 lit. j EpG nach sich ziehen kön- vorgesehen.15 Als weitere Übertretungen nen.10 Am 13. März 2020 wurde diese wurden ab dem 26. März 2020 die nicht Verordnung durch die Verordnung 2 bewilligte Ausfuhr von Schutzausrüs- über Massnahmen zur Bekämpfung des tung16 – per 3. April 2020 erweitert auf Coronavirus (COVID-19)11 abgelöst. Ver- wichtige medizinische Güter17 –, ab dem anstaltungen ab 100 Teilnehmenden 2. April 2020 der Verstoss gegen die Ein- wurden verboten.12 Gesonderte Strafvor- schränkungen des grenzüberschreiten- schriften waren nicht vorgesehen, eine den Personenverkehrs18 sowie ab dem Strafbarkeit konnte sich weiterhin aus 17. April 2020 der Verstoss gegen das dem EpG ergeben. Verbot des Einkaufstourismus19 in die 4 Verordnung aufgenommen. Letztere zwei Mit der Deklarierung der ausserordentli- wurden ebenfalls dem Ordnungsbussen- chen Lage wurde die Verordnung am verfahren unterstellt.20 16. März 2020 angepasst. Öffentliche ____________________________ 5 Ab dem 27. April 2020 begann der Bun- 8 Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19) vom 28. Februar desrat, die Massnahmen schrittweise zu 2020 (SR 818.101.24). lockern21 und gewisse Veranstaltungen 9 Art. 2 Verordnung über Massnahmen zur Be- wurden wieder zugelassen.22 Per 30. Mai kämpfung des Coronavirus. 10 Benjamin Märkli, Die «Corona-Verordnung» des 2020 galt das Versammlungsverbot nur Bundesrats vom 28. Februar 2020, Jusletter vom noch für Ansammlungen von mehr als 9. März 2020, Rz. 23; vgl. auch Botschaft vom 3. Dezember 2010 zur Revision des Bundesgeset- ____________________________ zes über die Bekämpfung übertragbarer Krank- 13 Art. 6 und Art. 10d (16. März 2020, AS 2020 783). heiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) 14 Art. 7c (20. März 2020, AS 2020 863). (BBl 2011 311), S. 363. 15 Art. 10d Abs. 3 (20. März 2020, AS 2020 863). 11 Verordnung 2 über Massnahmen zur Bekämp- 16 Art. 10f Abs. 2 lit. b (25. März 2020, fung des Coronavirus (COVID-19) vom 13. März AS 2020 1065). 2020 (COVID-19-Verordnung 2; SR 818.101.24). 17 Art. 10f Abs. 2 lit. b (3. April 2020, Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf AS 2020 1155). die Verordnung nach den Änderungen vom 18 Art. 10f Abs. 2 lit. c (1. April 2020, AS 2020 1137). 27. Mai 2020 (AS 2020 1815) mit Stand am 19 Art. 10f Abs. 2 lit. d, Abs. 4 und 5 (16. April 2020, 6. Juni 2020. Wird auf eine ältere Version abge- AS 2020 1245). stellt, ist in Klammern das Datum der letzten Än- 20 Art. 10f Abs. 4 und 5 (16. April 2020, derungen sowie die Fundstelle in der AS angege- AS 2020 1245). ben. Ausserdem wird auf die genaue Bezeichnung 21 Vgl. Art. 6 Abs. 2 und 3 (16. April 2020, der Verordnung verzichtet. Artikel, die ohne nä- AS 2020 1249) sowie Art. 6 Abs. 2 und 3 here Angaben genannt werden, sind immer sol- (29. April 2020, AS 2020 1401 und 8. Mai 2020, che aus der COVID-19-Verordnung 2. AS 2020 1499). 12 Art. 6 (13. März 2020, AS 2020 773). 22 Art. 6 Abs. 3 lit. k (20. Mai 2020, AS 2020 1751). sui-generis 2020, S. 281
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise 30 Personen.23 Damit einhergehend fie- oder ob dies der Bundesversammlung als len die entsprechenden Handlungen aus Gesetzgeberin vorbehalten gewesen wäre. dem Anwendungsbereich der Strafvor- schriften. Mit Inkraftsetzung am 6. Juni 8 Bei Übertretungen ist Art. 1 StGB29 Ge- 2020 wurden die Strafbestimmungen der nüge getan, wenn die Busse in Verord- Lockerung angepasst und inhaltlich prä- nungen der Exekutive, die sich im Rah- zisiert.24 Das Veranstaltungsverbot, das men von Verfassung und Gesetz halten, Versammlungsverbot und die entspre- angedroht ist.30 Für Freiheitsstrafen ver- chenden Strafbestimmungen gelten vo- langen Bundesgericht und Lehre demge- raussichtlich bis zum 5. Juli 2020.25 genüber eine klare Grundlage in einem formellen Gesetz (so explizit Art. 31 6 In praktisch allen zahlreich neben der Abs. 1 BV31).32 Teilweise wird ein Gesetz COVID-19-Verordnung 2 im Zusammen- im formellen Sinn auch bei Geldstrafen hang mit der Corona-Pandemie erlasse- gefordert.33 Notverordnungen, die der nen Verordnungen26 sind keine Strafvor- Bundesrat unmittelbar gestützt auf die schriften enthalten. Einzige Ausnahme Verfassung erlässt, stellen eine Ausnah- bildet Art. 23 der COVID-19-Solidar- me dar: Hier können Verstösse unter bürgschaftsverordnung27.28 Umständen auch mit Freiheitsstrafe sanktioniert werden.34 So beurteilte das Bundesgericht die Androhung von Frei- III. Darf der Bundesrat heitsstrafen bei Missachtung des Waffen- Strafbestimmungen erlassen? tragverbots für jugoslawische Staatsan- 7 Zunächst stellt sich die Frage, ob der gehörige, vom Bundesrat direkt auf Bundesrat überhaupt dazu ermächtigt Art. 102 Ziff. 8–10 aBV (heute Art. 184 war, in der COVID-19-Verordnung 2 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV) gestützt, Strafbestimmungen zu erlassen und ins- als verfassungskonform.35 Der Bundesrat besondere Freiheitsstrafen anzuordnen, könne in Notverordnungen Gefängnis- ____________________________ ____________________________ 23 Art. 7c Abs. 1 COVID-19-Verordnung 2. 29 Schweizerisches Strafgesetzbuch vom 21. Dezem- 24 Art. 10f COVID-19-Verordnung 2. ber 1937 (StGB; SR 311.0). 25 Art. 12 Abs. 12 COVID-19-Verordnung 2. 30 BGE 96 I 24 E. 3a; vgl. EJPD, Gesetzgebungsleit- 26 Siehe die chronologische Darstellung (Stand: faden, 4. Aufl., Bern 2019, Rz. 891. 