SILVESTER KONZERT - Reiner Schulte, Orgel - Dezember 2019 22.00-23.00 Uhr St. Johannes Backnang - Katholische Kirche Backnang
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31. Dezember 2019 22.00–23.00 Uhr St. Johannes Backnang SILVESTER KONZERT Eschatologischer Tierfriede Reiner Schulte, Orgel
Programm – Variations Matthias Weckmann Gelobet seystu Jesu Christ 1616–1674 – Primus Versus à 4 – Secundus Versus Auff 2 Clavir – Tertius Versus Auff 2 Clavir à 4 – Quartus Versus à 3 Jan Pieterszoon Sweelinck Hexachord Fantasia 1562–1621 "Ut re mi fa sol la" SwWV 263 Christian Heinrich Rinck Sechs Variationen und Finale 1770–1846 (über „Ah, vous dirai-je, Maman“ oder „Morgen kommt der Weih- nachtsmann“) Georg Friedrich Händel Passacaglia 1685–1759 aus Suite Nr. 7 in g-Moll, HWV 432 Sigfrid Karg-Elert Homage to Handel 1877–1933 54 Studies in Variation Form on a Ground Bass of Handel op. 75, 2
Erläuterungen Alle Jahre wieder Kennen Sie Dr. House? Ich kennen jetzt die ersten drei Staffeln. Eigentlich ist es immer das Gleiche: Jemand wird mit unklaren Symp- tomen eingeliefert, stirbt fast, scheint geheilt, erlebt einen drama- tischen Rückfall, und im letzten Augenblick kommt dem misanthropischen Arzt-Genie die rettende Diagnose-Idee. Der Patient wird nach exakt 44 Filmminuten gesund entlassen. Immer. Das interessante ist: Obwohl ich weiß, dass es eigentlich immer das Gleiche ist, will ich die Serie unbedingt weitersehen. Mit Variationen in der Musik ist es genauso. Das Thema ist immer das gleiche. Aber dieses spezifische Ineinander von wohliger Wiederho- lung und Unvorhergesehenem – das macht ihren Reiz aus. Wie unterschiedlich dieses Ineinander aussehen kann, will das Konzert heute andeuten. Matthias Weckmann – 1, 2, 5 und 7 Was ist heute die Hauptaufgabe der Orgel in der Kirche? Sie begleitet den Gemeindegesang. Bis weit ins 18. Jahrhundert war das allerdings völlig anders – in evan- gelischen wie in katholischen Kirchen. Bis dahin hat die Orgel niemals den Gemeindegesang begleitet , sie hat sich vielmehr mit dem Ge- sang abgewechselt: Eine Strophe spielt die Orgel, die nächste wird (von der Gemeinde oder vom Chor) gesungen, dann kommt wieder die Orgel, und so weiter. Alternatim-Praxis nennt man das Verfahren. Genau für diese Praxis waren Orgelversetten von Matthias Weckmann (1616–1674) gedacht. Bei einem Lied, das wie "Gelobet seystu" sie- ben Strophen hat, spielt die Orgel viermal, und zwar anstelle der Stro- phen 1, 3, 5 und 7. Als Weckmann 1667 seine per versus („durch die Verse“)-Variationen über das Weihnachtslied "Gelobet seyst, Jesu Christ" geschrieben hat, war diese Art der Choralbearbeitung bereits im Schwinden. Die neue Art, die Gesänge zu begleiten und vorab ein Choral-Vorspiel zu spie- len, setzte sich allmählich durch. Mit Weckmanns per versus-Chorälen
