Substanzaufgabe als Stadtentwicklung
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31 Substanzaufgabe als Stadtentwicklung Aktueller Nutzungsdruck im geschlossenen Gründerzeitquartier TOBIAS PANKE SUMMARY Denkmallandschaft A large proportion of the historic urban fabric in Die wechselhafte Geschichte der etwa 950 Jahre the city of Görlitz is composed of intact and cohe- alten Stadt Görlitz mit ihren unterschiedlichen Ein- sive housing stock dating from the Wilhelmine era. flüssen, die nicht zuletzt der wechselnden Landes- Through decreasing population levels and intraur- zugehörigkeit zu verdanken sind, lässt sich bis heute ban migration, entire districts have seen and are ablesen. Als erste Boomzeit ist das Spätmittelalter now seeing a massive rise in the rate of vacancy. In und die Frühe Neuzeit zu bewerten, ehe die Stadt a situation such as this, how can urban functions be aufgrund von wirtschaftlichen Veränderungen und supported and new forms of residential occupation den Folgen des Oberlausitzer Pönfalls ab der Mitte implemented? des 16. Jahrhunderts eine erste Rezession erlebte. Residences for senior citizens represent just one Durch den Dreißigjährigen Krieg und seine Fol- possibility for reactivating these unused buildings. gen sowie die wirtschaftliche Bedeutungslosigkeit Large rental corporations and tenants' associations im 18. Jahrhundert gelang es der Stadt nicht, an die in particular are eager to invest in these kinds of wirtschaftliche Prosperität vergangener Jahrhun- repurposing concepts. derte anzuknüpfen. Erst mit dem landesherrschaft- The majority of the Wilhelmine-era buildings in lichen Wechsel von Sachsen nach Preußen 1815 Görlitz still possess their original interior fixtures als Teil der Sächsischen Reparationen begann eine and finishes: colour schemes, flooring, plasterwork, zweite Blüte, die bis zum Ausbruch des Zweiten stairwells, heating stoves and doors all remain in- Weltkrieges anhielt. Durch die Grenzfestsetzung tact. Due to the introduction of new building norms der Oder-Neiße-Linie nach 1945 lag Görlitz nun such as handicapped accessibility, however, and am Rande der DDR. Mit der Wende 1989/90 wurde also as a result of financial considerations, many Görlitz Teil Sachsens und ist seitdem die östlichste buildings are being retrofitted with elevators, a de- Stadt Deutschlands. velopment that presents a major threat to the his- toric significance contained in their materials and Das Image des Ästhetischen construction. Seit den 1990er Jahren spielt denkmalpflegeri- Can and should historic preservation considera- sches Handeln eine zentrale Rolle in der touristi- tions be set aside and the material integrity of these schen Vermarktung der Stadt. Die nahegelegenen buildings be relinquished in order to facilitate their Braunkohlekraftwerke und die Vernachlässigung repurposing – indeed, for the sake of repurposing? der historischen Bausubstanz während der DDR Görlitz is by no means an isolated example hatten Görlitz zu einer grauen Stadt mit desolatem of an urban centre in an economically and infra Baubestand werden lassen. Die Aufbruchstimmung structurally underdeveloped region. Yet it can serve der Nachwendezeit hinterließ sichtbare Spuren des as a clear example of the conflict between historic Erfolges, ganze Straßenzüge wurden durchsaniert, preservation