Verwissenschaftlichung und Ästhetisierung der Esoterik' im langen 19. Jahrhundert - ETH Zürich

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Verwissenschaftlichung und Ästhetisierung der ‚Esoterik‘
im langen 19. Jahrhundert

1.       Zusammenfassung des Forschungsplans
Die Erforschung jenes breiten und heterogenen Gebiets von den vormodernen Formen der Magie bis hin zu
gegenwärtigen Ausprägungen alternativer Glaubens- und Wissensformen in den neuen Medien, das sich im
Begriff der ‚Esoterik‘ nur behelfsmässig und heuristisch zusammenfassen, jedoch nicht pauschal und
essentiell definieren lässt, war lange Zeit vorwiegend religionswissenschaftlich geprägt.1 Das ist erstens
wissenshistorisch erklärbar, denn entsprechende ‚esoterische Paradigmen‘ (wie Magie, Astrologie, Alchemie,
Kabbala in der Vormoderne, Magnetismus, Theosophie, Okkultismus, Spiritismus in der Moderne) wurden
in der Regel als heterodoxe Glaubenssysteme verstanden, und hat folglich zweitens auch den disziplinären
und methodischen Grund, dass die einschlägige Forschung mehrheitlich religionswissenschaftlich verortet
war. Symptomatisch dafür ist, dass einer der weltweit ersten Lehrstühle, der „chaire d’histoire de
l’ésotérisme occidental“, an der Section des Sciences Religieuses (EPHE, Paris) lokalisiert ist.
            Demgegenüber will das vorliegende Projekt, im Anschluss auch an jüngere
Forschungsentwicklungen (u.a. Hammer 2004, Strube 2013), esoterische Paradigmen nicht als religiöse
Randerscheinungen, sondern vielmehr als Ausprägung epistemischer Formen inmitten der
Wissenskulturen der Moderne begreifen.2 Der historische Fokus liegt dabei auf dem „langen 19.
Jahrhundert“, d. h. auf einem Zeitraum vom späten 18. bis ins frühe 20. Jh., den man – vorsichtig und
allgemein – als Entfaltung der ‚Moderne’ in den Wissenschaften und Künsten bezeichnen kann.3 Diese Art
der Kontextualisierung bedeutet, esoterische Paradigmen als variable Formen und Funktionen offener und
sich verändernder Programme und Kulturen des Wissens zu verstehen. Selbstbeschreibungen wie
‚Modernisierung‘ oder ‚Säkularisierung‘ werden dadurch als Dynamiken eines mehrschichtigen und
heterogenen historischen Dispositivs lesbar, dessen integraler Teil auch und gerade jene Paradigmen sind,
die seit dem 19. Jh. ‚Esoterik‘ (ésotérisme, esotericism) oder ‚Okkultismus‘ (occultism) genannt werden. Im
Rahmen des Projekts markieren diese Termini deshalb keinen transhistorischen Sachzusammenhang, keine
gegebene ‚esoterische‘ Tradition, sondern vielmehr eine konkrete historische Problemstellung der Moderne
und ihrer Wissenskulturen. Insofern lässt sich auch historisch-kritisch fragen, wie sich im 19. Jh. ein Diskurs
‚der Esoterik‘ bzw. ‚des Okkultismus‘ etablieren konnte, der bis heute als ‚Tradition‘ behauptet wird.
         Dieser wissensgeschichtliche Ansatz soll im Kontext des langen 19. Jh. anhand von zwei
exemplarischen, aber grundlegenden Transformationen ausgearbeitet werden, in die, wie wir zeigen wollen,
die Emergenz von ‚Okkultismus‘ und ‚Esoterik‘ in der Moderne aufs engste verflochten ist: einerseits die
Verwissenschaftlichung, andererseits die Ästhetisierung des Wissens. Anhand dieser Leitbegriffe, die

1Zur Eingemeindung der Esoterik in den Bezirk der Religiosität und infolgedessen in die Religionswissenschaft vgl.
einleitend Faivre and Hanegraaff 1998. Kritisch zur „Esoterik“ und verwandten Termini als Konstruktionen, die
Kontinuitäten herstellen, historische Brüche jedoch verdecken, siehe u. a. Williams 1996; Kilcher 2010a; Asprem und
Granholm 2014.
2   Einleitend zu den Prämissen sowie zur Methodik der Wissensgeschichte Sarasin 2011.
3Zum Epochenbegriff des „langen 19. Jahrhunderts“ Osterhammel 2009, 1284–1301, auch zu der Frage, wann und wo sich
diese so schwer zu umgrenzende Epoche überhaupt abgespielt hat (84–180).

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historische Prozesse und zugleich die damit verknüpften diskursiven Strategien benennen, lassen sich zwei
grundlegende Funktionalisierungen esoterischer Paradigmen kennzeichnen. Grundlegend sind erstens der
eminente Wissensanspruch und davon ausgehend die besonderen Anstrengungen zur
Verwissenschaftlichung, beispielhaft im modernen Okkultismus. Zweitens partizipieren esoterische
Paradigmen wesentlich an der Entwicklung neuer, teils avantgardistischer Kunstformen, wobei im Horizont
neuer Techniken auch neue Schrift-, Bild- und Tonmedien zum Einsatz kommen, die den epistemologischen
Anspruch der Konstruktion, Darstellung und Kommunikation des Okkulten teilen und verstärken.
          Indem moderne Paradigmen der Esoterik in den Kontext der Wissens- und Kulturgeschichte des
langen 19. Jh. gestellt werden, werden gängige Narrative der Modernisierung neu lesbar: Einerseits lösen sich
(letztlich ahistorische) Dichotomien wie rational/irrational, säkular/religiös,
wissenschaftlich/unwissenschaftlich, Glauben/Wissen, die „esoterisches“ Halbwissen von „harten“ Fakten
abgrenzen sollen, in komplexeren historischen Konstellationen auf, was ein deutlich differenzierteres Bild
von Modernisierung erlaubt. Andererseits erhellt sich die grundlegende Funktion esoterischer Paradigmen
in wissenschaftlichen, ästhetischen und kulturellen Transformationsprozessen des 19. Jh.

2.      Forschungsplan

    2.1 Forschungsstand

Ausgangslage
Die kritische Erforschung älterer esoterischer Paradigmen wie Magie und Alchemie wurzelt in der
Aufklärung. Diese Erforschung der Esoterik erscheint allerdings primär als ein Feldzug der „Vernunft“
gegen „Aberglaube“ und „Schwärmerei“. Kant brachte diese aufklärerische Perspektive, derzufolge alles
Esoterische einem irrationalen Glauben entspringt, auf den Punkt, indem er forderte, die
„hypochondrische[n] Dünste, Ammenmärchen und Klosterwunder“, die die ältere Metaphysik kaum
weniger als den gewöhnlichen Verstand verhext hätten, durch die kritisch prüfende Vernunft „von
gründlichen Gelehrten“ zu widerlegen (Kant 1766, 923–24). Geführt wurde dieser aufklärerische Kampf gegen
den esoterischen „Aberglauben“ vor allem in populären Formen wie in der von Adelung herausgegebenen
Geschichte der Menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher,
Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager, und anderer philosophischer Unholden (1785–99).
        Zwar ist es richtig, dass Aufklärung auch jenseits solcher Polemik sowie radikal-religionskritischer
Positionen wie die eines Diderot, d’Holbach oder La Mettrie (dazu Blom 2011) wesentlich darauf bedacht war,
das religiöse vom wissenschaftlichen Funktionssystem zu trennen. Die historische Forschung ist allerdings
spätestens seit den Arbeiten zur Geschichte der Freimauerei oder zum Mesmerismus zu einem deutlich
differenzierteren Bild des Verhältnisses von „Aufklärung und Esoterik“ gelangt, die vielmehr von Adaption
und Transformation ausgeht.4 Trotzdem strahlt die von einer bestimmten Haltung in der Aufklärung
gesetzte polemische Leitdifferenz zur Esoterik, wodurch ihr eine „Einbettung in die Entwicklungsprozesse
der anerkannten intellektuellen Kultur“ versagt blieb (Neugebauer-Wölk 1999, 37), teils bis in die jüngere

4Vgl. dazu Neugebauer-Wölk 2008 & 2013, ausserdem Kondylis 1981 zum ambivalenten Verhältnis der Aufklärung
sowohl zur Religion als auch zum älteren Rationalismus.