erreicht die Gattung aber auch ihren Höhe- punkt. Was hier an kon- trapunktischer Finesse Gelobet seystu Jesu Christ im Erfurter Enchiridion, 1524 und Klangsinnlichkeit aufgeboten wird, gibt es vorher nicht, und auch nicht mehr da- nach. Der zweite Vers wächst sich gar zu einer Choralfantasie* aus und dauert allein rund sieben Minuten. Die Gläubigen in der Hamburger Hauptkir- che St. Jacobi brauchten anno 1667 also Ausdauer. Aber sie wurden auch reich be- lohnt. * Choralfantasie Choralfantasien des norddeutschen Orgelbarock sind lange Choralbear- beitungen, die die Möglichkeiten der norddeutschen High-End-Orgel mit ihren räumlich getrennten Teil-Werken voll auskosten. Sie sind ein Gipfel der choralgebundenen Orgelmusik, nicht nur der Barockzeit. Die Kompo- nisten verschmelzen in der Choralfantasie Techniken der in England und den Niederlanden entwickelten Fantasie (z.B. die Hexachord-Fantasie von Sweelinck, dem nächste Stück im Programm) mit Praktiken der Choralbearbeitung. Jan Pieterszoon Sweelinck – Mehr Sein als Schein "Der Musiker nehme ein thematisches Motiv nach seinem Gefallen und drehe und wende es nach Belieben; er mache daraus viel oder wenig - ganz wie es seiner Ansicht nach am besten sich fügt." (Thomas Morley, 1597) Was hier so unprätentiös klingt ist die Anleitung zu einer musika- lischen Gattung, die schon um 1600 die Emanzipation der Instrumen- talmusik vorwegnimmt, die eigentlich erst um 1800 auf breiter Front
realisiert wird. Dass die Fantasie in der elisabethanischen Epo- che, der Zeit Shakespears und vieler weiterer Beiträge Eng- lands zu europäischen Zivilisati- on erdacht wurde, ist wohl eher kein Zufall. Die Fantasie, die Morley 1597 beschreibt, ist keine Musik für irgend einen bestimmten Zweck, sie ist auch nicht an ei- nen Text gebunden, wie alle an- dere (bedeutende) Musik um 1600. Sie ist l´art pour l´art, Kunst um ihrer selbst Willen, ein freies Spiel der Töne. Es basiert le- diglich auf zwei Voraussetzungen: es gibt ein Thema und dieses The- ma soll möglichst abwechslungs- reich bearbeitet werden. Die ersten Meister der Fantasie waren die englischen Virginalisten (William Byrd, John Bull u.a.). Der Niederländer Jan Pieterszoon Sweelinck entwickelt die Gattung weiter und hat damit großen Einfluss auf die nachfolgende Generation von norddeutschen Organisten (Praetorius, Weckmann, Buxtehude). Michael Praetorius (Syntagma musicum, 1619) lässt auch mehrere Themen zu: "Phantasia [...] Wenn einer nach seinem eigenen plesier und gefallen eine Fugam zu traktieren vor sich nimpt/ darinne aber nicht lange in- norieret [verweilt]/ sondern bald in eine andere Fugam/ wie ihme in Sinn kömpt/ einfället." Sweelnicks Hexachord-Fantasie bietet interessanterweise beides: so- wohl ein Thema als auch mehrere Themen. Das eine Thema ist der He- xachord: ut, re, mi, fa, sol, la; oder: c, d, e, f, g, a. Das ist eigentlich noch keine Melodie, sondern nur eine abstrakte Tonreihe. Und diese Tonreihe durchzieht das ganze Stück. Am Anfang in "Pfundsnoten
(Ganze Noten), später in immer kürzeren Notenwerten (Halben, Vier- tel, am Schluss Achtel). Zu diesem immergleichen Hexachord-Thema, das das ganze Stück wie ein roter Faden durchwirkt, treten im Verlauf des Stückes verschie- dene weitere Themen, die ihrerseits kontrapunktisch durchgeführt werden, ganz wie es Praetorius 1619 beschreibt. . Hexachord-Fantasien gab es zwischen 1580 und 1650. Sie galten schon damals in ihrer demonstrativen Kunstfertigkeit als besonders "gelehrt". Und für die Gattung der Variation sind sie ein bemerkens- werter Sonderfall, nämlich eine Synthese von Fantasie, cantus-firmus- Bearbeitung