The Gamer's Panopticon - Überwachung und Kontrolle als Motiv und Prinzip des Computerspiels - Peter Lang Publishing

 
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Marcel Schellong

      The Gamer’s Panopticon – Überwachung
      und Kontrolle als Motiv und Prinzip des
                 Computerspiels

                                                   „Who controls the past controls the future:
                                              who controls the present controls the past […].“
                                                                       (George Orwell:1984)1

                                                              „I don’t want to live in a society
                                                                 that does these sort of things“
                                                                          (Edward Snowden)2

Abstract: This paper deals with the question of how computer games usually represent
surveillance and control. It examines the games Papers, please, Beholder and Orwell. In the
second part, connections between the process of the game and the principles of surveillance
and control are sought using The Stanley Parable as an example.

Dieser Beitrag geht davon aus, dass Überwachungs- und Kontrollnarrative auf
technische und insbesondere auf kulturelle Entwicklungen reagieren. Compu-
terspiele sind nun gleichermaßen technische wie kulturelle Entwicklungen und
entsprechend kann man danach fragen, wie sich konventionelle Überwachungs-
und Kontrollnarrative im Computerspiel fortschreiben und wie sie dort durch
die Möglichkeiten des Mediums teilweise auch verändert werden. Man kann
zweitens auch danach fragen, in welchem Verhältnis das Medium Computerspiel
aufgrund seiner Beschaffenheit als Spiel zu Überwachung und Kontrolle steht
und wie sich die funktionale Logik des Computerspiels in die dortigen Über-
wachungs- und Kontrollnarrative einschreibt. Beides soll hier geschehen – und
es wird noch ein dritter Schritt gemacht und ein Spiel vorgestellt, das die beiden
genannten Ebenen verbindet und als Spiel grundsätzliche Funktionsweisen des
Computerspiels ausstellt und damit gewissermaßen die Überwachung des Com-
puterspiels und des Computerspielens durch das Computerspiel vorführt. Bevor

1   Orwell (1949: S. 282).
2   MacAskill (2013).
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aber genauere Analysen erfolgen, soll zunächst mit einigen Überlegungen zur
spezifischen Medialität des Computerspiels gestartet werden, mit Ausführun-
gen zu seiner Funktionsweise und Beschaffenheit also. Dabei werden auch die
Dimensionen genauer geklärt, auf denen Aspekte der Überwachung und Kont-
rolle im Computerspiel beobachtet werden können.

1. Vom Darstellen und Erzählen zum Handeln
Computerspiele verbinden auf besondere Weise die Komponenten der Erzäh-
lung, der audiovisuellen Darstellung und des interaktiven Spielhandelns.
Erzählen kann als ein mögliches Organisationsprinzip von Computerspielen
verstanden werden, das die ludischen, d. h. spielerischen Herausforderungen
rahmt und so etwas wie eine semantische Kontextualisierung schafft, die die
Optionen für konkrete Spielhandlungen und Spielzüge mit einem erweiterten
Sinn versieht. Auf der Makroebene wird das Spiel dann durch Erzählen struktu-
riert und Erzählen wird damit selbst zu einem „Spiel zweiter Ordnung“3, denn
neben dem unmittelbaren Spielhandeln auf ludischer Ebene (bspw. unmittelba-
rer ludischer Herausforderungen) wird das (Re-)Konstruieren einer Erzählung
selbst zu einem Spiel, das das unmittelbare Spielhandeln umklammert. Das fol-
gende sehr einfache Beispiel soll veranschaulichen, welche Implikationen diese
Betrachtungen mit sich bringen – ein simples Fantasy-Setting: Spieler*innen sol-
len in einem Spiel eine Prinzessin aus einem Drachenbau retten, stehen mit der
Spielfigur – dem Avatar – an einer Kreuzung und müssen sich entscheiden, ob
sie links in den Wald der unbesiegbaren Räuber, rechts zum Drachenbau oder
geradeaus ins Wirtshaus gehen möchten. Während die Räuber als (zu) gefähr-
lich erscheinen, klingt ein Besuch im Wirtshaus recht angenehm. Dennoch fol-
gen die Spieler*innen dem Auftrag der Erzählung und gehen nach rechts zum
Drachenbau. Ein genauer Blick zeigt, was in diesem Moment passiert: Die Spie-
ler*innen entscheiden sich für eine spezifische spielerische Herausforderung
und als wichtigste Entscheidungshilfe dient dabei die Narration. Bei noch genau-
erer Betrachtung zeigt sich, dass das Computerspiel an dieser Stelle sogar zwei
Entscheidungen verlangt: Einmal muss grundsätzlich entschieden werden, ob
man das Spiel überhaupt spielen und damit die narrative Ordnung anerkennen
möchte. Wenn dies nicht der Fall ist, könnten die Spieler*innen auch im ‚realen‘
Leben ins Wirtshaus gehen, weil das Spiel dann nicht als narrativ organisiertes
Spiel und im Rahmen des vorgegebenen Regelsettings stattfinden würde. Folgen

3   Backe (2008: S. 354).
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die Spieler*innen jedoch dem genrekonventionellen Auftrag, die demoiselle en
détresse retten zu müssen, dann folgen sie auch dem konkreten Entscheidungs-
angebot des Spiels an dieser Stelle – sie tun dann so, als ob sie eine Prinzessin ret-
ten müssten. In der Computerspieltheorie werden Narrationen mit alternativen
Verzweigungen von Janet Murray „multiform stories“ genannt:
    I am using the term multiform story to describe a written or dramatic narrative that pre-
    sents a single situation or plotline in multiple versions, versions that would be mutually
    exclusive in our ordinary experience.4

Sich für eine Alternative zu entscheiden, verlangt die Bereitschaft der Spieler*in-
nen unter der Maßgabe eines „Als-ob“ zu handeln. Der französische Soziologe
Roger Caillois hat eine entsprechende Definition des Spiels erarbeitet, darin
klärt er unter anderem: „Das Spiel besteht in der Notwendigkeit, unmittelbar
innerhalb der Grenzen und Regeln eine freie Antwort zu finden und zu erfin-
den.“5 Dabei wird deutlich, dass „die Fiktion, also das Gefühl des als ob die
Regel ersetzt und genau die gleiche Funktion erfüllt.“6 So betrachtet konstitu-
iert das Spiel einen ganz spezifischen Fiktionsvertrag. Und damit wird zugleich
ein weiterer Punkt berührt: Wurde bisher der Blick auf die Narration gerich-
tet, die die ludische Ebene (mit) organisiert, lässt sich nun – gewissermaßen im
Gegenschuss – erkennen, dass auch die Narration selbst durch die Variabilität
des Spiels, die sich durch dessen Entscheidungslogik ergibt, aufgebrochen und
entlinearisiert werden kann. Hat Samuel Coleridge den Fiktionsvertrag noch mit
der bekannten Formulierung „willing suspension of disbelief “7 beschrieben, geht
Frank Degler darüber hinaus und konstatiert: Computerspiele
    schließen […] vermittels ihrer Prozesslogik mit der Spielerin einen Fiktionsvertrag, der
    nicht auf das freiwillige, passive Akzeptieren der einen, möglichst in sich konsistenten
    Variante des Geschehens abzielt. Stattdessen erfordern sie eine permanente metafiktio-
    nale Haltung von der Spielerin, die bereit sein muss, von der monoperspektivischen
    Einheitslogik der Schrift auf die polyperspektivische Differenzlogik der digital-interak-
    tiven Narration umzustellen. Die Fiktionalität des Computerspiels erfordert eine Rezep-
    tionshaltung, die zusammengefasst werden könnte als ‚willing suspension of misbelief ‘.8

