Unsere Medientipps des Monats - Oktober 2010 bis September 2011 - Stadt Mannheim
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Oktober 2010 Empfehlung von Sabine Morgenthaler Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Zwei Ehepaare, zwei Brüder und ihre Frauen, treffen sich in einem Nobelrestaurant zum Essen. Zunächst unterhalten sie sich über nebensächliches, wie Urlaubspläne und Filme, und vermeiden das eigentliche Thema – die Zukunft ihrer beiden 15- jährigen Söhne Michel und Rick, die etwas getan haben, das sie ruinieren könnte. Die sechs Gänge des Menüs strukturieren den Roman, der rückblickend während des Essens von einem der Brüder, Paul, erzählt wird und stückweise ein Geheimnis offenbart. Zwischen Paul, dem frühpensionierten Lehrer und Serge, einem Landes- politiker, der als nächster Ministerpräsident gehandelt wird, brechen unterdrückte Konflikte und Emotionen auf. Bald steht eine Entscheidung im Raum, denn die El- tern wollen Ihre Kinder schützen und für sie lügen. Doch einer der Väter hat Skru- pel – und zwar derjenige, von dem man es am wenigsten erwartet hätte. Die tragikomische Geschichte thematisiert die Liebe von Eltern zu ihren Kindern und die Frage wie weit sie gehen dürfen, um diese zu beschützen. Vom Aperitif bis zum Trinkgeld erzählt der Autor spannend und humorvoll eine Ge- schichte, die den Leser immer wieder auf eine falsche Fährte lockt und menschliche Koch, Hermann: Schwächen vor Augen hält. Angerichtet. Roman. Kiepenheuer & Witsch, 2010. – 336 Seiten. Eine Geschichte, die aufwühlt und nachdenklich macht. Absolut lesenswert.
November 2010 Empfehlung von Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Der Untertitel verspricht nicht zuviel: Dies ist ein Buch für besondere Leser, dabei so vergnüglich, dass man sich den Lesespaß nicht entgehen lassen sollte. Der Autor, Journalist und Fernsehregisseur, versteht es, naturwissenschaftliches und literarisches Wissen in Gestalt des tierischen und menschlichen Bücherwurms miteinander zu verbinden und dabei die unglaublichsten Zusammenhänge herzu- stellen. So begibt er sich zunächst auf die Spur der Zoologie des Bücherwurms, der „nicht nur vom sondern vor allem auch im Buch lebt“ und zuerst 1665 in Robert Hookes Micrographia als „book-worm“ wissenschaftlich beschrieben wurde. Weiter geht’s zu zahlreichen anderen Bücher fressenden Insekten („Silberfisch- chen fressen Goethe“), um sodann die menschliche Spezies des Bücherwurms ins Auge zu fassen. Und nun wird es wirklich spannend: Der menschliche Bücherwurm betritt in Gestalt eines Studiosus in Lessings Komödie „Der junge Gelehrte“ die Bühne. Das war 1748. Ab diesem Datum wird Literatur mit Heißhunger verschlungen, Pflichtlektüre wird durch- gekaut, philosophische Traktate sind schwer verdaulich, Weltliteratur wird geistige Nahrung genannt. Der Autor geht sogar so weit, die Frage zu stellen: „Kann man Bücher essen?“, um sogleich einige Beispiele für den Verzehr derselben anzuführen. Wer nun denkt, die Zeit des Bücherwurms sei mit dem Anbruch des digitalen Zeit- alters vorbei, der irrt. Mit der Erfindung der Computer machten Motten und Kä- fer auch vor diesen nicht halt und konnten die empfindlichen Geräte zum Absturz bringen, weshalb Computerfehler in der Fachwelt als „bugs“ bezeichnet werden. Haarkötter, Hektor: Und nicht zuletzt sind Computerwürmer oder -viren bekannt und gefürchtet. Der Bücherwurm. Die Wandelbarkeit des Bücherwurms als Lebewesen wie auch als Metapher macht Vergnügliches für den besonderen Leser. also seine Erfolgsgeschichte aus, so der Autor, und bescheinigt ihm durchaus eine Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010. – 144 Seiten. Zukunft in einem fernen Science-Fiction-Zeitalter.
