WAHLEN UND DEMOKRATIE VERSUS SCHARIA? - SALAFISMUS UND DIE TEILHABE AM POLITISCHEN LEBEN IM WESTEN - FODEX
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Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen Mahmud El-Wereny D Einleitung pheten Muhammad (gest. 632), deduziert. Da für die Normendeduktion weitere rechtstheo- ie Scharia stellt nach retische Methoden und Instrumente eingesetzt allgemeiner muslimischer werden, die je nach Zeitgeist und Lebensum- Auffassung die vollkom- ständen der Menschen variieren, fallen die Be- mene Ordnung Gottes dar, wertungen ein und derselben Handlung nicht die Gerechtigkeit, Wohl- selten verschieden aus. Dies führte durch die ergehen und Frieden für gesamte islamische Rechtsgeschichte hindurch, alle Menschen schafft. Als insbesondere im Zeitraum zwischen dem 8. holistisches Gebilde regelt und dem 9. Jahrhundert n. Chr., zur Entwick- sie alle Belange des Lebens, sprich die Glau- lung einer Systematik der Scharia und zur bensfragen ( ʿaqīda), die rituelle Praxis ( ʿibādāt) Entstehung zahlreicher Rechtsschulen.1 sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen (mu ʿāmalāt). Dennoch existiert die Scharia nicht in Form eines Gesetzbuches, das Musli- 1 Vgl. weiterführend dazu z. B. Rohe, Mathias: Das isla- men genaue Anweisungen für alle Fragen des mische Recht. Geschichte und Gegenwart, München Lebens gäbe. Religiöse bzw. rechtliche Bestim- 2011, S. 9 ff. und El-Wereny, Mahmud: Normenlehre mungen werden vielmehr grundsätzlich aus des Zusammenlebens: Religiöse Normenfindung für den islamischen Grundtexten, dem Koran und Muslime im Westen. Theoretische Grundlagen und der Sunna (Sprüche und Handlungen) des Pro- praktische Anwendung, Frankfurt a. M. 2018, S. 15 ff. El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 48
Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia? Von der Überzeugung getragen, dass die Scha- Auch einschlägige, deutschsprachige und via ria alle Belange des Lebens abdecke, legen Internet verbreitete Propaganda-Videos werden viele Muslime Wert darauf, ihr Leben nach den Beachtung finden; ein Indiz für deren Relevanz Vorschriften der Scharia auszurichten. Vie- kann die These deutscher Sicherheitsbehörden le zeitgenössische Islamgelehrte, die sich mit darstellen, denen zufolge digitale Medien eine der Frage der Ableitung von Scharianormen „große Rolle“ bei der Radikalisierung vor allem beschäftigen, setzen sich daher dafür ein, die junger Menschen spielen.5 islamischen Quellentexte zeitgemäß zu inter- bzw. zu reinterpretieren und sie den Heraus- forderungen der Moderne anzupassen, um den Muslimen ein schariakonformes Leben zu er- Salafisten – Begriffsbestimmung möglichen und den Islam mit modernen politi- schen Ideen wie Demokratie, Menschenrechten Bevor wir uns nun der Frage nach Salafismus und Gleichberechtigung von Mann und Frau in und Demokratie zuwenden, sei zunächst der Einklang zu bringen.2 Andere Gelehrte salafis- hier verwendete Begriff der „Salafisten“ näher tischer Prägung orientieren sich hingegen am bestimmt. Man unterscheidet im Großen und Wortlaut der Islamquellen und wollen ihr Leben Ganzen zwischen drei Typen von Salafisten: nach dem Lebensstandard der muslimischen Puristen bzw. Quietisten, politischen Salafisten Frühgemeinde der ersten drei Generationen und salafistischen Dschihadisten. Die Puristen ausrichten.3 lehnen politischen Aktivismus und die An- wendung von Gewalt strikt ab und plädieren Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht für die geistige Beschäftigung mit religiösen die Frage, wie salafistisch orientierte Gelehrte Fragen. Die Gesellschaft wollen sie eher durch und Prediger zur Demokratie und zur politi- persönliche Frömmigkeit und individuelles schen Partizipation von Muslimen im Westen frommes Handeln verändern, um ihr Ziel, ein stehen und wie sie ihre Position zu rechtferti- islamisches Gemeinwesen zu begründen, peu gen suchen. Hierfür werden vor