29. April 2020) bei Brunner/Wilhelm/Uhlmann 31 Bundesverfassung der Schweizerischen Eidge- (Fn. 6), S. 687; vgl. auch Tschannen (Fn. 6), nossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101). Rz. 7 ff. 32 BGE 124 IV 23 E. 1; BGE 112 Ia 107 E. 3b; Wolf- 27 Verordnung zur Gewährung von Krediten und gang Wohlers, in: Wohlers/Godenzi/Schlegel, Solidarbürgschaften in Folge des Coronavirus Schweizerisches Strafgesetzbuch, Handkommen- vom 25. März 2020 (SR 951.261). tar, 4. Aufl., Bern 2020, Art. 1 N 3 (zit. HK StGB- 28 Mit Busse bis zu 100 000 Franken wird bestraft, BearbeiterIn). «wer vorsätzlich mit falschen Angaben einen 33 Peter Popp/Anne Berkemeier, in: Nig- Kredit nach dieser Verordnung erwirkt oder die gli/Wiprächtiger (Hrsg.), Strafrecht, Basler Kreditmittel in Abweichung von Artikel 6 Ab- Kommentar, 4. Aufl., Basel 2019, Art. 1 N 28 (zit. satz 3 verwendet». Dieser Tatbestand wird vor- BSK StGB-BearbeiterIn). liegend nicht näher behandelt, s. dazu Benjamin 34 Gilbert Kolly, Selbständige Verordnungen als Märkli/Moritz Gut, Missbrauch von Krediten Grundlage für Freiheitsstrafen, SJZ 89/1993, nach Covid-19-Solidarbürgschaftsverordnung, S. 352 ff., 354; Stefan Trechsel/Marc Jean- AJP 6/2020, S. 722 ff. sowie Edy Salmina, Le Richard-dit-Bressel, in: Trechsel/Pieth (Hrsg.), disposizioni penali previste dall’Ordinanza feder- Schweizerisches Strafgesetzbuch, Praxiskommen- ale sulle fideuissioni solidali Covid-19, Novità fis- tar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2018, Art. 1 N 13. cali 3/2020, S. 103 ff. 35 BGE 123 IV 29. sui-generis 2020, S. 282
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise strafen (heute Freiheitsstrafen bis zu drei Der Bundesrat geht von Letzterem aus: Jahren) androhen, wenn diese dem Un- Im Ingress der Verordnung figurieren wert, der in der Missachtung der bundes- Art. 184 Abs. 3 und Art. 185 Abs. 3 BV rätlichen Anordnungen und Verbote lie- nach einem dreitägigen Intermezzo im ge, angemessen sind.36 Im Ergebnis stellt März 2020 nicht mehr als Ermächti- die Rechtsprechung zum Waffentragver- gungsgrundlagen.42 Die COVID-19- bot für jugoslawische Staatsangehörige Verordnung 2 verweist seit der Ausru- an Strafnormen die gleichen Anforde- fung der ausserordentlichen Lage am rungen wie an andere Bestimmungen des 16. März – als einzige der Corona- konstitutionellen «Notrechts»:37 Liegt Notverordnungen – auf Art. 7 EpG.43 eine Situation gemäss Art. 185 Abs. 3 BV Dieser ermächtigt den Bundesrat in einer vor,38 können Strafbestimmungen erlas- ausserordentlichen Lage, für das ganze sen werden, wenn dies dringend not- Land oder einzelne Landesteile die wendig ist, die Strafe zur Durchsetzung «notwendigen Massnahmen» anzuord- der Verordnung unbedingt erforderlich nen.44 Den Ermächtigungsgrundlagen, und im Vergleich zum Tatunrecht ver- die im Ingress von bundesrechtlichen Er- hältnismässig ist.39 Bei der Androhung lassen angegeben werden, kommt jedoch von freiheitsentziehenden Sanktionen in keine normative Kraft zu.45 Der Bundes- Notverordnungen muss indessen grosse rat kann mit anderen Worten auch kon- Zurückhaltung geübt werden.40 stitutionelles Notrecht erlassen, ohne dies explizit zu sagen. Aus den beiden 9 Wie steht es also um die Bestimmungen möglichen Grundlagen – Art. 185 Abs. 3 in Art. 10f? Nicht einheitlich beantwortet wird bislang die für die Ermächtigung wohl auch Biaggini (Fn. 6), S. 262 f.; a.M. Brun- wichtige Frage, ob sich die bundesrät- ner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), S. 696 f.; Bur- lichen Massnahmen und Anordnungen in richter/Vischer (Fn. 7); differenzierend in Bezug auf die Strafbestimmungen Zünd/Errass (Fn. 6), der Verordnung (und damit auch die S. 89. Strafnormen) materiell auf die Verfas- 42 Vom 13. bis 16. März 2020, vgl. Ingress der sung und/oder auf das EpG stützen.41 COVID-19-Verordnung 2 (von 13. März 2020, AS 2020 773, bis 16. März 2020, AS 2020 783). ____________________________ 43 Mit der Änderung vom 18. März 2020 36 BGE 123 IV 29 E. 4c. (AS 2020 841) wurden zwei weitere Rechtsgrund- 37 Thomas Gächter, Selbstständiges Verordnungs- lagen in den Ingress der Verordnung aufgenom- recht des Bundesrates und Gesetzesvorbehalt für men: Anhang I Art. 5 des Abkommens vom zwi- Freiheitsstrafen, in: Ackermann (Hrsg.), Straf- schen der Schweizerischen Eidgenossenschaft ei- recht als Herausforderung, Zürich 1999, S. 231 ff., nerseits und der Europäischen Gemeinschaft und 240 f.; Stöckli (Fn. 6), S. 25. ihren Mitgliedstaaten andererseits über die Frei- 38 Eine schwere Störung der öffentlichen Ordnung zügigkeit 21. Juni 1999 (FZA; SR 0.142.112.681) oder der inneren bzw. äusseren Sicherheit muss sowie Art. 28 der EU-Verordnung 2016/399 des eingetreten sein oder unmittelbar drohen. Aus- Europäischen Parlaments und des Rates vom serdem sind die Verordnungen zu befristen. 9. März 2016 über einen Gemeinschaftskodex für 39 Gächter (Fn. 37), S. 241; David Rechsteiner, das Überschreiten der Grenzen durch Personen Recht in besonderen und ausserordentlichen La- (Schengener Grenzkodex); beide wirken sich gen, Diss. St. Gallen, Zürich/St. Gallen 2016, nicht auf die innerstaatliche Legitimation des S. 175. Bundesrats aus. 40 Gächter (Fn. 37), S. 241; vgl. auch Guido Jenny, 44 Damit ist auch der Erlass von Verordnungen ge- Die strafrechtliche Rechtsprechung des Bundes- meint, anders könnte der Bundesrat keine gene- gerichts im Jahre 1997, ZBJV 134/1998, rell-abstrakten Anordnungen für das ganze Land S. 606 ff., 609. treffen; vgl. Stöckli (Fn. 6), S. 20. 41 Stöckli (Fn. 6), S. 21 f., geht davon aus, dass sich 45 BGE 144 II 454 E. 4.3.1; Rechsteiner (Fn. 39), die Primärmassnahmen auf Art. 7 EpG stützen, Rz. 511; Zünd/Errass (Fn. 6), S. 88. sui-generis 2020, S. 283
