Sensorische Integration und CHARGE - CHARGE-Syndrom

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Sensorische Integration und CHARGE - CHARGE-Syndrom
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                                      Informationsblatt „Sensorische-Integration“

    Sensorische Integration und CHARGE
    ALISON HAMPSON, DIP COT, SROT, Senior Occupational Therapist, Seashell Trust, (Royal
    School), Manchester, GB

    Sensorische Integration ist der neurologi-
    sche Prozess, der die Sinneswahrnehmungen
    des eigenen Körpers und der Umwelt zentral
    verarbeitet und es uns ermöglicht, den Körper
    in der Umwelt sinnvoll zu nutzen. Alle Sinne
    sind darauf ausgelegt, als Team zusammen-
    zuarbeiten, und wenn ein Sinn beeinträch-
    tigt ist, kann das auch die Verarbeitung von
    Informationen beeinträchtigen, die über die
    anderen Sinne empfangen werden. „Eine gute
    sensorische Verarbeitung ermöglicht es allen
    Impulsen, problemlos und schnell ihr Ziel zu
    erreichen. Die sensorisch-integrative Dysfunk-
    tion ist eine Art ‚Stau‘ im Gehirn. Einige Teile   r­ eibungslose Verarbeitung sensorischer Infor-
    der sensorischen Informationen stehen dann          mationen stören.
    gewissermaßen in diesem Stau, und bestimm-          Auch die sensorische Abwehr ist ein häufi-
    te Teile des Gehirns erhalten nicht die senso-      ges Merkmal des CHARGE-Syndroms. Sie ist
    rischen Informationen, die sie für ihr Funktio-     eine Überreaktion der schützenden Sinne
    nieren benötigen.“ (Ayres, 1972, S. 51, eigene      und gilt als Abwehrreaktion auf unschädliche
    deutsche Übersetzung).                              Reize über ein oder mehrere Sinnessysteme
                                                        ­hinweg.
    Ohne eine gut organisierte sensorische Ver-
    arbeitung können die Wahrnehmungen nicht           Die Sinne
    verinnerlicht werden und zusammenwirken,           Beim CHARGE-Syndrom können alle der
    um eine koordinierte Reaktion zu erzeugen.         ­folgenden Systeme betroffen sein:
    Kinder mit CHARGE-Syndrom haben häufig
    Schwierigkeiten damit, alle Sinne gemein-          Der Tastsinn
    sam in koordinierter Weise einzusetzen.            Das taktile System ist das größte sensori-
    Dies ist entweder auf unter- oder überreak-        sche System und spielt eine wichtige Rolle
    tive Sinnes­systeme zurückzuführen, die die        für das körperliche, geistige und ­emotionale
Sensorische Integration und CHARGE - CHARGE-Syndrom
­ erhalten. Berührungsempfindungen
V                                                    Schwerkraft, Gleichgewicht und Bewe-
­erreichen das Gehirn und teilen uns mit, dass       gung (der vestibuläre Sinn)
 uns etwas berührt. Sie sind unerlässlich für        Das Gleichgewichtssystem befindet sich im
 die Körperwahrnehmung und Bewegung.                 Innenohr und wird durch Kopfbewegungen
                                                     aktiviert. Es sagt uns, wo wir uns im Verhältnis
Wenn bei einem Kind eine kombinierte                 zur Schwerkraft befinden, ob wir uns bewe-
­­Seh- und Hörbehinderung vorliegt, werden           gen oder stillstehen und wie schnell oder
Berührungen zur wichtigsten Quelle von               langsam wir uns bewegen.
­Informationen.
 Eine Überreaktion auf Berührungen kann als          Viele Kinder mit CHARGE-Syndrom haben
 „herausforderndes“ Verhalten erscheinen, ­­         fehlgebildete oder fehlende Bogengänge, so
 z.B.­in Gestalt von selbstverletzendem Ver-         dass eine Störung des Gleichgewichtssystems
 halten oder Aggressionen gegenüber ande-            ein anhaltendes Problem darstellt.
 ren. Dabei handelt es sich eigentlich um eine       Zu den Merkmalen einer solchen Störung
 ­Reaktion auf die mangelnde Wahrnehmung             gehören:
  und Toleranz gegenüber Berührungen. Eine
  solche Überreaktion kann auch ein hohes            • eine dauerhaft geringe Muskelspannung
  Maß an Stress und Angst verursachen.                 und geminderte Fähigkeit, der
                                                       Schwerkraft zu widerstehen
Der Haltungs- und Bewegungssinn (der                 • eine Vorliebe für das Liegen auf dem
propriozeptive Sinn)                                   Rücken oder auf der Seite
Als Propriozeption bezeichnet man die                • eine verzögerte körperliche Entwicklung
­Sinneswahrnehmungen, die wir von unseren              einschließlich des Erreichens von
 Gelenken und Muskeln erhalten. Sie lassen             Sitzgleichgewicht und Mobilität
 uns wissen, welche Haltung, Bewegung, Kraft         • das Suchen nach stärkeren Sinneswahr-
 und Richtung für Aktivitäten erforderlich             nehmungen durch z.B. Drehen,
 sind, beispielsweise für das Zuknöpfen von            Schaukeln, Hüpfen, über Kopf hängen
 ­Kleidung, Schreiben, Aufschrauben eines            • Erschöpfung und Schwierigkeiten, be-
                                                                                          ­­­­­­
  ­Deckels oder Spielen mit einem Spielzeug,           stimmte Körperhaltungen beizu­
                                                                                  ­­   be­­­­halten
   ohne es zu zerbrechen.                            • schlechtes Gangbild und schlechte
                                                       Kopfhaltung
Bei propriozeptiven Problemen kommt es               • Probleme bei der zentralen Verarbei-