Dezember 2010 Empfehlung von Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Wer kennt nicht die Filme von Charlie Chaplin, dem genialen Erfinder des „kleinen Tramp“ mit den viel zu großen Schuhen. Eine neue Biographie beleuchtet das Leben Chaplins jetzt aus einem ganz anderen Blickwinkel als bisher. Der Autor, anerkannter Psychoanalytiker aus den USA, hatte Chaplin „schon jahre- lang auf der Couch“, wie er im Nachwort schreibt. Vor allem anhand er beiden Auto- biographien des Künstlers „Charlie Chaplins own Story“ und „Die Geschichte meines Lebens“ betrachtet er den offensichtlich engen Zusammenhang der von Chaplin zum Teil als traumatisch erlebten Kindheit und deren Verarbeitung in seinen Filmthemen. Der Autor versteht es, überraschende Parallelen zu ziehen. So geht er immer wieder auf den Einfluss der von Chaplin geliebten und verehrten Mutter in, die als Schau- spielerin und Sängerin in der Londoner Music Hall zwar scheiterte, aber dem kleinen Charlie schon früh alle Tricks des Showbusiness beibrachte und auch im Elend immer noch etwas Lustiges entdecken konnte. Ausführlich beschreibt er die bittere Armut, in der Charlie zusammen mit seinem Bruder aufwuchs, als seine Mutter sich und ihre beiden Söhne als Näherin versuchte durchzubringen. Aus diesen Erfahrungen schöpfte Chaplin, so der Autor, den Stoff für seine Filme. Die Kulisse der Mansardenwohnung in „The Kid“ (Der Vagabund und das Kind) ist z.B. eine genaue Rekonstruktion eines Zuhauses in Südlondon. Und immer wieder sind es Frauengestalten, stellvertretend für seine Mutter, schreibt der Autor, denen der kleine Tramp in irgendeiner Weise beisteht, so dem Blumenmädchen in „Lichter der Großstadt“. Charlie Chaplin selber bringt das Geheimnis seiner Kunst folgendermaßen auf den Punkt: „Grausamkeit (…) ist ein untrennbarer Bestandteil der Komödie. Wir lachen, (…) damit wir nicht weinen müssen.“ Mit seinen einfühlsamen Beschreibungen und kleinen Anekdoten aus Chaplins Le- Weissman, Stephen: ben zieht Stephen Weissman seine Leser von Anfang an in den Bann. Chaplin. Verstärkt wird der Lesegenuss durch das Anschauen der Filme – ein unwidersteh- Eine Biographie. liches ergnügen für lange Winterabende, bei dem so manches Auge nicht trocken Aufbau-Verlag, 2009. – 402 Seiten. bleiben wird.
Januar 2011 Empfehlung von Claudia Derengowski Praktikantin bei der Stadtbibliothek Mannheim „Letterschmige, Wiemenbluse, Mederfaus“ sind alles Wörter die aus dem Mund von Herrn Beckermann kommen – und kein Mensch versteht ihn. Nachdem er aus der Drehtür einen Kaufhauses gefogen ist, vertauscht er die Buchstaben. Herr Be- ckermann wird von allen nur noch „Der Wechstabenverbuchsler“ genannt. Am glei- chen Tag, als das Unglück geschah, begegneten ihm Nina und ihre Mutter. Seitdem steht sein Leben Kopf. Der Theologe Mathias Jeschke schafft in seinem vierten Bilderbuch einen witzigen Umgang mit der deutschen Sprache und regt dazu an, selbst zum Wortverdreher zu werden. Die witzigen Illustrationen von Karsten Teich ergänzen den Sprach- spielspaß ideal. Seinen charmanten Umgang mit der Sprache beweist Mathias Jeschke auch mit seiner Sammlung „Wie das Wiesel dem Riesen den Marsch blies“, illustriert von Jens Rassmus aus der Reihe „Gedichte für neugierige Kinder“ Ein Beispiel: „Wie es in den Wald hineinruft“ Ist der Klopfton vom Specht Jeschke, Martin (Text); Teich, Karsten (Illustrationen): echt? Der Wechstabenverbuchsler. Boje-Verlag, 2010. – 14 Blätter. Ist der Baum bald sein Kleid leid? Jeschke, Martin (Text); Rassmus, Jens (Illustrationen): Wie das Wiesel dem Riesen den Marsch blies. Bleibt einer, der nach der Schlacht Boje-Verlag, 2010. – 64 Seiten. lacht?