and the necessity for development, and scheinbar dem Verlust preisgegebene Objekte konn- the approaches being sought to resolve that conflict. ten gerettet werden. Dabei lag der Fokus vor der Jahrtausendwende auf der Sanierung der ältesten Stadtteile wie Alt- stadt und Nikolaivorstadt sowie dem Zentrum1. In den 2000er und 2010er Jahren weiteten sich die Sa- nierungsgebiete auf die Gründerzeitquartiere aus. Tobias Panke, Substanzaufgabe als Stadtentwicklung. Aktueller Nutzungsdruck im geschlossenen Gründerzeitquartier, in: Herold, Raabe (Hrsg.), Erhaltung. Akteure – Interessen – Utopien, Heidelberg: arthistoricum.net 2021, S. 31-37, https://doi.org/10.11588/arthistoricum.694.c12181
32 Substanzaufgabe als Stadtentwicklung Tobias Panke Vor allem der Deutschen Stiftung Denkmalschutz Altstadt noch die Gründerzeitquartiere als Sach- (DSD) ist es zu verdanken, dass Millionenbeträ- gesamtheit im Sinne des Gesetzes deklariert. Hier ge in die Sanierung der historischen Bausubs- klafft offensichtlich eine Lücke zwischen dem me- tanz flossen, gleichwohl führte dies auch zu einer dial Tradierten und der Realität. Ist ein Superlativ medialen Aufmerksamkeit. So titelte Welt.de am erst einmal im Umlauf, ist es schwer ihn mit dem 17. April 2015: „Der Gründer der Deutschen Stif- Tatsächlichen in Einklang zu bringen. tung Denkmalschutz, Gottfried Kiesow, nannte Görlitz wird also als historisch überlieferte, na- Görlitz die ‚schönste Stadt Deutschlands‘ und un- hezu unzerstörte Stadt vermarktet. Ein ästhetisches terstützte die Bürger bei der Sanierung ihrer Häu- Gesamtensemble, ein Kunstwerk. Dabei treten ser.“2 einzelne Highlights wie die Art-Déco-Turnhalle Aber auch eine bis 2016 jährlich erfolgte Spen- (1926), die Neue Synagoge (Lossow und Kühne, de, die sogenannte Altstadtmillion, sorgte für regel- 1911) und das Jugendstilkaufhaus (Carl Schmanns, mäßige überregionale Beachtung. Das durch eine 1913) zurück. An der Ästhetisierung historischer Stiftung verwaltete Geld war explizit für denk- Bausubstanz war auch die amtliche Denkmalpflege malpflegerische Maßnahmen bestimmt. Hierdurch nicht unbeteiligt. Der perforative Ansatz der sächsi- konnten gezielt aufwendige Methoden durchge- schen Denkmalpflege sorgte vor allem in den Nach- führt, herausragende Details restauriert und he- wendejahren für Rückbauten ganzer Zeitschichten. rausfordernde Projekte umgesetzt werden. Die Die kurze zeitliche Distanz führte zum Verschwin- Wandlung vom vernachlässigten grauen Städtchen den von DDR-Ladeneinbauten in gründerzeitlichen am Rande der Republik zu einem architektonischen Gebäuden etwa auf der Hauptgeschäftsstraße, der Kleinod mündete in Leistungsschauen wie Das Berliner Straße. Aber auch barocke Überformungen Wunder der Görlitzer Altstadtmillion (Ausstellung an den Kaufmannshöfen wurden zugunsten der und Publikation, 2017), Görlitz – Auferstehung eines ästhetisch bevorzugten Zeitphase der Renaissan- Denkmals (Ausstellung und Publikation, 2017) und ce zurückgebaut. So verschwanden Stuckdecken, Fernsehbeiträgen beispielsweise Görlitz – Schatzt- Portale und Wandoberflächen aus dem 18. Jahrhun- ruhe der Geschichte (ZDF, 2016). dert. Neben der Denkmalpflege unterstützte auch Auch das Marketing der Stadt hat dieses Pfund die Stadtbildgestaltung diesen Prozess. So wurde für sich entdeckt und wirbt auf seiner Webseite mit