THEMENPAVILLON EXPO 2012 IN YEOSU, KOREA - BIO-INSPIRIERTE KINETISCHE FASSADE
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Projektvorstellung 006 Knippers THEMENPAVILLON EXPO 2012 IN YEOSU, KOREA BIO-INSPIRIERTE KINETISCHE FASSADE Bild 1. Kinetische Fassade im Probebetrieb Jan Knippers ■ Florian Scheible ■ Matthias Oppe ■ Hauke Jungjohann Der von SOMA Architecture aus Wien, Österreich entworfene Bewegungsprinzip „Themenpavillon“ ist eines der wichtigsten Gebäude der EXPO 2012 in Yeosu, Südkorea. Die dem EXPO-Gelände und dem Haupt- Während der Vorentwurfsphase wurden verschiedene tech- eingang zugewandte Seite ist von einer beweglichen Medien- nische Lösungsansätze unter Berücksichtigung ästhetischer fassade geprägt. Grundlage der Entwicklung der kinetischen Aspekte und architektonischer Einflüsse auf die kinetische Fassade war die Analyse natürlicher Bewegungsprinzipien. Die Medienfassade untersucht. Das Ergebnis dieses Prozesses Verwendung von glasfaserverstärkten Kunststoffen (GfK) erlaubt ist eine Lösung, welche die Wettbewerbsidee – die Schaf- große reversible elastische Verformungen und ermöglicht somit fung einer fugenlosen Oberfläche, die in weichen Bewegun- eine komplett neue Interpretation wandelbarer Strukturen. gen ihre Form ändert – mit einer konzeptionell einfachen Bewegungslogik umsetzt (Bild 4). Wandelbare Strukturen in der Architektur werden üblicher- Drei Kernaspekte kennzeichnen das technische Kon- weise durch steife Tragelemente oder weiche Textilien in zept der Fassade: Die elastische Verformung, die adaptive Kombination mit speziellen beweglichen Elementen wie Vorspannung und die Energierückgewinnung. Gelenken, Rollen usw. realisiert. In der Natur haben Pflan- zen eine Vielzahl beweglicher Funktionen, basierend auf Großflächige, elastische Verformung mit minimierter Kine- elastischen Verformungen ohne Gelenke, entwickelt, um matik z. B. das Öffnen und Schließen von Blüten, die Orientierung Am oberen und unteren Ende jeder Lamelle (vgl. Bild 5) von Blättern usw. zu ermöglichen [3]. Grundidee des kon- wird mittels Stellantrieben eine Druckbeanspruchung auf- struktiven Konzepts ist es, eine Lamelle aus glasfaserver- gebracht, die eine elastische Biegeverformung der Lamel- stärktem Kunststoff mit definierter Steifigkeit einzusetzen. len verursacht – die Fassade öffnet sich. Der Mechanismus Die Fassade des Themenpavillons der EXPO 2012 in besteht aus einer Kugelgewindespindel, die von einem Syn- Yeosu, Südkorea, besteht aus 108 Lamellen und ist insge- chronservomotor angetrieben wird. Die Spindel ist an bei- samt 140 m lang und 3 bis 13 m hoch. Die 13 m hohen den Enden gelenkig gelagert, wobei der Kopfpunkt von ei- Lamellen haben eine Laminatdicke von lediglich 9 mm, nem ebenfalls gelenkig gelagerten Koppelstab geführt wird. sie sind an den vertikalen Kanten jeweils durch eine bis zu Die Fassade ist sowohl an erforderliche Lichtbedin- 200 mm lange Steife verstärkt. (Bild 1) gungen als auch an bauphysikalische Gegebenheiten anpass- Ernst & Sohn Special · Innovative Fassadentechnik 1
Projektvorstellung 006 Knippers bar. Ferner ermöglicht die Kinematik die Inszenierung von linie (Bau-Überwachungsverein e.V.) angesetzt. Des Wei- speziellen, vorprogrammierten Choreographien und ist da- teren werden die Anzahl der Öffnungsvorgänge und das mit ein beweglicher Blickfang für die Besucher der Expo. Ermüdungsverhalten sowie ein dynamischer Erhöhungs- Um die Choreografie in Bewegungsabläufe der Lamel- faktor entsprechend berücksichtigt. len umzusetzen, werden alle 216 Motoren von der Steue- rungsanlage koordiniert angesteuert. Die Motoren einer Lastannahmen Lamelle werden dabei synchronisiert, wobei Sensoren die Die Fassade muss für eine maximale Windgeschwindig- Funktionstüchtigkeit der Lamelle laufend prüfen und ent- keit von 35 m/s, wie sie an der Küste von Südkorea bei sprechende Daten an die Rechenanlage zurückmelden. Taifun