Ein solchermaßen gewendeter Fiktionsvertrag berücksichtigt gleichermaßen die
übliche Linearität von Narrationen und die Variabilität des Spiels, im Beispiel

4   Murray (1997: S. 30).
5   Caillois (1960: S. 14). Hervorhebungen im Original.
6   Ebd. (S. 15).
7   Coleridge (1907: S. 6). Hervorhebung von M. S.
8   Degler (2009: S. 559). Hervorhebung von M. S.
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also die parallel vorhandenen Narrationsalternativen. Für die weiteren Überle-
gungen hier ist aber vor allem die erste Perspektive entscheidend: Computer-
spiele bieten ihren Spieler*innen einen Als-ob-Vertrag an und die Erzählung
wird zu einer Metaspielregel. Mit ihr wird der Rahmen für einzelne Spielhand-
lungen geschaffen und gleichzeitig auch die Grundlage für einen verstehenden
Weltzugang und eine Interpretation des Dargestellten.
   Im Unterschied zu anderen Medien wird deutlich, dass das Spiel auf der
Rezeptionsseite eine spezifische Haltung voraussetzt, nämlich die grundsätzliche
Bereitschaft zu handeln. Durch das Handeln bindet es die Spieler*innen nicht
nur – wie beispielsweise Film, Literatur oder Hörspiel – sehend, hörend, mit-
denkend und interpretierend ein. Vielmehr involviert es durch die spielerischen
Herausforderungen und/oder mit Blick auf die Narration durch Entscheidungen
und körperliche Handlungen der Spieler*innen – und nur durch das Handeln
geht das Spiel weiter.9 Diese Kombination aus narrationsbasierter Entscheidung
und körperlicher Handlung ist Teil des Computerspiel-Dispositivs, das nicht nur
eine spezifische Medien- sondern immer auch eine eigene Handlungserfahrung
nach sich zieht. Entsprechend ist es gar nicht einfach, bestimmte Überlegun-
gen an Computerspielen zu zeigen, denn beim bloßen Zeigen fehlt genau dieser
wesentliche Anteil des eigenen Handelns bzw. der eigenen Erfahrung – Compu-
terspiele müssen also gespielt werden.
   In diesem kurzen Abriss aus dem Bereich der Computerspieltheorie wurde
ein wichtiges Spezifikum des Computerspiels herausgearbeitet, das nachvoll-
ziehbar macht, auf welchen Ebenen über Spiele oder konkreter über Zusammen-
hänge von Überwachung und Kontrolle in Computerspielen gesprochen werden
kann. Denn Überwachungs- und Kontrollnarrative können im Computerspiel
nicht nur auf der Ebene der Darstellung und/oder der Erzählung zum Tragen
kommen, sie sind auch eng mit den Prozessen des Spielens verbunden.

    inschreibung von Überwachungsnarrativen in
2. E
   Computerspiele
Bislang wurde davon gesprochen, dass Computerspiele konventionelle Nar-
rative der Überwachung und Kontrolle fortschreiben können, die natürlich
bereits in anderen Medien begonnen haben. Überwachung oder Kontrolle
meinen dabei in der Regel nicht das bloße Aufnehmen, Dokumentieren und

9   Vgl. Bryan (2013: S. 9): „Instead, whatever the action, it would seem that to be extra-
    noemic in an ergodic sense, one must be able to influence the narrative rather than
    simply being led by it.“
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Prüfen von Informationen, sondern vielmehr ein zielgerichtetes Beobachten von
Akteur*innen in einem in der Regel normativ organisierten Ordnungsrahmen.
Die beiden Begriffe sollen hier nun so verstanden werden, dass Überwachung
eher das offene oder verdeckte Sammeln von Information betont, während Kon-
trolle stärker auf die Einhaltung von Regeln und ein normenkonformes Handeln
zielt. In diesem Sinn meint ein ‚konventionelles Überwachungsnarrativ‘ zunächst
nichts anderes als Traditionslinien des Erzählens, die transmedial als solche Linien
zu beobachten sind, in denen die Modelle, Verfahrensweisen und Konsequenzen
von Überwachung erzählt, wiederholt und kulturell stabilisiert werden. Romane
wie 1984 (1949, George Orwell), Fahrenheit 451 (1953, Ray Bradbury) und Filme
wie Brazil (GB, 1985, R: Terry Gilliam), Der Staatsfeind Nr. 1 (USA, 1998, R: Tony
Scott) oder Das Leben der Anderen (D, 2005, R: Florian Henckel von Donners-
mark) sind natürlich bekannt. Typische Bestandteile dieser Narrative sind nun
eine (teilweise lückenlose) Überwachung als Strategie der Disziplinierung, der
Einsatz von Überwachung für Ziele, die jenseits des genannten Überwachungs-
zwecks liegen, massive Eingriffe in die Privatsphäre, die Beschneidung indivi-
dueller Freiheiten. Das gibt es alles auch in Computerspielen, die Überwachung
explizit zum Thema machen, wie beispielsweise die Watch Dogs-Reihe (Ubisoft,
2014/2016), Replica (Somi, 2016) oder République (Camouflaj, 2016); Überwa-
chungs- und Kontrollnarrative schreiben sich aber auch in kleine Details in Spiele
ein, wie beispielsweise durch Überwachungskameras, die wie in Metal Gear Solid
(Konami, 1998)10 umgangen werden sollten, oder die man wie in Grand Theft
Auto: Chinatown Wars (Rockstar Games, 2009)11 zerstören soll, um günstigere
Drogenpreise zu bekommen. Es zeigen sich also fortlaufend Wiederaufnahmen
und Wiederholungen eines Narrativs mit teilweisen Aktualisierungen. Die meis-
ten Medien zeigen oder erzählen dieses Narrativ – wir nennen diese Modi Sho-
wing und Telling.12 Computerspiele betonen nun häufig das prozessuale Moment
von Überwachung und Kontrolle, indem sie es nicht allein auf der Ebene des
Zeigens oder Erzählens vorführen, sondern es in die Ebene des Handelns integ-
rieren – zum Showing und Telling kommt also der Modus des Doing hinzu. Dabei
lassen sich in den letzten Jahren zwei Trends erkennen: Einerseits wird in vielen
Spielen ein konventionelles Narrativ von Überwachung und Kontrolle fortge-
schrieben, beispielsweise vom totalitären Staat, der seine Grenzen kontrollieren
will, oder von einem Staat, der seine Bürger*innen auf normkonformes Verhalten