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Esoterikforschung aus, insbesondere in der systematischen Unterscheidung von Glauben und Wissen,
Spiritualität und Vernunft etc. In der älteren Esoterikforschung (Vickers 1984 & 1987; Weber 1988) sowie in
der Wissenschaftsgeschichte (Ariëns und Eberlein 1991; Ziman 2000) drückt sich das so aus, dass
grundlegend zwischen ‚esoterischem‘ oder ‚okkultem‘ Wissen und ‚wissenschaftlicher‘ Rationalität
unterschieden wird, wenn Esoterik denn nicht per se als Irrationalismus abgetan und so zum „rejected
knowledge“ (Hanegraaff 2012) wird.
      In der neueren Forschung hat die Differenz Glaube/Wissen ihren polemischen Unterton zwar
verloren, wenn sie nicht gar umgewendet wird: als Solidarisierung mit einem Ausgegrenzten. Als
Differenzierungsmatrix erhalten hat sie sich aber teils dennoch, wohl auch, weil sich mit ihr der
Gegenstandsbereich der ‚Esoterik‘ relativ kompakt eingrenzen lässt. In eben diesem Sinn heisst es in einem
jüngst erschienenen Einführungsband: „Alle esoterischen Systeme sind Beispiele für ‚Spiritualitäten’“
(Hanegraaff 2013, 139) – idiosynkratrische Amalgamierungen von spirituellen Überzeugungen, die, vormals
dogmatisch abgesichert und fest verankert in religiösen Institutionen, im Verlauf des 19. und insbesondere
des 20. Jh. zu disponiblen Versatzstücken im „religiösen Supermarkt“ wurden (ebd. 140–41). Ein anderer
profilierter Esoterikforscher sieht das ähnlich: „Moderne Esoterik lässt sich als Beispiel für die Dialektik von
Rationalisierung der Religion und der Lebenswelt einerseits und der Suche nach individuellem Heil und
Resakralisierung des ungeteilten Kosmos andererseits interpretieren“ (Stuckrad 2004, 218). Dieses
Grundverständnis der ‚Esoterik‘ als spirituelles Phänomen ist in der religionswissenschaftlichen Forschung
teils bis heute verbreitet.5 Auch wo Esoterik zumal der Moderne in der Religionswissenschaft als „religiöse
bricolage“ (Hammer 2004, 154, 180, 502) definiert wird, wird sie dem säkularen Wissen entgegengesetzt und –
vielleicht ungewollt, aber doch effektiv – eine „polemische“ Trennlinie zwischen der Esoterik und „ihrem
Anderen“ gezogen (Hammer und Stuckrad 2007). Innerhalb dieses, im Kern aufklärerischen
Koordinatensystems besitzen esoterische Paradigmen freilich kaum relevantes Wissen. Sie können sich nur
„im Schatten der Aufklärung“ (Doering-Manteuffel 2009) ausbreiten und befinden sich ständig auf der
„Flucht vor der Vernunft“ (Webb 1974, 5–13). Indem sich aber gerade die moderne Esoterik der Trennung von
Glaubenssystem und Wissenssystem widersetzt, wird sie – die religionswissenschaftliche Standarddefinition
konsequent zu Ende gedacht – zum „Abfall“ der Säkularisierung, zum zähen Überbleibsel aus
voraufklärerischen Zeiten. Aus dieser impliziten Perpetuierung eines Argumentationsmusters des 18. Jh.
ergibt sich nicht zuletzt ein methodisches Problem: Indem ‚Esoterik‘ im Begriff der Spiritualität verankert
wird, wird zugleich der kategoriale Gegensatz Esoterik/Wissen supponiert, der im Verlauf der Untersuchung
dann erst wieder umständlich revidiert werden muss.6
      Anstatt diesen Umweg zu gehen, wäre es allerdings angemessener, so der Gegenvorschlag des
vorliegenden Projektes, auf diese Dichotomie ganz zu verzichten und esoterische Paradigmen stattdessen als
historisch spezifische diskursive Binnenbeziehungen innerhalb des Wissens der Moderne aufzufassen. Das

5So bei Hammer 2004, 495–508; Kripal 2010, 7–17; Stuckrad 2014, 1–21. Auch diese Forscher begreifen Esoterik als
„spirituell“ grundiert bzw. als eine Spielart des „religiösen“ Diskurses.
6Eine Ausnahme stellt allenfalls das Verständnis der vormodernen „okkulten Wissenschaften“ dar, insofern diese in der
Forschung zumeist als Teil der neuplatonischen Naturphilosophie betrachtet wurde, etwa im Fall der magia naturalis
oder der Alchemie (vgl. Buck 1992; Collins 2012). Dass die Grenze zwischen „esoterischer“ und „rational-empirischer“
Naturforschung in der frühen Neuzeit wissensgeschichtlich gar nicht so einfach zu ziehen ist, hat den Grund, dass
damals die Institutionen, Normen und Standards, die heutzutage das wissenschaftliche vom esoterischen Wissen
verbindlich unterschieden, weitestgehend fehlten und selbst dort, wo sie rudimentär vorhanden waren, keineswegs
Allgemeinverbindlichkeit besassen.

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wurde zwar für die Künste bereits wiederholt getan; insbesondere der Zusammenhang von Avantgarde und
Okkultismus wurde in jüngerer Zeit wiederholt aufgezeigt. Für die Wissensgeschichte ist dies jedoch nur
ansatzweise getan worden. Das vorliegende Projekt will eben dies grundsätzlich und systematisch tun.
Untersucht werden soll, wie esoterische Paradigmen in den dynamischen Prozess der Modernisierung in
den Wissenschaften und Künsten als generativer Faktor eingebunden wurden (wie ab 2.3 genauer
ausgeführt wird).

