Gott, Götter, Gottlosigkeit: Islam und säkulare Gesellschaft

Die Seite wird erstellt Pascal Römer
 
WEITER LESEN
Gott, Götter, Gottlosigkeit: Islam und säkulare Gesellschaft
ANALYSE                                                                              March 2010

   Gott, Götter, Gottlosigkeit:
Islam und säkulare Gesellschaft
                                    Dietrich Jung

          I den offentlige debat om muslimsk indvandring til Europa stilles der tit
          spørgsmålet om islam overhovedet er forenelig med det sekulære samfund.
          Artiklen diskuterer dette spørgsmål fra en religionssociologisk vinkel, og
          konkluderer, at der ikke findes en principiel uforenelighed mellem islam og
          det sekulære samfund, hvis den troende muslim er villig til at acceptere, at
          der ikke eksisterer en religiøs konsensus i samfundet. Det sekulære samfund
          er nemlig præget af både Gud, guder og gudløshed. Artiklen baserer sig på et
          foredrag som forfatteren holdt den 18. december 2009 på Institut for Islamisk
          Religionspædagogik i Osnabrück universitetet.
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft            2

    Seit geraumer Zeit diskutiert die europäische Öffentlichkeit die muslimische
    Einwanderung nach Europa als Problem. Mit den Terroranschlägen des 11. Sep-
    tembers 2001 in New York und Washington sowie den darauffolgenden isla-
    mistisch motivierten Bombenattentate in Madrid und London hat sich dieses
    Problem zu einem Bedrohungsszenario entwickelt, demzufolge sich die demo-
    kratisch verfassten Staaten Europas mit einer muslimischen Herausforderung
    konfrontiert sähen. Dabei werden in der öffentlichen Debatte so unterschiedli-
    che Fragen wie nach den Ursachen des transnationalen islamistischen Terrors,
    dem gesellschaftlichen Status muslimischer Minderheiten in Europa, den Defi-
    ziten der Integrationspolitik europäischer Staaten oder des eventuellen EU Bei-
    tritts der Türkei miteinander vermengt. Der einzige gemeinsame Nenner dieser
    so unterschiedlichen Fragestellungen ist ihr Bezug zum Islam und die Angst
    eines nicht geringen Teils der europäischen Öffentlichkeit, dass dessen wach-
    sende Präsenz in Europa die zentralen Normen und Werte der europäischen
    Gesellschaften unterminiere.
       Im Lichte der religiösen Erweckungsbewegungen, welche in den letzten
    Jahrzehnten die muslimische Welt und die muslimischen Minderheiten Euro-
    pas erfasst haben, stellt dieser Aufsatz die generelle Frage nach dem Verhältnis
    von Islam und säkularer Gesellschaft. Er versucht eine Antwort auf diese Frage
    aus religions-soziologischer Perspektive zu geben. Es handelt sich hier also
    nicht um den Versuch, den „wahren Islam“ zu definieren; dieses kann nicht die
    Aufgabe der Soziologie, sondern nur die des muslimischen Theologen sein. Für
    die Religionssoziologie ist der Islam ein historisch und sozial bedingtes Phä-
    nomen, welches in den verschiedenen Formen beobachtet werden kann, in de-
    nen sich Muslime mit den islamischen Traditionen identifizieren. Aus soziolo-
    gischer Perspektive gibt es keinen wahren Islam, sondern eine Vielzahl be-
    obachtbarer religiöser Praktiken, durch die Muslime den Traditionsbestand des
    Islams aktualisieren. Im Folgenden stelle ich zuerst die Frage, ob und inwiefern
    die moderne Gesellschaft eine säkulare sei. Können wir uns die Moderne nur
    als eine säkulare Moderne vorstellen? Wie definieren wir diese säkulare Natur
    der modernen Gesellschaft? Dann wende ich mich der Frage zu, was es für den
    religiösen Menschen im Allgemeinen und den praktizierenden Muslim im Be-
    sonderen bedeutet, in einer säkularen Gesellschaft zu leben. Ich spreche hier
    vom praktizierenden Muslim, um diesen vom „statistischen Muslim“ zu tren-
    nen. In der öffentlichen Debatte um den Islam wird häufig der Eindruck er-
    weckt, als wären alle statistisch geführten Muslime mit den praktizierenden
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft            3

    Muslimen deckungsgleich. Allerdings gibt es nicht nur in Europa, sondern in
    der gesamten islamischen Welt Muslime, die ihren Glauben nicht praktizieren.