10 Vgl. im Video von Bloodcider (2009).
11 Vgl. im Video von ArtKoval (2017).
12 Vgl. Vogt (1990: S. 54).
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hin überwacht, bis hin zur Frage nach Überwachung in digitalen Umgebungen,
um (vermeintlich) Terrorgefahren abwehren und bekämpfen zu können. Ande-
rerseits bieten einige dieser Spiele einen gewissen Perspektivwechsel an: Die Spie-
ler*innen werden in die Position der Überwachenden und der Kontrollierenden
gebracht. Dies soll anhand dreier Beispiele aus den letzten Jahren veranschau-
licht werden – das erste wird dabei etwas ausführlicher dargestellt, weil sich dort
bereits ein wichtiges Verfahren erkennen lässt:
    Das Independent Game Papers, please (3909 LLC, 2013) spielt in den 1980er
Jahren in einem fiktiven kommunistischen Staat namens Arstotzka. Arstotzka
hat über sechs Jahre Krieg mit dem Nachbarstaat Kolechia geführt und nun
gibt es eine geteilte Grenzstadt, Grestin, in der die Handlung stattfindet. Zu
Beginn des Spiels wird den Spieler*innen mitgeteilt, dass sie durch die staat-
liche Arbeitslotterie eine Anstellung als Grenzer zugeteilt bekommen haben,
als der sie den Zugang von Kolechia nach Arstotzka kontrollieren sollen. Unter
den Reisenden, Besucher*innen und Einwanderer*innen, die an die Grenze
kommen, sind aber auch Schmuggler*innen, Spion*innen und Terrorist*innen.
Ausgestattet mit Amtsblättern und Anweisungen zur Einreise, die sich teilweise
täglich ändern, müssen zunächst nur Ausweispapiere, Visa, Arbeitserlaubnisse
etc. auf ihre Richtigkeit hin überprüft werden; Spieler*innen müssen beispiels-
weise Foto, Größe und Geschlecht abgleichen, müssen aber auch wissen, aus
welchen Ländern welche Dokumente vorzulegen sind etc. Später werden die
Anforderungen komplexer, auch die Verfahren der Kontrolle. Es kommen eine
Waage zum Gewichtsabgleich, ein Maß zur Überprüfung der Größe, dann auch
ein Fingerabdruck- und sogar ein Bodyscanner zum Einsatz.13 Der Grenzer,
der die Spieler*innen im Spiel vertritt und dessen Aufgabe im Kontrollieren
besteht, wird dabei kontinuierlich auch selbst überwacht. Er arbeitet gewisser-
maßen im Akkord, bekommt für alle richtig Zugelassenen oder Abgewiesenen
am Schichtende Geld angerechnet, für jeden Fehler wird Geld abgezogen. Die
Handlung der Spieler*innen wird also durch ein ökonomisches Bonus-/Malus-
System bewertet und der Erfolg zeigt sich daran, ob der Grenzer seine Familie
wirtschaftlich versorgen kann oder nicht. Im schlimmsten Fall sterben die Fami-
lienmitglieder an Krankheiten oder verhungern. Die ludische Herausforderung
ist eine Mischung aus einem Finde-den-Fehler-Spiel und einer Art komplexem
Memory. Auf der Erzählebene schreibt das Spiel ein Narrativ von Überwachung

13 Auch wird das Spiel durch die regelmäßigen Änderungen der Vorgaben mit jedem Tag
   komplexer, weil die Spieler*innen stets im Blick haben müssen, welche älteren Regeln
   noch gelten und welche neuen hinzugekommen sind.
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und Kontrolle in einem Setting fort, das an realhistorische Gegebenheiten ange-
lehnt ist und „in der Dystopie eines sowjetisch besetzten Europas spielt“14 – es
bemüht sich damit um Authentizität. Auf der Handlungsebene dreht es die Pers-
pektive, fokussiert auf die Rolle des Kontrolleurs und ermöglicht eine spezifisch-
variable Handlungserfahrung in einem Rahmen des Als-Ob: Man kann handeln,
als ob man ein sturer Bürokrat wäre, man kann mitfühlend sein oder auch kor-
rupt und auf den eigenen Vorteil bedacht; dass man dabei für die ‚eigene‘ Familie
Verantwortung übernehmen muss, wird zum ethisch-moralischen Horizont der
Spielhandlung. Entscheidungen, so wird dabei deutlich, sind Entscheidungen
von Relevanz für Andere, denen unterschiedliche Bedeutung beigemessen wird
(z.B. Kind, Ehefrau, Schwiegermutter). Dies lässt sich in ähnlicher oder leicht
abgewandelter Form auch bei anderen Spielen beobachten.
   Das Spiel Beholder (Warm Lamp Games, 2016) ist im Rahmen einer wenig
subtilen Anlehnung an George Orwell im Jahr 1984 situiert. Auch hier gibt es
einen totalitären Staat mit Ministerien für Zuweisung, Ordnung und Informa-
tion, auch hier wird den Spieler*innen eine Überwachungsaufgabe zugewiesen.
Der Avatar Carl ist Verwalter/Hausmeister in einem Apartmentkomplex, in dem
er zugleich zusammen mit seiner Familie wohnt. Carl wurde ein experimentelles
Mittel während einer medizinischen Untersuchung verabreicht, das sein Schlaf-
bedürfnis senkt. Ihm wird mitgeteilt, er könne so mehr Zeit damit verbringen,
seinem Vaterland zu dienen. Man freue sich, ihn in den Reihen der Elite des
Staatsapparates begrüßen zu dürfen. Carl lernt, dass alle Taten der Mieter*innen
seiner Verantwortung unterliegen. Entsprechend soll er ihnen auf Schritt und
Tritt folgen und alle verdächtigen Aktivitäten dokumentieren. Er kann Überwa-
chungskameras installieren, Apartments durchsuchen, Informationen sammeln,
indem er mit Mieter*innen spricht – gleichzeitig muss er an seiner Tarnung als
Hausmeister arbeiten und Wohnungen und Möbel in Stand setzen. Auch hier
gibt es eine bürokratische Tätigkeit: Carl legt Akten über die Bewohner*innen
an. Sind diese korrekt, dann erhält er eine Belohnung, sind sie falsch, dann gibt
es Abzüge. Als Spiel handelt es sich um ein Point-and-Click-Adventure, das stel-
lenweise zeitkritische Momente hat. Auf der Erzählebene gibt es deutliche Par-
allelen zu Papers, please. Auch Carl hat eine Familie, für die er Verantwortung
trägt, zum Beispiel einen Sohn, der auf die Universität geht, und dafür braucht
er unter anderem Büchergeld. Auch hier erkennt man eine Anlehnung an real-
historische Gegebenheiten und die Fortschreibung eines Narrativs prädigitaler
Überwachung. Auf Handlungsebene zwingt einen das Spiel zur Überwachung,