Februar 2011 Empfehlung von Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Titel und Buchcover der neuen Sammlung Stories von Klaus Servene lassen es er- warten: Es geht um Menschen und Schicksale in Mannheim und anderswo. Nach der Prosasammlung „Zugereist“ des Autors zum 400-jährigen Jubiläum der Stadt Mannheim versammelt der Band, gefördert vom Mannheimer Kulturamt, be- reits preisgekrönte und neue Geschichten, die – und das ist nicht übertrieben – wirk- lich unter die Haut gehen. Die Protagonisten sind immer diejenigen am Rand der Gesellschaft: geschei- terte Künstler, aus der Haft Entlassene, eine arbeitslose Telefonistin oder einfach Menschen in der Straßenbahn. Oft gibt es eindeutige Hinweise auf Schauplätze in Mannheim, wie in „9 Uhr 9, Grenadierstraße“, wo der Straßenbahn fahrende Ich-Erzähler feststellt: “Der Paradeplatz, ein Aushängeschild dieser Stadt, ist der schönste Niedriglohnsektor dieser Stadt“ und „Während der Fahrt schaue ich mir die Leute an. Eigentlich sind sie keine Arschlöscher, sie scheinen nur so, auf den ersten Blick“. Dann wieder Geschichten, die irgendwo in Deutschland spielen: Ein aus der Haft Ent- lassener kauft seinem toten Kamerad und Freund aus dem Knast eine Urne und füllt sie mit Asche, die er aus drei fremden Urnen zusammengeklaut hat. Oder die Geschichte von dem Maler, der sich mit einem Küchenmesser im Herz umbringt: “Sein Tod – ein letztes Unikat“. Der Autor hat einen Blick für die skurrilen Wendungen des Lebens. Seine Geschich- ten sind nicht ohne einen trockenen Humor, verfügen manchmal auch über Sar- kasmus, wovon auch der szenische Anhang: „Styx – oder die Krise ist machbar!“ zeugt. Aber immer ist seine Sympathie auf Seiten seiner Figuren, für die er meist Servene, Klaus: einen kleinen Hoffnungsschimmer auf die Zukunft bereit hält. Mannheim, Germany. Achter-Verlag, 2010. – 176 Seiten. Lesenswert!
März 2011 Empfehlung von Lina Böhm und Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Auch das neue Buch der russischen Schriftstellerin und Drehbuchautorin Viktorija Tokarjewa handelt wieder von einer Frau, die ihr Leben entgegen aller Widerstände selbst in die Hand nimmt. Viktorija Tokarjewa gehört zurzeit zu den in Russland am meisten gelesenen Autorinnen. Von Kritikern wurde sie die „russische Francoise Sagan“ getauft. Die Handlung, nach Ende des zweiten Weltkriegs angesiedelt, dreht sich um Matrjona, „aber wie sollte man mit so einem Namen leben?“ Deshalb wird sie von allen Vera ge- nannt. Vera mit den rotblonden Haaren und blauen Augen möchte Schauspielerin wer- den und geht deshalb vom Land nach Leningrad. Mit äußerstem Durchhaltewillen schafft sie die Schauspielschule, erhält jedoch nur Nebenrollen. Die Hauptrolle in ihrem Leben spielt bald der um zehn Jahre jüngere Filmemacher Alexander, in den sie sich verliebt und von dem sie ein Kind bekommt. Alles hätte gut werden können, aber Alexander liebt Vera nicht, und so tritt bald das ein, was Vera immer befürchtet hatte. Tokarjewa, Viktorija: Dass Viktorija Tokarjewa Drehbuchautorin ist, merkt man dem Roman an. Ihre Figuren werden angetrieben von ihren Stärken und Schwächen, von starken Emotionen und dem Der Baum auf dem Dach. zähen Bestreben nach Lebensglück. Mit wenigen Strichen zeichnet sie die Charaktere in Diogenes, 2010. – 200 Seiten. einer Sprache, die viel von der russischen Seele offenbart, „von Liebe und Verzicht, von Großherzigkeit und Lebensmut und von der russischen Seele, die so viel Leid ertragen kann.“ Tokarjewa, Viktorija: Derevo na kryshe. Ein Lesegenuss der ganz besonderen Art, sowohl in deutscher als auch in russischer AST, 2009. – 318 Seiten (in russischer Sprache) Sprache.