allem die on- à peu zu verwirklichen. Zu diesem Zweck set- line kursierenden Ansichten namhafter zeitge- zen sie sich stark für Missionsarbeit (da ʿwa) nössischer Autoren aus Saudi-Arabien – dem ein. Zwar verfolgen sie keine aktive politische Ursprungsland des Salafismus4 – herangezogen. Agenda gegen den demokratischen Rechts- staat, aber sie stehen der parlamentarischen Demokratie zurückhaltend gegenüber. Auf 2 Vgl. z. B. Krämer, Gudrun: Demokratie im Is- diesem Wege wollen sie den Islam und dessen lam: Der Kampf für Toleranz und Freiheit in vermeintlich universale und ewig gültige Ord- der arabischen Welt, München 2011 und dies.: nung von kompromissbasierter Politik – aus Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitge- ihrer Perspektive – rein halten.6 nössischer Muslime zu Islam, Menschenrech- ten und Demokratie, Baden-Baden 1999. 3 Nach Nedza besteht kein Konsens darüber, welche Zeitspanne genau diese drei Generationen, etwa 5 Vgl. z. B. Niedersächsisches Ministerium für Inneres zwischen dem sechsten und dem neunten Jahr- und Sport, Abteilung Verfassungsschutz (Hrsg.): Sa- hundert n. Chr., umfasst. Vgl. dazu Nedza, Justyna: lafismus: Erscheinungsformen und aktuelle Entwick- „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung ei- lungen, Hannover 2017, S. 20 ff. sowie Bundesamt für ner Analysekategorie, in: Said, Behnam T. / Fouad, Verfassungsschutz (Hrsg.): Islamismus: Entstehung Hazim (Hrsg.): Salafismus: auf der Suche nach dem und Erscheinungsformen, Köln 2013, S. 15 u. S. 28 ff. wahren Islam, Bonn 2014, S. 80–106, hier, S. 97 f. 6 Diese Gruppe bezeichnet der Islamwissenschaftler 4 Siehe dazu Steinberg, Guido: Saudi-Arabi- Joas Wagemakers als Quietisten und unterschie- en: Der Salafismus in seinem Mutterland, det zwischen drei Typen quietistischer Salafisten: in: Said / Fouad: Salafismus,, S. 265–297. den „Distanzierten“, die Distanz zur Politik wahren; El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 49
Demokratie-Dialog 2-2018 Die politischen Salafisten machen Politik. Sie Wahlen und Demokratie aus streben ein gottgefälliges, schariakonformes salafistischer Sicht Staatssystem an und lehnen alle Staatsformen ab, die ihrer Auffassung nach der Scharia wi- Im Internet finden sich unzählige Beispiele dersprechen. Diese Gruppe, welche die Islam- salafistischer Propaganda, seien es Videos oder wissenschaftlerin Nina Wiedl im deutschen Schriften. Sie beschäftigen sich u. a. mit Wah- Kontext als „Mainstream-Salafismus“ bezeich- len als Mittel politischer Partizipation sowie net, ist der politischen Ideologie des Islamis- der Idee der Demokratie und haben inhaltlich mus zuzuordnen. Die salafistischen Dschiha- große Schnittmengen.8 Die propagandistischen disten lehnen sowohl Missionsarbeit als auch Abhandlungen werden meist in der Form einer politische Aktivitäten in bestehenden staatli- „Fatwa“ präsentiert. Eine Fatwa ist ein religi- chen Strukturen als Strategie für die Wiederer- öses Rechtsgutachten und wird in der Regel richtung eines islamischen Gemeinwesens ab. von einer muslimischen Autorität auf Anfra- Der Dreh und Angelpunkt ihrer Ideologie ist die ge eines um Rat ersuchenden Mitgliedes der Anwendung von Gewalt. Darin sehen sie den muslimischen Gemeinde erstellt. Fatwas sind einzigen Weg zu dem ihnen vorschwebenden nicht wie ein Gerichtsurteil rechtsverbindlich, Staatswesen.7 Wenn im Folgenden die Rede genießen aber bei vielen Muslimen besonde- von Salafisten ist, so werden darunter grund- re Beachtung und werden als Wegweiser und sätzlich Angehörige der ersten beiden Gruppen Orientierung für ein schariagerechtes Leben verstanden. angesehen. Nach dem Verständnis der Sa- lafisten geben der Koran, die Sunna und die Lebensweise der ‚frommen Altvorderen‘ (as-sa- laf aṣ-ṣāliḥ) ein Idealbild einer sozioökono- mischen und politischen Ordnung vor – eine ganzheitliche Ordnung, die unabhängig von den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten durchgesetzt werden sollte. Demnach sehen die Salafisten in Gott die höchste universale Auto- den „Loyalisten“, die eine aktive Teilnahme an der rität in allen Angelegenheiten; ihm allein stehe Politik befürworten, aber nur wenn es um die Un- das Recht zu, nicht nur über religiöse, sondern terstützung muslimischer Staatssysteme geht, und auch über politische Belange zu entscheiden. den „Propagandisten“, die religiös-politische Regime Stellte man dies infrage oder hielte man sich parteilich unterstützen, vor allem das in Saudi Ara- bien. Vgl. Wagemakers, Joas: Salafistische Strömun- an die von Menschen gemachten Entscheidun- gen und ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität gen und Gesetze, so verstieße man gegen die und Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 58 ff. Allmacht Gottes – ein von Salafisten wie auch von einigen anderen islamistischen Gruppen 7 Vgl. El-Wereny, Mahmud: Salafiyya, Salafismus und Islamismus: Verhältnisbestimmung und Ideologie- politisch verstandenes Konzept, die sogenann- merkmale, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1, te Herrschaft Gottes (ḥākimīyat Allāh), das die S. 32–40; Steinberg, Guido: Wer sind die Salafis- ten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden und sich politisierenden Bewegung, in: SWP-Ak- tuell, 28.05.2012, URL: https://www.swp-berlin.org/ 8 Vgl. z. B. URL: https://www.youtube.com/watch?- fileadmin/contents/products/aktuell/2012A28_sbg. v=I_PaI6SKJIA; https://www.youtube.com/watch?- pdf [eingesehen am 25.12.2017], S. 2 ff.; Wiedl, Nina: v=cDOeGIR3Lew; https://www.youtube.com/ Geschichte des Salafismus in Deutschland, in: watch?v=7O0FiY8vDig und URL: http://www.kalifat. Said / Fouad: Salafismus, S. 411–442, hier S. 413 ff. und org/islam-und-demokratie_d494.html [einge- Wagemakers, Joas: Salafistische Strömungen und sehen am 25.12.2017]. Bei den in diesen Videos ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität und gezeigten Personen handelt es sich um füh- Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 57 ff. rende Köpfe des Salafismus in Deutschland. El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 50
Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia? Grundlage für die Ablehnung demokratischer was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat, Ordnungsvorstellungen bildet.9 sind die wahren Ungläubigen.“12 Vor diesem Hintergrund bewerten salafisti- Politische Systeme im Westen basieren nach sche Autoritäten wie etwa Ibn Bāz10, von dem dieser Auffassung auf Unglauben, da das zahlreiche Fatwas in deutscher Sprache auf Parlament anstelle Gottes die gesetzgebende dem reichweitenstarken Internetportal islam- Funktion einnehme. Würde man an Präsident- fatwa.de übersetzt vorliegen,11 die Beteiligung schafts- oder Parlamentswahlen teilnehmen an einer Wahl oder am politischen Leben im oder eine Partei unterstützen, sei dies eine Generellen, in dem nicht nach Vorschriften der Art Bevollmächtigung zum Vollzug verbotener Scharia geurteilt und gelebt wird, als Abfall Handlungen; denn bei der Wahl eines Kan- vom Glauben. Denn auf diesem Wege werde didaten handele es sich nicht bloß um eine Gott als souveräner Herrscher und obers- Personenwahl, sondern um die Wahl eines te Autorität abgelöst und den Menschen die politischen Programms, das schariawidrige Herrschaft überlassen. Zur Rechtfertigung der Grundsätze beinhalte und somit der Salafisten Gottesherrschaft dienen Belege aus dem Koran vorschwebenden Staatsordnung widerspricht. und der Sunna, die jedoch aus ihrem Kontext Die Mehrheit der Salafisten erachtet es dem- herausgerissen werden, wie z. B. folgender Vers: nach als verboten, sich politisch zu engagie- „Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden, ren oder an Wahlen teilzunehmen. Keinesfalls dürften politische Agenden unterstützt werden wie bspw. die gleichgeschlechtliche Ehe, denn dies sei mit den Werten des Islams