14 o. A. (2019).
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es erhöht dabei die Komplexität durch zusätzliche Anweisungen und Herausfor-
derungen und legt gezielt moralisch noch fragwürdigere Optionen nahe, so sieht
beispielsweise ein Knopf im Spiel vor, Bewohner*innen zu erpressen.
    Einen etwas anderen Weg geht das dritte Spiel, das kurz skizziert werden
soll: Orwell (Osmotic Studios Hamburg, in mehreren Teilen von 2016–2018 ver-
öffentlicht), das auf digitale Überwachung zielt und damit hinsichtlich seiner
Überwachungspraxis deutlich aktueller ist. Es spielt in einem Land, das „The
Nation“ heißt, das autoritär von einer Partei namens „The Party“ regiert wird –
die generischen Titel geben schon einen ersten Hinweis, dass das Spiel keine kon-
kreten Bezüge zu realweltlichen Ländern/Regionen herstellt (wenngleich diese
offensichtlich sind). Vielmehr weist das Spiel darauf hin, dass das Geschehen
überall stattfinden könnte. Im Jahr 2012 hat man in „The Nation“ ein Sicherheits-
gesetz beschlossen, das der Regierung weitreichende Rechte und Möglichkeiten
zur Überwachung der Bürger*innen eröffnet, wobei das digitale Sicherheitssys-
tem Orwell auch die Überwachung der privaten Kommunikation ermöglicht.
Die Spieler*innen übernehmen die Rolle eines ‚Investigators‘, der die Kommuni-
kation von Verdächtigen überwacht und Informationshäppchen – so genannte
‚Datachunks‘ – auswählt, die er dann einem ‚Advisor‘ übergibt, der operative
Schritte einleitet. Das Spiel ist ein Suchspiel mit hohem Leseanteil, wobei die
Herausforderung überschaubar ist, weil die Textstellen oder Informationen, die
auf Relevanz oder Widersprüche hin überprüft werden sollen, bereits farblich
hervorgehoben werden. Die Informationen, die gesammelt werden, erarbeitet
man sich durch die Lektüre von Kommunikationsinhalten in Chats, Blogs und
Notizen auf digitalen Oberflächen, die an Facebook, Chrome etc. erinnern. So
unterschiedlich hier also das Setting im Vergleich zu Papers, please oder Beholder
ist, es fällt auf, dass die dargestellte Überwachung in digitalen Kontexten sich
nicht grundlegend von Überwachung in prädigitalen Kontexten unterscheidet,
denn Überwachung ist auch hier nicht etwa ein hochabstraktes Arbeiten mit
Metadaten und entsprechenden Algorithmen zur Auswertung, sondern Orwell
folgt etwas naiv dem klassischen Narrativ des Mitlesens von Post – hier eben von
digitaler Post.
    Die Spiele, die hier vorgestellt wurden, sind nun freilich keine repräsenta-
tive Übersicht des gesamten Spielemarktes und zählen alle eher zum Bereich der
Independent-Games, aber schon bei der Beobachtung dieser kleinen Zusam-
menschau werden ein paar Dinge deutlich: Erstens handelt es sich bei allen Spie-
len um narrativ organisierte Spiele und die Spielmechanik wird in den Dienst der
Narration gestellt. Diese Narration entspricht in der Regel konventionellen Dar-
stellungen von Überwachungssettings. Zweitens zeigt sich, dass die Spiele das
Politische betonen – Überwachung ist im politischen Sinn ideologisch getrieben.
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Drittens hat Überwachung in diesen Spielen nichts mit der Abstraktheit digitaler
Systeme zu tun. Überwachung ist vielmehr – auch das hat eine Traditionslinie –
ein intimer und voyeuristischer Akt.15 Selbst im digitalen Kontext in Orwell ist
Überwachung etwas, das einen menschlichen Detektiv benötigt. Weil die Spiele
die Spieler*innen in den Prozess der Überwachung aktiv einbinden möchten,
scheinen sie folglich einer leicht zugänglichen Vorstellung von Überwachung zu
entsprechen. Überwachung ist hier also nicht zugeschnitten auf die Perspektive
einer möglichst effektiven Überwachung von jemandem, sondern auf die Nach-
vollziehbarkeit von Überwachung durch jemanden – durch die Spieler*innen.
Viertens werden die Spieler*innen in vielen Fällen an den Ergebnissen, teilweise
auch an den Folgen der Überwachung beteiligt. Sie erfahren aus Sicht der Über-
wachenden, welche Konsequenzen die Überwachung für die Überwachten und
die Überwachenden hat. Diese Spiele stellen Überwachung also als eine einfa-
che Kausalkette vor: Handlung (beispielsweise eine Normverletzung), Meldung,
Konsequenz (beispielsweise die Festnahme). Fünftens werden die Spieler*innen
häufig in eine Situation gebracht, in der sich persönliche Interessen in den Akt
der Überwachung einmischen – Zwänge, meist privater Natur (zum Beispiel ein
krankes Kind oder Geldmangel), schaffen für die Spieler*innen einen gewissen
Handlungsdruck, gelegentlich sogar ein moralisches Dilemma. Beispielsweise
steht in Papers, please in einer Sequenz die Geliebte eines Kollegen, die in ihrer
Heimat mit dem Tod bedroht wird, vor dem Schalter des Grenzers. Soll man sie
nun in das Land lassen und durch diesen Fehler dem eigenen Sohn ein notwen-
diges Medikament nicht kaufen können und ihn leiden und im Extremfall sogar
sterben lassen? Oder schickt man sie zurück und nimmt ihren wahrscheinlichen
Tod billigend in Kauf? Diese Spiele zielen sechstens also auf das Treffen von
Entscheidungen im Überwachungsprozess ab und führen vor, wie schnell zwei
jeweils notwendige/erwartete Entscheidungsalternativen zu einem moralischen
Dilemma führen können.16 Ein Effekt davon ist, dass sich das Erleben eines
moralischen Dilemmas in das Überwachungsnarrativ einschreibt. Siebtens zeigt
sich, dass diese Spiele etwas anders machen, als es Medien wie Film oder Lite-
ratur tun: Überwachen ist plötzlich etwas, woran man prozessual beteiligt ist,
und es ist etwas, das sich als Ergebnis einer Handlung irgendwie ‚anfühlt‘. Diese
Spiele machen im Prozess der Überwachung also ein Angebot der emotionalen

15 Man denke nur beispielsweise an den Filmklassiker Das Fenster zum Hof (USA, 1954,
   R: Alfred Hitchcock).
16 Vgl. zu Entscheidungsalternativen und moralischem Dilemma im Computer-
   spiel: Schellong/Unterhuber (2016: S. 15–31).
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Involvierung17 und verschieben eine bloße Rezeptionserfahrung hin zu einer
Handlungserfahrung, also einer Erfahrung der eigenen Handlungsmacht und
ihrer Konsequenzen. Dabei sind sie durchaus keine Überwachungssimulatio-
nen, denn sie schaffen keine Modelle, um Prozesse der Überwachung einzu-
üben, schon gar nicht um zeitgemäße Prozesse der Überwachung einzuüben;
dafür sind sie zu einfach und unterkomplex. Achtens geht es auch nicht zuerst
um Überwachung, sondern es geht um diejenigen, die überwachen. Es findet in
diesen Spielen also eine Perspektivenverschiebung vom Akt des Überwachens
hin zu den Überwachenden statt. Das Überwachungsnarrativ wird zu einem
Überwacher*innennarrativ. Daran soll neuntens eine letzte Überlegung zu den
drei Spielen anschließen, die gleichzeitig den Übergang zum nächsten Teil des
Beitrags ermöglicht: Diese Spiele machen eine grundsätzliche Notwendigkeit
deutlich, dass Überwachung als Spiel die Überwachung der Spieler*innen und
ihres Spielverhaltens voraussetzt. Es muss – denkt man noch einmal an Papers,
please – eine Instanz geben, die nicht nur das zur Kenntnis nimmt, was die
Spieler*innen melden, sondern die auch darum weiß, ob die Spieler*innen sich
irren, etwas übersehen, vergessen oder unterschlagen. Diese Instanz ist natürlich
das Spiel selbst. Überwachung wird also gleichermaßen aktiv und passiv erfah-
ren: Man überwacht – und zwar auf eine bestimmte Art und Weise, weil man auf
eine bestimmte Weise überwacht wird.