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise BV und Art. 7 EpG – resultieren für die keine Pflicht, Massnahmen zu befristen Strafnormen der Verordnung zwei Sze- oder in ordentliches Recht zu überfüh- narien. ren.52 Auch der Rechtsschutz wäre bei einer Abstützung auf Art. 7 EpG wegen 10 Zunächst ist denkbar, dass sich die Straf- Art. 190 BV im Vergleich zum verfas- bestimmungen direkt auf die Notverord- sungsunmittelbaren Notrecht einge- nungskompetenz nach Art. 185 Abs. 3 BV schränkt.53 Vor diesem Hintergrund stützen. Für diese Auslegung spricht in scheint es wenig plausibel und mit dem erster Linie die Botschaft zum noch jun- Notrechtsinstitut der BV schwer verein- gen EpG, das erst Anfang 2016 in Kraft bar, dass die Bundesversammlung der trat. Ihr zufolge ist Art. 7 EpG nur ein Regierung mit dem offen formulierten deklaratorischer Verweis auf Art. 185 Art. 7 EpG eigenständige – also neben Abs. 3 BV und verankert das konstitutio- den vom Verfassungsgeber vorgesehenen nelle Notrecht auf Gesetzesstufe.46 Art. 7 – (Not-)Rechtsetzungsbefugnisse verlei- EpG schafft somit keine neuen Kompe- hen wollte.54 tenzen, sondern wiederholt lediglich die- jenigen der Verfassungsbestimmung.47 11 Handelt es sich bei Art. 10f um eine Auch eine verfassungskonforme Ausle- «echte» Notverordnungsbestimmung gung führt zu diesem Ergebnis. Die Ent- i.S.v. Art. 185 Abs. 3 BV, hätte diese den scheidung, welche Rechtsetzungsbefug- allgemeinen Verfassungsprinzipien zu nisse dem Bundesrat in Zeiten der Not genügen, also insbesondere dem Rechts- zukommen, wurde im Grundsatz durch gleichheitsgebot und dem Verhältnis- den Verfassungsgeber gefällt.48 Dieser mässigkeitsprinzip.55 Es wäre zu prüfen, entschied sich gegen eine umfassende ob die Strafe zur Durchsetzung der vom Staatsnotstandsklausel49 und statuierte Bundesrat aufgestellten Verhaltensnor- eine Pflicht zur Befristung von Notver- men und Verbote erforderlich ist und die ordnungen (Art. 185 Abs. 3 BV). Der Ge- angedrohten Strafen verhältnismässig setzgeber unterstellte solche überdies ei- sind zum Unrechtsgehalt des Normbru- nem Überführungsmechanismus: Der Bundesrat muss dem Parlament innert ____________________________ sechs Monaten einen Entwurf für ein 52 So auch Biaggini (Fn. 6), S. 265; Brun- ner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), S. 694; a.M. Bundesgesetz oder eine Notverordnung Stöckli (Fn. 6), S. 48, der postuliert, Art. 7d der Bundesversammlung unterbreiten, RVOG auch auf Notverordnungen anzuwenden, ansonsten tritt die bundesrätliche Ver- die gestützt auf Art. 7 EpG erlassen wurden; ebenso Wyss (Fn. 6), Rz. 15; in diese Richtung ordnung ausser Kraft (vgl. Art. 7d Abs. 2 deutet auch die Botschaft EpG (Fn. 10), S. 365 f., RVOG50).51 Art. 7 EpG auferlegt dagegen wobei Art. 7d RVOG zu jenem Zeitpunkt noch nicht in Kraft war. ____________________________ 53 Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), S. 697; eine 46 Botschaft EpG (Fn. 10), S. 334, 337 sowie 364 f. abstrakte Normenkontrolle ist auf jeden Fall un- 47 Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), S. 693. zulässig, vgl. Urteil des Bundesgerichts 48 So auch Zünd/Errass (Fn. 6), S. 89 f., allerdings 2C_280/2020 vom 15. April 2020 E. 2.2. mit gegenteiligem Schluss. 54 Ebenso Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), 49 Biaggini (Fn. 6), S. 242. S. 694; a.M. Biaggini (Fn. 6), S. 263 f.; Kley 50 Regierungs- und Verwaltungsorganisationsgesetz (Fn. 6), S. 273. vom 21. März 1997 (RVOG; SR 172.010). 55 Giovanni Biaggini, Bundesverfassung der Schwei- 51 Zu den daraus resultierenden Fragen in Bezug auf zerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich die Corona-Notverordnungen Biaggini (Fn. 6), 2017, Art. 185 N 10a; Ralph Trümpler, Notrecht, S. 251 ff. sowie Stöckli (Fn. 6), S. 48. Diss. Zürich, Zürich/Basel/Genf 2012, Rz. 310 ff. sui-generis 2020, S. 284
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise ches.56 Was der Gesetzgeber in Art. 82 13 In Bezug auf den Erlass der Strafnormen und 83 EpG bereits unter Strafe gestellt in Art. 10f gehen verschiedene Autoren hat, wäre Richtschnur für die Verhält- davon aus, dass Art. 7 EpG nur eine nismässigkeitsprüfung.57 Die Anordnun- wacklige oder keine genügende Ermäch- gen in der Verordnung dürfen nach bun- tigungsbasis bildet.63 Sie argumentieren desgerichtlicher Rechtsprechung nämlich insbesondere, die Strafbestimmungen grundsätzlich nicht im Widerspruch zu verletzten das Verhältnismässigkeits- Erlassen der Bundesversammlung ste- prinzip64und die Straftatbestände des hen.58 EpG hätten abschliessenden Charakter.65 Letzteres überzeugt nicht: In einer nor- 12 Das zweite mögliche Szenario ist, dass die malen Lage können kantonale Behörden Strafbestimmungen der COVID-19- insbesondere Massnahmen gegenüber Verordnung 2 ihre Grundlage direkt in der Bevölkerung erlassen (Art. 40 EpG). Art. 7 EpG finden. Die Lehre sieht darin In einer besonderen Lage ist der Bundes- teilweise eine eigenständige epidemiologi- rat dazu ermächtigt (Art. 6 Abs. 2 lit. b sche Ermächtigungsnorm für bundesrätli- i.V.m. Art. 40 EpG). Einen Verstoss ge- ches Notrecht.59 Wie weit diese Kompe- gen solche Massnahmen stellte der Ge- tenz reicht und welche «Massnahmen» setzgeber als Übertretung (Art. 83 Abs. 1 sie genau umfassen soll, ist im Einzelnen lit. j EpG) unter Strafe.66 Anders ist die ungeklärt.60 Teilweise wird postuliert, Situation demgegenüber in einer ausser- Art. 7 EpG stelle eine im Vergleich zu ordentlichen Lage: Der Bundesrat kann Art. 185 Abs. 3 BV weitergehende Er- alle Massnahmen anordnen, die notwen- mächtigung dar,61 beispielsweise indem er dig sind und den Zwecken des EpG67 und auch finanzielle Leistungen des Bundes der Bekämpfung der Epidemie dienen.68 zulässt, die den Rahmen des verfassungs- Die Strafbestimmungen des EpG können unmittelbaren Notrechts sprengen.62 hier wegen des strengen Analogiever- bots69 keine Anwendung finden. Gleich- zeitig ist es erforderlich, dass der Bun- desrat die Massnahmen in einer ausser- ____________________________ ordentlichen Lage wie diejenigen des Ge- 56 Gächter (Fn. 37), S. 243. setzes unter Strafe stellen kann. 57 S. dazu unten IV.1.a. 58 BGE 123 IV 29 E. 3a S. 34. In der Corona-Krise hat sich zwar gezeigt, dass diese Regel nicht abso- ____________________________ lut gelten kann und der Bundesrat unter Um- 63 Niggli Marcel Alexander, Bundesrat darf keine ständen auch von Bundesgesetzen abweichendes Strafen erlassen, NZZ vom 16. April 2020, S. 7; Recht setzen können muss, s. für Beispiele und Stöckli (Fn. 6), S. 25; Zünd/Errass (Fn. 6), S. 89. zum Ganzen Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), 64 Dazu eingehend IV.1.b. S. 696 ff. Von den gesetzgeberischen Wertungen 65 Niggli (Fn. 63), S. 7; Stöckli (Fn. 6), S. 25; David im EpG, das gerade die Bekämpfung von Epide- Zollinger, Nulla poena sine lege oder die rechtli- mien zum Ziel hat, dürfte allerdings nur sehr zu- che Seite der Virusbekämpfung, Inside Parade- rückhaltend divergiert werden. platz vom 30. März 2020. 