u. a. zu:                                              tung aller Sinneswahrnehmungen
• übermäßiger Kraftaufwendung
• einer ungewöhnlich hohen Schmerz-		                Das Sehen
    schwelle                                         Der Sehsinn hilft uns, in der Welt zu navigie-
• sich wiederholenden Verhaltensweisen,              ren sowie die Geschwindigkeit und Entfer-
    die einen starken sensorischen 		                nung von Objekten und anderen Menschen
    Reiz liefern, z. B. Handflattern, Schulter­­­­   zu beurteilen. Beim CHARGE-Syndrom gibt
    zucken, Verlangen nach tiefem 		                 es spezifische Fehlbildungen der Augen,
    Druck sowie zur                                  die eine Sehschädigung verursachen und
• Einnahme von Körperhaltungen, die 		               die Sehfähigkeit beeinträchtigen können.
    zusätzliche taktile und propriozeptive           Dieses Problem kann durch Gleichgewichts-
    Reize geben.                                     probleme noch verstärkt werden. Das Kind
                                                     kann ­kompensatorische Verhaltensweisen
a­ nnehmen, um seine Seh- und Gleichge-          Der Geschmackssinn
 wichtsbeeinträchtigungen auszugleichen, z. B.   Der Geschmackssinn hilft uns zu überleben
 kopfüber hängen, um etwas zu sehen.             und liefert uns wesentliche Informationen
                                                 über bittere, salzige, süße und saure Aromen.
Auch können stärkere Probleme beim Sehen         Diese Geschmacksrichtungen sind wichtig bei
auftreten als gewöhnlich, wenn das Kind          der Auswahl unserer Lebensmittel und kön-
nicht über ausreichende Haltungsstabilität       nen uns auch eine Gefahr, z. B. durch Gifte,
verfügt. Im Freien, wo es an vertikalen Orien-   für den Körper signalisieren. Der Geschmack
tierungspunkten fehlt, kann dies besonders       ist eng mit dem Geruch verbunden, und dies
ausgeprägt sein. Möglicherweise besteht eine     führt oft, zusammen mit Gesichtslähmungen,
Fotophobie, die sich durch ein Bedecken der      zu Problemen beim Essen und Trinken.
Augen bei hellen Lichtverhältnissen äußert.
Es kann auch eine Ptosis (bei der das Augenlid   Wie man Kindern mit CHARGE-Syndrom
einen Teil des Auges bedeckt) vorliegen.         und sensorisch-integrativer Dysfunktion
                                                 helfen kann
Das Hören                                        Nach einer Beurteilung der sensorischen
Der Hörsinn befindet sich im Ohr und steht in    Integration durch entsprechend qualifizierte
Zusammenhang mit der Fähigkeit, Schall zu        und erfahrene pädiatrische Ergothera-
empfangen.                                       peuten kann eine sogenannte „sensorische
                                                 Diät“ erstellt werden, die eine Reihe von
Bis zu 92 % der Kinder mit CHARGE-Syndrom        Aktivitäten umfasst, um den identifizier­ten
haben eine Hörbeeinträchtigung. Hörbeein-        Bereich der Dysfunktion anzugehen. Diese
trächtigungen führen zu Verzögerungen in der     sensorische Diät trägt dazu bei, dass sich das
Sprachentwicklung und allgemein zu Schwie-       Kind öfter ruhig, wach und organisiert fühlt,
rigkeiten bei der Kommunikation und sozialen     und sollte Folgendes umfassen:
Interaktion.
                                                   •    spezifische zeitorientierte regelmäßige
Der Geruchssinn (der olfaktorische Sinn)                Aktivitäten
Gerüche spielen eine wichtige Rolle beim           •    Anpassungen und Änderungen der
Aufbau und Wahrnehmung von Erinnerungen                 Routinen und Interaktionen
und Assoziationen, die einige unserer Ent-         •    Änderungen in der Umgebung und von
scheidungen und Vorlieben beeinflussen - wie            Routinen
zum Beispiel die für eine bestimmte Art von
Parfüm oder Seife. Ein Baby kann seine Mut-      Innerhalb eines Klassenzimmers kann dies die
ter allein am Geruch erkennen, und unsere        Bereitstellung von Ballstühlen bei der Arbeit,
Nahrungswahl hängt stark vom Geruchssinn         eines sicheren Rückzugsraums bei Überlas-
ab. Der Geruchssinn unterstützt auch unsere      tung sowie von Einrichtungen für schwere Ar-
sozialen Interaktionen und hat eine Alarm-       beiten wie Schaukeln und Springen umfassen.
funktion.
                                                 Wenn die sensorischen Bedürfnisse dieser
Aufgrund einer Dysfunktion/Anomalie des          Kinder in ihrem schulischen Umfeld erfüllt
ersten Hirnnervs kann es in über 90 % der        werden, können sie sich leichter auf das
Fälle zu Schwierigkeiten mit dem Geruchssinn     Lernen konzentrieren und Ablenkungen
kommen (Hartshorne et al. 2011).                 ­ignorieren.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass       • Konsequente und vorhersehbare Unter-
viele dieser Kinder oft stark erschöpft sind, da     stützung durch die Umwelt.
sie ständig aktiv an der Integration ihrer Sinne   • Zusammenarbeit mit qualifizierten Fach-
arbeiten müssen, also an einem Prozess, der          leuten, die Erfahrung in der Arbeit mit
bei den meisten Menschen ganz automatisch            multisensorisch beeinträchtigten Kindern
abläuft. Diese Erschöpfung kann sich äußern          haben.
in dem Bedürfnis, sich hinzulegen, den Kopf
auf den Schreibtisch zu legen, als Konzentrati-
onsmangel und als herausforderndes Verhal-
ten, weil sie sich einfach nicht mehr „zusam-
menreißen“ können.