    Inwiefern ist die Moderne säkular?
    Betrachtet man die zeitgenössische Diskussion um die gesellschaftliche Ent-
    wicklung in der muslimischen Welt, so stößt man häufig auf die Annahme, dass
    sich die Muslime mit einer blockierten Modernisierung konfrontiert sähen. In
    der Versiegelten Zeit, einem Buch des an der Universität Leipzig lehrenden His-
    torikers Dan Diner, wird ein Naher Osten beschrieben, in dem nach Ansicht des
    Autors die Zeit still zu stehen scheint. Diner sieht die soziale Entwicklung im
    Nahen Osten durch eine sakrale Versiegelung der Zeit charakterisiert. In seiner
    Analyse sind muslimische Lebenswelten vom heiligen Recht durchdrungen, in
    der Welt des Islams seien „Raum und Zeit im Gesetz eins“ (S. 242). Für Diner ist
    die Kultur der islamischen Welt dadurch geprägt, dass sie ein inhärentes Prob-
    lem mit der Moderne habe (S. 16). Seiner Ansicht nach herrschen im Vorderen
    Orient noch immer vormoderne Verhältnisse, für welche im Kern der Islam als
    Religion verantwortlich zeichne (S. 13). Diners Buch ist ein gutes Beispiel für
    die in Europa weit verbreitete Auffassung, ein grundsätzliches Problem be-
    stünde in der Unvereinbarkeit von Islam und Moderne. Dieser Wahrnehmung
    liegt die historische Entwicklung Europas modellhaft zu Grunde. Die Moderne
    wird in den Kategorien einer säkularen sozialen Ordnung gedacht, welche die
    Mehrheit der Mitgliedsstaaten der EU charakterisiert. Gibt es also keine islami-
    sche Moderne und schließen sich Islam und säkulare Moderne notwendiger-
    weise aus?
       Ein kurzer Blick in die Geschichte des Nahen Ostens genügt, um die Kontu-
    ren einer spezifisch islamischen Moderne zu erkennen. In der zweiten Hälfte
    des neunzehnten Jahrhunderts war die muslimische Welt durch eine Reihe von
    religiösen und sozialen Reformbewegungen gekennzeichnet, dem sogenannten
    islamischen Modernismus, in denen es vor allem um politische Unabhängig-
    keit, gesellschaftlichen Fortschritt und die Vereinbarkeit von Glauben mit mo-
    derner Wissenschaft ging. Einen zentralen Platz in diesen Reformbemühungen
    nahm Muhammad Abduh (1849-1905) ein, der wesentliche Elemente für das
    Konzept einer islamischen Moderne entwickelte. Geboren in einem kleinen
    Dorf im Nildelta, erfuhr Abduh zunächst eine am Ideal traditioneller islami-
    scher Wissenschaften orientierte klassische Ausbildung. Im Jahre 1866 zog er
    als sechzehnjähriger nach Kairo, wo er seinen Ausbildungsweg an der al-Azhar
    Universität, der wohl wichtigsten religiösen Lehranstalt im sunnitischen Islam,
    fortsetzte. Enttäuscht vom Zustand der al-Azhar und ihren antiquierten Lehr-
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft            4