beispielsweise in der Altstadt ein Großteil DDR-zeit- dem architektonischen Schatz der Stadt: „Wer Gör- licher Straßenlaternen durch Gaslaternenimitate litz besucht wird augenblicklich zum Zeitreisenden. ersetzt. Das Image Görlitz als schöne, unzerstörte Denn auf wenigen hundert Metern lassen sich hier Stadt basiert daher nicht auf der Marketingstrategie Schätze aus mehr als einem halben Jahrtausend einer Werbeagentur, sondern ist das Resultat eines europäischer Architekturgeschichte entdecken. Prozesses. Spannend dabei ist, dass ihr touristi- Mit Bauwerken aus Spätgotik, der Renaissance, des sches Image hauptsachlich auf Architektur aufbaut, Barocks und des Jugendstils gilt Görlitz heute als und hierbei durch die Fixierung auf das Gesamtbild städtebauliches Gesamtkunstwerk.“3 „Stadt“ Architektur auch für ein fachfremdes Publi- Dabei haben sich in vielen Beiträgen Unsauber- kum touristisch erschlossen werden kann. keiten eingeschliffen. Oft ist von 4.000 Einzeldenk- malen (nach aktueller Zählung sind es ca. 3.200) Die schrumpfende Stadt und Deutschlands größtem Flächendenkmal die Mit der industriellen Revolution wuchs auch Gör- Rede. So titelte Welt.de am 07.07.2003 „Rund 3.500 litz zu einer bevölkerungsreichen Stadt an. Hatte Gebäude stehen in Görlitz unter Denkmalschutz, sie 1850 noch 20.000 Einwohner*innen, waren es zusammen bilden sie das größte zusammenhän- in den 1930er um die 95.000 Einwohner*innen. gende Flächendenkmal in Deutschland.“4 Woher Aufgrund von Flüchtlingsströmen erreichte der die Denkmalanzahl entnommen ist, lässt sich nicht deutsche Teil der nun geteilten Stadt 1945 eine mehr ermitteln. Auch der Begriff des Flächendenk- Bevölkerungszahl von ca. 100.000 und erlangte mals scheint nicht mehr aus dem Orbit eingefangen dadurch kurzzeitig den Großstadtstatus. Die nun werden zu können. Optisch stellen die kartierten entstandene dezentrale Lage in der DDR, aber auch Denkmale in der Summe eine Fläche dar, doch ein der in allen Industrienationen vorhandene Trend Flächendenkmal kennt das sächsische Denkmal- der die Sterberate unterschreitenden Geburtenrate schutzgesetz nicht. Auch sind weder die Görlitzer sorgten in Görlitz für einen Bevölkerungsrückgang
Tobias Panke Substanzaufgabe als Stadtentwicklung 33 in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. So pe- das heißt das Ausufern weiterer Einfamilienhaus- gelte sich die Einwohnerzahl um das Jahr 2010 auf siedlungen muss auch politisch und mehrheitlich ca. 55.000 ein. Seit 2015 ist die Bevölkerung auf abgelehnt werden. Allerdings muss derzeit jeder 57.000 Bewohner*innen gestiegen. Wohnungsneubau mit mehr als drei Wohneinheiten vom Stadtrat freigegeben werden. Innerstädtische Migrationsbewegungen Leidtragende dieser Migrationsbewegungen Die Ablehnung des Sozialismus gegenüber der grün- sind die Gründerzeitquartiere. Derzeit stehen in derzeitlichen Stadt als Repräsentation des kapitalis- Görlitz ca. 7.000 Wohnungen leer. Betroffen sind tischen 19. Jahrhunderts, fehlende Finanzmittel und vornehmlich die Innenstadt West und der südliche schließlich auch der noch nicht erkannte zukünfti- Teil der Innenstadt. Bei einem Gesamtwohnungsbe- ge Bevölkerungsschwund sorgten zu DDR-Zeiten für stand von etwa 32.000 Wohneinheiten entspricht die Entstehung neuer Wohnquartiere an den Rand- dies etwa einem Leerstand von 22 Prozent.5 Die