nicht ver- einbar.13 9 Siehe zum Konzept der ḥākimīya statt vieler 12 Koran 5:44. z. B. al-Munağğid: „Ḥukm ad-dīmuqrāṭīya Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesell- wa-l-intiḫābāt wa-l- ʿamal fī anẓimatihā“, unter: schaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid URL: https://islamqa.info/ar/107166; URL: https:// Qutb und seine Rezeption, Würzburg 2003. www.youtube.com/watch?v=I_PaI6SKJIA und URL: 10 ʿAbd al- ʿAzīz Ibn Bāz ist einer der populärsten http://www.kalifat.org/islam-und-demokratie_d494. und einflussreichsten Rechtsgelehrten des sun- html [eingesehen am 23.12.2017]. Zu den weiteren nitischen Islam und wird heute als Leitfigur des erwähnten Koranstellen in diesem Zusammen- puristisch-traditionalistischen Salafismus an- hang zählen u. a.: „Gottes Urteil ist fürwahr das gesehen. Neben seinen zahlreichen staatlichen beste; das erkennen nur die Menschen, die von Funktionen fungierte er von 1992 bis zu seinem Gottes Gerechtigkeit (innerlich) überzeugt sind.“ Tode 1999 als Großmufti Saudi-Arabiens. Seine (5:50); „Diejenigen, die nicht nach dem entschei- Fatwas und Predigten wurden sowohl in diver- den, was Gott (als Offenbarungsschrift) herab- sen Printmedien als auch online veröffentlicht gesandt hat, sind die (wahren) Frevler.“ (5:47). und sind daher einem breiten Publikum zu- 13 Vgl. URL: https://islamqa.info/ar/118135 [eingesehen gänglich. Vgl. URL: https://www.binbaz.org.sa/ am 23.12.2017]. Ähnliche Position vertreten Anhän- life-article/256 [eingesehen am 15.01.2018]. ger der Hizb-ut-Taḥrīr – einer dem Islamismus 11 Die Website Islamfatwa.de ist eine deutschspra- zuzurechnenden Partei, die in Deutschland auf- chige Fatwa-Datenbank salafistischer Prägung. grund ihrer Befürwortung der Gewaltanwendung für Die Mehrzahl der dort erstellten Rechtsgutachten die Durchsetzung ihrer Ziele, der Wiedererrichtung stammt von Gelehrten saudi-arabischer Herkunft. des islamischen Kalifats, 2003 verboten wurde. In Vgl. URL: https://islamfatwa.de/gelehrte [einge- ihrer online verfügbaren Abhandlung zur politi- sehen am 15.01.2018]. In der deutschen Version schen Partizipation im Westen werden alle poli- der Google-Suchmaschine wird die Seite den tischen Aktivitäten in den bestehenden Staaten Nutzern als erstes muslimisches Angebot, um aus schariarechtlicher Sicht für strikt verboten sich über Fatwas zu informieren, angezeigt. erklärt. Vgl. Hizb-ut-Tahrir in Europa (Hrsg.): Die El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 51
Demokratie-Dialog 2-2018 Die salafistische Ablehnung der Demokratie Islam infrage stellen. Im Kontext der politischen geht Hand in Hand mit dem „Glauben an Gott“ Ideologie der Salafisten wird kufr auf alle (tauḥīd): Man unterscheidet im islamisch-theo- Handlungen übertragen, die den Absolutheits- logischen Sinne zwischen tauḥīd al-rubūbiyya, anspruch der Scharia konterkarieren oder die d. h. dem Glauben an Gott als alleinigen Schöp- demokratisch verfassten Systeme unterstützen. fer, und tauḥīd al-ulūhiyya, d. h. die alleinige Folgerichtig werden säkulare Verfassungen wie Anbetungswürdigkeit Gottes. Dieses theologi- auch die „Allgemeine Erklärung der Menschen- sche Grundprinzip wird von Salafisten politisch rechte“ gleichermaßen als kufr gebrandmarkt.16 instrumentalisiert. Sie interpretieren tauḥīd al-rubūbiyya dahin gehend, dass Gott eine ab- Eng verknüpft mit der Debatte über die aus solute, d. h. auch eine politische und gesetzge- salafistischer Sicht postulierte Unzulässigkeit bende Gewalt zukomme. Der Mensch habe sich einer politischen Partizipation der im Westen dem zu unterwerfen und dieses Verständnis lebenden Muslime ist die Frage nach deren des tauḥīd stets aufrechtzuerhalten. Der tauḥīd Haltung gegenüber dem Staat und dessen Ge- alulūhiyya wiederum impliziert, dass allein setzen: Wie sollen sich diese Muslime stattdes- Gottes Herrschaft und Gesetz gelten müssten, sen verhalten? Muslimen, die sich für ein dau- was