    methoden wendete sich Abduh intellektuellen Zirkeln zu, in denen er sich nicht
    nur mit westlicher Philosophie, sondern auch mit den philosophischen Schrif-
    ten des schiitischen Islams vertraut machte. Nach dem Abschluss seiner Studien
    arbeitete Abduh als Journalist, Hochschullehrer und Jurist, bevor er im Jahre
    1899 zum Mufti von Ägypten ernannt wurde, dem Amt des höchsten staatli-
    chen Repräsentanten des Islams.
       Folgt man Muhammad Abduhs Interpretation des Islams, so handelt es sich
    bei diesem um die rationellste Form des monotheistischen Glaubens, die sich
    im Zuge notwendiger religiöser und sozialer Reformen als vollständig kompa-
    tibel mit der modernen Welt erweisen würde. Der Islam vereinige auf geradezu
    natürliche Weise Religion, moderne Wissenschaft, rechtsstaatliche Prinzipien,
    den modernen Verfassungsstaat und das Leitbild eines mündigen, moralisch
    integeren und rational handelnden Bürgers. Die Ursache für die zeitgenössische
    Unterlegenheit der islamischen Welt gegenüber einem imperialen Europa sah
    Abduh in den Beharrungskräften traditionaler religiöser und politischer Institu-
    tionen begründet, welche eine vom Islam inspirierte Modernisierung der Ge-
    sellschaft verhinderten. In dem religiösen Charakter seines Reformprograms
    sah er auch den zentralen Unterschied zur Modernisierung Europas. Die mus-
    limische Gesellschaft unterscheide sich nämlich von der westlichen dadurch,
    dass die Normen und Werte des Islams einen moralischen Grundkonsens liefer-
    ten. Damit aber ist Muhammad Abduhs Konzeption der Moderne gerade nicht
    säkular, sondern religiös definiert. Im Gegensatz zur europäischen Moderne
    sollte die islamische Moderne nicht durch eine Marginalisierung der Religion,
    sondern durch die Stärkung ihrer Rolle als Bindungskraft in der Gesellschaft
    gekennzeichnet sein.
       Muhammad Abduh war ein muslimischer Apologet und ein Mann des
    neunzehnten Jahrhunderts, dessen Ideenwelt durchaus Parallelen zum Denken
    vor allem protestantischer Apologeten in Europa erkennen lässt. Auch diese
    versuchten zunächst, die Moderne in Einklang mit dem holistischen Anspruch
    der Religion zu bringen. Weder Protestanten noch Katholiken wollten sich mit
    den säkularen Tendenzen der europäischen Moderne einfach abfinden, die ka-
    tholische Kirche bekämpfte sie offiziell bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil
    im Jahre 1962. In welchen Formen erscheint uns aber die europäische Moderne
    als säkular? Kann die moderne Gesellschaft nur als säkulare Gesellschaft ge-
    dacht werden?
      Der Begriff der Säkularisierung umfasst zumindest drei verschiedene Bedeu-
    tungshorizonte. Der erste bezieht sich auf das Institutionengefüge der moder-
    nen Gesellschaft. Die funktionelle Differenzierung der modernen Gesellschaft
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft             5