Abstossungs- und Anknüpfungspunkte
Die älteren ethnologischen und religionsphänomenologischen Studien der Esoterik, etwa das epochale
Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (1927–42) oder aber die ganz anders gearteten, den nihilistischen
„Terror der Geschichte“ bekämpfenden Arbeiten Mircea Eliades oder C. G. Jungs, können für eine
wissensgeschichtliche Beschreibung esoterischer Paradigmen der Moderne allenfalls von historischem
Interesse sein. Die ältere religionssoziologische Esoterikforschung wiederum weist die Tendenz auf,
‚Esoterik‘ pauschal zu marginalisierten. Denn ‚Esoterik‘ gilt hier zumeist als eine individualisierte religiöse
Praxis, die in kurzlebigen Subkulturen statt in Kirchen und altehrwürdigen Traditionen angesiedelt ist, etwa
im Sinne einer „unsichtbaren Religion“ (Luckmann 1991) oder einer „vagabundierenden Spiritualität“
(Fürstenberg 1982), und deshalb ein kurzlebiges Versatzstück (post)moderner Identitätsbildung darstellt. Die
seit William James und Siegmund Freud etablierte Religionspsychologie schliesslich, die das
intrapsychische Erlebnis religiöser Gefühle wahlweise introspektiv oder symbolisch – und mittlerweile auch
kognitionswissenschaftlich (McNamara 2009) – erfasst, hebt demgegenüber auch epistemologische Aspekte
hervor, verfehlt aber weitgehend den kollektiv-diskursiven und historisch wandelbaren Charakter
esoterischen Wissens.
      Seit den 1990er Jahren ist die ‚Esoterik‘ vermehrt zum Gegenstand der Religionsgeschichte geworden
(Faivre 1994; Hanegraaff 1994; Hammer und Stuckrad 2007; Faivre
2010; Magee 2016). In einer noch immer stark ideengeschichtlichen Perspektive wird hier eine esoterische
Tradition erforscht (und dabei auch konstruiert), die sich von der Antike bis in die New Age-Bewegungen
erstreckt. Massgeblich für die Etablierung und akademische Anerkennung dieses Forschungszweiges waren
zunächst die Arbeiten Antoine Faivres. Er begriff ‚Esoterik‘ als eine spezifische „Denkform“, die vier
Wesensmerkmale aufweist (Faivre 1994, 10–14): erstens das Denken in Analogien und Korrespondenzen;
zweitens die Auffassung der Natur als lebendiges Ganzes; drittens ein verborgenes Wissen, das in Bildern,
Symbolen, Ritualen, Erscheinungen oder anderweitigen Zeichen aufscheint und deshalb der Deutung
bedarf; viertens die geistige Verwandlung des in die esoterische Lehre Eingeweihten, z. B. durch die
Offenbarung einer höheren Wahrheit. Ausserdem erwähnt Faivre (ebd. 14–15) zwei weitere Merkmale: eine
synkretistische Tendenz, die sich ab dem 19. Jh. verstärke, sowie die restriktive Weitergabe der esoterischen
„Denkform“ von Lehrer zu Schüler, was sich in diversen Initiationsriten und Arkanisierungspraktiken
niederschlug.
      Faivres Typologie geriet, auch unter ideengeschichtlich orientierten ForscherInnen, in die Kritik,
wurde modifiziert und erweitert (vgl. Stuckrad 2004, 10–15; Hanegraaff 2012, 339–55; Hanegraaff 2013, 3–7).
Das hat auch damit zu tun, dass das Interesse an kanonischen esoterischen Strömungen wie der
„christlichen Theosophie und der Naturphilosophie“ (Hanegraaff 2012, 354–55) schwand und stattdessen
andere Gegenstände in den Blick gerieten, die sich nur schwer mit Faivres Typologie beschreiben liessen.

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Vor allem aber hat sich die Esoterikforschung in den letzten Jahren in Richtung Kulturgeschichte und
History of Science geöffnet, so wie sie im angloamerikanischen Raum schon länger praktiziert wurden
(Webb 1974 & 1976; Dobbs 1975; Vickers 1984; Winter 1998; Brooke und Cantor 2000; Viswanathan 2000). Die
theoretische und methodische Reorientierung, die jene Öffnung nach sich zog, besteht im Kern darin, die
Esoterik als „das Produkt spezifischer Wissenskulturen“ (Kilcher 2009: 144) zu begreifen, was freilich das
gängige religionswissenschaftliche Paradigma, demzufolge esoterische Strömungen „Beispiele für
‚Spiritualitäten’“ (Hanegraaff 2013, 139) abgeben, sprengt.
         In diesem Sinn haben sich zunehmend Anthropologen, Literaturwissenschaftler,
Kulturwissenschaftler und Historiker dem Feld zugewandt.7 ‚Esoterik‘ erscheint in ihren Studien nicht mehr
als spezifisches religiöses Paradigma, sondern vielmehr als eine komplexe interdisziplinäre und intermediale
Praxis, die Modernisierungsprozessen nicht entgegensteht, sondern gerade umgekehrt dynamisch in sie
eingebunden ist und kulturellen Wandel befördert. Weniger zum Tragen kam dabei aber eine dezidiert
wissensgeschichtliche Herangehensweise. Selbst dort, wo es explizit um den „Wissensanspruch“ und die
„Epistemologie“ der Esoterik geht (so bei Hammer 2004), gilt Esoterik nach wie vor als Teilbezirk der
„spirituellen Tradition“ (ebd. xvi), mit dem notwendigen Resultat, dass sie letztlich doch eine Spielart des
„religiösen Diskurses“ bleibt, eine auf „Doktrinen und Ritualen“ aufgebaute „religiöse bricolage“ (ebd. 499,
502). So betrachtet bleibt die moderne ‚Esoterik‘ ein zwar spirituell grundiertes, aber ansonsten recht
fadenscheiniges „Pseudowissen“ von geringem Institutionalisierungsgrad, eine Idiosynkrasie also, die der
durch Rationalisierung, funktionale Differenzierung und Säkularisierung „entzauberten“ Moderne allenfalls
eine erbauliche Tradition entgegenhält. Das allerdings stünde dem polemischen Verdikt Adornos gar nicht
so fern, dass der „faule Zauber“ des modernen Okkultismus bloss darin besteht, die „graue Alltäglichkeit“
der modernen Existenz zu überstrahlen (Adorno 1951, 469).
         Was die erwähnten neueren Studien verbindet, sind im Wesentlichen zwei Gesichtspunkte. Zum
einen geht es darum, bis heute geläufige (und in der Wissenschaftsphilosophie nach wie vor verbreitete)8
Gegensatzpaare wie okkult/rational, progressiv/regressiv, Wissen/Pseudowissen usw. durch nuancierte
historische Detailuntersuchungen zu widerlegen und stattdessen die Unschärfe, ja den Austausch zwischen
„exakt-rationalem“ und „okkultem“ Wissen zu betonen. Auf einer wissenssoziologischen Ebene allein zeigt
sich etwa, dass der Okkultismus Mitte des 19. Jh. zum „Lieblingssport der betuchten Klassen“, bestehend aus
„Ärzten, Anwälten, Lehrern, Künstlern, Intellektuellen“, wurde, sich mit dem professionellen Wissen dieser
Berufsgruppen vermischte und schliesslich „institutionalisiert“ und „bürokratisiert“ – also rationalisiert –
wurde (Viswanathan 2000); dass magische Rituale zur selben Zeit, flankiert von idealistischen
Philosophemen und sozialliberaler Ideologie, ein Revival erlebten, woraus eine neuartige Magie konstruiert
wurde, die gerade dadurch modern ist, dass sie „die Hoffnungen und Ideale der Viktorianischen
Mittelklasse“ aufnimmt (Butler 2011, 162–179); und dass die in Spiritismus, Theosophie und Okkultismus
kultivierten Formen der Subjektivität und Rationalität keineswegs der „entzauberten“ Moderne
widersprechen, sondern im Gegenteil die krisenhafte Flüchtigkeit und esoterische Ambiguität des modernen
Subjekts erst enthüllen (Owen 2004,13–14, 238–57). Obwohl sich diese Aussagen konkret auf das

7Beispielhaft seien genannt: Simonis 2002; Moffit 2003; Treitel 2004; Owen 2004; Pytlik 2005; Bassler et al. 2005; Pasi
2006; Zander 2007; Lazier 2008; Erdbeer 2010; Kilcher und Theisohn 2010; Butler 2011; Theisohn 2012; Asprem 2014a &
2014b; Tuczay 2015; Sziede und Zander 2015; Strube 2013 & 2016b; Josephson-Storm 2017.
8   Vgl. Ariëns und Eberlein 1991; Ziman 2000; und neuerdings Mahner 2007.

