Satt, müde, unersättlich? Unsere Bilder vom Lebensgefühl alter Menschen und ihre Wirkung

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Satt, müde, unersättlich? Unsere Bilder vom Lebensgefühl alter Menschen und ihre Wirkung
Studientag „Leben(s)satt“
28. April 2016, Ravensburg

                   Satt, müde, unersättlich?
        Unsere Bilder vom Lebensgefühl alter
            Menschen und ihre Wirkung

                             Dr. Marion Bär
                             Kompetenzzentrum Alter
                             am Institut für Gerontologie Heidelberg
Satt, müde, unersättlich? Unsere Bilder vom Lebensgefühl alter Menschen und ihre Wirkung
Der dreifache Blick auf das Alter
Sie sind…
….beruflich oder ehrenamtlich mit dem Alter und der
 Situation alter Menschen befasst

….Mitglied einer Gesellschaft mit bestimmten Grundwerten
 und kollektiven Altersleitbildern

….ein Mensch, der selbst altert und dabei bestimmten
 individuellen Leitbildern folgt
Satt, müde, unersättlich? Unsere Bilder vom Lebensgefühl alter Menschen und ihre Wirkung
Was sind Altersbilder?
Bildlich oder sprachlich ausgedrückte Sichtweisen
          auf die Lebensphase Alter
          auf den Alternsprozess
          auf alte Menschen
Bilden sich in jungen Jahren und begleiten uns über die
  Lebensspanne
„Die Zukunft des Alters und des Alterns ist in erheblichem Maße durch
Altersbilder bestimmt. Altersbilder sind nicht lediglich unbedeutende
Begleiterscheinungen eines gesellschaftlichen Umgangs mit Alter, sie
schaffen vielmehr eine Realität, an der sich das für eine Gesellschaft
charakteristische Verständnis von Alter (…) und der gesellschaftliche
Umgang mit Alter orientieren und durch die der Umgang mit Alter
begründet wird“ (6. Altenbericht der Bundesregierung, 2010, S. 23)
Wozu dienen Altersbilder?

 Altersbilder haben eine Ordnungs- und Orientierungsfunktion
 Sie geben spontan abrufbare, eingeübte Verhaltensmuster für bestimmte
  Alltagssituationen vor
 Wissenssysteme, die Wahrnehmung und Deutung von
  Entwicklungsveränderungen vorwegnehmen
 Vergleichsmaßstäbe
 Gesellschaftliche Erwartungen darüber, was sein sollte („Altersnormen“)

            Altersbilder spiegeln die Wirklichkeit

         Altersbilder beeinflussen die Wirklichkeit
… in der Kommunikation

Alexander, 4 Jahre, redet seine 53jährige Großmutter
  mit ihrem Vornamen Monika an. Als er gefragt wird,
  warum er nicht „Oma“ zu ihr sage, antwortet er: Weil
  sie aussieht wie eine Frau und Omas sehen anders
  aus.“ (Marwedel, 2004, S. 41)

  „Das ist doch eine tolle Leistung für Ihr Alter!“
Studienbefunde

Bei subtiler Konfrontation mit negativen Altersbildern…
… verschlechtern sich die Leistungen von älteren Menschen
  (Gedächtnisleistungen, Handschrift, Gehgeschwindigkeit)
… treten bei den Älteren physiologische Stressreaktionen auf

Personen mit positiveren Altersbildern…
… werden gesünder und aktiver alt
… erholen sich nach schwerwiegenden Erkrankungen schneller
… leben länger als Personen mit negativen Auffassungen vom
eigenen Älterwerden

               6. Altenbericht 6. Altenbericht der Bundesregierung, 2010
„In Zukunft wird es um die Frage gehen:
Inwieweit nervt es Jüngere, wenn
Popkonzerte, Hörsäle und Cafés fest in der
Hand der 50-plus-Generation sind? Die
klassische Abfolge des Lebens löst sich auf“
Peter Wippermann, Trendforscher
Generali Altersstudie 2013
4.197 befragte Personen
Altersgruppe: 65-85 Jahre

Die befragten Älteren….

… empfinden ihr Leben mehrheitlich als sehr abwechslungsreich
… schätzen den Zugewinn an freier Zeit und die Verlangsamung des
  Lebensrhythmus
… fühlen sich durchschnittlich 10 Jahre jünger als sie sind
… führen mehrheitlich ein aktives Leben und engagieren sich in
  überraschend hohem Maß für andere
Generali Altersstudie 2013
Die Älteren…

  … wünschen sich für die Zukunft vor allem die Erhaltung ihrer
    Gesundheit
  … sind in wachsendem Ausmaß körperlich aktiv, um ihre
    Gesundheit zu erhalten
  … fürchten sich davor, einmal pflegebedürftig zu werden und
    ihre Unabhängigkeit zu verlieren

  Quelle: www.generali-altersstudie.de (30.11.2012)

                                                                  9
Befragung von BürgerInnen Ü65
(Rott et al., 2014)

                                          (Zustimmung in
 Alterswünsche                                   %)
https://www.youtube.com/watch?v=SmRUMqXisBY
Gesellschaftliches Leitbild:
Aktives Alter, möglichst bis zum
Schluss