lagen der Stadt. Zunächst wurden in den Stadtteilen Folgen sind unübersehbar. Der jahrzehntelange Weinhübel (ab 1956) im Süden, Rauschwalde (ab Nutzungsausfall sorgt gleichsam für nachlassen- 1975) im Südwesten und schließlich in Königshufen den Bauunterhalt. Dabei folgt die Schädigung der (1978–1987) im Norden Großwohnsiedlungen mit Objekte dem typischen Verfallsmuster: Mängel in typisierten Wohnblöcken (IW 64, WBS 70) erreich- der Dachhaut oder Dachentwässerung führen zum tet. Somit kam es zu einer ersten innerstädtischen Eindringen von Regenwasser, was hölzerne Bauteile Migrationsbewegung: Die Menschen verließen die wie Dachstuhl und Zwischendecken beeinträchtigt. Häuser der innerstädtischen Lagen und zogen an die Diese lösen sich durch den mit der Feuchtigkeit Stadtränder. Den mit allen Annehmlichkeiten (Zen- einhergehenden biogenen Befall auf und verlieren tralheizung, Licht, Luft) ausgestatteten Neubauten schließlich ihre das Gebäude aussteifende Wirkung. hatten die vernachlässigten und unmodernisierten Derzeit sind etwa 160 Gebäude in ihrem Erhalt ge- Altbauten nichts entgegenzusetzen. fährdet, davon 70 akut. Mitarbeiter des Amtes für Nach 1990 setzte ein doppelter Trend ein: Ka- Stadtentwicklung kontrollieren regelmäßig den Zu- pitalgewinn, Individualisierung und staatliche För- stand dieser Objekte. dermittel halfen der Bevölkerung Wohneigentum zu erwerben. So entschieden sich einige Görlitzer, Folgen für gründerzeitliche Kulturdenkmale verfallene Gebäude in der Altstadt zu erwerben und Die Wohnbebauung der Görlitzer Gründerzeit zu privaten Wohnhäusern umzunutzen. In erster zeichnet sich durch mehrere Aspekte aus. Das brei- Linie boten sich kleinere Handwerkerhäuser als te Spektrum dessen, was an Wohnbauaufgaben ab Einfamilienhäuser in zentraler Lage an. So ist die 1871 umgesetzt werden musste, ist in Görlitz re- Nikolaivorstadt mit ihren kleinen Häusern aus dem präsentativ überliefert. So ist von großbürgerlichen Spätmittelalter und der Neuzeit das erste Quartier, Stadtvillen mit Vorgärten, etwa auf der Augusta das nach 1990 komplett durchsaniert war. Andere straße, bis hin zu viergeschossigen Arbeiterhäusern hingegen erfüllten sich den Traum von der eige- (Spremberger Straße) jeder Bautyp vertreten. Hinzu nen Scholle in städtischen Randlagen oder auf dem kommt, dass durch geringe Schädigungen im Zwei- Lande. So entstanden ab den 1990er Jahren neue ten Weltkrieg komplette Straßenzüge und gesam- Einfamilienhaussiedlungen wie beispielsweise Am te Quartiere durchgehend von gründerzeitlicher Stockborn oder in Rauschwalde und lösten somit Blockrandbebauung geprägt sind. Bebauung aus eine zweite innerstädtische Migrationswelle aus. den Zwischen- und Nachkriegsjahren unterbricht Trotz Nachhaltigkeitsdebatten, Verkehrspro- die geschlossenen Straßenzüge nicht. Darüber hi- blemen und dem anzweifelbaren Sinn in struk- naus sorgte die Vernachlässigung der Gebäude für turschwachen Regionen Neubauten als Kapitalan- die unberührte Überlieferung ihrer Ausstattung. So lage zu implementieren, ist der Wunsch nach dem weisen vor allem die bis heute unsanierten Objek- Eigenheim auf der grünen Wiese in Görlitz ein an- te die Ausstattung ihrer Erbauungszeit auf: Öfen, haltender Trend. Ohne das komplette Stadtgebiet Gasleitungen, Ausmalungen, Böden, Stuckdecken, mit Bebauungsplänen zu belegen, die Neubauten Türen und Fenster sind seit mehr als hundert Jah- grundsätzlich ausschließen, ist dieser Trend kaum ren unverändert vorzufinden. Die hohe künstleri- aufzuhalten. Dabei müssen Bebauungspläne vom sche Qualität, die allen Gründerzeitbauten gemein Stadtrat bzw. seinen Gremien genehmigt werden, ist, zeugen von dem hohen Anspruch und Reichtum