April 2011 Empfehlung von Klaus Bopp Musikbibliothek der Stadtbibliothek Mannheim Nachdem er uns in „Familienstücke“ an der Spurensuche nach seiner weit ver- zweigten Familie teilnehmen ließ und in „Wann darf ich klatschen?“ einen humor- vollen Blick hinter die Kulissen des klassischen Konzertbetriebs gewährte, führt uns der britische Geigenvirtuose Daniel Hope in seinem Buch „Toi, toi, toi!“ in die Welt der Pannen und Katastrophen in der Musik. Auf den Brettern der Konzert- und Opernbühnen dieser Welt zeitigen bereits kleinste Pannen häufig fatale Wirkung. Die exemplarischen und im angemessenen Ton des Experten vorgestellten Er- eignisse aus der Musikgeschichte machen unmissverständlich klar, dass alles, was schief gehen kann, auch schief geht. Leicht und amüsant kommen kleinere Pannen daher, wie die des Dirigenten, der in der Kölner Philharmonie von einem nicht ordentlich fixierten Bühnenaufzug langsam aber sicher im Bühnenboden ver- senkt wird, bis er am Ende des Konzerts, wacker weiter dirigierend, nur noch vom Bauchnabel aufwärts sichtbar ist. Beethovens Missgeschick – anlässlich eines wichtigen Konzertabends in Wien beim eifrigen Dirigieren eines Klavierkonzerts seinen Einsatz als Solist schlicht zu vergessen, dafür das leicht irritierte Orchester lautstark zu beschimpfen – zählt dann wohl schon zu den mittelschweren Zwischenfällen, die den Leser meist zum Schmunzeln oder Lachen bringen. Aber auch tief ernste, durch Politik oder Naturereignisse verursachte Dramen und Katastrophen haben ihren angemessenen Platz, unterbrechen das Amüsement des Lesers immer wieder, etwa mit der beklemmenden Schilderung des amerikanischen Geigers Isaac Stern, der während eines wegen Luftalarms unterbrochenen Konzertes im Februar 1991 in Jerusalem das in Erwartung des Einschlags einer irakischen Rakete nervös in Gasmasken vor ihm sitzende Publikum mit Hilfe seiner Violine und der Wirkung der Musik zu beruhigen versucht. Der literarische Anspruch dieser Geschichten- und Anekdotensammlung mag Hope, Daniel: überschaubar sein. Ihren besonderen Reiz verdankt sie dem erkennbaren Gefühl Toi, toi, toi! des Musikers Hope für Tempo- und Stimmungswechsel. Pannen & Katastrophen in der Musik. Eine Empfehlung ist das Buch aber auch zum Schmökern für zwischendurch oder Rowohlt, 2011. – 191 Seiten. als Ideendepot für geistvollen Smalltalk.
Mai 2011 Empfehlung von Diana Medjedovic Auszubildende bei der Stadtbibliothek Mannheim Güner Balci, die als Sozialarbeiterin im Berliner Problemviertel Neukölln arbeite- te, stellt in ihrem Debütroman erschreckend ehrlich und brutal die Parallelwelt unserer heutigen Gesellschaft dar. Sie liefert dem Leser eine Geschichte über die gescheiterte Integration des libanesischen Jungen Rashid in die deutsche Gesell- schaft. Eine Geschichte, die bestimmt ist von Angst, Gewalt, Drogen und Tod. Rashids Geschichte beginnt im Gefängnis, wo er gelandet ist, nachdem er in eine Apo- theke eingebrochen ist, um die Droge Tildin zu stehlen. Er steht kurz vor der Abschie- bung und beginnt seine bisherigen Taten zu reflektieren, wobei er uns zwischendurch Einblick in seine gegenwärtige Situation bietet. Rashid hat einen palästinensisch-liba- nesischen Hintergrund und er verachtet alles, was deutsch ist. Er lebt nach dem Gesetz der Straße. Durch Jobs im Drogen- und Prostitutionsmilieu hat er sich die Anerkennung der sogenannten Arabboys und des Neuköllner Kiezes bis in die obersten Hierarchien verschafft. Die Angst Anderer nutzt er schamlos aus, um Schwächere auszubeuten und Balci, Güner Yasemin: zu schikanieren. Kurz vor seinem persönlichen Durchbruch in dieser einschlägigen Sze- Arabboy. ne kommt er auf den Geschmack der Droge Tildin, die ihm zum Verhängnis wird. Zu Eine Jugend in Deutschland oder Das kurze Leben des Rashid A. Beginn noch im Glauben, jederzeit damit aufhören zu können, verliert Rashid zuneh- Fischer Taschenbuch-Verlag, 2010. – 286 Seiten. mend die Kontrolle über sich und damit auch den Respekt der Anderen.