3. Zur Kontroll- und Überwachungslogik des Spiels
Die bisherigen Überlegungen zielten auf eine recht konkrete Ebene, indem sie
Beobachtungen zu einzelnen Spielen angestellt haben. Um zu klären, inwiefern
Computerspiele als Spiele performativ an einem Überwachungsnarrativ mit-
arbeiten, muss die Beobachtungsebene gewechselt werden – es geht nun nicht
mehr um Computerspiele als Orte, die Spielhandlungen und Erzählhandlun-
gen verbinden können, sondern der Blick wird allein auf die ludische Ebene des
Computerspiels gerichtet, oder anders gesagt, es folgt ein spieltheoretischer Blick
auf Computerspiele.
   Kulturwissenschaftlich können – wieder mit Roger Caillois gesprochen – zwei
Modi des Spiels differenziert werden: Paidia und Ludus.18 Paidia meint das freie,
improvisierende, ausgelassene Spiel, das Kinderspiel vielleicht, das einem Verfah-
ren der Welterschließung entspricht. Ludus hingegen ist das regelgeleitete Spiel,

17 Vgl. zu emotionalen Involvierungsstrategien des Computerspiels allgemein Neitzel
   (2012: S. 75f.).
18 Vgl. Caillois (1960: S. 36f.).
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The Gamer’s Panopticon                             147

das in einem bestimmten Ordnungsrahmen stattfindet, das den Spieler*innen
Hürden setzt, die es zu überwinden gilt. Kulturell kommt beiden Spielformen
eine wichtige Funktion zu, denn Spiele sind Gegenräume, die den funktionalen
Logiken einer Kultur widersprechen können. Sie stehen gleichermaßen in der
Kultur und außerhalb und man kann sie – mit Michel Foucault – als „Hete-
rotopien“ fassen, also als „Orte, die sich allen anderen widersetzen und sie in
gewisser Weise sogar auslöschen, ersetzen, neutralisieren oder reinigen sollen.“19
Diese Orte des Spiels sind nicht in erster Linie durch reale Orte festgelegt (wie
beispielsweise ein Fußballplatz), sondern sie entstehen performativ durch das
Eintreten der Spieler*innen in das Spiel – das hat unter anderem Robert Pfaller
mit Rückgriff auf Johan Huizinga gezeigt.20 Das geschieht ad hoc und kann auch
im Bus oder im Zug stattfinden. Die Spieler*innen treten – durchaus bewusst
und reflektiert – aus dem Alltagsraum heraus und in den Raum des Spiels ein.
   Im Zusammenhang mit Computerspielen ist nun deutlich erkennbar, dass
diese Räume zumeist als Ludus, als regelgeleitete Spiele organisiert sind. Der
Modus der Regelverwaltung digitaler Spiele heißt Berechenbarkeit. Compu-
terspiele müssen in jeder Hinsicht berechenbar sein, sie müssen also auch die
Aktionen der Spieler*innen in ihrer möglichen Komplexität auf Berechenbares
reduzieren. Sie müssen das vor allem, weil sie mit festen Regeln operieren und
während des Spiels keine Diskursivierung der Regeln zulassen können. Paidia-
Spiele dagegen sind zumeist gekennzeichnet durch ein Ausprobieren, ein Heraus-
arbeiten von Regeln innerhalb eines Spielprozesses. Das ist vor allem bei vielen
Kinderspielen leicht zu erkennen: Diese Spiele beginnen oft mit einigermaßen
festen Vorstellungen, Rollenverteilungen, Aufgaben und Regeln, sehr oft wird
aber dann das ursprüngliche Spielkonzept während des Spiels umgebaut, d. h. die
Regeln werden zum Gegenstand eines Diskurses unter den Spieler*innen. Auch
in ludisch organisierten Spielen gibt es in manchen Zusammenhängen die Mög-
lichkeit einer solchen sozialen Diskursivierung. Beispielsweise geht das Konzept
eines Fußballspiels zunächst davon aus, dass sich zwei Mannschaften mit glei-
cher Spielerzahl gegenüberstehen. Wenn nun aber im Park zwei Jugendmann-
schaften antreten und eine Mannschaft hat vier Spieler*innen, die älter sind und
im Verein spielen, dann wird oft ein Ausgleich ausgehandelt, zum Beispiel, dass
von den Vereinsspieler*innen immer zwei hinter der Mittellinie bleiben oder auf
einem Bein hüpfen müssen. Oder man denke an so etwas wie ‚Hausregeln‘ beim
Monopoly-Spielen. In Computerspielen ist das anders: In einem kybernetischen

19 Foucault (2005: S. 10).
20 Vgl. Pfaller (2002: S. 100f.) und Schellong (2011).
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Regelkreis kontrollieren sich Spiel und Spielende gegenseitig, wobei das Spiel
die absolute Hoheit der Regelsetzung inne hat. Auf technischer Ebene ermög-
licht das Spiel Eingaben durch die Spieler*innen und überwacht sie zugleich.
Computerspiele sind also regelgeleitete Spiele, die die alleinige Hoheit über die
Regeln und deren Einhaltung haben (es gibt keine Gewaltenteilung). Und damit
ist das Computerspiel immer auch ein kompromissloses und absolutes Spiel, das
alles beobachtet und auswertet. Michel Foucault schreibt mit Blick auf das Bent-
ham’sche Panopticon:
   Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die
   Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Macht-
   verhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner
   eigenen Unterwerfung.21

Hier soll nun mit einem gewissen Augenzwinkern eine neue Lesart vorgeschla-
gen werden: Michel Foucault beschreibt hier eigentlich Computerspieler*in-
nen. Denn Computerspieler*innen disziplinieren sich selbst gemäß der Regeln
des Spiels und gemäß des Machtverhältnisses, das es dem Spiel ermöglicht, die
Spieler*innen in all ihren Spielhandlungen zu beobachten. Man könnte das ein
wenig provokativ zuspitzen und sagen: Computerspiele – ebenso wie alle ludi-
schen Spiele, die eine möglichst absolute Regeleinhaltung verlangen – sind Orte
der Einübung von Verfahrensweisen der Überwachung und Kontrolle. Und
das völlig unabhängig davon, ob die Spiele Überwachung oder Kontrolle zum
Thema haben.
   Das mag nun vielleicht doch als eine eigentümliche Wendung erscheinen,
denn oben wurden Spiele ja als Heterotopien gefasst und einer Heterotopie
würde man zunächst gerade nicht die Aufgabe zuordnen, dass sie Orte der
Regeleinübung sind. Die Antwort auf diesen Widerspruch findet sich in dem
performativen Moment des Zustandekommens von Spiel, der bereits angedeutet
wurde: Spiele beginnen und enden durch die Spieler*innen – wenn man aufhören
will zu spielen, dann kann man aufhören und dann hat sich das Machtverhältnis
wieder umgekehrt. Im Unterschied zu den meisten anderen Überwachungskon-
stellationen hat das Spiel eine Außenseite, auf die die Spieler*innen als Über-
wachte durch eine eigene Entscheidung wechseln können, dann werden sie nicht
mehr überwacht. Die Spieler*innen können folglich ihre Zelle im Panopticon
jederzeit verlassen. Oder anders gesagt: Die Überwachung der Spieler*innen
durch das Spiel unterliegt der Überwachung des Spiels durch die Spieler*in-
nen. Das könnte man nun noch in verschiedene Richtungen weitertreiben: Die