    in Subsysteme wie Politik, Recht, Ökonomie, Erziehungswesen oder Religion
    wird in den Säkularisierungstheorien als die Trennung von Staat und Kirche
    thematisiert. In christlicher Terminologie wird damit die relative Autonomie
    des staatlichen und des religiösen Feldes zum Ausdruck gebracht, deren jewei-
    lige Institutionen – im Idealfall – einer eigenen, von den Institutionen anderer
    Subsysteme getrennten Logik folgen. Staatliche Herrschaft kann damit nicht
    länger religiös legitimiert und religiöse Überzeugungen nicht länger durch poli-
    tische Macht oktroyiert werden. Damit treten auch die sozialen Institutionen
    des Rechts, in der Form von staatlich sanktionierten Normen, und der Moral,
    die gerade nicht staatlicher Sanktionsmacht unterliegt, auseinander, ohne je-
    doch ein Zusammenspiel in den sozialen Praktiken des Alltagslebens zu ver-
    hindern.
       Die zweite Dimension des Begriffs der Säkularisierung ist gesellschaftlicher
    Natur. Hier verweist die Säkularisierung der Gesellschaft auf einen Bedeu-
    tungsverlust der Religion mit Blick auf die Selbstbeschreibung der Gesellschaft
    hin. Diese definiert sich eben nicht durch einen religiös bestimmten Kodex von
    Normen und Werten, sondern durch eine Pluralität von ethischen, moralischen
    und ästhetischen Haltungen sowie Weltanschauungen. Es besteht dabei kein
    Zweifel, dass die Religion im Rahmen dieser Pluralität eine wichtige Rolle
    spielt. Sie kann diese Rolle aber nur in Anerkennung dieser Pluralität wahr-
    nehmen und muss auf Absolutheitsansprüche verzichten. Die moderne Gesell-
    schaft ist nicht durch einen inhaltlichen, sondern durch einen formalen Konsens
    definiert, der die Plattform für einen permanenten Verhandlungsprozess unter-
    schiedlicher gesellschaftlicher Ansprüche darstellt.
       Während es sich bei Institutionen und gesellschaftlichen Werten und Nor-
    men um Makrostrukturen der Moderne handelt, thematisieren die Säkularisie-
    rungstheorien auch die Rolle der Religion auf der Mikroebene, also das Ver-
    hältnis von Religion und Individuum. In diesem Verhältnis behauptet die Säku-
    larisierungsthese, die moderne Gesellschaft sei dadurch gekennzeichnet, dass
    sich Religion auf diese Mikroebene verlagere, Prozesse der Modernisierung mit
    einer Privatisierung und Individualisierung der Religion einherginge. Religiöse
    Überzeugungen und Praktiken würden in steigendem Masse eine Privatange-
    legenheit, zu einer bewussten Wahl für das moderne Individuum. Religion
    scheint damit der liberalen Idee zu folgen und sich von einem kollektiven hin
    zu einem individuellen Phänomen zu entwickeln.
      Diese drei Bedeutungshorizonte der Säkularisierungstheorie repräsentieren
    abstrakte Desiderate aus der europäischen Geschichte. In dieser abstrakten
    Form beschreiben sie nicht die gesellschaftliche Wirklichkeit, sondern sie bilden
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft           6

    formale Kriterien, mit denen die Entwicklungen moderner Gesellschaften ver-
    messen werden. Die Modernisierungstheorien der 1950er und 1960er Jahre gin-
    gen davon aus, dass es sich bei diesen drei Dimensionen um soziale Prozesse
    handle, die einen linearen und gleichzeitigen Verlauf nähmen und damit zu
    einer Konvergenz moderner Gesellschaften führen. Sie interpretierten daher
    das Verhältnis zwischen Modernität und Religion als ein Null-Summen-Spiel,
    also als ein Verhältnis, bei dem die Modernisierung von Gesellschaften mit ei-
    nem relativen Verschwinden der Religion einherginge. In der Religionssoziolo-
    gie gehören diese linearen Auffassungen von Modernisierung und Säkularisie-
    rung inzwischen der akademischen Asservatenkammer an. Die globalen histo-
    rischen Entwicklungen seit dem Zweiten Weltkrieg zeitigen oft sehr wider-
    sprüchliche Formen der Säkularisierung, bei denen z.B. die Trennung staatli-
    cher und religiöser Sphären keineswegs mit einem Bedeutungsverlust der Reli-
    gion für Gesellschaft und Individuum einhergehen muss.
       In der Forschung wird die Säkularisierung daher heute als ein Prozess ge-
    deutet, der oft widersprüchliche und zirkuläre Bahnen annimmt und dabei
    auch zu paradoxen Ergebnissen führen kann. Dies gilt nicht nur für das westli-
    che Paradebeispiel der USA, wo eine sehr scharfe institutionelle Trennung von
    Staat und Religion mit einer nach wie vor tief religiösen Gesellschaft einher-
    geht, deren politische Diskurse wie selbstverständlich religiöse Weltanschau-
    ungen mit einbeziehen. Ähnlich paradoxe Ergebnisse lassen sich in der islami-
    schen Welt ausmachen. So haben z.B. in der Türkei die Verhandlungen um
    einen zukünftigen EU-Beitritt zu Reformen geführt, in deren Verlauf sich der
    auf einer staatlichen Kontrolle der Religion basierende türkische Säkularismus
    hin zu einer tatsächlich rechtlich abgesicherten Trennung von Staat und Religi-
    on entwickelte. Aus institutioneller Perspektive handelt es sich hier um einen
    Säkularisierungsprozess, der staatlichen und religiösen Institutionen ein höhe-
    res Maß an Autonomie einräumt, dafür aber in seiner gesellschaftlichen und
    individuellen Dimension in einer „Rückkehr“ des Religiösen erkennbar wird. In
    der Islamischen Republik Iran hingegen, hat die Verschmelzung von staatlichen
    und religiösen Sphären dazu geführt, dass immer mehr Menschen, auch religiö-
    se Gelehrte, für eine Trennung von Staat und Religion plädieren, wie z.B. der
    im Dezember 2009 verstorbene Großayatollah Montazeri.
      Diese Beispiele mögen genügen, um die Komplexität von Entwicklungen an-
    zudeuten, die in dem Begriff einer säkularen Moderne zusammengefasst wer-
    den. Die säkulare Moderne darf daher keineswegs mit einer nicht-religiösen
    Moderne verwechselt werden. Die Religion ist ein Teil der Moderne und ihrer
    sozialen Verhandlungsprozesse, die das gesellschaftliche Leben kennzeichnen.
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft            7