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Viktorianische Grossbritannien beziehen, dürften sie analog auch für den deutschen Sprachraum im 19.
Jahrhundert gelten9 – zu dem allerdings, im Gegensatz zum Viktorianismus, kaum Untersuchungen von
vergleichbarer Breite vorliegen. Denn gerade der europaweit verbreitete Spiritismus des 19. Jh. war bis vor
kürzerem in der deutschen Forschung eher „eine terra incognita – im Gegensatz zum angelsächsischen
Raum“ (Zander 2003b, 82).
      Zum anderen vereint die neueren Studien das Anliegen, die vermeintliche Antimodernität der
Esoterik insbes. des 19. Jh. zu hinterfragen und zu widerlegen. Ausgehend von detailreichen
Einzelforschungen gerät jene Geschichte, die die Moderne im Prinzip seit der Aufklärung und namentlich
seit Max Weber über sich selbst erzählt, auf den Prüfstand: die Geschichte einer in der Neuzeit einsetzenden
und im Verlauf des 18. und 19. Jh. sich beschleunigenden „Entzauberung der Welt“, die ihrerseits der
„zunehmende[n] Intellektualisierung und Rationalisierung“ durch Technik und Wissenschaft sowie der
weitgehenden Privatisierung religiöser Überzeugungen geschuldet sei (Weber 1919, 594).10 Modernität wäre
demzufolge ein Zustand der „Entzauberung“, in dem sich „das Projekt der Aufklärung“ (Owen 2004, 9) –
Primat der Vernunft gegenüber Unvernunft und Aberglauben, Naturbeherrschung durch Wissenschaft,
Gleichheit vor dem Gesetz und eine gerechte politische Ordnung – einlöst.
      Die von Jason Josephson-Storm (2017) vertretene These, dass diese Selbstbeschreibung der Moderne
in Wahrheit eine ironische Erfindung der modernen Esoterik sei, geht zu weit. Aber die grundsätzliche
Kritik an diesem Entzauberungsnarrativ, aus dem aufgeklärte Öffentlichkeiten ihr kritisches
Selbstverständnis beziehen, vereint die genannten Studien dennoch. Im Gegensatz zur klassischen Studie
von James Webb (1974) geht man heute nicht mehr davon aus, dass Esoterik per se eine anachronistische
Reaktion auf die Komplexitätssteigerungen, Differenzierungs- und Rationalisierungsprozesse in modernen
Gesellschaften darstellt. Der Tenor der neueren Forschung lautet vielmehr, dass esoterisches Wissen den
Modernisierungsprozessen produktiv und zugleich subversiv eingeschrieben ist. Das gilt im besonderen
Masse für den Okkultismus des 19. Jh., dem die wissenschaftlichen, technischen und ästhetischen
Vorstellungen der Zeit ein interessantes Spielfeld bieten.11
      Wenn sich für die esoterischen Paradigmen der Moderne das pauschale Etikett der Antimodernität
dergestalt verbietet, lässt sie sich zudem auch nur noch schwerlich als Teil eines supponierten
kontinuierlichen und immanenten Überlieferungsgeschehens der Esoterikgeschichte verstehen, das auf
einen Kanon naturphilosophischer und spiritueller Traditionen aufbaut wie Neuplatonismus, Hermetik,
Gnosis, Alchemie, Astrologie, Kabbala, Theosophie etc. Gegen solche Traditions- und
Kontinuitätserzählungen – in die Praktiker der Esoterik sich selbst gerne einschrieben und so eine Tradition
erst konstruierten (so etwa Madame Blavatsky in Isis Unveiled) –, hebt die neuere Forschung auf die

9Für eine mit Owen 2004 vergleichbare Studie für den deutschen Kontext siehe Treitel 2004. Ebenfalls zum Spiritismus
in Deutschland Sawicki 2016.
10Und die Tatsache, fügt Max Weber hinzu, dass „manche moderne Intellektuelle das Bedürfnis haben, sich in ihrer
Seele sozusagen mit garantiert echten, alten Sachen auszumöblieren, und sich dabei dann noch daran erinnern, dass
dazu auch die Religion gehört hat“, ändere nichts daran, dass die auf „religiösen Deutungen“ aufbauenden Zeiten
endgültig vorüber seien. Wer das „nicht männlich ertragen“ könne, dem müsse man sagen: „Er kehre lieber, schweigend,
ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in die weit und erbarmend geöffneten
Arme der alten Kirchen zurück“ (Weber 1919, 611–12).
 In welcherlei Hinsicht zeigen bspw. Thurschwell 2001; Moffitt 2003; Pasi 2006; Johach 2012; Asprem 2014a & 2014b; und
11

Paletschek/Lux 2016.

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Diskontinuität esoterischen Wissens ab.12 Indem Wissenskulturen historischen Veränderungen und
mitunter radikalen Brüchen unterliegen, zerbricht die vermeintliche Vorstellung einer Kontinuität und
Einheit esoterischer „Strömungen“. Esoterisches Wissen ist weniger im Kanon der Vergangenheit als im
Diskursnetz der jeweiligen Gegenwart wie derjenigen des 19. Jh. verankert. Der historische und kritische
Blick erkennt dabei folgerecht keine wie auch immer systematisch-synchron oder historisch-diachron
definierte einheitliche ‚Esoterik‘ mehr, sondern vielmehr eine Pluralität esoterischer Paradigmen inmitten
der wissenschaftlichen und kulturellen Formationen und Transformationen der Moderne.

     2.2 Eigene Forschungen

Auch in produktiver Auseinandersetzung mit religionswissenschaftlichen Ansätzen hat der Antragsteller in
zahlreichen Beiträgen zunächst primär literaturwissenschaftliche, dann zunehmend auch
wissensgeschichtliche Zugänge zur Esoterik erprobt. Dabei ging es nicht um das immanente Verständnis wie
auch immer gearteter mystischer und esoterischer Traditionen, sondern vielmehr um das umfassendere
Verständnis esoterischer Paradigmen wie Kabbala, Magnetismus, Okkultismus etc. in grösseren ideen-,
kultur- und wissensgeschichtlichen Kontexten, als deren Teil diese lesbar gemacht werden. Forschung zur
Esoterik versteht der Antragsteller damit eben nie als eine isolierte, sondern als eine immer schon
verflochtene historiographische Arbeit, gewissermassen als „entangeled history“ oder „histoire croisée“, die
in die Geschichte des Wissens, der Technik, der Künste, der Literatur etc. und deren Formen und
Funktionen eingebunden ist.
         Unter diesen methodischen Vorgaben hat der Antragsteller zunächst die vielfältigen Verflechtungen
der Rezeption der Kabbala in der Neuzeit untersucht, vorweg die Applikation und Transformation ihrer
Sprachtheorie als ästhetisches Modell vom Humanismus bis zur Romantik (Kilcher 1998a). Ausgehend von
dieser Monographie hat der Antragsteller nicht nur vielfältige Kontextualisierungen der Kabbala in der
europäischen Literatur und Philosophie untersucht, sondern auch andere esoterische Paradigmen in ihren
ästhetischen Funktionalisierungsmöglichkeiten, namentlich den Magnetismus um 1800 sowie den
modernen Okkultismus um 1900 (Kilcher 1998b). Diese werden aber nicht nur in ihrem Potential für
ästhetische Programme, sondern zugleich auch für Wissensmodelle der Neuzeit verständlich gemacht. Zwei
wissensgeschichtliche Funktionen wurden exemplarisch durchgespielt: die historische Funktion der
Konstruktion von Tradition (Kilcher 2010a, 2010b) sowie die systematische Funktion der Behauptung und
Begründung universaler Wissensansprüche in unterschiedlichen Paradigmen der Esoterik (Kilcher und
Theisohn 2010).
         Die Perspektiven eines wissensgeschichtlichen Zugangs in der Esoterikforschung wurden in einem
programmatischen Essay systematisiert (Kilcher 2009). Ziel desselben ist es, sowohl die historischen als auch
die theoretischen Möglichkeiten insgesamt in den Blick zu nehmen, dies für einmal nicht am Material von
Beispielen, sondern verdichtet in Thesen. Jüngst untersuchte er gewissermassen dialektisch auch Adornos

12Die ideengeschichtlich ausgerichtete Esoterikforschung (z. B. Hanegraaff 1996; Faivre 2010) neigt dazu, die genannten
Traditionslinien zu betonen. Kritisch zu „continuity models“ in der Esoterikforschung dagegen Asprem 2015, 546–51;
Stuckrad 2014, 11–14. Allerdings wissen auch Religionshistoriker, die esoterische Traditionen und Kontinuitäten betonen,
um die Fiktionalität ihrer Geschichten; vgl. dazu Kilcher 2010a; Hanegraaff 2017; Kripal 2017.