34 Substanzaufgabe als Stadtentwicklung Tobias Panke einer aufstrebenden Stadt des ausgehenden 19. Jahr- nen. Stattdessen wurde beispielsweise der Stadtteil hunderts. Selbst die Fassaden der Arbeiterhäuser Königshufen bis in die 2010er Jahre aufgewertet. sind reich mit Stuckdekor überzogen. Ungestaltete, Die Bauten des Typs WBS 70 wurden umfangreich zurückhaltende Fassaden existieren nicht. Selbst saniert und mit Aufzügen ausgestattet; um das Ge- die Hauseingänge sind in diesen Objekten kunstvoll biet besser an die Innenstadt anzubinden, erfolgte gestaltet. der Bau einer zusätzlichen Straßenbahntrasse. Ziel Somit ist ein Großteil der Görlitzer Gründerzeit- des kommunalen Großvermieters KommWohnen bebauung Kulturdenkmal im Sinne des sächsischen (ehem. Wohnungsbaugesellschaft Görlitz) ist der Denkmalschutzgesetzes. Der Denkmalwert der Transformationsprozess zu einer durchgrünten, gründerzeitlichen Wohnbebauung ist in den frühen kleinteiligen „Gartenstadt“.6 1990er Jahren erkannt worden. Dabei handelt es Dadurch ist der Konkurrenzdruck auf die in- sich nicht um Sachgesamtheiten, sondern stets um nerstädtischen Gründerzeitwohnungen enorm ge- Einzelkulturdenkmale. Damit haben die genann- stiegen, der gesamtstädtische Wohnraum nur wenig ten Quartiere einen Denkmalbestand von bis zu reduziert und der Erhalt der randständigen Viertel 100 Prozent (Abb. 1). Der Objektverfall wird daher manifestiert worden. Ein weiterer Rückbau dieser nicht nur zum städtebaulichen Problem, sondern pri- Stadtgebiete ist derzeit weder wirtschaftlich noch mär zu einem denkmalschutzrechtlichen. Die ent- politisch umsetzbar. scheidende und aktuelle Fragestellung der Stadtent- wicklung in Görlitz ist daher, wie die leerstehenden Ideen und Akteure Objekte wieder einer Nutzung zuzuführen sind. Somit bleiben nur die Möglichkeiten des freien Marktes, die Gründerzeitgebäude mit Leben zu fül- Die Aufwertung der Ränder als misslungener len, wobei bei einem Leerstand von einem Fünftel Stadtumbau des Gesamtwohnungsbestandes ein Wohnungs- Auch die Großwohnsiedlungen der 1950er bis markt als nicht mehr funktionierend betrachtet 1980er Jahre verloren durch Abwanderung und in- werden muss. Daher scheint es nur naheliegend, nerstädtische Migration nach 1990 Einwohner*in- zur Aktivierung der Gründerzeitquartiere ande- nen. Die seitens der Stadtverwaltung aufgekom- re Nutzungen als Wohnnutzungen zuzulassen. Es mene Idee, sich großflächig von ganzen Quartieren gilt Funktionen, die bisher die Randlagen erfüllt innerhalb dieser Siedlungen zu trennen, das heißt haben, in die Stadt zurückzuholen. Aufgrund der einen Totalabbruch der äußeren Blöcke durchzufüh- hohen Denkmaldichte können diese Funktionen al- ren, konnte nicht umgesetzt werden. Hierzu waren lerdings nicht durch Neubauten erfüllt werden, da die Großvermieter als Eigentümer nicht zu gewin- schlichtweg kein Raum zur Verfügung steht. Bau- Abb. 1: Görlitz, Innenstadt West, Denkmalkartierung mit rot markierten Einzeldenkmalen (Stand Februar 2020).