und Ostinato-Variation. Christian Heinrich Rinck – „sachte mitsingen“ "Stücke mit Veränderungen sollen beständig solche Arietten seyn, die dem Zuhörer bekannt sind. Man muss bei solchen Stücken dem Publikum das Vergnügen gön- nen, sie sachte mitsingen zu können." (J. P. Milchmeyer, Die wahre Art das Pianoforte zu spielen, Dresden 1797) Christian Heinrich Rinck war als Orgelpädagoge und -komponist eine der prägenden Gestalten für die Orgelmusik um 1820, ein Karl Strau- be des 19. Jahrhunderts. Geboren im gleichen Jahr wie Beethoven, war er über seinen Lehrer Johann Christian Kittel ein Enkelschüler Jo- hann Sebastian Bachs. Seinen Variationen hört man das durchaus an. Aber seit den Zeiten des Thomaskantors hat sich Einiges in der Musik verändert. Variationen über Choräle gab es schon seit dem ersten Drittel des 18. Jahrhun- derts kaum noch. Bach selbst hatte die letzten Monumente hinterlassen, seine Choralpartiten. Auch Ostinato-Variati- onen (Ciacona, Passcaglia, Folia) hat nie- mand mehr komponiert. In der Mozartzeit kamen dann Variationen über Opernarien und Gassenhauer auf. Und so ein Gassenhauer war "Ah, vous dirais-je, Maman". Mozart hat 1781/82
zwölf Variationen über die Melodie komponiert (KV 265). Das Thema selbst ist von 1740 und wurde 1761 zuerst ohne Text ge- druckt. 1774 kam der Text "Ah, vous dirais-je, Maman" dazu, ein idyl- lische Schäferdichtung, ein Liebesgedicht. Ach! Soll ich Ihnen sagen, Mama, Wer verursacht meine Qual? Seit ich gesehen wie Silvandre Mich mit zärtlichem Blick betrachtet, Sagt mein Herz jeden Augenblick: „Kann man leben ohne Liebenden?“ Seither wird die Melodie auf verschiedenen Texte gesungen "A, B, C, D, E , F , G" oder "Twinkle, Twinkle Little Star" sind die bekanntesten. Heute kennen wir vor allem "Morgen kommt der Weihnachtsmann". Dieser Text ist von Hoffmann von Fallersleben aus dem Jahr 1835. Als Rinck sein Orgelstück 1828 komponiert hat, konnte er diesen Weih- nachtstext also noch nicht kennen. Er hat es überhaupt seinem Zuhörer überlassen, welchen Texte er „sachte mitsingt“. Bei ihm heißt das Stück schlicht "Sechs Variationen und Finale". Händel – 17 mal Eine Passacaglia ist eine Ostinato-Variation, in der ein Folge von Bass- tönen (und damit von Harmonien) immer und immerwieder als Osti- nato wiederholt wird. In Händels Passacaglia dauert eine Durchgang vier Takte und wird 17 mal gespielt. Karg-Elert – 54 mal Sigfrid Karg-Elerts (1877–1933) Stück ist Musik über Musik, Variationen über Variationen. 54 Variationen hat er über das Händel-Thema ge- schrieben. "Studies in Variation Form", wie er es nennt. Das Stück ein ein Kaleidoskop von Orgelklangfarben. Karg-Elerts Regis- trierungs-Anweisungen sind so abwechslungsreich wie überraschen – selbst für Organisten. Als wollte Karg-Elert demonstrieren, welche ver- rückten Farben man noch aus einer Orgel hervorzaubern kann. An einem der Höhepunkte des Stückes zitiert Karg-Elert ein sehr be- kannten Stückes von Georg Friedrich Händel. Erkennen Sie es? (Ein Tipp: Das "Largo" aus Xerxes ist es nicht.)
Ein gesegnetes, friedliches Jahr 2020 wünscht Ihnen im Namen der Katholischen Kirchengemeinde Backnang Ihr Reiner Schulte
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