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dezidierte „Antithesen gegen den Okkultismus“ (Kilcher 2019). Solche vielfältigen, sowohl allgemeinen wie
spezifischen Perspektive auf Paradigmen der Esoterik im Kontext hat sich dem Antragsteller nicht zuletzt
auch in seiner langjährigen Funktion seit 2005 als Gründungsmitglied im Vorstand, seit 2013 als Präsident
der European Society for the Study of Western Esotericism (ESSWE) ergeben, deren Ziel die internationale und
interdisziplinäre Vernetzung historischer und kritischer wissenschaftlicher Esoterikforschung ist. Der
allgemeinere wissensgeschichtliche Ansatz ist zudem auch dem Zürcher Zentrum Geschichte des Wissens
(ZGW) verbunden, dem er seit 2008 angehört und zwischenzeitlich als Leiter vorstand, aktuell auch als
Mitglied des Direktoriums. Wenn das vorliegende Projekt (bzw. die darin eingelagerten
Dissertationsprojekte) von diesen beiden institutionellen Kontexten auch profitieren soll, dann keineswegs
dadurch, dass irgendwelche vorgegebene Forschungspositionen favorisiert werden (was weder für ESSWE
noch ZGW zutreffen würde), sondern vielmehr dass ein Umfeld historischer und methodologischer
kritischer Reflexion fruchtbar gemacht werden soll.

 2.3 Detaillierter Forschungsplan

Kernanliegen
Der methodische Neuansatz des Projekts zielt darauf ab, esoterische Paradigmen in der Moderne primär
wissensgeschichtlich zu verstehen, das heisst: als historisch variable Formen und Funktionen des Wissens
jenseits aufklärerischer Antithesen. So betrachtet erscheinen diese nicht länger als exkludierte und von der
Wucht der Säkularisierung in die Subkultur abgedrängte Randphänomene, als ein zwar spirituell
grundiertes, aber ansonsten bloss spekulatives Pseudowissen von geringem Institutionalisierungsgrad.
Stattdessen rücken sie ins Zentrum religiöser, politischer, wissenschaftlicher und künstlerischer
Modernisierungsprozesse. „Okkultes“ Wissen wären demnach in den Spiel- und Zwischenräumen offener
und heterogener Wissenskulturen angesiedelt, worin die unterschiedlichsten Milieus, Künste, Disziplinen
und Institutionen sich vermischen oder aber konkurrieren. Tatsächlich können esoterische Paradigmen nur
so lange als parasitäre Störelemente gelten, als Modernisierung mit einem linearen und homogenen Prozess
der Normierung, Rationalisierung, Industrialisierung, Technisierung, Differenzierung, Säkularisierung –
kurz: mit der progressiven „Entzauberung der Welt“ – gleichgesetzt wird.
      Der wissensgeschichtliche Ansatz soll im Rahmen des „lang[en], aber randoffen[en] 19.
Jahrhundert[s]“ (Osterhammel 2009, 1286) anhand von zwei verbundenen Grosstendenzen ausgearbeitet
werden, in die esoterische Paradigmen eng verflochten sind: Verwissenschaftlichung und Ästhetisierung des
Wissens. Mit Hilfe dieser dynamischen Leitbegriffe, die sowohl historische Prozesse bezeichnen, als auch die
damit verknüpften diskursiven Strategien, lassen sich im 19. Jh. zwei verflochtene funktionale
Verschiebungen beleuchten:
(1)   Grundlegend sind erstens der eminente Wissensanspruch und davon ausgehend die besonderen
Anstrengungen zur Verwissenschaftlichung der Esoterik, beispielhaft im modernen Okkultismus. Damit
verbunden sind grundsätzliche Fragen wie die nach dem Verhältnis zwischen Naturbeobachtung und
Hypothesenbildung, zwischen messbaren Fakten und wissenschaftlichen Theorien, die, vormals evident
und augenscheinlich, nun im Lichte neuer Entwicklungen in den Human- wie auch den
Naturwissenschaften neu beantwortet werden. Das gilt etwa für die Experimentalpsychologie und die

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Parapsychologie oder aber die moderne, nicht-euklidische Geometrie sowie die Teilchenphysik, die auch
unter Einsatz neuer (Medien-)Techniken in das Unsichtbare vorstösst und dort Wirkungen im
Übergangsbereich zwischen Materie und Energie untersucht. Diese Beobachtungen sollen im Teilprojekt A
vertieft werden und verweisen zugleich auf das Teilprojekt B.
(2)   Zweitens vollzieht sich im Verlauf des 19. Jh. eine grundlegende Ästhetisierung esoterischer Systeme,
dies auch im Horizont einerseits der allgemeinen Aufwertung der Ästhetik als Erfahrungswissenschaft,
andererseits der Herausbildung neuer Kunstformen und -begriffe. Esoterische Paradigmen partizipieren
nicht nur an der Entwicklung neuer, moderner und avantgardistischer Kunstformen und bilden diese auch
wesentlich mit aus. Sie werden selber einer Ästhetisierung unterzogen, indem die schon epistemologisch
sich stellende Darstellungsfrage an besonderem Gewicht gewinnt. Dabei kommen auch hier, verbunden mit
der Verwissenschaftlichung, neue Schrift-, Bild- und Tonmedien zum Einsatz. Das verändert im
Umkehrschluss nicht nur die sichtbare Gestalt bzw. die medientechnischen Bedingungen, sondern ebenso
sehr den Gehalt esoterischer Wissensansprüche. Diese Beobachtungen sollen im Teilprojekt B vertieft
werden.
      Die diesen Teilprojekten zugrundeliegende Entscheidung, moderne Paradigmen der Esoterik mit den
verflochtenen Begriffen der Verwissenschaftlichung und der Ästhetisierung zu spezifizieren, ist sowohl
historisch als auch methodisch begründet. Indem dabei die für die Religionswissenschaft grundlegende
Kategorie der Spiritualität ebenso wie eine pauschale essentielle Begründung und/oder historische
Konstruktion von ‚Esoterik‘ bewusst ausgeklammert werden, geraten spezifische
Modernisierungsbewegungen in den Blick, innerhalb derjenigen esoterische Paradigmen Formen und
Funktionen erlangen konnten. Zugleich treten dadurch die Kontinuitäten gegenüber älteren spirituellen
Traditionen, auf die sich die religionsgeschichtliche Esoterikforschung konzentriert, in den Hintergrund,
wenn auch ohne diese als Aspekte historischer Forschung zu vergessen. Eben darin besteht ja der
methodische Neuansatz des Projektes: Anstatt die esoterischen Paradigmen der Moderne auf die Geschichte
heterodoxer religiöser Systeme und den Prozess der Säkularisierung von ‚Esoterik‘ zu beziehen, möchten wir
jene als integrale Bestandteile des 19. Jh. und seiner Modernisierungsprozesse untersuchen. Die diese
Untersuchung leitenden methodischen Begriffe der Verwissenschaftlichung und der Ästhetisierung haben
dabei nicht zuletzt auch den Vorzug, wesentliche Aspekte der Säkularisierung zu erfassen, ohne aber die den
Begriff der Säkularisierung fundierenden Dichotomien zu aktivieren.
      Dieser methodische Neuansatz ist auch historisch begründet, insofern Verwissenschaftlichung und
Ästhetisierung zu den wesentlichen allgemeinen Prozessen des 19. Jh. zählen. Wenn es zutrifft, dass
esoterische Paradigmen Teil der Formation des modernen Wissens sind, so müssen diese den historisch
massgeblichen epistemischen Tendenzen und diskursiven Strategien folgen, und zwar in Form von
Austauschverhältnissen mit den Formationen der Moderne, die zwischen Konformität und subversiv-
kreativem Regelverstoss oszilliert. Man könnte vielleicht sogar so weit gehen zu behaupten, dass die Esoterik
einer Zeit „offen[legt], was die Exoterik einer Zeit verbirgt“, ein paradoxer Grundsatz, der „zu einer
Archäologie des anderen, „geheimen“ Wissens führt, das als Korrektiv und Emulgator, als Projekt- und
Reflexionsraum des exakten Wissens im direkten Wortsinn in Erscheinung tritt“ (Erdbeer 2010, 16) Auch wenn
dieses Verhältnis im historischen Einzelfall vielfach komplizierter ausfällt, so wird eine wissensgeschichtlich
agierende Esoterikforschung an dieser Behauptung doch zumindest als erkenntnisleitende Maxime
festhalten dürfen.