                                                                              
                  Bldnachweis: http://www.sueddeutsche.de/sport/deutsches-turnfest-breite-trifft-fabian-
                  1.446554-3
Das Morbiditätskompressions-
modell
                                             • Tendenziell stärkerer Anstieg
                                               der Lebenserwartung ohne
                                               schwere Beeinträchtigungen
                                               von Alltagsaktivitäten (ADL)
                                               im Vergleich zur
                                               Gesamtlebenserwartung
                                             • Trend weg von schwerer und
                                               hin zu moderater ADL-
                                               Behinderung
                                             Christensen et al. (2009)
Krankheitskompressionsmodell

                  Grafik: http://ars.els-cdn.com/content/image/1-s2.0-S0264410X99004909-gr4.gif   13
Hohes Alter und Pflegebedürftigkeit
Das vierte Lebensalter

„Wir haben immer angenommen, dass jede Generation
gesünder und langlebiger sein würde als die vorherige.
(…) Allerdings könnte es sein, dass die Kompression der
Morbidität ähnlich illusorisch ist wie die Unsterblichkeit“
(Crimmings et al. 2010, Übersetzung: Bär)

    „Radikalisierung der menschlichen Lebenssituation“
                     (Thomas Rentsch)
       Angewiesenheit - Verletzlichkeit - Endlichkeit

                           Lebensgefühl?
Die Macht gesellschaftlicher Werte

Werte                        Daraus resultierende „Denkbrillen“

Lob des Fortschritts         Sind nachlassende Kräfte und Fähigkeiten dann
„Optimiere dich!“            „nur Abbauprozesse“?
Lob der Kontrolle            Was, wenn ich nicht einmal mehr weiß, wo ich
„Habe alles im Griff!“       gerade bin?
Lob der Leistungsfähigkeit   Nachlassende Leistungsfähigkeit heißt:
„Sei nützlich!“              Nachlassender gesellschaftlicher Nutzen
Lob der Unabhängigkeit       Der Hilfe anderer zu bedürfen-, beeinträchtigt
„Beiß dich durch!“           das meine Würde?
Lob der Rationalität         Wem infolge einer Demenz die Ratio abhanden
„Cogito, ergo sum!“          kommt, ist der noch eine vollwertige Person?

                                Dt. Ethikrat: Selbstbestimmung und Demenz, Sondervotum
Umfragen   40

Umfrage TNS Infratest (2012) im Auftrag der
Patientenschutzorganisation Deutsche
Hospizstiftung
• 1.003 Befragte im Alter ab 14 Jahren
       „Stellen sie sich vor, dass Sie in einem Jahr
       pflegebedürftig werden: Würden Sie sich dann
       kostenlos beim Suizid begleiten lassen?"
                 Ja        Nein     Weiß         Keine
                                    nicht        Angabe
        Männer   48%       42%      8%           3%
        Frauen   52%       39%      7%           2%

                                     Quelle: de.statista.com
„Stellen sie sich vor, dass Sie in einem Jahr
pflegebedürftig werden: Würden Sie sich dann
kostenlos beim Suizid begleiten lassen?"

                          Quelle: Patientenschutz-Info-Dienst, 2012, S. 4)
Ergebnisse der Heidelberger
Hundertjährigenstudien
                 • Hundertjährige sind zum großen Teil
                       gebrechlich und pflegebedürftig
                 • Sie verfügen über ein erstaunliches Maß an
                   Lebenszufriedenheit trotz vielfältiger Einschränkungen
                 • Dafür sind weniger Gesundheit und geistige Fitness, als
                   vielmehr psychologische Stärken wie Optimismus,
                   Lebenssinn und Lebenswillen entscheidend
                                           ja          weder/noch nein

Aus dem Leben das Beste machen             86          12         2
Das Leben hat Sinn                         75          9          16
Religiöse und moralische Grundsätze        73          14         13
Prinzipiell hoffnungsvoll                  73          21         5

                              Rott, 2010; Jopp et al., 2013
Psychologische Ressourcen
hochaltriger Menschen
„Wohlbefindensparadoxon“
• Gesundheitliche und funktionelle Einschränkungen im Alter wirken
  sich nicht notwendig auf das seelische Befinden aus (Perrig-Chiello,
  2007)

Resilienz und Adaptionsfähigkeit
• Intrapsychische Prozesse und Strategien, die es ermöglichen,
         • Einschränkungen zu kompensieren (Baltes & Baltes, 1990)
         • Lebensziele anzupassen (z.B. Brandstädter et al., 2003)
         • Emotionen zu regulieren (Carstensen et al. 1995)
Altersgruppen   21

Suizidraten in Deutschland
(2008 bis 2012)

                                                            Quelle: Statista.com

 • Mit dem Alter ansteigende Suizidrate
 • Im Vergleich zu jüngeren Altersgruppen: weniger Suizidversuche, mehr erfolgte
   Suizide
„Prädikatives Kräftefeld des psychosozialen Dramas“
im Kontext Alterssuizid (Schulz-Nieswandt, 2014):
• Depression
• Schmerz
• funktionelle Beeinträchtigung