59 So insb. Biaggini (Fn. 6), S. 264; Kley (Fn. 6), 66 Rechsteiner (Fn. 39), Rz. 890; Zünd/Errass S. 272; in Bezug auf Primärmassnahmen auch (Fn. 6), S. 84; Botschaft EpG (Fn. 10), S. 363, Ta- Stöckli (Fn. 6), S. 47; s. auch IV.1.a. belle 3 sowie 365. 60 S. z.B. Zünd/Errass (Fn. 6), S. 83 ff.; Biaggini 67 Vgl. Art. 2 EpG. (Fn. 6), S. 260 ff. 68 Kley (Fn. 6), S. 273; Trümpler (Fn. 55), Rz. 181; 61 Biaggini (Fn. 6), S. 263; Kley (Fn. 6), S. 272 ff.; vgl. auch Botschaft EpG (Fn. 10), S. 363, Tabelle 3. a.M. Stöckli (Fn. 6), S. 20 f. 69 BSK StGB-Popp/Berkemeier, Art. 1 N 31; HK 62 Biaggini (Fn. 6), S. 261 f. StGB-Wohlers, Art. 1 N 13. sui-generis 2020, S. 285
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise 14 Geht man davon aus, dass es sich bei den zahlreichen anderen Corona-Notver- Strafbestimmungen in der Verordnung ordnungen aus)72: Die Verordnung ist um Massnahmen in einer ausserordent- gemäss deren Art. 12 Abs. 3 befristet und lichen Lage nach Art. 7 EpG handelt, hat die sechsmonatige Frist zur Überführung man es nicht mehr mit eigentlichen Not- in ordentliches Recht nach Art. 7d Abs. 2 verordnungsbestimmungen zu tun. Da- RVOG läuft erst im Frühherbst ab. So- mit gewinnt die Frage an Bedeutung, in- weit Art. 7 EpG als Grundlage für den Er- wieweit die Anforderung an ein Gesetz lass von Strafbestimmungen nicht aus- im formellen Sinn gemäss Art. 1 StGB er- reicht, kann sich der Bundesrat deshalb füllt sind: Strafvorschriften in bundesrät- auf Art. 185 Abs. 3 BV stützen.73 Die lichen Notverordnungen, die sich direkt Strafnormen wären rechtmässig, wenn auf die Verfassung stützen, können den sie sich an die allgemeinen Verfassungs- Anforderungen von Art. 1 StGB genügen. prinzipen halten und der Wahrung der Ob dies auch für Strafnormen in Verord- Schutzgüter von Art. 185 Abs. 3 BV (öf- nungen gelten kann, die sich auf eine fentliche Ordnung, innere und äussere (wenn auch sehr umfassende) Delegation Sicherheit)74 dienen.75 in einem Gesetz stützen, ist dagegen zweifelhaft. Eine weitere Konsequenz dürfte sein, dass sich der Bundesrat stär- ker an der im EpG vorgenommenen Ab- wägung orientieren muss, ob und wie Verstösse gegen epidemiologische Mass- nahmen zu bestrafen sind, als dies bei ei- ner Abstützung auf Art. 185 Abs. 3 BV ____________________________ 72 Vgl. die Auflistung der 14 Verordnungen bei Bi- der Fall wäre.70 Freilich ist die Regierung aggini (Fn. 6), Fn. 65; in der Zwischenzeit kamen nicht davon entbunden, sich an die folgende vier dazu (Stand: 6. Juni 2020): die Verordnung über die Durchführung der kantona- grundlegenden Bestimmungen der Ver- len gymnasialen Maturitätsprüfungen 2020 an- fassung zu halten, insbesondere an das gesichts der Pandemie des Coronavirus vom Verhältnismässigkeitsprinzip.71 29. April 2020 (COVID-19-Verordnung gymnasi- ale Maturitätsprüfungen; SR 413.16), die Verord- nung über Übergangsmassnahmen zugunsten der 15 Die Frage, was materiell Grundlage für Printmedien im Zusammenhang mit dem Coronavirus vom 20. Mai 2020 (Covid-19- die Strafbestimmungen in der COVID- Verordnung Printmedien; SR 783.03), die Ver- 19-Verordnung 2 bildet, ist zumindest in ordnung über Übergangsmassnahmen zugunsten der ausserordentlichen Lage von unter- der elektronischen Medien im Zusammenhang mit dem Coronavirus vom 20. Mai 2020 (Covid- geordneter Bedeutung: Dann dürften 19-Verordnung elektronische Medien; nämlich die Voraussetzungen für die SR 784.402) sowie die Verordnung über die Ab- Anwendung von Art. 185 Abs. 3 BV er- federung der wirtschaftlichen Auswirkungen der Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus füllt sein (davon geht der Bundesrat bei (Covid-19) auf die institutionelle familienergän- zende Kinderbetreuung vom 20. Mai 2020 (Co- ____________________________ vid-19-Verordnung familienergänzende Kinder- 70 S. IV.1.b; in diesem Sinne auch Zünd/Errass betreuung; SR 862.1). (Fn. 6), S. 89. 73 So auch Stöckli (Fn. 6), Fn. 98; a.M. wohl Biaggi- 71 Zünd/Errass (Fn. 6), S. 84; unklar in dieser Hin- ni (Fn. 6), S. 263, Fn. 113, der vom Vorrang von sicht BGE 131 II 670 E. 3.3, wonach die inhaltli- Art. 7 EpG ausgeht, ohne sich zu den Strafbe- chen Schranken für Massnahmen nach Art. 10 stimmungen zu äussern; Kley (Fn. 6), S. 271 f. aEpG (dem Vorgängerartikel von Art. 7 EpG) 74 Biaggini (Fn. 55), Art. 185 N 10. nicht abstrakt bestimmt werden können. 75 Dazu IV.1.a. sui-generis 2020, S. 286
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise IV. Analyse der Strafbestimmungen 18 Die Strafbestimmungen des EpG dürften – gerade, wenn sich die Verordnung auf 1. Vergehen (Art. 10f Abs. 1) Art. 185 Abs. 3 BV stützen sollte – keine 16 harten Grenzen für diese Prüfung dar- Der als Vergehen ausgestaltete Art. 10f stellen. Dennoch sind die dem EpG zu- Abs. 1 wirft zwei Fragen auf: Ist die Norm grundeliegenden Wertungen des Gesetz- verhältnismässig (a) und genügt sie dem gebers der naheliegende Massstab, an Bestimmtheitsgebot (b)? dem sich der Bundesrat orientieren muss, wenn er Strafbestimmungen ver- a) Verhältnismässigkeit hältnismässig ausgestalten will. Dies gilt 17 Art. 10f Abs. 1 stellt in all seinen bisheri- umso mehr, weil der Bundesrat in Notla- gen Fassungen Widerhandlungen gegen gen die Aufgaben des Parlaments unter die Verbote und Einschränkungen von Zeitdruck übernimmt. Er sollte nicht Veranstaltungen und Betrieben in ohne gute Gründe von der Wertung ab- Art. 6 ff. unter Strafe. Er hat damit weichen, die der demokratisch legiti- grundsätzlich zum Ziel, Massnahmen zur mierte Gesetzgeber bereits sorgfältig vor- Eindämmung der Übertragung des genommen hat. Coronavirus strafrechtlich abzusichern und das Unrecht von Verstössen gegen 19 Das Gesetz stellt die meisten