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Vor diesem Hintergrund bietet es sich an, diese beiden verwobenen Prozesse der
Verwissenschaftlichung und der Ästhetisierung in zwei Dissertationsprojekten nicht nur gesondert, sondern
auch in ihren Verflechtungen zu untersuchen. Der intensive, regelmässige Austausch zwischen den
DoktorandInnen wird diese Synergiegen im Forschungsprozess praktisch herstellen; er soll der
systematischen wie historischen Verzahnung dieser komplexen historischen Vorgänge gerecht werden.

Teilprojekt A: Verwissenschaftlichung der Esoterik
Dass die religiösen und spirituellen Parameter einer übersinnlichen Welt im Verlauf des 19. Jh. nicht mehr
so sehr philosophischer Kritik (wie in der Aufklärung), sondern nunmehr den standardisierten Verfahren
und technischen Apparaten psychologischer und naturwissenschaftlicher Forschung unterworfen wurden,
ist die wissenshistorische Ausgangsbeobachtung des modernen Okkultismus, der Gegenstand des
Teilprojekts ist. Der Okkultismus, der in sich wiederum differenziert werden muss und unterschiedliche
Positionen vereint bzw. Abgrenzungen impliziert (u.a. im Verhältnis zu Spiritismus, Theosophie,
Parapsychologie) ist dabei durch einen grundlegenden Wissensanspruch geleitet. Die Behauptung ist die,
dass die spekulativen und unsichtbaren Gegenstände des Übernatürlichen und des Jenseits vermittels
wissenschaftlicher Methoden und Techniken als „okkultes Wissen“ naturalisiert und sichtbar gemacht
werden können.
         Solche Verwissenschaftlichung der Esoterik ist schon in der romantischen Psychologie sowie
Naturforschung angelegt, beispielhaft im Mesmerismus, der spekulative und empirische Forschung
physikalisch wie psychologisch verbindet und den Einsatzpunkt des Korpus dieses Projekts bildet. Dies fand
eine Fortsetzung zunächst in physikalisch begründeten Ansätzen wie Gustav Theodor Fechners
experimentalpsychologischer Psychophysik oder Karl Friedrich Zöllners „transzendentaler Physik“, sodann
auch seit den 1870er Jahren in psychologisch begründeten Ansätzen okkult-wissenschaftlicher Programme
und Gesellschaften wie der Londoner „Society for Psychical Research“(1882) oder der Berliner „Gesellschaft
für Experimentalpsychologe“ (1888) sowie in einschlägigen Zeitschriften wie den „Psychischen Studien“ (ab
1874) oder der theosophischen „Sphinx: Monatsschrift für die geschichtliche und experimentale Begründung
der übersinnlichen Weltanschauung auf monistischer Grundlage“ (ab 1886). Der Anspruch ist dabei stets
derjenige der Verwissenschaftlichung, wobei sich ein höchst produktiver performativer Widerspruch
einstellte: Gegen die Hypothesen des „Materialismus“ sollte das „Okkulte“, „Abnormale“, „Jenseitige“ –
wechselweise vorgestellt als psychische oder physikalische „Phänomene“, fernwirkende magnetische
„Kräfte“ oder aber als Manifestation des „Geistigen“ in feinster „Materie“ – gerade mit den Mitteln und
Verfahren der zeitgenössischen Wissenschaften untersucht werden. In der Ära des Positivismus baute der
antimaterialistische Okkultismus dergestalt auf experimentelle Datenehrhebung sowie den Einsatz von
(medien-)technischen Hilfsmitteln und Apparaturen. In den 1870er Jahren wurde so insbesondere der
Spiritismus zum experimentum crucis, an dem sich selbst Skeptiker und Kritiker wie Eduard von Hartmann in
Berlin und Dimitri Mendelejew in St. Petersburg abgearbeitet haben. Der Anspruch, das „Okkulte“ dezidiert
wissenschaftlich zu erforschen, technisch abzubilden und seine energetische wie materielle Wirkmacht
experimentell zu erweisen, wirft grundsätzliche Fragen auf, die nicht nur die Vorstellung und Gestalt
esoterischer Phänomene und deren Wiss- und Darstellbarkeit betreffen, sondern zugleich ins Zentrum des
human- und naturwissenschaftlichen Wissens des 19. und frühen 20. Jh. treffen.