    Was charakterisiert dann aber eine säkulare Gesellschaft, wenn nicht das gra-
    duelle Verschwinden von Religion? Das zentrale Kennzeichen der säkularen
    Gesellschaft habe ich im Titel meines Aufsatzes zusammengefasst: In der säku-
    laren Gesellschaft herrschen gleichzeitig Gott, Götter und Gottlosigkeit. Das
    religiöse Feld ist durch eine Form der Pluralität gekennzeichnet, in dem auch
    das Recht zur Gottlosigkeit, zur religiösen Indifferenz akzeptiert ist. Es gibt
    eben nicht nur eine Pluralität von Religionen, sondern konkurrierende Formen
    von Ethik, Moral und Weltanschauungen, die nicht im Religiösen wurzeln. Da-
    bei handelt es sich nicht nur um das Recht, sich als Atheist zu bezeichnen, son-
    dern um das elementare Recht, ein Leben zu führen, in dem die Religion keine
    Rolle spielt; oder um es mit dem von Max Weber verwendeten Begriff zu sagen:
    um das Recht „religiös unmusikalisch“ zu sein. Säkularismus in diesem Sinne
    als Gleichzeitigkeit von Religionen und religiöser Indifferenz ist für mich ein
    Kernbestandteil moderner Gesellschaften und es ist dieser Punkt, in dem ich
    mich von der Konzeption einer islamischen Moderne, wie sie Muhammad
    Abduh im Auge hatte, radikal unterscheide.

    Religion und Islam in der säkularen Gesellschaft
    Es ist dieser Verlust eines ethisch-moralischen Konsenses, der auf religiösen
    Traditionen beruht, mit dem sich die Religionen in der säkularen Gesellschaft
    arrangieren müssen. Mit welcher Herausforderung sieht sich der religiöse
    Mensch angesichts dieser Form des Säkularen konfrontiert? Die zentrale Her-
    ausforderung stellt sich in der Akzeptanz von konkurrierenden moralischen
    und ethischen Standpunkten, von einer Pluralität religiöser und nicht-religiöser
    Weltbilder. Der im Glauben zumindest latent angelegte absolute Geltungsan-
    spruch religiöser Normen und Werte kann wohl als individueller Leitfaden
    dienen, muss aber im gesellschaftlichen Leben relativiert werden. Der gläubige
    Mensch muss nicht nur die gesellschaftliche Gleichwertigkeit anderer religiöser
    Überzeugungen akzeptieren, sondern auch den „Unglauben“, die religiöse In-
    differenz. Das für liberale Gesellschaften kennzeichnende Prinzip der Religions-
    freiheit beinhaltet nämlich sowohl das Recht zur freien Religionsausübung für
    Individuen und Kollektive, als auch das Recht auf Freiheit von Religion. In ei-
    ner säkularen Gesellschaft ist der für das gesellschaftliche Zusammenleben
    notwendige normative Konsens insofern prekär, als er ständig neuen sozialen
    Verhandlungsprozessen ausgesetzt ist. Dabei müssen individuelle und kollek-
    tive Rechtsgüter permanent neu bewertet werden. Öffentliche Debatten über
    das Kruzifix in Schulen, das Schächten von Tieren oder das Tragen von Klei-
    dung mit religiöser Symbolik in öffentlichen Funktionen sind Beispiele für diese
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft               8