Juni 2011 Empfehlung von Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Der 2009 verstorbene John Updike zählt mit seinem frühen Roman „Ehepaare“ und der „Rabbit“-Reihe zu den berühmtesten amerikanischen Autoren. In den posthum veröf- fentlichten und erst jetzt ins Deutsche übersetzten letzten Erzählungen erreicht seine Erzählkunst noch einmal einen Höhepunkt. Die 18 Geschichten kreisen um Männer, meist Ich-Erzähler, die sich an Begebenheiten erinnern, denen sie rückblickend eine besondere Bedeutung in ihrem Leben zumessen. Unsentimental und doch fast zärtlich skizziert der Autor Wendepunkte im Leben seiner Protagonisten, sinniert über verpasste Chancen und die vergangene Geborgenheit in Ehe und Familie. Da ist die Erzählung „Marokko“, die einen verunglückten Ferienaufenthalt beschreibt, den der Ich-Erzähler mit Frau und Kindern in diesem Land verbringt. Nichts ist so, wie er es sich vorgestellt hatte und doch: „Wir hatten in Marokko ein Höchstmaß an familiärer Ver- dichtung erreicht und konnten uns von nun an zerstreuen. Erwachsen werden, aus dem Haus gehen, mit ansehen, wie eure Eltern sich scheiden ließen“. In „Die Hüter“ beschreibt der Autor ein Einzelkind, das im Schoße der Familie geliebt und behütet aufwächst und Angst hat, seine Großeltern und Eltern könnten vorzeitig ster- ben. Aber „Sie starben in taktvoll bemessenen Abständen, in der Reihenfolge, in der sie geboren waren. Und als alle gestorben waren, waren seine Hüter in ihm und trieben ihn an, eine winzige menschliche Besatzung in einer großen wandelnden DNS-Konstruktion“. Auch die Titelgeschichte des Bandes handelt von familiären Bindungen, vom Älterwer- den und Abschiednehmen. Der Sohn erinnert sich an die Tränen des Vaters bei seiner Abreise auf dem Weg zur Universität und in ein selbstständiges Leben. Erst jetzt erkennt er, dass der Vater ihn liebte und den zunehmenden Abstand zwischen sich und seinem Sohn schmerzlich empfand. Die autobiographischen Parallelen in John Updikes Erzählungen sind offensichtlich. Das John Updike: Alter hat jedoch trotz des immer wieder aufblitzenden Sarkasmus über alles eine Aura Die Tränen meines Vaters. der Milde gelegt. Familie und Kinder spielen immer wieder eine zentrale Rolle in diesen Roman. Erzählungen und so berührt es auch sympathisch, dass der Band seinen 14 Enkelkindern Rowohlt, 2011. – 366 Seiten. gewidmet ist.
Juli 2011 Empfehlung von Nastasia Forg Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Der Künstler David Andernach (Mads Mikkelsen) hat es endlich geschafft. Seine Werke sind gefragt und werden hoch bezahlt. Aber mit dem Erfolg schwindet das Familienglück. David sucht das Abenteuer und findet es bei der Nachbarin Gia (Heike Makatsch). Auch als seine Tochter beim Spielen im Garten tödlich verun- glückt, vergnügt sich David gerade mit Gia. Seine Ehe mit Maja (Jessica Schwarz) zerbricht, die künstlerische Inspiration ist weg, und von Selbstvorwürfen zerfres- sen findet er nur noch Trost im Alkohol. Jahre später, gerade als er keinen Ausweg mehr sieht, öffnet sich ihm eine kleine geheime Tür. Sie führt ihn in die Vergangen- heit, genau zu dem Tag, an dem seine Tochter verunglückte. Als er sein Alter Ego über die Straße zur Nachbarin gehen sieht, erkennt er seine Chance und rettet seine Tochter. Überglücklich, alles zukünftige Unglück abgewen- det zu haben, muss er schnell erkennen, dass es kein richtiges Leben im falschen geben kann. Denn Zwei sind Einer zu viel. Also was tun mit dem jüngeren Ich? Geheime Türen kennt man ja: Der König von Narnia, Pans Labyrinth, Alice im Wun- derland... Meistens führen Sie in fantastische, wundersame Welten. Diese Tür führt David aber in ein Horrorszenario, in dem jede Handlung eine noch schlimmere Konsequenz verlangt. Die Vorlage zu Anno Sauls Filmadaption lieferte Akif Pirinçci (bekannt durch die „Felidae“-Romane) mit seinem Bestseller „Die Damalstür“. Die Tür. Einige phantastische Elemente machen aus diesem Thriller eine besonders gelungene Regie: Anno Saul. Mischung. DVD. – Laufzeit: ca. 99 Minuten. FSK: ab 16 Jahren. Spannendes und anspruchsvolles Genre-Kino!