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Als Beispiel dafür von naturwissenschaftlicher Seite kann, neben den Leipziger Physikern Fechner
und Zöllner, die Arbeit des britischen Chemikers William Crookes gelten, des späteren Präsidenten der
„Society for Psychical Research“. Nicht etwa entgegen, sondern durch streng naturwissenschaftliche
Methoden gelangte er zum Zweifel am „Materialismus“. Die wissenschaftliche Erforschung des Okkulten
schliesst deshalb mystische und hermetische Spekulationen – also religiöse Esoterik – als „abergläubische“
Gedankenkonstruktionen geradezu strikt aus. „Romantic and superstitious ideas“, so Crookes, „should be
entirely banished, and the steps of this investigation should be guided by intellect as cold and passionless as
the instruments he uses“ (Crookes 1871, 17). Nichtdestotrotz wird diesen Forschern auf dieser methodischen
Grundlage der Aufbau und die wahre Gestalt der Materie zur qualitas occulta, zum esoterischen Kernproblem
und eigentlichen Metaphysikum des „Materialismus“ – eine Kippfigur, die sich Exponenten der modernen
Esoterik zunutze machten, z. B. Blavatsky in Isis Unveiled (1877) oder Carl Du Prel in seiner „monistischen
Seelenlehre“. Indem die „materialistische“ Naturwissenschaft, ihrer atheistischen Ideologie zum Trotz, die
Existenz von okkulten Phänomenen wie „force, energy, electricity or magnetism, will, or spirit-power“
bewiesen habe, heisst es bei Blavatsky, sei zugleich „a portion of that intelligent, omnipotent, and individual
WILL, pervading all nature, and known, through the insufficiency of human language to express correctly
psychological images, as – GOD“ (Blavatsky 1877, 58) sichtbar gemacht worden. Zwanzig Jahre früher hatte
Arthur Schopenhauer, den Blavatsky mehrfach zustimmend zitiert, das nämliche gesagt: „Animalischer
Magnetismus, sympathetische Kuren, Magie, zweites Gesicht, Wahrträumen, Geistersehn und Visionen aller
Art […] geben sichere, unabweisbare Anzeige von einem Nexus der Wesen, der auf einer ganz andern
Ordnung der Dinge beruht“ (Schopenhauer 1851, 282) und stellten überdies „eine faktische und vollkommen
sichere Widerlegung nicht nur des Materialismus, sondern auch des Naturalismus“ (ibid., 284) dar.
      Diese Kippbewegung des „Materialismus“ (bzw. „Naturalismus“ oder „Positivismus“) als
experimentelles Verfahren der Welterklärung und Sichtbarmachung von Gesetzmässigkeiten in dessen
scheinbares Gegenteil, in esoterische Mutmassungen über Geister, psychische Energien, übersinnliche
Mächte, okkulte Dimensionen des Raumes usw., zeigt eine grundlegende epistemologische Krise an, welche
in den esoterischen Paradigen des langen 19. Jh. zum Ausdruck kommt. Der symptomatische Kern dieser
Krise, in die die wechselvolle Geschichte der „wissenschaftlichen Objektivität“ massgeblich hineinspielt,
lässt sich vielleicht als Repräsentationskrise bezeichnen. 13 Wie gelangt der Forscher von einer Pluralität
technisch erzeugter, dem Augenschein aber nicht zugänglicher Ausschnitte der Welt zu seinen Hypothesen?
Wie gelangt man von messbaren Fakten, die zugleich technische Artefakte sind, zu wissenschaftlichen
Fiktionen, zu belastbaren Theorien – und wie esoterisch sind die Kriterien, die man im Zuge dessen anlegt?
Was für Metaphern und Modelle, die in zeitgenössischen esoterischen Paradigmen erkenntnisleitend sind,
spielen in diese Übertragung hinein? Und was für Begriffe von Beobachtung und Repräsentation liegen ihr
zugrunde?
      Diese komplexe Formation des modernen Wissens, worin „rationale“ und „esoterische“ Fragen
verschmelzen, umfassend zu beschreiben und historisch zu erklären, ist die Aufgabe dieses
Promotionsprojekts. Eine interdisziplinäre angelegte Dissertation bietet die dazu geeignetste Form, was

 Vgl. dazu Daston und Galison 2007. Von speziellem Interesse ist hierbei der Übergang, wie Daston und Galison sich
13

ausdrücken, von der „mechanischen Objektivität“ des 19.Jahrhunderts, die sich vorzugsweise auf analog-technische
Abbildungsverfahren wie Fotographie und Phonographie stützt, hin zu „strukturellen“, nur noch modelhaft fassbaren
Objektivitäten, die im 20. Jahrhundert schliesslich in das „trainierte Urteil“ von Experten münden – einem
Objektivitätsparadigma, das der idealisierten „Naturwahrheit“ des 18. Jahrhunderts gar nicht so unähnlich ist.

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konkret wissenschaftsgeschichtliche, philosophische wie auch kultur- und literaturwissenschaftliche
Qualifikationen voraussetzt. Das Quellenkorpus umfasst neben den genannten Forschern weiterhin Texte
von Gestalten wie Johann Heinrich Jung, Karl Reichenbach, J. O. N. Rutter, Hermann Ulrici, Alexander
Biessner, Stewart Balfour, Perty Maximilian, Karl Kiesewetter und Carl Willman, die in der
Esoterikforschung bisher wenig Beachtung gefunden haben. Der genaue Zuschnitt des Quellenkorpus ist
allerdings ein integraler Teil der Forschungsarbeit und daher vom Doktoranden bzw. der Doktorandin
vorzunehmen und nicht a priori vorzugeben. Hauptbetreuer der Dissertation ist der Antragsteller Andreas
Kilcher, wobei wesentliche Impulse auch vom regelmässigen Austausch mit kooperierenden Experten
ausgehen sollen (siehe „Nationale und internationale Vernetzung“).

Teilprojekt B: Ästhetisierung der Esoterik
Dass Elemente esoterischen Wissens – Symbole, Bilder und Metaphern – um 1800 vermehrt in der Kunst
und insbesondere der Literatur verhandelt werden und somit in unterschiedlichen künstlerischen Medien
ästhetisiert werden, ist bekannt. Die Literatur der Romantik thematisiert neben älteren esoterischen
Paradigmen wie Magie, Kabbala und Alchemie auch zeitgenössische Modelle von Esoterik wie
Mesmerismus und Somnambulismus. Nicht weniger gilt das für die literarische (und künstlerische)
Moderne um 1900, die neue esoterische Paradigmen wie Okkultismus, Spiritismus, Theosophie,
Parapsychologie verhandelt. Mehr noch: es entstanden dem Anspruch nach genuin okkult-wissenschaftliche
Teilbereiche der Künste wie Geisterphotographie, theosophische Kunst, spiritistisches Zeichnen und
Schreiben sowie literarische Phantastik um 1900, die diese weniger umsetzte als inszenierte und
thematisierte. Beispiele sind etwa Mabel Collins Geisterromane, die „Spirit Drawings“ des Viktorianischen
Mediums Georgiana Houghton, spiritistisch inspirierte avantgardistische Schreibweisen von Rilke bis zum
Surrealismus, W.B. Yeats okkultistischer Weltentwurf „A Vision“, Marcel Duchamps „alchemistische“
Gesamtkunstwerke, Ezra Pounds hermetische Cantos, fantastische Erzählungen und Romane eines Meyrink
oder Ewers, aber auch Texte, die jenes in satirisch und kritisch gebrochener Form verhandeln wie Fritz
Mauthners „Geisterseher“-Roman oder Thomas Mann in einzelnen Erzählungen und Essays.
      Diese Richtung der Ästhetisierung – die Verhandlung esoterischer Elemente in der Kunst und
Literatur des langen 19. Jh. – ist von der Forschung öfters behandelt worden (Surette 1993; Kilcher 1998b;
Thurschwell 2001; Moffitt 2003; Pytlik 2005; Magnússon 2009; Kuff 2011; Graczyk 2014; Ferguson/Radford
2018). Die umgekehrte Richtung des Austauschverhältnisses – die Ästhetisierung des Esoterischen durch
künstlerische Mittel, Strategien und Medien – blieb demgegenüber weitgehend unbeachtet. Dabei ist die
Frage nach der Erscheinungsweise esoterischer Phänomene und die Darstellungsform esoterischen Wissens
gerade in der modernen Esoterik ein zentrales Problem. Denn im Gegensatz zur älteren „Tradition des
gnostischen, hermetischen und kabbalistischen Dispositivs verbirgt die Esoterik der Moderne ihr Arkanum
nicht“, wie Robert Matthias Erdbeer festhält, im Gegenteil: „die populär- und parawissenschaftlichen
Diskurse, die an der Genese und Verbreitung ihres ‚öffentlich Geheimen’ tätig sind, betreiben eine
Hermeneutik radikaler Transparenz und überbieten sich geradezu im marktbezogenen Bestreben nach
Verständlichkeit. Im Selbstverständnis der modernen Esoterik wird, so der erklärte Anspruch, das Komplexe
einfach, das Arkane populär“ (Erdbeer 2010, 16–17).
      Wenn das zutrifft, dann ist das In-Erscheinung-treten und In-Szene-setzen – also die Ästhetik – von
systematischer Bedeutung für die esoterischen Paradigmen des 19. Jh. Das esoterische Verhältnis zwischen