    Art von gesellschaftlichen Verhandlungsprozessen, wie sie die deutsche Öffent-
    lichkeit in den vergangenen Jahren erlebt hat. Hierbei müssen auch die Grenze
    zwischen den in modernen Gesellschaften funktional getrennten normativen
    Feldern des Rechts und der Moral immer wieder neu festgelegt werden.
       In diesen Verhandlungsprozessen melden sich zunehmend Bevölkerungs-
    gruppen mit Migrationshintergrund zu Wort. Dies gilt insbesondere für Staa-
    ten, in denen die Einwanderung zu einer Erhöhung der religiösen Vielfalt nati-
    onaler Gesellschaften geführt hat, und dabei spielen wiederum Muslime eine
    herausragende Rolle. Mit Bezug auf die muslimischen Minderheiten in Europa
    stellt sich daher die Frage, ob der Islam in der Lage sei, sich den zuvor genann-
    ten Herausforderungen der säkularen Gesellschaft zu stellen. An dieser Frage
    scheiden sich die Geister. Ich persönlich vertrete die Auffassung, dass Islam
    und säkularer Gesellschaft nicht prinzipiell unvereinbar sind, solange man
    nicht der Auffassung islamistischer Ideologen folgt, für die der „wahre Islam“
    ein holistisch gedachtes soziales und religiöses System darstellt.
       Im Gegensatz zu den islamistischen Dogmen und den Axiomen über einen
    vermeintlich überhistorischen Islam, welche oft auch die öffentliche Debatte
    über Islam und Politik in Europa bestimmen, kennt auch die islamische Ge-
    schichte verschiedene Formen von säkularen Entwicklungspfaden. So diskutier-
    ten z.B. schon die islamischen Rechtsgelehrten des Mittelalters die Frage einer
    Trennung zwischen rechtlicher und moralischer Sphären. Das Rechtswesen des
    Osmanischen Reichs, um ein anderes Beispiel zu erwähnen, folgte keineswegs
    allein den „Gesetzen“ der Scharia. In weiten Bereichen galt unter dem Begriff
    kanun staatliches Recht, welches der absolutistischen legislativen Gewalt des
    osmanischen Sultans entsprang. Wie zuvor schon angedeutet, hat die post-
    revolutionäre Verschmelzung von Religion und Politik im Iran dazu geführt,
    das religiöse und säkulare iranische Intellektuelle intensiv die Frage eines insti-
    tutionellen Säkularismus diskutieren, gerade um auf der individuellen Ebene
    die Freiheit des Glaubens und auf gesellschaftlicher Ebene die relative Auto-
    nomie der schiitischen Gelehrsamkeit zu bewahren. In der Türkei, um ein letz-
    tes Beispiel zu erwähnen, haben religiöse Gelehrte die Herausforderung mo-
    derner säkularer Wissenschaft angenommen und arbeiten an einer zeitgemä-
    ßen, historisch-hermeneutischen Auslegung des Korans und der islamischen
    Traditionen. Letzten Endes verweist auch die ganze Diskussion um einen soge-
    nannten „Euro-Islam“ darauf, dass sich die europäischen Muslime den Heraus-
    forderungen der säkularen Gesellschaft zu stellen bereit scheinen.
      Zweifel an der Vereinbarkeit von Islam und säkularer Gesellschaft können nur
    dann aufkommen, wenn man den Islam als eine strikte Gesetzesreligion auffasst,
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft                  9