Verstösse solche Massnahmen abzugelten. Dies gegen epidemiologische Massnahmen dürfte mittelbar nicht nur dem Zweck gemäss Art. 83 Abs. 1 lit. a–m EpG als des EpG dienen, die Verbreitung über- Übertretungen unter Strafe. Vergehen tragbarer Krankheiten zu bekämpfen sind gemäss Art. 82 Abs. 1 EpG nur die (vgl. Art. 2 Abs. 1 EpG). Auch der Schutz Verletzung der Vorschriften zum Um- der Gesundheit der Gesamtbevölkerung gang mit Krankheitserregern (Art. 26–28 – ein hochrangiges Gut i.S.v. Art. 185 EpG) sowie Verstösse gegen das Berufs- Abs. 3 BV – dürfte damit angestrebt wer- und Tätigkeitsverbot (Art. 38 EpG). Die den. Als materielle Schranke für den Er- Unterscheidung knüpft an die Schwere lass von Strafnormen in der Corona- der Widerhandlung an: «Schwere Verlet- Krise bleibt somit das Verhältnismässig- zungen hochrangiger Rechtsgüter wer- keitsprinzip.76 Als Not-Gesetzgeber muss den als Vergehen, weniger schwere An- der Bundesrat die Strafnormen so ausge- griffe als Übertretungen sanktioniert.»80 stalten, dass diese abstrakt verhältnis- Diese Wertung reflektiert die COVID-19- mässig sind. Damit erhält er gewisse Ge- Verordnung 2 höchstens punktuell. Der staltungsspielräume:77 Im Gegensatz zu Charakter der Massnahmen in Art. 6 ff. Interessenabwägungen im Einzelfall, entspricht demjenigen verschiedener dem wohl wichtigsten Anwendungsfall Massnahmen des Gesetzes: Art. 40 des Verhältnismässigkeitsprinzips,78 ist Abs. 2 EpG sieht wie Art. 6 der Verord- dieses als Maxime in der Rechtsetzung nung Veranstaltungsverbote (lit. a) sowie weniger griffig.79 Massnahmen zum Betrieb von privaten ____________________________ Unternehmen und öffentlichen Instituti- 76 Im Ergebnis ebenso Burrichter/Vischer (Fn. 7). 77 BGE 123 IV 29 E. 3b; BGE 131 II 670 E. 3.1. 78 Biaggini (Fn. 55), Art. 5 N 20. m.H. zur Rechtsprechung; Biaggini (Fn. 55), 79 Georg Müller/Felix Uhlmann, Elemente einer Art. 5 N 20. Rechtsetzungslehre, 3. Aufl., Zürich 2013, Rn. 52 80 Botschaft EpG (Fn. 10), S. 422. sui-generis 2020, S. 287
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise onen bis hin zur Schliessung (lit. b) vor. des Einzelnen eingreifen83 – deren Miss- Die Pflicht zur Erstellung und zur Einhal- achtung unter hohe Strafen zu stellen, tung von Schutzkonzepten, die im Rah- würde dazu führen, dass der Grund- men der Lockerungen einen wesentli- rechtseingriff im Ergebnis unverhältnis- chen Teil des Straftatbestands in Art. 10f mässig wäre. Diese Überlegungen dürf- ausmacht, erinnert stark an die Verhü- ten auch für die Verbote und Einschrän- tungsmassnahmen nach Art. 19 Abs. 2 kungen von Versammlungen und wirt- lit. b EpG. Der Bundesrat kann Betriebe schaftlichen Tätigkeiten in Art. 6 ff. der und Veranstalter verpflichten, Präventi- Verordnung gelten, die der Bundesrat in onsmaterial bereitzustellen und be- der ausserordentlichen Lage angeordnet stimmte Verhaltensregeln einzuhalten, hat. In diesem Punkt unterscheidet sich wobei er die Schwere der Erkrankung die Situation auch von jener im Ent- und die Grösse des Risikos bei der Kon- scheid zum Waffentragverbot für jugo- kretisierung dieser Massnahmen zu be- slawische Staatsangehörige, in dem sich rücksichtigen hat.81 Der Gesetzgeber hat das Bundesgericht zum bisher einzigen Verstösse gegen beide diese Massnah- Mal zur Androhung von Freiheitsstrafen men nur als Übertretungen unter Strafe in Notverordnungen geäussert und diese gestellt (Art. 83 Abs. 1 lit. c bzw. lit. j als verfassungskonform beurteilt hat.84 EpG). Die Tatbestände in der Verord- Das Verbot, in der Öffentlichkeit Waffen nung befinden sich mit einer Strafdro- zu tragen, stellte einen «höchstens ge- hung von bis zu drei Jahren Freiheits- ringfügigen Eingriff in die Freiheitsrech- strafe an der Obergrenze von Vergehen te»85 dar. (vgl. Art. 10 Abs. 3 StGB) und werden damit deutlich härter sanktioniert. 21 Weiter ist in der Abwägung zu berück- sichtigen, dass Art. 10f Abs. 1 lediglich 20 Aus den Erläuterungen zur Verordnung abstrakt gefährdendes Verhalten unter geht nicht hervor, wieso der Bundesrat Strafe stellt86 und keine tatsächliche die Strafdrohungen im Vergleich zum Rechtsgutsverletzung verlangt. Den unter EpG teilweise erheblich verschärfte, aber Strafe gestellten Handlungen wird eine beispielsweise die Fahrlässigkeitsstraf- typische Gefährlichkeit für die Gesund- barkeit82 nicht übernahm. Denkbar wäre, heit unterstellt.87 Ob eine Ansteckungs- dass die Strafandrohungen des EpG dem gefahr tatsächlich besteht oder eine Per- Bundesrat in der ausserordentlichen La- son das Coronavirus in sich trägt, ist für ge zu lasch erschienen. Die vom Gesetz- die Strafbarkeit nicht entscheidend, was geber eher im tieferen Bereich angesetz- ____________________________ ten Bestrafungen sind allerdings in ihrem 83 Bspw. die Quarantäne (Art. 35 i.V.m. Art. 83 grundrechtlichen Kontext zu sehen: Die Abs. 1 lit. h EpG), die Pflicht, sich ärztlich unter- suchen und Proben entnehmen zu lassen (Art. 36 Übertretungstatbestände des EpG knüp- i.V.m. Art. 83 Abs. 1 lit. i EpG) oder die verschie- fen an Massnahmen an, die teilweise oh- denen Massnahmen gegenüber der Bevölkerung (Art. 40 i.V.m. Art. 83 Abs. 1 lit. j EpG). nehin schon stark in die Freiheitsrechte 84 BGE 123 IV 29. 85 BGE 123 IV 29 E. 3b S. 36. 86 A.M. Burrichter/Vischer (Fn. 7), die von einem konkreten Gefährdungsdelikt ausgehen. ____________________________ 87 Vgl. Günter Stratenwerth, Schweizerisches Straf- 81 Botschaft EpG (Fn. 10), S. 377. recht, Allgemeiner Teil 1: Die Straftat, 4. Aufl., 82 Art. 82 Abs. 2 EpG. Bern 2011, § 9 N 15. sui-generis 2020, S. 288