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Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, Sagbarkeit und Unsagbarkeit, welches in der vormodernen Esoterik
oftmals in hermetische Unverständlichkeit oder in chiffrenhafte Signaturen und undeutbare Symbole
umschlug, wird zu einem ästhetischen. Mehr denn je unterliegt die Übersetzung des „Sinnlichen zum
Sinnigen“, mit der laut Hegel (1986, 12: 291) das esoterische Denken beschäftigt ist, insoweit es sich
„willkürliches Phantasieren“ und „Aberglaube[n]“ verbietet, also ästhetischen Strategien, die im Interesse
der überzeugenden Darstellung des Unsichtbaren feinsinnig gewählt sein wollen.14 Signifikant ist dabei
auch, dass sich gegenüber der vormodernen Esoterik, die vielfach (wenngleich nicht ausschliesslich)
Gelehrtenesoterik war, der soziokulturelle Wirkungs- und Adressatenkreises erweitert: Moderne Esoterik
richtet sich an breitere Bevölkerungsschichten, eine Popularisierung, die sich auch und gerade im
ästhetischen Medium umsetzen liess. Zugleich wurde sie allerdings auch Teil und Movens moderner
Kunstvorstellungen.
      Die esoterischen Paradigmen des langen 19. Jh. stehen also in komplexer produktiver Wechselwirkung
nicht nur zu Modellen des Wissens, sondern auch der Kunst und der Literatur. Das zeigt sich am
deutlichsten daran, wo sie an der Entwicklung neuer, teils avantgardistischer Darstellungsweisen,
Schreibformen, und Bildgenres nicht nur partizipierten, sondern diese auch hervorbrachten. Die Verfahren
der Geisterfotografie oder das „automatische Schreiben“ sind dafür nur die bekanntesten Beispiele. Dabei
kamen im Horizont der Technisierung und Industrialisierung auch neue Schrift-, Bild- und Tonmedien zum
Einsatz, was im Umkehrschluss nicht nur die sichtbare Gestalt, sondern ebenso sehr den okkulten Gehalt
esoterischer Entwürfe veränderte. Wie sich diese komplexe Ästhetisierung der Esoterik und umgekehrt die
Esoterisierung von Kunst konkret darstellt, liesse sich exemplarisch etwa an Alexander von Humboldts
monumentalem Kosmos (1845–1862), E. A. Poes eigenwilliger Antwort darauf, dem „Prosagedicht“ Eureka,
oder an Ernst Haeckels Bildatlas Kunstformen der Natur (1899–904) untersuchen.
      Die Aspekte und Ausprägungen dieser Austauschprozesse zwischen Esoterik und Ästhetik anhand
von aussagekräftigen Beispielfällen zu beschreiben und sie in einen breiteren wissensgeschichtlichen
Kontext des 19. Jh. zu stellen, ohne dabei aber die Bruchlinien im Grossen wie im Kleinen zu
vernachlässigen, ist die Aufgabe, die sich in diesem Teilprojekt stellt. Eine wiederum interdisziplinär
angelegte Dissertation bietet die dazu geeignetste Form, was auf Seiten der DoktorandIn
wissensgeschichtliche, vor allem aber kultur-, literatur- und bildwissenschaftliche Kenntnisse voraussetzt.
Eine besondere Herausforderung ist dabei die Festlegung eines repräsentativen Quellenkorpus über die
genannten Beispiele hinaus. Denn esoterisches Wissen kommt im 19. und frühen 20. Jh. in den
unterschiedlichsten Medien zur Darstellung: in literarischen Texten und philosophisch-okkulten Traktaten,
in naturwissenschaftlichen Schriften, technischen Anleitungen und populärwissenschaftlichen Magazinen,
in Schaubildern und Illustrationen, Gemälden, Geisterfotografie und schließlich im frühen Film. Hieraus
eine repräsentative Auswahl zu erstellen, die die medientechnisch begründeten Ästhetisierungsverfahren
exemplarisch illustriert, ist ein integraler Teil der Forschungsarbeit. Hauptbetreuer der Dissertation ist der
Antragsteller Andreas Kilcher, wobei wesentliche Impulse auch vom regelmässigen Austausch mit Experten
ausgehen sollen (siehe „Nationale und internationale Vernetzung“).

14Theisohn 2012, 27 geht von diesem Hegel’schen Begriff der manteia als deutende Poesie aus und leitet daraus das für
seine Arbeit zentrale Konzept der „Mantopoetik“ ab. Der Hegel’sche Begriff der Mantik ist es auch, den Theisohn 2012,
476 schliesslich anmahnt, denn nur indem Literatur „der Sinnlichkeit den Sinn abzugewinnen“ vermöge und dadurch
„Zukunft“ verhandle, habe sie eine Zukunft.

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Nationale und internationale Vernetzung
Die Diskussion des Forschungsstandes hat gezeigt, dass die jüngere Esoterikforschung international und
interdisziplinär organisiert ist. Deswegen wird ein regelmässiger Austausch sowie Kooperationen mit
Experten im In- und Ausland angestrebt, die innerhalb wie ausserhalb der Religionswissenschaften arbeiten.
Thematisch stichwortgebend und relevant für die Verwissenschaftlichung der Esoterik im langen 19. Jh. sind
etwa Alex Owen (Northwestern), Corinna Treitel (St. Louis), Julian Strube (Heidelberg) und Egil Asprem
(Stockholm). Wichtige Kooperationspartner für den ästhetischen Projektbereich sind u.a. Linda Simonis
(Bochum), Robert Matthias Erdbeer (Münster), Christine Ferguson (Stirling) und Benjamin Lazier (Reed),
sowie in unmittelbarer Nähe Philipp Theisohn (Universität Zürich).15
         Wir beabsichtigen erstens, mit diesen und anderen Experten in regelmässigen Abständen Workshops
zu veranstalten, um den DoktorandInnen die Möglichkeit zu geben, ihre Forschungsvorhaben mit
herausragenden Forschern zu diskutieren. Zweitens sollen die DoktorandInnen die Gelegenheit nutzen, auf
den Tagungen und Doktorandenworkshops der ESSWE (European Society for the Study of Western Esotericism)
sowie des ZGW (Zentrum Geschichte des Wissens) ihre Projekte vorzustellen und sich so international zu
vernetzen. Drittens wollen wir an der ETH Zürich eine internationale Konferenz veranstalten, um die vom
Projekt im Ganzen wie in seinen Teilen ausgehenden Impulse im Expertenkreis kritisch zu beleuchten. Im
Zuge dessen sollen zwei prominent besetzte Keynote Lectures die zentralen Anliegen des Projekts auch in
die breitere Öffentlichkeit und die Medien tragen. Der aus der Konferenz gewonnene Tagungsband, der
sowohl überarbeitete Vorträge als auch speziell angefragte Beiträge enthalten soll, soll schliesslich die
zentralen Themen und Thesen des Projekts gebündelt in die Forschung kommunizieren.
         Um diese angestrebte nationale und internationale und interdisziplinäre Vernetzung zu erreichen,
werden zusätzliche Mittel seitens des SNF benötigt. Nebst der Mittel für zwei Promotionsstellen beantragen
wir daher im Rahmen dieses Projekts:
     -     Reisemittel für die Doktoranden, insbesondere um an Tagungen und Workshops der ESSWE
           teilzunehmen;
     -     Kostenzuschüsse für eine internationale Konferenz sowie zwei Workshops mit Experten im
           kleineren Kreis an der ETH Zürich.
Die Gesamtzahl der Workshops und ihre Frequenz geht aus dem folgenden Zeitplan hervor, ebenso der
Zeitpunkt der internationalen Konferenz. Die verbleibenden Kosten des wissenschaftlichen Austauschs
bestreitet der Antragssteller aus seinem eigenen Forschungsetat an der ETH Zürich.

15Einige projektrelevante Publikationen der genannten Forscher wurden bereits in 2.1 („Forschungsstand“) angeführt,
einige weitere sind im Literaturverzeichnis vermerkt.

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