nicht unüblich ist, bemessen werden. Das Trag- und Um die Lamellen als Medienfassade zu nutzen, ist diese in Verformungsverhalten wurde im Windkanal für verschie- einem 10-cm-Raster mit LEDs versehen. Zusätzliche LED- dene Öffnungswinkel untersucht und die anzusetzenden Lichtbänder an den Innenkanten betonen die Verformungs- Windlasten konnten somit exakt ermittelt werden. Aus vorgänge (Bild 6). den durchgeführten Untersuchungen wurden zwei ver- schiedene Situationen abgeleitet: Bei Windgeschwindig- Adaptive Vorspannung der Fassade gegen Windlasten keit < 15 m/s (6 Beaufort) kann die Fassade geöffnet wer- Um die biegeweichen Lamellen bei hohen Windlasten zu den, wenn der Wind > 15 m/s (6 Beaufort) ist, wird die stabilisieren, werden diese gegeneinander vorgespannt. Fassade automatisch geschlossen und die Lamellen wer- Dabei wird der weiche Rand mittels der Aktuatoren ge- den gegeneinander stufenweise mit bis zu 50 kN statt 10 kN streckt und durch die Krümmung der Fassade auf den stei- wie im Normalbetriebsmodus vorgespannt. fen Rand der Nachbarlamelle gepresst. Die dabei aufge- brachte Vorspannung wird sukzessive der zunehmenden Numerische Berechnung Windlast angepasst und von 10 kN Vorspannung im ge- Die statische Analyse wird für die größte (13,6 m) und schlossenen Zustand im Normalbetrieb auf bis zu 50 kN kleinste (6,0 m) Lamelle durchgeführt. Diese Lamellen wur- bei maximaler Windlast gesteigert. den ausgesucht, da davon ausgegangen werden konnte, Die adaptive Anpassung erfolgt aus zwei Gründen: dass die Werte für Verschiebungen, Eigenfrequenzen, Auf- Das nur kurzzeitige starke Vorspannen der Lamellen re- lagerkräfte und auftretenden Spannungen maßgebend duziert mit Blick auf die Wöhler-Linie die Materialbela- und somit repräsentativ für die gesamte Fassade sowie die stung und damit die Ermüdung, was sich positiv auf die Bemessung der Unterkonstruktion sind. Lebensdauer der Lamellen auswirkt. Zweitens wird da- Um die Zuverlässigkeit der Ergebnisse zu überprüfen durch die Gesamtzeit der maximalen Leistu7ngsauf- und der Situation Rechnung zu tragen, dass es im asiati- nahme der Antriebe auf ein Minimum reduziert, weshalb schen Raum kein „Vieraugenprinzip“ bei der Prüfung der sich die Anlagen zur Energiebereitstellung auf eine Ge- statischen Berechnung gibt, wurden unabhängige Berech- samtleistung von 80 kW reduzieren ließen. So können im nungen mit den Softwareprogrammen SOFISTIK 23 by Normalbetrieb alle und während des Vorspannprozesses Sofistik AG, Germany and MSC Nastran by MSC Software, bis zu 13 Lamellen gleichzeitig bewegt werden. USA durchgeführt, die Ergebnisse wurden anschließend vergleichend gegenübergestellt. In MSC Nastran können Rückgewinnung der Verformungsenergie unter Verwendung geschichteter Schalenelemente Span- Da an einer Lamelle stets ein Aktuator aufwärts und einer nungen und Dehnungen in jeder Einzelschicht getrennt abwärts arbeitet, ist die Leistungsaufnahme beider Antriebe voneinander ausgegeben werden. Der in Bild 6 dargestellte immer gegensätzlich. Daher sind die Servomotoren so aus- Versagensindex ist das Ergebnis eines Maximalspannungs- gestattet, dass sie auch als Generator arbeiten können. So kriteriums. kann sowohl Energie während einer Abwärtsbewegung als auch Rückstellenergie der verformten Lamellen zumindest Querschnitt teilweise zurückgewonnen und direkt für den Betrieb des Für die 13 m langen Lamellen wird ein orthotropes Lami- jeweils anderer Aktuatoren verwendet werden. nat (Typ 1) mit einer Dicke von 9 mm gewählt, die Lamel- len sind an beiden Längskanten durch 200 mm bzw. 30 mm Dimensionierung tiefe Steifen (Laminattyp 2) verstärkt (vgl. Bild 7). Ein Hart- gummipuffer schützt das GfK-Laminat bei geschlossener Bemessungskonzept Fassade, wenn eine Lamelle auf der nächsten aufliegt. Ver- Der Einsatz von faserverstärkten Verbundwerkstoffen im schiedene Laminataufbauten für orthotropes und