Tobias Panke Substanzaufgabe als Stadtentwicklung 35 lich einfach umzusetzende Nutzungsänderungen spielen hierbei eine untergeordnete Rolle – Büro- oder Praxisräume lassen sich einfach und ohne gro- ße bauliche Veränderungen in ein gründerzeitliches Wohnhaus integrieren. Durch die städtische Überalterung ist betreu- tes und seniorengerechtes Wohnen stark nachge- fragt. Normierungen durch den Gesetzgeber und Fördermittelgeber (beispielsweise der Sächsischen Aufbaubank oder der KfW) sind im Denkmal ohne hohen Substanzverlust nur schwer umzusetzen. So entschied sich das städtische Wohnungsun- ternehmen KommWohnen zum Erwerb und Umbau der Leipziger Straße 19, 20 und 20a. Es handelt Abb. 2: Leipziger Straße 19, 20, 20a (April 2016). sich hierbei um drei repräsentative, viergeschossige Gebäude mit aufwendigem Dekor, Figurennischen und Balkonen (Abb. 2). Während das Eckgebäude (20a) schwer geschädigt war, wiesen Nummer 19 und 20 nur wenige Schäden auf. So war sämtliche baufeste Ausstattung erhalten geblieben. Neben der historistischen Erstausstattung (Türen, Geländer, Böden) hatte sich auch eine Art-Déco-Ausmalung der 1920er Jahre erhalten.7 KommWohnen titelte im Bautagebuch ihrer Website am 16.04.2019 Leipziger Straße 19/20/20a. Baustart fürs nächste Gründerzeitprojekt: „[…] In der Leipziger Straße 19, 20 und 20a starten die Bauar- beiten für unser nächstes großes Projekt. In den drei benachbarten Gebäuden entstehen seniorengerech- te Wohnungen in unterschiedlichen Größen. Dafür Abb. 3: Leipziger Straße 20, Deckenausmalung in der Durchfahrt aus der Zeit werden die Häuser miteinander verbunden [...]. der letzten Jahrhundertwende bzw. der 1920er Jahre (vor Herbst 2019). Dadurch kann ein Aufzug alle drei Gebäude er- schließen. Die Wohnungen werden barrierearm dran. Auch sie werden nach historischem Vorbild er- sein, bodengleiche Duschen und große Balkone ha- neuert. Schließlich stehen die Häuser unter Denk- ben. An den Straßenseiten werden die historischen malschutz.“9 Balkone der Häuser Nummer 19 und 20 wiederher- gestellt. Das Projekt ist aus der Richtlinie Senioren- Wie kann ein derart grober, eben nicht pfleglicher gerechtes Wohnen finanziell gefördert. […] Wie es Umgang mit Kulturdenkmalen erklärt werden? aktuell in den Häusern aussieht und welche Spuren die früheren Mieter hinterlassen haben, zeigen fol- 1. Nicht die Nutzung orientiert sich am Bestand, gende Fotos:“8 (Abb. 3). Von den erwähnten Spuren sondern der Bestand wird der Nutzung unter- der Vormieter hat sich indes nichts erhalten. Beson- worfen. Die massiven Eingriffe sind im Eckge- ders stark wurde das mittlere Gebäude (Nr. 20) we- bäude vertretbar. So wurden hier die Zwischen- gen des einzubringenden Aufzuges entkernt. Das decken in Beton ausgeführt, da die bauzeitlichen kunstvoll gestaltete Treppenhaus ist verschwunden Decken bereits weggebrochen waren. Die Ein- (Abb. 4). Doch auch restaurierungsfähige Bauteile, griffe in den anderen beiden Gebäuden führen wie die Balkone an der Front, werden ausgetauscht. zu unwiederbringlichen Substanzverlusten und Hierzu hat der Eigentümer seine eigene Interpre- negieren den Charakter des Kulturdenkmals. tation denkmalpflegerischen Handelns: „An Haus- 2. Als wirtschaftlich potentester Vermieter sieht nummer 20 sind die alten Balkone im Moment noch sich der Großvermieter als einziges Unterneh-