die Ablehnung demokratischer Syste- erhaftes Leben außerhalb islamisch geprägter me mit sich bringt. Nach diesem Verständnis Gesellschaften entscheiden, wird auferlegt, sich stellt es einen eindeutigen Verstoß gegen den von sämtlichen als unislamisch stigmatisierten tauḥīd dar, wenn man schariawidrige Verfas- politischen Systemen loszusagen. Gesetze seien sungsordnungen und Gesetze anwendet oder nur im Notfall zu akzeptieren, d. h. nur dann, jedwede Form von Demokratie akzeptiert.14 wenn man keine andere Alternative habe. In Diese Ideologie hat zur Folge, dass Muslime, diesem Zusammenhang dient das Prinzip des welche die Demokratie befürworten oder an sogenannten al-walāʾ wa-l-barāʾ („Loyalität und demokratischen Prozessen teilnehmen, für un- Lossagung“) als zentrale argumentative Grund- gläubig (kāfir) erklärt werden.15 lage. Wenngleich diese Doktrin in erster Linie theologischer Natur ist und sich vor allem auf Der Begriff kāfir („Ungläubige“) oder kufr („Un- das Verhalten gegenüber Gott, seinem Prophe- glaube“) ist ebenfalls in erster Linie theolo- ten und anderen Mitmenschen bezieht, wird gischer Natur, wird aber auch politisch inst- sie von Salafisten politisch ausgelegt und ihre rumentalisiert: Ursprünglich bezeichnet er die Umsetzung den Gläubigen zur Pflicht gemacht. Gegner des Propheten Muḥammad bzw. Men- Sie erklären die Loyalität zu westlichen – aus schen, welche die Einheit Gottes im theologi- ihrer Sicht schariawidrigen – Staatssystemen schen Sinne oder grundlegende Prinzipien des für verboten, da nur Gott allein das Recht auf Gesetzgebung zustehe. Jegliche Form von Demokratie oder Rechtsstaat wird, weil sie politische Partizipation im Westen und der diesbe- dieser Grundidee widerspricht, als unislamisch zügliche Rechtsspruch des Islam. 1423 / 2002, URL: betrachtet, und die Lossagung von diesen http://www.hizb-ut-tahrir.info/info/files/German/ politischen Systemen wird propagiert. Musli- Books/die_politische_partizipation_im_westen. me, die ein Mehrparteiensystem befürworten pdf [eingesehen am 03.01.2018]., S. 10 f. u. S. 38. oder sich in diesem engagieren, machen sich 14 Siehe ausführlich dazu Farschid, Olaf: Salafis- gemäß dieser Meinung unzulässiger Loyalität mus als politische Ideologie, in: Said / Fouad: gegenüber politischen Führern schuldig und Salafismus, S. 160–193, hier S. 168 f. seien somit keine wahren Muslime. Was die 15 Vgl. ebd., S. 172 f., URL: https://www.youtu- Menschen verbinde, sei weder das Blut noch be.com/watch?v=7O0FiY8vDig sowie ht- tps://www.youtube.com/watch?v=YMde- GenYIpk [eingesehen am 27.12.2017]. 16 Vgl. Farschid: Salafismus, S. 170. El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 52
Mahmud El-Wereny | Wahlen und Demokratie versus Scharia? die Schwägerschaft noch das Land noch die der Kandidat nicht muslimischen Glaubens sei. Heimat noch die Sprache, sondern allein der Von diesem Wege erhofft man sich, ein posi- Glaube. Gestützt darauf erachten Salafisten tives Bild des Islams zu vermitteln und dessen es als Pflicht eines jeden Muslims, einerseits Kompatibilität mit den Werten und Gesetzen gegenüber Gott, seinem Gesandten und den der Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen.19 muslimischen Gläubigen bedingungslos loyal Anderen Intellektuellen wie etwa dem Schwei- zu sein und sich andererseits von allen nicht zer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan geht durch die Scharia legitimierten Staatsformen es nicht allein um den Nutzen der Muslime. sowie – auf sozialer Ebene – von privaten Nach seinem Verständnis sollten sich Muslime Kontakten mit Nicht-Muslimen loszusagen.17 am politischen Leben und Debatten konst- ruktiv beteiligen, und zwar aus einem Gefühl Im Gegensatz zu den Salafisten propagieren der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft viele andere zeitgenössische Autoren und heraus. Dazu schreibt er: Rechtsgelehrte, die oft dem islamistischen „Europäer muslimischen