unidirek- Bauwesen ist in den letzten Jahren aufgrund überzeugen- tionales Laminat, wie in der DIN 18820 spezifiziert, sind in der Vorteile bei speziellen Anforderungen erheblich gestie- der Vorentwurfsphase angesetzt worden. In der Entwurfs- gen. Für den Entwurf und die Tragwerksplanung sind na- phase war eine weitere Optimierung des Trag- und Verfor- tional und international jedoch häufig nur unvollständige mungsverhaltens und damit auch des maximalen Öffnungs- oder unwirtschaftliche Bemessungskonzepte verfügbar. winkels unter Verwendung des Laminataufbaus möglich. Daher wird hier ein kombiniertes Konzept angewen- det; alle relevanten Lasten und Lastfallkombinationen Bauteilversuche und Herstellung werden nach Eurocode 0 (EN 1990) angesetzt. Unter Be- achtung der nach DIN 18820 ermittelten richtungsabhän- Das Gesamttragverhalten der kleinsten und größten La- gigen Materialeigenschaften werden Abminderungsbeiwerte melle wurde zunächst im Bauteilversuch getestet. Um da- zur Berücksichtigung von Temperatur- und Medienein- bei die Steifigkeit und den Einfluss der Stahlunterkonstruk- flüssen und der Lasteinwirkungsdauer gemäß BÜV-Richt- tion auf das Verformungsverhalten zu berücksichtigen, 2 Ernst & Sohn Special · Innovative Fassadentechnik
Projektvorstellung 006 Knippers wurden die Lamellen an einer Unterkonstruktion aus Stahlhohlprofilen befestigt (vgl. Bild 9). Nach erfolgrei- chem Abschluss der Bauteilversuche wurden die insge- samt 108 Lamellen von einer koreanischen Firma gemäß der Vorgaben von Knippers Helbig im Handlaminierungs- verfahren hergestellt. Die Montage der Lamellen wurde im April 2012 abgeschlossen, vor der offiziellen Eröffnung konnte der Probebetrieb beginnen. Entwicklungsperspektiven Der Einsatz biomimetischer Prinzipien in der Architektur steht insbesondere für bewegliche Bauteile noch am An- fang. Die Zuhilfenahme von elektrischen Antrieben wie für den Pavillon kann nur als ein Zwischenschritt auf dem Bild 2. Themenpavillon (geschlossene Lamellen) Weg zu hochgradig adaptiven, selbststeuernden Gebäu- dehüllen sein, die sich der Prinzipien der elastischen Ver- formung bedienen, um sich den Bedürfnissen ihrer Nutzer flexibel anzupassen. Bautafel Themenpavillon EXPO 2012, Yeosu, Korea ■ Bauherr: The Organizing Committee for EXPO 2012 Yeosu, Korea ■ Architekt: SOMA Architects, Wien, Österreich ■ Lokaler Partner: dmp, Seoul, Korea ■ Fassadenfläche: 3200 m2 ■ Anzahl der Lamellen: 108 ■ Gesamtbaukosten: 2,7 Millionen € ■ Fertigstellung: 2012 Literatur Bild 3. Themenpavillon (geöffnete Lamellen) [1] Knippers, Jan, et al.: Biomimetic Deployable Systems in Ar- chitecture, 6th World Congress of Biomechanics (WCB 2010), Vol. 31, Part 1, August 2010, pp. 40–43. [2] Knippers, Jan, et al.: Form-finding of Nature Inspires Kine- matics for Pliable Structures, International Symposium of Shell and Spatial Structures (IASS), November 2010, pp. 501. [3] Lienhard, J. et al.: Form-finding of Nature Inspires Kinema- tics for Pliable Structures, Proceedings of the IASS Sympo- sium: Spatial Structures Temporary and Permanent 2010, Shanghai, China. Weitere Informationen: Bild 4. Bewegungsprinzip Knippers Helbig GmbH, Prof. Dr.-Ing. Jan Knippers, Tübinger Straße 12–16, 70327 Stuttgart, Tel. (0711) 24 83 93 60, Fax (0711) 24 83 93 88, j.knippers@knippershelbig.com, www.knippershelbig.com Bild 5. Antriebstechnik Ernst & Sohn Special · Innovative Fassadentechnik 3
Projektvorstellung 006 Knippers Bild 6. Themenpavillon bei Nacht Bild 7. Numerische Modelle und Ergebnisse für die größte Lamelle Bild 8. Horizontalschnitt der größten Lamelle 4 Ernst & Sohn Special · Innovative Fassadentechnik
Projektvorstellung 006 Knippers Bild 9. Bauteilversuch (Bilder 5, 7: Rendering@isocrom, Bilder 4, 8, 9: Knippers Helbig, Bilder 1, 6, 9: SOMA Architecture) Ernst & Sohn Special · Innovative Fassadentechnik 5
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