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise gerade bei Handlungen, die im Grenzbe- von den Normadressaten, von der reich der Strafbarkeit liegen, problema- Schwere des Eingriffs in Verfassungs- tisch ist. Auch vor diesem Hintergrund rechte und von der erst bei der Konkreti- erscheint die Qualifikation der Verstösse sierung im Einzelfall möglichen und in Art. 10f Abs. 1 als Vergehen unverhält- sachgerechten Entscheidung»94. Insge- nismässig.88 samt wird eine Verletzung des Be- stimmtheitsgebots nur in Extremfällen b) Bestimmtheit angenommen; nämlich dann, wenn die 22 Strafvorschriften evident unbestimmt Art. 1 StGB verlangt, dass eine Tat aus- sind.95 drücklich unter Strafe gestellt sein muss. Das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot 23 Besonders problematisch sind Blankett- («nulla poena sine lege certa») verlangt, strafnormen, also Straftatbestände, de- dass Strafnormen präzise formuliert sein ren Inhalt erst durch weitere Bestim- müssen.89 Diese Voraussetzung gilt auch mungen konkretisiert werden.96 Das im Nebenstrafrecht.90 Das Be- Bundesgericht ist der Auffassung, dass stimmtheitsgebot ist in Art. 7 EMRK aus- grundsätzlich auch sie dem Be- serdem völkerrechtlich verankert.91 Der stimmtheitsgebot genügen können.97 Grundsatz verlangt, dass Strafvorschrif- Wenn die Ermittlung des Normgehalts ten so formuliert sind, «dass der Bürger aber zu aufwendig und kompliziert ist, sein Verhalten danach richten und die wird dem Erfordernis der hinreichenden Folgen eines bestimmten Verhaltens mit Präzisierung einer Strafnorm nicht mehr einem den Umständen entsprechenden entsprochen.98 Grad an Gewissheit erkennen kann».92 Dies bedeutet allerdings nicht, dass der 24 Art. 10f Abs. 1 ist eine Blankettstrafnorm. Gesetzgeber gänzlich auf allgemeine und Die Strafbarkeit ergibt sich erst in Kom- vage Begriffe verzichten müsste. Sowohl bination mit Art. 6 ff. Zunächst ist prob- das Bundesgericht als auch der EGMR lematisch, dass sich der Regelungsgehalt verlangen keine absolute Bestimmtheit.93 von Art. 6 immer wieder veränderte und Der verlangte Bestimmtheitsgrad hängt teilweise nur für einige Tage in einer Fas- insbesondere ab «von der Vielfalt der zu sung verblieb, was die Nachvollziehbar- ordnenden Sachverhalte, von der Kom- keit und Voraussehbarkeit der Strafbar- plexität und der Vorhersehbarkeit der im keit erheblich erschwerte.99 Daneben be- Einzelfall erforderlichen Entscheidung, standen auch inhaltlich Unklarheiten. So ____________________________ 88 Kritisch auch Stöckli (Fn. 6); Zünd/Errass war weitgehend unbestimmt, was alles (Fn. 6), S. 89; a.M. Burrichter/Vischer (Fn. 7). 89 BGE 141 IV 279 E. 1.3.3; HK StGB-Wohlers, Art. 1 ____________________________ N 7. 94 BGE 138 IV 13 E. 4.1; vgl. auch BSK StGB- 90 BGE 141 IV 279 E. 1.3.3. Popp/Berkemeier, Art. 1 N 46. 91 Urteil des EGMR [GK] 9174/02 vom 95 HK StGB-Wohlers, Art. 1 N 10. 19. September 2008 (Korbely gegen Ungarn), 96 HK StGB-Wohlers, Art. 1 N 9; vgl. auch BSK Ziff. 73; vgl. auch BSK StGB-Popp/Berkemeier, StGB-Popp/Berkemeier, Art. 1 N 45. Art. 1 N 50. 97 Urteile des Bundesgerichts 6B_866/2016 vom 92 BGE 141 IV 279 E. 1.3.3; BGE 138 IV 13 E. 4.1; 9. März 2017 E. 5.2; 6B_967/2015 vom 22. April BGE 117 Ia 472 E. 3e. 2016 E. 2.3; 6B_385/2008 vom 21. Juli 2008 93 BGE 138 IV 13 E. 4.1; BGE 132 I 49 E. 6.2; Urteil E. 3.3.2. des EGMR 23372/94 vom 24. Februar 1998 (La- 98 HK StGB-Wohlers, Art. 1 N 9. rissis u.a. gegen Griechenland). 99 Vgl. auch Burrichter/Vischer (Fn. 7). sui-generis 2020, S. 289
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise als verbotene Veranstaltung nach Art. 6 25 Neben der Organisation oder Durchfüh- galt. Obschon in den Erläuterungen zur rung einer verbotenen Veranstaltung ist Verordnung etwa Konzerte, Kongresse, auch die Verletzung von anderen in Sportveranstaltungen, Demonstrationen, Art. 6 geregelten Pflichten105 tatbe- Quartierfeste und Generalversammlun- standsmässig.106 Dabei kann sich nur die gen als Beispiele für verbotene Veranstal- «verantwortliche Person» bzw. der «Or- tungen genannt wurden,100 waren die ganisator» strafbar machen.107 Oftmals Grenzen des Verbots unscharf. So sollten war aber unklar, welche Handlungen «Veranstaltungen im kleinen privaten strafbar waren. Im Rahmen der Locke- Rahmen»101 nicht erfasst sein.102 Wie rungen der Massnahmen wurde diese weit der kleine private Rahmen reichte, Problematik mittels präziser formulier- blieb unklar. Die Unbestimmtheit des ten Tathandlungsvarianten entschärft. Es Veranstaltungsbegriffs zeigt sich auch am wurden aber auch neue Probleme ge- Beispiel von Demonstrationen: In den schaffen. So müssen die verantwortlichen Erläuterungen wurden sie explizit als Personen bzw. die Organisatoren «die verbotene Veranstaltungen aufgeführt.103 Vorgaben für die Durchführung von Ver- Nachdem das absolute Demonstrations- anstaltungen nach Artikel 6 Absätze 3– verbot vermehrt in die Kritik geraten 5» einhalten oder umsetzen.108 Bei priva- war, sah sich der Bundesrat zu einer Än- ten Veranstaltungen müssen dabei «die derung veranlasst. Es wurde jedoch nicht Empfehlungen des BAG betreffend Hygi- die Verordnung angepasst, sondern an ene und soziale Distanz eingehalten wer- einer Pressekonferenz erklärt, dass die den»109. Damit ergibt sich der Umfang Juristen des Bundes zu einer Neubeurtei- der strafbaren Handlung erst in einer lung gekommen seien und Demonstrati- Kombination mit ausserhalb der Verord- onen nicht mehr als Veranstaltungen nung liegenden Empfehlungen des BAG. zählten. Unter Einhaltung des Sicher- Mag ein solcher Verweis im Rahmen ei- heitsabstands sei das Demonstrieren ner gesundheitspolizeilichen Massnahme demnach möglich.104 Dieses fast saloppe zulässig sein,110 so ist eine sich darauf be- Vorgehen der Behörden verdeutlicht die ziehende Strafbarkeit höchst problema- Unschärfe des Veranstaltungsbegriffs. tisch. Dass die Ermittlung des Normge- halts bei einem Verweis auf eine Norm, ____________________________ ____________________________ 105 Art. 6 enthielt in verschiedentlich angepasster 100 BAG, Erläuterungen zur Verordnung 2 vom Form Anweisungen für nicht geschlossene Ein- 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämp- richtungen und zugelassene Veranstaltungen, fung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2) bspw. die Vorschrift, ein Sicherheitskonzept vor- (Version vom 28. Mai 2020; aktualisiert am zusehen, oder die Beschränkung der Anzahl Gäs- 29. Mai 2020), S. 21. te an einem Restauranttisch (vgl. Art. 6 Abs. 3bis 101 BAG, Erläuterungen zur Verordnung 2 vom [29. April 2020, AS 2020 1401]). 