21 Foucault (1992: S. 260).
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The Gamer’s Panopticon                              149

Spieler*innen schließen außerhalb des Spiels kommunikativ an die Spiele an,
bewerten sie, kritisieren sie, kontrollieren durch ihre Kaufkraft deren Entwick-
lung, überwachen also in gewisser Hinsicht den Spielemarkt. Oder was wäre mit
Falschspieler*innen, die die Überwachung durch das Computerspiel umgehen,
indem sie das Spiel selbst ändern, blinde Flecken des Spiels ausnutzen? Das alles
würde hier zu weit führen – die argumentative Stoßrichtung dürfte aber deutlich
geworden sein.
    An einen Gedanken soll noch angeschlossen werden: Oben wurde ein Regel-
kreis zwischen Computerspiel und Spielenden identifiziert, der durch und
während des Spielprozesses geschlossen bleibt. Das galt zumindest lange Zeit,
insbesondere für Single-Player-Spiele. Inzwischen lassen sich aber auch viele
Konstellationen erkennen, in denen dieser Kreis geöffnet und das Computerspiel
über sich selbst hinaus produktiv wird: Erstens produzieren viele Spiele Symbole
sozialer Anerkennung, beispielsweise durch Trophäen bzw. Achievements für
das Erreichen von bestimmten Spielzielen – und diese Symbole können teilweise
real kapitalisiert werden. Zweitens laden Computerspiele die Spieler*innen dazu
ein, Aktionen in der realen Welt nach den Regeln eines digitalen Spiels auszu-
führen – und das bezieht zwangsläufig die Überwachung durch das Spiel mit
ein. Diesen Prozess verbindet man allgemein mit dem Schlagwort ‚Gamification‘.
Das Spielergebnis hat hier – das ist ein deutlicher Widerspruch zur traditionellen
Spieldefinition – einen produktiven Effekt in der Welt außerhalb des Spiels. Ein
Beispiel: Ein Fitnessarmband ist an eine App gekoppelt, die nicht nur alle Bewe-
gungen, Puls und Körpertemperatur überwacht und auswertet, sondern den
Nutzer*innen spielerische Herausforderungen für ein bestimmtes körperliches
Verhalten vorschlägt und das Verhalten dann auch mit Punkten belohnt – und
diese Punkte sind unmittelbar relevant für z. B. Krankenkassentarife. Vielleicht
ist das noch nicht ganz die aktuelle Realität, es gibt aber Krankenkassen, die sol-
che Maßnahmen bereits vor Jahren angedacht haben.22 Drittens meint der Pro-
zess des Spielens selbst im digitalen Kontext nichts anderes als das Generieren
von Daten.23 Und diese Daten können sehr einfach abgegriffen werden – tech-
nische Prozesse und Gegebenheiten ebenso wie das Verhalten der Spieler*in-
nen oder mögliche Kommunikation im Spiel. Es gibt sehr aufschlussreiche
Studien zur Überwachung von Computerspieler*innen durch Unternehmen,
aber auch Geheimdienste. Eine Zusammenfassung von einigen Studien bietet

22 Vgl. dazu Überlegungen der Techniker Krankenkasse laut Pressemeldungen: Temm
   (2016).
23 Vgl. dazu Hennig (2017: S. 56–60).
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das österreichische Institut für Technikfolgenabschätzung.24 Darin wird deut-
lich, dass insbesondere so genannte Massively Multiplayer Online Role Playing
Games gut geeignet sind und auch dafür verwendet werden, um außerordentlich
sensible personenbezogene Daten zu erheben, zu Themen wie Sex, Gesundheits-
problemen oder Suchtverhalten. Interesse an diesen Informationen haben nicht
nur die Spielehersteller oder mögliche Werbetreibende, auch Geheimdienste wie
die NSA haben offenbar World of Warcraft oder Second Life überwacht, weil sie
dort terroristische Machenschaften vermutet haben;25 und schlussendlich findet
auch die Wissenschaft in Onlinespielen teilweise vielversprechende Forschungs-
umgebungen. Diese Probleme sind Gegenstand eigener Disziplinen, an dieser
Stelle soll nur eine Schlussfolgerung aus den Beobachtungen gezogen werden,
die gleichzeitig die Brücke zum abschließenden Punkt baut: Zuallererst muss
die funktionale Logik digitaler Spiele verstanden werden, um zu erkennen, dass
Prinzipien der Überwachung darin tief eingeschrieben sind. Und man muss
gleichzeitig die Überwachungslogik von Spielen – als prozessualen Vorgang –
verstehen, will man ihre funktionale Logik hintergehen.

4. (Meta-)Diskursivierung von Überwachungslogiken des
    Computerspiels
Bezug genommen wird hier auf das Spiel The Stanley Parable (Galactic Cafe,
2013) und seinen Protagonisten Stanley.26 Dieser Stanley ist ein Büroangestellter,
der ein wenig wie eine überzeichnete Version eines frühindustriellen Fabrik-
arbeiters in digitaler Zeit wirkt und der auf Anweisung Knöpfe auf einer Com-
putertastatur drückt. Stanley scheint alleine in einem Bürogebäude zu sein, sogar
von der ganzen Welt isoliert, was sich zeigt, wenn die Kamera über sein Büro
nach oben hinausfährt und das Büro als Raum ohne räumliche Umgebung zeigt,
als modellierten 3-D-Schuhkarton ohne Deckel. Aber medienerfahrene Beob-
achter*innen erkennen schon im Vorspann ein eindeutiges visuelles Zeichen,
das zeigt, dass Stanley unter Beobachtung steht, dass er überwacht wird: In das
Intro ist eine Sequenz eingeschnitten, die den filmischen Darstellungskonventio-
nen eines Überwachungsvideos entspricht.
   Nun ist für dieses Spiel und die Überlegungen dazu von entscheidender
Bedeutung, dass man das Verhältnis von Erzähler, Figur, Avatar und Spielen-
den zumindest ansatzweise klärt: Es gibt Stanley als Figur einer Narration, die

24 Vgl. dazu: Krieger-Lamina (2017).
25 Vgl. o. A. (2013).
26 Siehe hierzu auch die Ausführungen bei Schellong (2018).
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The Gamer’s Panopticon                             151