    deren in der Scharia zusammengefassten Normen sich dem historischen und sozi-
    alen Wandel widersetzen. Bei der Scharia handelt es sich jedoch nicht um eine mit
    dem modernen Rechtsbegriff zu erfassende Ordnung, sondern um religiös defi-
    nierte normative Prinzipien, deren moralische Verbindlichkeit für den gläubigen
    Muslim aber außer Frage steht. Dabei bedürfen diese religiösen Prinzipien immer
    der Interpretation, eine Tatsache, welche in der Entwicklung der islamischen Juris-
    prudenz ihren historischen Ausdruck fand. Fragt man daher nach der Vereinbar-
    keit von islamischem Recht und säkularer Gesellschaft, so stellt man nicht die Fra-
    ge nach dem Wesen der Scharia, sondern danach, wer in der jeweiligen Gesell-
    schaft über die Interpretationsmacht verfügt, die zu ihrer Auslegung unumgäng-
    lich erforderlich ist. Diese Interpretation der Scharia ist in einer säkularen Gesell-
    schaft selbstverständlich nicht die Aufgabe von staatlichen Institutionen. Auch
    kann keine Form ihrer Interpretation den Anspruch hegen, für alle Muslime oder
    gesamte Gesellschaften verbindlich zu sein. Dem individuellen Muslim jedoch ist
    es frei gestellt, den Islam als einen persönlich verbindlichen und allumfassenden
    „way of life“ zu wählen.
       Die säkulare Gesellschaft ist in der Tat ein Produkt der Moderne, sie stellt
    aber keineswegs die einzige Erscheinungsform moderner Gesellschaften dar.
    Ich definiere sie über einen religiösen Pluralismus, der Raum gibt für den Glau-
    ben an den einen Gott, aber auch für den Glauben an eine Vielzahl von Göttern.
    Die spezifische Differenz der säkularen zur nicht-säkularen Gesellschaft ist aber
    das Recht auf Gottlosigkeit und damit der Verzicht auf einen religiösen Kon-
    sens in der Gesellschaft. Dadurch verfügt der religiöse Mensch über weitge-
    hende individuelle Freiheitsrechte in Bezug auf seinen Glauben, muss diesen
    aber in ständiger Herausforderung durch andere religiöse und nicht-religiöse
    Lebensentwürfe leben. Die Sanktionsgewalt über die Einhaltung von religiösen
    Normen wird von öffentlichen auf transzendente Institutionen übertragen; im
    persönlichen Bereich kann das Individuum nach religiösem Gesetz leben, als
    Bürger muss es dem formalen Recht folgen. Dies setzt eine Trennung zwischen
    religiösen und gesellschaftlichen Verpflichtungen voraus, die die islamische
    Rechtsphilosophie unter den Kategorien ibadat und muamalat behandelt, und
    die im historisch konkreten Fall durch gesellschaftliche Verhandlungen immer
    wieder neu festgelegt werden muss. Muslime, die in einer säkularen Gesell-
    schaft leben, müssen diese Herausforderungen annehmen, was Traditionalisten
    und Islamisten zweifelsohne schwerfällt. Allerdings verfügen diese nicht über
    einen Alleinvertretungsanspruch bezüglich der Interpretation islamischer Tra-
    ditionen. Die Vielseitigkeit dieser Interpretationen hat die moderne Entwick-
Dietrich Jung: Gott, Götter, Gottlosigkeit. Islam und säkulare Gesellschaft            10

    lung in der islamischen Welt gezeigt, die mit Reformern wie den eingangs er-
    wähnten Muhammad Abduh ihren Anfang nahm.

    Literatur
    Dan Diner: Versiegelte Zeit. Über den Stillstand in der islamischen Welt (Berlin
    2005).
    Dietrich Jung: Islam and Politics: A Fixed Relationship? In: Critique: Critical
    Middle Eastern Studies, Vol. 16 (2007).
    Mark Sedgwick: Muhammad Abduh (Oxford 2010).
Sie können auch lesen