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämp- 106 Art. 10f Abs. 1 lit. a–f. fung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2) 107 Seit der am 6. Juni 2020 in Kraft getretenen Fas- (Version vom 15. Mai 2020), S. 21. sung [AS 2020 1815] ergibt sich dies ausdrücklich 102 Nachdem im Rahmen des Lockerungsprozesses aus der Bestimmung. Vorher war die Beschrän- die maximale Anzahl Personen auf 30 erhöht kung des Täterkreises nur indirekt herzuleiten wurde, hat sich diese Problematik gelöst. und ergab sich nicht aus dem Wortlaut der Be- 103 BAG (Fn. 100), 21. stimmung. 104 Point de Presse Coronavirus vom 18. Mai 2020 108 Art. 10f Abs. 1 lit. b. (ab 6:25). In die Erläuterungen wurde dies jedoch 109 Art. 6 Abs. 4 lit. a. nicht übernommen. 110 Vgl. BGE 131 II 670. sui-generis 2020, S. 290
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise die wiederum auf Empfehlungen eines wendung des Ordnungsbussenverfahrens Bundesamts verweist, aufwendig und rechtmässig ist (c). kompliziert ist, wird kaum in Abrede zu stellen sein. a) Rechtmässigkeit 28 Hinsichtlich der Verhältnismässigkeit 26 Teilweise wird angenommen, dass unbe- sind die Übertretungen im Vergleich zum stimmte Rechtsbegriffe durch eine kon- Vergehen weniger problematisch.115 So sistente Rechtspraxis präzisiert werden handelt es sich um Übertretungen, die an können;111 genau dies scheidet vorliegend die im EpG vorgesehenen Taten ange- aber aus. So ist die Notverordnung gera- lehnt sind.116 Auch betreffend ihre Be- de darauf ausgelegt, nur für eine sehr be- stimmtheit sind die Übertretungen weni- grenzte Zeit zu gelten. Ausserdem waren ger diskussionswürdig als das Vergehen verschiedene Verhaltensweisen nur sehr in seiner ursprünglichen Fassung.117 Ei- kurz der Strafbarkeit unterstellt. Ent- nerseits sind die Anforderungen an die sprechend ist es unmöglich, eine einheit- Bestimmtheit infolge der niedrigeren liche Rechtspraxis zu den unbestimmten Strafdrohung weniger streng,118 ander- Rechtsbegriffen zu entwickeln und damit seits erfassen die Übertretungen genauer der entstehenden Rechtsunsicherheit zu definierte Tathandlungen. Alle vier Über- begegnen. Insgesamt genügt Art. 10f tretungen verweisen auf eine Verletzung Abs. 1 den Anforderungen nach Art. 7 anderer Artikel der Verordnung, die kla- EMRK und Art. 1 StGB nicht. rer sind als Art. 6 und sich im üblichen Rahmen von auslegungsbedürftigen Tat- 2. Übertretungen (Art. 10f Abs. 2) beständen halten dürften. 27 Die Verordnung sieht in Art. 10f Abs. 2 vier Übertretungstatbestände vor: Der b) Fehlendes Unrechtsbewusstsein Verstoss gegen das Versammlungsverbot 29 Eine besondere Situation ergab sich nach Art. 7c (lit. a), die Ausfuhr von dadurch, dass die Aktualisierungen und Schutzausrüstung oder wichtigen medi- die Auslegung der Normtexte anlässlich zinischen Gütern ohne Bewilligung nach der regelmässigen Pressekonferenzen Art. 4b Abs. 1 (lit. b), der Verstoss gegen thematisiert wurden. Dass daraus Prob- Einschränkungen des grenzüberschrei- leme entstehen können, zeigt die Kom- tenden Verkehrs nach Art. 4 Abs. 4112 munikation zu Art. 10f Abs. 2 lit. a. (lit. c)113 sowie der Verstoss gegen das Obschon der Tatbestand vom Verbot von Verbot des Einkaufstourismus (lit. d)114. öffentlichen Menschenansammlungen Im Folgenden wird untersucht, ob die sprach, verwies er bis zur Anpassung am Übertretungstatbestände rechtmässig 30. Mai 2020 auf eine Verletzung des ge- sind (a), welche Folgen behördliche In- samten Art. 7c, womit auch ein Verstoss formationen für das Unrechtsbewusst- gegen die 2-m-Abstandsregel der Straf- sein haben können (b) und ob die An- ____________________________ 111 Vgl. Urteil des EGMR 14307/88 vom 25. Mai 1993 (Kokkinakis gegen Griechenland), Ziff. 52; ____________________________ BSK StGB-Popp/Berkemeier, Art. 1 N 47. 115 S. IV.1.a. 112 Aufgehoben per 15. Juni 2020 (AS 2020 2099). 116 Vgl. Art. 83 EpG. 113 Aufgehoben per 15. Juni 2020 (AS 2020 2099). 117 S. IV.1.b. 114 Aufgehoben per 15. Juni 2020 (AS 2020 2099). 118 BGE 138 IV 13 E. 4.1. sui-generis 2020, S. 291
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise barkeit unterstellt war.119 Nur wo die Ab- führte somit letztlich dazu, dass ver- standseinhaltung absolut unmöglich er- schiedene strafwürdige Verhaltensweisen schien, war die Abstandspflicht und da- hätten straflos bleiben müssen. mit auch die Strafbarkeit einge- schränkt.120 Entgegen Aussagen von Ver- c) Anwendung des tretern der Bundesbehörden121 war die Ordnungsbussenverfahrens Abstandsregel von dieser Ausnahme ab- 30 Für die Übertretungen nach Art. 10f gesehen von allen Personen einzuhalten Abs. 2 lit. a, c und d wird das Verfahren – also auch von Familien und Personen, nach Ordnungsbussengesetz125 für an- die im gleichen Haushalt leben .122 Die wendbar erklärt, und es sind Ordnungs- behördliche Information dürfte dazu ge- bussen von 100 Franken vorgesehen.126 führt haben, dass bei Familienmitglie- Für die Übertretungen nach Art. 10f dern oder im gleichen Haushalt wohnen- Abs. 2 lit. c und d wird die Eidgenössi- den Personen, die sich in der Öffentlich- sche Zollverwaltung als zuständig erklärt, keit nicht an die Abstandsregeln hielten, Ordnungsbussen zu erheben.127 ein Verbotsirrtum nach Art. 21 StGB be- stand. Ein solcher liegt vor, wenn der Tä- 31 Das Ordnungsbussenverfahren ist ein ter fälschlicherweise glaubt, sein Han- formalisiertes, rasches und kostengünsti- deln werde von einer Verbotsnorm nicht ges Verfahren, das auf die Erledigung erfasst.123 Gerade weil betroffene Perso- von leicht nachweisbaren Massendelik- nen auf Aussagen von Behörden vertrau- ten zugeschnitten ist.128 Da sich das Ver- en, dürfte der Irrtum nicht vermeidbar fahren bei der Ahndung anderer Übertre- gewesen sein, da sich durch entspre- tungen bewährt habe, wird es auch zur chende Aussagen auch ein gewissenhaf- Abwicklung ausgewählter Übertretungen ter Mensch hätte in die Irre führen las- der COVID-19-Verordnung 2 vorgese- sen.124 Die behördliche Kommunikation hen.129 Das Verfahren ist dadurch ge- ____________________________ kennzeichnet, dass ausgewählte Behör- 119 BAG (Fn. 101), S. 41 f. Seit der Anpassung ver- weist die Bestimmung nur noch auf eine Verlet- den unmittelbar feststellen, dass ein zung von Art. 7c Abs. 1, womit die Missachtung Straftatbestand erfüllt ist, und dafür ei- der Abstandsregeln nicht mehr bestraft werden nen vorab bestimmten Bussbetrag ver- kann, vgl. BAG (Fn. 101), S. 33. 