im Intro des Spiels reglos an ihrem Arbeitsplatz sitzt und ein Erzähler berichtet
von ihr. Mit einem Perspektivwechsel der Kamera zu einem Point-of-View-Shot
auf Stanleys Monitor, der nur einen blinkenden Cursor zeigt, wird am Ende der
Eröffnungssequenz ein Übergang vorbereitet. Die Kamera fährt langsam zurück
bis etwa zu Stanleys Position und die Spieler*innen übernehmen in First-Per-
son-Sicht die Steuerung. Dieser Wechsel bringt es mit sich, dass sich die Ein-
bindung der Rezipient*innen verändert, die nun die Welt durch die Augen der
Figur erleben, sich in ihr bewegen können. Die zunächst nur mit narrativen und
filmischen Mitteln dargestellte Figur Stanley wird zum Avatar Stanley. Die Rezi-
pient*innen wechseln von einem rein beobachtenden Verhältnis zur Figur in das
bereits angesprochene kybernetische Verhältnis zum Avatar, der nun die Spie-
ler*innen im Spiel repräsentiert. Damit treffen auch Erzähler und Spieler*innen
unmittelbar aufeinander, was hier von Bedeutung ist, weil die Erzählung die
maßgebliche Ebene der Regelung des Spiels ist. The Stanley Parable kann man
nicht im üblichen Sinn ‚gewinnen‘, man kann es nur immer wieder beenden –
und das auf mindestens 18 verschiedene Arten und Weisen.
    Am Ende der Eingangssequenz machen sich die Spieler*innen mit Stan-
ley auf den Weg durch das Bürogebäude. Sie können dabei die Erzählung als
handlungsleitende Spielregel akzeptieren und ihr folgen. Nehmen wir an sie tun
das, dann führt sie der Weg bis in das Büro des Chefs, der auch nicht anwesend
ist, in dem sie aber eine Türe finden, die sie in einen unbekannten Gebäudeteil
bringt. Sie kommen zu einem Raum, über dessen Eingang „Mind Control Faci-
lity“ steht; es ist ein zentraler Überwachungsraum, von dem aus scheinbar alle
Büros beobachtet werden. Dieser kreisförmige Raum hat in der Mitte eine zen-
trale Plattform, von der aus die Monitore angeschaltet und die Mitarbeiter*in-
nen überwacht werden können. Diese räumliche Form entspricht deutlich der
idealen Gefängnisarchitektur des Panopticons von Jeremy Bentham, nur eben
mit Monitoren statt Gefängniszellen.27 Das Spiel thematisiert also explizit den
Diskurs um Überwachung, wie er bei Jeremy Bentham und in Folge bei Michel
Foucault geführt wird.28 Wenn alle Mitarbeiter*innen überwacht werden, dann
auch Stanley. Und vielleicht dämmert den Spieler*innen schon, dass auch ihr
Verhalten innerhalb der (narrativen) Organisation des Spiels überwacht wird.
Wählt man im Spiel weiterhin die folgsamen Varianten, dann gelangt man zum
„Freedom Ending“29: Das Narrativ, das diesem Ende eingeschrieben ist, ist ein

27 Vgl. Bentham (2013).
28 Vgl. Foucault (1992: S. 260f.).
29 The Stanley Parable (im Folgenden TSP): narration.freedom_1_00 – narration.free-
   dom_3_02. Zitiert werden hier die Untertitel des Spiels wie sie in der Library des
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einfaches. Die Überwachungseinrichtung wird als ‚böse‘ markiert, als Mind-
Control-Facility, die die Freiheit der Einzelnen einschränkt. Schaltet man sie
ab und tritt aus der Überwachungssituation heraus, lässt man alles hinter sich.
Narration und Spiel enden – alles scheint gut zu sein. Der Erzähler gibt zwar
noch ein paar Hinweise auf die offenen Fragen („Where had his co-workers
gone? How had he been freed from the machine’s grasp? What other mysteries
did this strange building hold?“30), aber all das kann man getrost ignorieren,
denn immerhin hat man ja den Weg aus dem Panopticon heraus gefunden. Der
Erzähler hat einen zielgerichtet dorthin geführt – aus der Situation von Kont-
rolle und Überwachung heraus. Der Weg in die Freiheit und Selbstbestimmt-
heit war eigentlich ganz einfach, man musste nur dem Erzähler folgen. Man
musste nur die ganze Zeit die Knöpfe drücken und Wege wählen, die der Erzäh-
ler genannt hat. Man hat sich völlig seiner Kontrolle unterworfen. Man hat –
so wird nun deutlich – gehandelt wie die Figur Stanley, die zu Beginn immer
nur vor dem Bildschirm saß und diejenigen Tasten gedrückt hat, die auf dem
Monitor erschienen sind. Wahrscheinlich, so kann man vermuten, ging es bei
The Stanley Parable auch zu Beginn niemals um entfremdete Arbeit. Es ging die
ganze Zeit um das Spiel und seine Verbindung zu den Spieler*innen. Man wurde
bei jedem Schritt überwacht, hat in den Worten Foucaults das Machtverhältnis
zwischen Spiel und Spieler*innen völlig internalisiert und sich dem Ordnungs-
rahmen unterworfen. Das Zerstören der Mind-Control-Facility ist selbst nichts
anderes als ein Teil der Fremdkontrolle. Der Ausbruch aus der Überwachung ist
Teil einer Überwachung.
   Ein typischer Impuls an dieser Stelle könnte sein, dass man es jetzt erst recht
noch einmal versuchen und dem Erzähler widersprechen, sich aus der Fremd-
kontrolle befreien möchte. In den nächsten Durchgängen gerät man dann viel-
fach mit dem Erzähler in Streit: Er schreibt Dinge vor, man widerspricht durch
seine Handlungen. Wenn der Erzähler sagt: Nimm die linke Türe, nimmt man
die rechte. Je mehr man widerspricht, desto mehr übt der Erzähler seine Macht
aus. Irgendwann ist man wieder in der Mind-Control-Facility, diesmal schal-
tet man sie nicht aus, sondern an, will vielleicht selbst die Kontrolle überneh-
men. Der Erzähler lacht darüber, beginnt mit einem Countdown, führt den

   Spiels gefunden werden können (ohne den Programmcode, der beispielsweise zur
   farblichen Hervorhebung verwendet wird). Die Bezeichnung „narration.intro_1_00“
   bezeichnet die Textstelle in der Untertiteldatei bzw. „narration.intro_1_00 bis nar-
   ration.intro_2_06“ den gesamten Textbereich. Die Untertitel sind zudem online zu
   finden: Vgl. angelXwind (2017).
30 TSP: narration.freedom_2_03.
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The Gamer’s Panopticon                              153

Spieler*innen Minuten lang ihre Hilflosigkeit vor und sprengt das Gebäude mit
einer nuklearen Explosion in die Luft, was hier beruhigenderweise nur zu einem
Neustart des Spiels führt.
    Man kann noch ein zweites Beispiel für ein Überwachungssetting in die-
sem Spiel geben: Hier geht es um das Ende des Spiels, das unter Spieler*innen
als „Confusion Ending“31 bekannt ist. Der Weg dorthin ist als Irrweg insze-
niert: Zunächst verliert der Erzähler die Orientierung, öffnet verschiedene
Türen, um sie den Spieler*innen dann wieder vor der Nase zuzuschlagen. Die
Wege enden in Sackgassen, das Spiel beginnt immer wieder von vorne. Schluss-
endlich wird alles so unüberschaubar, dass der Erzähler, der noch immer bemüht
um Souveränität ist, sogar einen visuellen roten Faden der Narration einführt,
die „Stanley Parable Adventure LineTM“, die einen zielgerichteten Weg wieder-
herstellen und eine lineare Erzählung retten soll: „You see? The LineTM knows
where the story is, it’s over in this direction!“32, merkt der Erzähler an. Aber
auch die Linie scheitert, der Erzähler beschimpft sie sogar, das Spiel wird acht-
mal neu gestartet und das ganze inszenierte Durcheinander führt schlussendlich
sehr linear in einen Raum, in dem auf einer überdimensionalen Monitorwand
das Scheitern bis zu jedem einzelnen der acht Neustarts dokumentiert ist. Spie-
ler*innen und Erzähler erfahren am Ende dieser langen Sackgasse nun sogar
den Titel dieses Spieldurchgangs: „Oh, hold up, what’s this? Hmm … hmm, the
confusion ending?“33
    Die Konfusion entsteht dabei einerseits durch das räumliche Durcheinander,
vor allem aber auch dadurch, dass die Gemachtheit der Entscheidungskrise aus-
gestellt wird, was der Erzähler so kommentiert: „That’s really how all this goes?
It’s all … determined?“34 Das ist natürlich kein Erzähler in der Krise, der gerade
seine eigene ‚Gemachtheit‘ erkennt, sondern der Erzähler ist als ein (Mit-)Spie-
lender zu verstehen. Er bemüht sich zunächst uns über weite Strecken den Ein-
druck zu vermitteln, dass er selbst den Überblick über die Verfasstheit des Spiels
hat, dass er also eine Position innehat, die mehr auf der Ebene der Spielorga-
nisation beziehungsweise der Spielregeln als innerhalb des Spiels angesiedelt
ist. Seine – zumindest gespielte – Überraschung rückt ihn nun in das Spiel ein,
auf Ebene der Spieler*innen also, und sie führt vor, dass alles konstruiert, vor-
herbestimmt ist, dass es vollkommen kontrolliert abläuft und überwacht wird.