Depression
• Bei ca. 71-95% von älteren Personen mit Suizidversuch finden sich
  psychiatrische Erkrankungen, in erster Linie Depression
  (Literaturreview Minayo et al., 2002, zit. N. Mutschler et al., 2013))
• Depressionen im Alter werden unterdiagnostiziert und unzureichend
  therapiert (Wächtler, 2013)
• Insbesondere Psychotherapie wird im Alter ab 65 Jahren kaum noch
  angewendet
Leben im hohen Alter:
Spannungsfelder

      An Ziele und
                                               Abschied nehmen
 Aktivitäten festhalten

  Wachsam sein, die                           Kontrolle abgeben,
   Kontrolle haben                           Vertrauen aufbringen

                                              Auf sich zukommen
    Vorausverfügen
                                                     lassen

                          Bildquelle: http://www.google.de/imgres?
                          imgurl=http%3A%2F%2Fwww.medical-tribune.de
Mitverantwortlich leben können
          Generali Hochaltrigenstudie 2014
          • 400 befragte Personen, Altersgruppe: 85+ Jahre
          • 21% pflegebedürftig nach SGB 11
Zentrale Daseinsthemen der befragten Hochaltrigen (Auszüge)
76% Freude und Erfüllung in der Begegnung mit anderen Menschen
72% Intensive Beschäftigung mit der Lebenssituation und Entwicklung
     nahestehender Menschen – vor allem in der eigenen Familie und in
     nachfolgenden Generationen
61% Freude und Erfüllung im Engagement für andere Menschen
60% Bedürfnis, auch weiterhin gebraucht zu werden und geachtet zu sein
44% Überzeugung, Lebenswissen und Lebenserfahrungen gewonnen zu
     haben, das für Jüngere eine Bereicherung oder Hilfe bedeuten kann
„Pflegefälle“ und „Demente“:
Verbale Ausgrenzung und
Entpersonalisierung

Metamorphose
von Arne Ranslet
Allinge, Bornholm
http://tosommerfugle.blogspot.de/2012/10/arne-ranslet-
metamorphose.html
Sprechen wir mit den
Menschen oder nur über sie?
…in Befragungsstudien
• Die Befragten in vielen Studien: „60 Jahre und älter“
• Personen mit Demenz sind häufig ausgeschlossen

…im öffentlichen Diskurs
• Wie könnte beispielsweise eine Pflegeheimbewohnerin mit Pflegestufe
  2 es anstellen, sich öffentlichkeitswirksam zu äußern?

…im Gespräch
• Wie häufig geht es in Gesprächen mit alten Menschen um die
  „wesentlichen“ Dinge des Lebens?
Lernen und Wachsen
im Dialog mit hochaltrigen Menschen

• für eine differenziertere Sicht auf das hohe
  Alter
• Für ein gutes, gelingendes Leben JETZT

          http://biz.uk-sh.de
Zweite Heidelberger Hundertjährigenstudie
(Boch, 2013)
Das Verhältnis der Hundertjährigen zum Tod
• 87 von 112 Teilnehmern beantworteten die „Lebensende“-Fragen
• „Ist der Tod für Sie eine Bedrohung?“            86 TN -> NEIN
                                                     1 TN -> JA
Manche 100Jährige berichten, dass zwar der Tod für sie keine Bedrohung
darstellt, sie aber Sorge haben, in der Phase des Sterbens z.B.
                 • Schmerzen erleiden zu müssen
                 • Allein gelassen zu sein

• Sehnen Sie sich den Tod herbei?       72%     Nein
                                        13%     manchmal
                                        12%     ja
                         Zitat einer Teilnehmerin:
   „Ich bin bereit jeden Tag zu gehen – nur heute und morgen nicht!“
Ich danke Ihnen für Ihre
      Aufmerksamkeit!

    Erbprinzenstraße 6, 69126 Heidelberg
                Tel. +49 (0)176-24751845
           marion.baer@conceptalter.de
Zum Weiterlesen

Heidelberger Hundertjährigenstudie II
http://www.gero.uni-
heidelberg.de/md/gero/forschung/zweite_heidelberger_hundertjaehrigen_studie_2013.pdf

Generali Altersstudie 2013
http://www.generali-altersstudie.de/online/portal/gdinternet/altersstudie/content

Generali Hochaltrigenstudie 2014
http://www.gero.uni-heidelberg.de/md/gero/forschung/generali_hochaltrigenstudie.pdf

Konzept DEMIAN: Sinnerleben und Wohlbefinden fördern bei Demenz
http://www.gero.uni-heidelberg.de/forschung/demian.html
Literaturhinweise aus dem Workshop

„Wenn alte Menschen nicht mehr leben wollen“
Online erhältlich unter: http://www.naspro.de/dl/memorandum2015.pdf

Kultursensible Altenhilfe
https://www.kultursensible-altenhilfe.de/
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