120 BAG (Fn. 101), S. 33, nennt die Mutter mit ihrem hängen.130 Dabei sind die zuständigen Kleinkind oder die Frau, die ihren gehbehinder- ten Partner stützt. ____________________________ 121 Vgl. z.B. Point de Presse Coronavirus vom 18. Mai 125 Ordnungsbussengesetz vom 18. März 2016 (OBG; 2020 (ab 22:31) und Point de Presse Coronavirus SR 314.1). vom 15. Mai 2020 (ab 56:22): Daniel Koch, Dele- 126 Art. 10f Abs. 3 lit. b und Abs. 4. gierter des BAG für COVID-19, verneinte die Gel- 127 Art. 10f Abs. 5. tung der Abstandsregeln für Familien ausdrück- 128 Philippe Weissenberger, Kommentar Strassen- lich; vgl. auch Michael von Ledebur/Fabian verkehrsgesetz und Ordnungsbussengesetz, Zü- Baumgartner, Händchen halten verboten? Die rich 2015, Art. 1 OBG N 10; vgl. auch Urteil des Polizei büsst in Zürich eine Frau, weil sie zu we- Bundesgerichts 6B_722/2019 vom 23. Januar nig Abstand zu ihrem Partner hielt, nzz.ch vom 2020 E. 1.3.1. 15. Mai 2020. 129 BAG, Erläuterungen zur Verordnung 2 vom 122 So ausdrücklich BAG (Fn. 101), S. 33. 13. März 2020 über Massnahmen zur Bekämp- 123 Sog. direkter Verbotsirrtum, s. Kurt Seel- fung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 2) mann/Christopher Geth, Strafrecht Allgemeiner (Version vom 2. Juni 2020), S. 41. Teil, 6. Aufl., Basel 2016, Rz. 238. 130 Grundsätzlich ergibt sich die Höhe der Busse aus 124 Vgl. BGE 75 IV 150 E. 3; Seelmann/Geth den Anhängen zur OBV (Ordnungsbussenverord- (Fn. 123), Rz. 242 m.w.H. nung vom 16. Januar 2019 [SR 314.11]). sui-generis 2020, S. 292
Gian Ege/David Eschle, Das Strafrecht in der Krise Behörden von der Anwendung der Straf- trägt CHF 100.136 Die Übertretungen der zumessungsgrundsätze des Strafgesetz- Verordnung sind damit in der Liste nach buches dispensiert,131 indem dem Ver- Art. 1 Abs. 2 OBG vorgesehen, stützen schulden, dem Vorleben und den persön- sich aber nicht auf ein Gesetz i.S.v. Art. 1 lichen Verhältnissen des Täters keine Abs. 1 lit. a OBG. Damit stellt sich die Bedeutung zukommt.132 Nichtsdestotrotz Frage, ob der Bundesrat die Übertretun- besteht weitgehende Einigkeit, dass es gen überhaupt dem Ordnungsbussenver- sich um eine strafrechtliche Sanktion fahren unterstellen durfte. und um ein Strafverfahren handelt, wes- halb mit Ausnahme der vorbehaltenen 33 Im OBG wurde bewusst eine abschlies- Bestimmungen alle Grundsätze des sende Liste an Gesetzen aufgenommen, Strafrechts und Strafprozessrechts gel- damit keine Unklarheiten entstehen, ten.133 wann das Ordnungsbussenverfahren an- wendbar ist.137 Es ist nicht ersichtlich, 32 Das Ordnungsbussenverfahren ist nur dass dem Bundesrat in diesem Punkt auf Übertretungen anwendbar, die in aufgrund der epidemiologischen Lage ein einem in Art. 1 Abs. 1 lit. a OBG erwähn- Regelungsspielraum zukäme. Die An- ten Gesetz oder einer sich auf eines die- wendung des Ordnungsbussenverfahrens ser Gesetze abstützenden Verordnung hat keinen Bezug zur Bekämpfung der aufgeführt ist. Ausserdem muss der Bun- Epidemie.138 Auch lassen sich dadurch desrat die Übertretungen und den vorge- die aufgestellten Regeln nicht effektiver sehenen Bussbetrag auflisten.134 Die ent- durchsetzen,139 weshalb diese Regelung sprechenden Listen finden sich in den durch die Notverordnungskompetenz des Anhängen zur OBV. Nachdem die An- Bundesrats nicht gedeckt ist. Schliesslich wendung des Ordnungsbussenverfahrens unterliegen die Übertretungen des EpG mit der Änderung vom 20. März 2020 in nicht dem Ordnungsbussenverfahren,140 der Verordnung festgeschrieben wurde, weswegen auch die – durch das Bundes- wurde die Liste in Anhang 2 der OBV am gericht anerkannte141 – analoge Anwen- 27. März 2020 um die entsprechenden dung des Ordnungsbussenverfahrens Tatbestände ergänzt.135 Sie werden alle in ausgeschlossen ist. Ziff. XV aufgeführt, und die Busse be- ____________________________ ____________________________ 131 Urteil des Bundesgerichts 6B_722/2019 vom 136 OBV, Anhang 2, Ziff. XV, 15001–15004. 23. Januar 2020 E. 1.3.1. 137 Botschaft OBG (Fn. 134), S. 970. 132 Art. 1 Abs. 5 OBG. 138 Vgl. auch Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 6), 133 Urteil des Bundesgerichts 6B_722/2019 vom S. 699, die für den Ausschluss des Rechtsschutzes 23. Januar 2020 E. 1.3.1; Stefan Maeder, Sicher- in Art. 11 Abs. 3 der Verordnung über die Abfede- heit durch Gebühren?, AJP 2014, S. 679 ff., 681; rung der wirtschaftlichen Auswirkungen des Markus H. F. Mohler, Anmerkungen zur vorge- Coronavirus (COVID-19) im Kultursektor vom schlagenen Revision des Ordnungsbussengeset- 20. März 2020 (COVID-Verordnung Kultur; zes, Jusletter vom 10. August 2015, Rz. 11 ff. SR 442.15) zum gleichen Schluss kommen. m.w.H. 139 Vgl. Marcel Alexander Niggli/Stefan Maeder, Die 134 Art. 1 Abs. 2 i.V.m. Art. 15 OBG; vgl. auch Bot- Haftung des Motorfahrzeughalters für Ord- schaft vom 17. Dezember 2014 zum Ordnungs- nungsbussen, in: Probst/Werro (Hrsg.), Stras- bussengesetz (BBl 2015 959), S. 981. senverkehrsrechts-Tagung 2018, Bern 2018, 135 COVID-19-Verordnung 2 (27. März 2020 S. 65 ff., 75. [AS 2020 1101], 1. April 2020 [AS 2020 1137] und 140 Art. 1 Abs. 1 lit. a OBG. 16. April 2020 [AS 2020 1245]). 141 BGE 114 IV 50. sui-generis 2020, S. 293
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