31   TSP: narration.con1-1_00 – narration.con5-5_11.
32   TSP: narration.con4-2_00.
33   TSP: narration.con5-5_00.
34   TSP: narration.con5-5_02.
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Der Erzähler verliert damit die Kontrolle über seine Figur und die erzählte Welt.
Die Spieler*innen folgen dem Erzähler oder bemühen sich um Widerstand – in
jedem Fall wird immer wieder thematisiert, dass es eine weitere Ebene gibt, die
alles umklammert, die alles kontrolliert und überwacht.
   Es scheint nun gar nicht unbedingt notwendig zu sein, die einzelnen Ebe-
nen, die sich hier überlagern, sorgfältig aufzudröseln, entscheidender ist viel-
mehr die Beobachtung eines selbstreferenziellen Verfahrens: Eine mediale
Form wie das Computerspiel, das Handlungserfahrungen in den Medien-
rezeptionsprozess integriert, braucht einen absoluten Bezugspunkt. Wie das
Zentrum in Benthams Panopticon, eine Plattform in der Mitte, von der aus
alles überwacht wird. Zumindest etwas wie diesen Monitorraum in The Stan-
ley Parable.
   Es wurde weiter oben sinngemäß schon ausgeführt: So lange die Spieler*in-
nen im Spiel bleiben, bleiben sie in ihrer ‚Zelle‘ und lassen sich überwachen.
Das gilt hier auch für den Erzähler. Aber die Spieler*innen haben im Gegensatz
zu diesem einen Ausweg. Sie können das Spiel verlassen. Und so wird es ihnen
sogar an einer Stelle im Spiel vorgeschlagen, wenn eine weitere Ebene eingeführt
wird, eine zusätzliche Erzählerin, die den Spieler*innen zuruft: „Press ‚escape‘
and press ‚quit‘. There‘s no other way to beat this game.“35 Das Spiel zu verlassen,
zu flüchten, das ist die einzige Möglichkeit, sich seiner Überwachung zu entzie-
hen. Dieser Gedanke ist nun nicht mehr neu und soweit scheint Hoffnung für
ein Happy End zu bestehen. Aber – auch das hat sich bereits angedeutet – das
Spiel wirkt produktiv über sich selbst hinaus. Für besondere Spielerfolge erhält
man Trophäen auf der Außenseite des Spiels. Und so antwortet das Spiel nun auf
den Versuch, es durch Nicht-Spielen endgültig zu besiegen, mit einer hochge-
zogenen Augenbraue, denn eine dieser Trophäen als Nachweis für einen beson-
deren Spielerfolg bekommt man nur dafür, dass man das Spiel fünf Jahre nicht
spielt (Achievement „Go outside“). Dieses Spiel überwacht also nicht nur das
Spielerverhalten im Spiel, es überwacht auch das Verhalten außerhalb des Spiels.
Wie heißt es so schön bei Paul Watzlawick: „Man kann nicht nicht kommunizie-
ren.“36 Hier wird nun deutlich: The Stanley Parable is watching you. Man kann
auch nicht nicht handeln. Man kann auch nicht keine Informationen über sich
hergeben, keine Daten produzieren. Damit ist nun auch geklärt, warum der Titel
des Beitrags ‚Gamer’s Panopticon‘ lautet.

35 TSP: narration.femnarr_3_01 – narration.femnarr_6_03.
36 Watzlawick (1969: S. 53).
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The Gamer’s Panopticon                              155

5. Fazit
Um zum Ende noch einmal zentrale Gedanken des Beitrags zusammenzufas-
sen: Erstens können Computerspiele als Erzählmedien konventionelle Überwa-
chungsnarrative fortschreiben, sie können dabei die Handlungsebene betonen
und Überwachung erfahrbar machen – das tun sie aktuell häufig auch mit einer
leichten Umdeutung, denn sie machen aus einem Überwachungsnarrativ ein
Überwacher*innennarrativ, indem sie den Spieler*innen Überwachen als aktiven
Prozess, für den und innerhalb dessen sie Entscheidungen treffen müssen, vor
Augen führen. Zweitens ist das kybernetische System aus Spielenden und Spiel
ein geschlossenes System, zumindest solange der Prozess des Spielens stattfindet.
Computerspiele definieren als regelhafte Ordnungssysteme im Sinne von Ludus
den Handlungsspielraum der Spieler*innen und überwachen gleichzeitig dessen
Einhaltung. Das Organisationsverfahren ist dabei in vielen Fällen eines, das einer
ökonomischen Logik von Bonus und Malus folgt. Hieran anknüpfend kann der
Raum des Spiels auch erweitert werden und realweltliche Aktionen einschließen.
Das Spiel wird dann über sich selbst hinaus produktiv, durch Daten, Informatio-
nen und ökonomischen Profit. Und drittens sind es vor allem Computerspiele
selbst, die die Möglichkeit dazu haben, performativ die genuinen Überwachungs-
und Kontrollogiken des Spiels vorzuführen. The Stanley Parable tut dies in
besonderer Weise, indem es auch den Erzähler und die Erzählung, die das hand-
lungsleitende Prinzip des Spiels sind, als Teil einer Überwachungslogik ausstellt.

Filme und Spiele
Beholder (Warm Lamp Games, 2016).
Brazil (GB, 1985, R: Terry Gilliam).
Das Fenster zum Hof (USA, 1954, R: Alfred Hitchcock).
Das Leben der Anderen (D, 2005, R: Florian Henckel von Donnersmark).
Der Staatsfeind Nr. 1 (USA, 1998, R: Tony Scott).
Metal Gear Solid (Konami, 1998).
Orwell (Osmotic Studios Hamburg, 2016–2018).
Papers, please (3909 LLC, 2013).
Replica (Somi, 2016).
Republique (Camouflaj, 2016).
The Stanley Parable (Galactic Café, 2013).
Watch Dogs (Ubisoft, 2014).
Watch Dogs 2 (Ubisoft, 2016).
              Kilian Hauptmann, Martin Hennig and Hans Krah - 9783631827475
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