Das herausfordernde Verhalten kann eine
adaptive Reaktion auf den schweren Grad der
multisensorischen Beeinträchtigung sein.
Möglicherweise muss dem Kind ein ruhiger,
von anderen Kindern abgetrennter Bereich
zur Verfügung gestellt werden, in dem es zur
Ruhe kommen kann. Auch kann das Kind von
tiefer Druckmassage oder dem Liegen unter
einer Gewichtsdecke profitieren.

• Verwendung eines ganzheitlichen Kommu-
  nikationsansatzes.
• Verwendung mehrerer Sinneskanäle für
  das Lernen.
• Abwechselnd aktive und passive Aktivi-
  täten während des Tages, da das Kind
  oft besser Funktioniert, wenn es seinen          www.sense.org.uk - aus dem Englischen übersetzt von
  sensorischen Zustand zentral verwalten           U. Walter-Lipow beauftragt durch ­­CHARGE Syndrom e.V.
  konnte.
                                                            Die Informationsblätter wurden im Rahmen der Selbst-
• Pausen von der Sinneswahrnehmung sind                     hilfeförderung nach §20h Sozialgesetzbuch V durch die
                                                            DAK-Gesundheit finanziert.
  unerlässlich, damit das Kind all die sen-
  sorischen Informationen, die ständig auf
  es einprasseln, neu fokussieren und orga-          LITERATUR
  nisieren kann.
                                                     Ayres, A.J. (1972) Sensory integration and learning
• Spezifische Techniken wie Verfahren nach           disorders. Los Angeles: Western Psychological Ser-
  Wilbarger und eine Drucktherapie bei               vices.
  sensorischer Abwehr, z.B. die Verwen-              Hartshorne, T.S. et al. (2011) Introduction. In:
  dung beschwerter Kleidungsstücke oder              CHARGE Syndrome. Abington, Oxfordshire: Plural
  Decken, Vibrationen, die Verwendung von            Publishing. S. xi – xv.
  Schaukeln o.ä.
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