36 Substanzaufgabe als Stadtentwicklung Tobias Panke Probleme Dieses Agieren zieht denkmalrechtliche und denk- maltheoretische Fragestellungen nach sich: Vorbildwirkung Wie verhält es sich mit der Vorbildwirkung, wenn die städtische Wohnungsbaugesellschaft bei glei- chen Sachverhalten, sprich gleichartigen Gebäuden, anders agiert als man es einem weniger potenten Investor zubilligen würde? Umkehrung der Werte Ist es vertretbar, dass die Umnutzung eines Kul- turdenkmals sich ausschließlich an den neuen Nutzungsanforderungen orientiert? Ist der Aus- handlungsprozess aller am Bau Beteiligten somit hinfällig? Denkmalwert Wie sind solche Objekte nach ihrem Substanzver- lust zu bewerten? Kann einem entkernten Grün- derzeitgebäude dieselbe Wertzuweisung anheim kommen, wie einem vorbildlich sanierten? Eine Ka- tegorisierung der Kulturdenkmale kennt das säch- sische Denkmalschutzgesetz nicht. Kann ein aus- gehöhltes Objekt überhaupt noch Kulturdenkmal bleiben? Oder sollten die im inneren aufgelösten Objekte somit rein auf ihren städtebaulichen Wert reduziert werden? Abb. 4: Leipziger Straße 20 (November 2019). Fassade Denkt man die rein städtebaulichen Werte zu men im Stande, Großprojekte und Projekte in Ende, steht die amtliche Denkmalpflege vor einem schwierigen Lagen zu verwirklichen und dadurch Dilemma. Schließlich ist es primär ihre Aufgabe, auch zusätzliche Fördermittel zu akquirieren. möglichst viel Substanz zu erhalten. Eine reine Fas- 3. Es entsteht die Erwartungshaltung, dem Investor sadendenkmalpflege ist nicht Ziel denkmalpflegeri- größere Spielräume zu eröffnen mit dem finalen schen Handelns. So war und ist es das Credo der Ziel der Kostenersparnis. Denkmalpflegerische Stadt, dass sich das, was außen sichtbar ist, auch Auflagen werden als Kostentreiber gesehen. im Inneren fortsetzt. Damit stehen die gründerzeit- 4. Von KommWohnen als kommunaler Wohnungs- lichen Gebäude in der praktischen Betreuung im gesellschaft kann der denkmalpflegerische Widerspruch zu bereits betreuten Objekten und zu Mehraufwand steuerlich nicht geltend gemacht den anspruchsvoll sanierten Objekten der Altstadt. werden. Somit müssen alle Kosten der Bauauf- wendung selbst und mithilfe von Fördermitteln Problem der amtlichen Denkmalpflege gestemmt werden. Durch den aus dem Leerstand resultierenden Druck muss sich die städtische Denkmalpflege an der Ein solches Konzept zielt vor allem auf eines ab: weg Marktfähigkeitsmachung leerstehender Objekte von der Substanzdenkmalpflege hin zur rein städte- beteiligen. Der Verweis auf das gesetzlich definier- baulichen. te Zumutbare ist hierbei eine nicht durchsetzbare Argumentationsgrundlage. So sind derzeit bereits in den gründerzeitlichen Wohngebäuden der Stadt