August 2011 Empfehlung von Barbara Kette Lektorat der Stadtbibliothek Mannheim Hemingway beschreibt in dem 1964 erschienenen und jetzt in neuer Übersetzung vorliegenden Roman rückblickend sein Leben als Berichterstatter für den „Toronto Star“ im Paris der 20er Jahre. In vielen aneinander gereihten Episoden erzählt er in der für ihn charakteristischen Weise skizzenartig und mit trockenem, ja manchmal beißenden Humor von seinen Begegnungen mit berühmten Autoren wie James Joyce, Ezra Pound, Ford Madox Ford, Scott Fitzgerald und Gertrude Stein. In Paris war es denn auch, dass er beschließt, sich ganz der Schriftstellerei zu widmen. Besonders die Dialoge bereiten dem Leser Vergnügen. Da ist Hemingways Begeg- nung mit Scott Fitzgerald: „Scott“, sagte ich. „Ist Ihnen nicht gut?“ „Wir sollten ihn zu einer Sanitätswache bringen.“ „Nein. Dem geht’s gut.“ „Er sieht aus, als ob er stirbt.“ „Nein, beim ihm ist das nun mal so.“ Zum 50. Todestag von Ernest Hemingway im Juli 2011 erschien auch ein opulenter, sehr informativer Text-Bildband „Ernest Hemingway in Bildern und Dokumenten“, herausgegeben von seiner Enkelin Mariel Hemingway. Hier können die Parallelen Hemingway, Ernest: von Leben und Werk des großen Literaten noch einmal sehr anschaulich nachvoll- Paris, ein Fest fürs Leben. zogen werden. Der Band macht Lust, sich auch die anderen Romane und Kurzge- Rowohlt, 2011. – 320 Seiten. schichten Hemingways (wieder) einmal vorzunehmen.
September 2011 Empfehlung von Maria Metz Auszubildende bei der Stadtbibliothek Mannheim „‚Ketchup, wieso ist denn dieses Päckchen Ketchup in deinem Mäppchen?‘ frage ich meine Tochter. ‚Wenn wieder ein Amokläufer kommt, schmier ich mich mit Ketchup voll und stell mich tot‘ sagt mein Kind und meint es ernst.“ Eine Stadt im Schockzustand. 16 Tote, 11 Verletzte. Das ist die Bilanz, die eine klei- ne Stadt nahe Stuttgart am Ende des 11. März 2009 ziehen muss. Der Amoklauf an der Albertville-Realschule erschütterte die 14 000 Einwohner Winnendens in ihren Grundfesten und veränderte die Stadt und ihre Menschen grundlegend. Ein Jahr lang notierte Jochen Kalka, Chefredakteur in München und sesshaft in Winnenden, alle Eindrücke, Gefühle und Erlebnisse, die er in seinem Umfeld wahrnahm. Am Ende entstand dieses Buch– ungeplant, wie der Autor immer wieder erwähnt. Zu Beginn richtet der Autor sein Augenmerk auf die direkt beteiligten Personen, z. B. eine Mutter, die aus dem abgeriegelten Klassenzimmer einen Anruf von ihrer Tochter erhält. Nur kurz verweilt der Autor bei diesen Einzelschicksalen. Schon bald verlagert Kalka seinen Themenschwerpunkt auf das Verhalten außerhalb der Stadt. Immer wieder äußert er scharfe Kritik am Handeln von Politikern im Allgemeinen und im Einzelnen, am Verhalten der Presse und später vor allem an Schützen und Befürwor- tern des privaten Waffenbesitzes. Der Autor vertritt energisch seine Meinung, drückt diese auch oft in sarkastischen Bemerkungen aus: „Seien wir realistisch, den meisten Menschen in Deutschland ist doch eh alles egal. Grundsätzlich. Solange ihre Autobahn nicht besteuert wird und das Bier weiterhin Kalka, Jochen: nach dem Reinheitsgebot gebraut wird.“ Winnenden. Ein Amoklauf und seine Folgen. Das Buch bietet tiefe Einblicke in die Psyche der Stadt und regt den Leser zum Nach- Deutsche Verlags-Anstalt, 2011. denken an, wie man eine solche Tat in der Zukunft verhindern kann. Zudem zeigt es 235 Seiten. eine emotionale Perspektive, die man nur als unmittelbar Betroffener haben kann.
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