Tobias Panke Substanzaufgabe als Stadtentwicklung 37 einige Standards der Denkmalpflege unterschritten bringt nichts, wenn zu Geschäften, ÖPNV und öf- und werden somit, sofern sie dennoch eingehalten fentlichen Institutionen keine Verbindung besteht. werden, seitens der Eigentümer als Entgegenkom- Als ein reines Schlafquartier kann ein Gründerzeit- men betrachtet. Dazu zählen: Wiederverwenden viertel nicht funktionieren. Um dies umzusetzen, bauzeitlicher Dachdeckung, Aufarbeitung der bau- bedarf es vor allem dreier Dinge: eine kooperative zeitlichen Fenster, Fußbodenaufarbeitung bzw. ma- Arbeit mit allen Akteuren, Geld und politischen terialgerechte Ergänzungen, Putzsanierung außen Willen. und innen. Was bedeutete dies für die städtische Behörde? Können wir bei weiterer Reduzierung der Aktuelle Lösungsansätze Standards die Qualität der Görlitzer Denkmalpflege Städtebaulich und denkmalpflegerisch bedeutet je- halten? Oder müssen wir unsere allgemeingültigen des abgängige Gebäude einen unwiederbringlichen Ansprüche reduzieren? Sicher ist, dass wir noch Verlust an Stadtprägung, Substanz, Information mehr für die Qualitäten der Gründerzeit werben und schließlich Identität. Da bei den meisten dieser müssen. Wie sind Mieter und Investoren davon zu Immobilien die Eigentümerschaft nicht geklärt ist überzeugen, dass Dielen hochwertiger sind als La- oder es sich um zahlungsunfähige Eigentümer han- minat und dass Stuck besser ist als Raufasertape- delt, muss die Stadt im Zuge von Ersatzmaßnahmen te. Und kann dies als Marktvorteil kommuniziert zunehmend den Erhalt dieser Gebäude gewährleis- werden? Wie sich aktuell zeigt, haben es auch die ten. Dies stellt eine wachsende personelle und mas- qualitativ minder sanierten Wohnungen der 1990er sive haushälterische Belastung dar. und 2000er Jahre schwer auf dem Wohnungsmarkt. Der Freistaat Sachsen hat nun ein Modellpro- Vermehrt erreichen die kommunale Denkmalpflege jekt mit einigen sächsischen Städten ins Leben ge- Anfragen, die genau die Qualitäten der gründerzeit- rufen, bei dem ausgewiesene Objekte durch Zuwen- lichen Wohnungen erfragen. Der gänzlich falsche dungen des Landes gesichert werden sollen. Görlitz Ansatz ist es, die Schuld für das Nichtfunktionieren ist eine dieser Städte. ganzer Quartiere am Leerstand des Kulturdenkmals festzumachen. Ein Objekt, egal ob rudimentär oder hochwertig saniert, muss infrastrukturell ins Quar- tier und somit in die Stadt eingebunden sein. Es 5 Ergebnis der Wohnraumzählung des Amtes für Stadtent- Abbildungsnachweis wicklung 2017. 1 https://denkmalliste.denkmalpflege.sachsen.de 6 http://kommwohnen.de/pages/posts/projekt-tu-dres- (01.02.2020). den-gartenstadt-koenigshufen-139.php (20.02.2020). 2–4 https://kommwohnen.de (01.02.2020). 7 Etliche Hauseingänge und Treppenhäuser der Görlitzer Gründerzeitgebäude sind um 1900 ein erstes Mal und in Anmerkungen den 1920er ein zweites Mal farblich neu gefasst worden. Eine wissenschaftliche Erfassung ist derzeit noch nicht 1 Durch die Verlegung des Stadtzentrums um den heutigen erfolgt. Demiani-, Marien- und Postplatz in der Mitte des 19. Jahrhunderts, liegt das Stadtzentrum nicht im Bereich 8 https://kommwohnen.de/pages/posts/ der Altstadt. baustart-leipz-192020a-528.php?p=60 (02.01.2020). 2 https://www.welt.de/print/die_welt/article139676312/ 9 https://kommwohnen.de/pages/posts/ Goerlitz-Schoenste-deutsche-Stadt.html (04.01.2020). balkonplatten-leipz-platz-587.php?p=10&g=4 (02.01.2020). 3 https://www.goerlitz.de/Denkmal_Goerlitz.html (04.01.2020). 4 https://www.welt.de/print-welt/article244590/ Goerlitz-Verne-Welt.html (04.01.2020).
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