Glaubens haben ent- Spektrum zugeordnet werden,18 die Teilnah- sprechend jener Prinzipien zu wählen, denen me von Muslimen am politischen Leben im sie nach Gewissen und Verstand verpflichtet Westen. Eine solche Partizipation wird von sind, und nicht nach Kriterien ethnischer oder ihnen nicht nur als erwünscht, sondern sogar religiöser Identität […]. Der muslimische Glaube als geboten verstanden. Dabei geht es aller- verpflichtet unser Gewissen und die demokrati- dings weder darum, sich zu den demokrati- sche Vernunft gebietet unserem Verstand, dass die Entscheidung bei Wahlen nach der Aufrich- schen Prozessen in der Gesellschaft in Gänze tigkeit und Kompetenz des Kandidaten getroffen zu bekennen, noch darum, aktiv im Dienste werden, ob er nun Muslim ist oder nicht.“20 der gesamten Gesellschaft zu wirken. Vielmehr wird das Hauptaugenmerk auf die Muslime im Westen gerichtet und auf die Frage, wie man durch den Gebrauch des Wahlrechts und ande- Fazit re Aktivitäten den Nutzen für die muslimische Bevölkerung mehren kann. Nach dieser Auffas- Dreh- und Angelpunkt der politischen Ideolo- sung sollen Muslime ihre Stimmen nutzen, um gie der Salafisten ist die ḥākimīyat Allāh, die gesellschaftliche und politische Entscheidun- absolute Herrschaft Gottes. Dabei gelten der gen im Dienste der muslimischen Minderheiten Koran und die Sunna als allumfassende Gesell- herbeizuführen. Mit politischem Aktivismus ist schaftsordnung, ungeachtet des zeitlichen oder nicht nur die Stimmabgabe gemeint, sondern örtlichen Kontextes. Jedwede Ordnung und auch die Bildung politischer Parteien, die jedwedes Recht, die durch Menschen in poli- Mitgliedschaft in diesen sowie die Kandidatur tischen Prozessen herbeigeführt wurden, sind für politische Ämter. Muslime dürften zudem, für Salafisten null und nichtig, Demokratie und wenn dies im Nutzen der Muslime liege, Wah- len und Kampagnen finanzieren, auch wenn 19 Vgl. al- ʿUṯaimīn: „Ḥukm al-mušārka fī l-intiḫābāt“, URL: https://www.youtube.com/watch?v=u7hgfceIjb4; 17 Vgl. dazu Wagemakers: Salafistische Strömungen, ähnlich URL: http://www.alukah.net/sharia/0/98042/, S. 50 ff. sowie URL: https://islamfatwa.de/sozia- in englischer Sprache unter https://islamqa.info/ le-angelegenheiten/150-muslime-in-nicht-mus- en/111898 sowie https://www.youtube.com/watch?- limischen-laendern/760-gerichtsverfah- v=cDOeGIR3Lew [eingesehen am 27.12.2017]. ren-vor-kuffar- [eingesehen am 23.12.2017]. 20 Siehe statt vieler Ramadan, Tariq: Muslim- 18 Vgl. z. B. Wendelin Wenzel-Teuber: Islamische sein in Europa. Untersuchung der islami- Ethik und moderne Gesellschaft im Islamis- schen Quellen im europäischen Kontext, Köln mus von Yusuf al-Qaradawi, Hamburg 2005. 2001 und El-Wereny: Normenlehre, S. 221 ff. El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 53
Demokratie-Dialog 2-2018 Wahlen werden abgelehnt. Zuwiderhandlungen Vielmehr sei es die Aufgabe der Menschen, gelten als Verstoß gegen die Allmacht und sich selbst je nach zeitlichen und örtlichen die Autorität Gottes. Allein die Teilnahme an Umständen eine Verfassung und Gesetze zu einer freien Wahl wird als Abfall vom Glauben geben. (kufr) verstanden und mit Polytheismus (širk) gleichgesetzt. Die salafistische Ideologie basiert Um die von Sicherheitsbehörden aufgestellte auf einer rigiden, buchstabengetreuen Inter- These, salafistische Internetangebote stellten pretation der Quellentexte ohne Rücksicht auf einen Weg zur islamistischen Radikalisierung die Lebensumstände oder historische Entwick- junger Menschen dar, zu verifizieren oder zu lungen. Während ein Großteil der Salafisten der falsifizieren, braucht es einerseits empirische Beteiligung an Wahlen oder an demokratischen Forschung, die der Frage nachgeht, ob und Systemen ablehnend gegenüber steht, urteilen inwieweit im Internet verbreitete salafistische viele andere Autoren, die dem islamistischen Propaganda von Muslimen in Deutschland Spektrum zuzuordnen sind, dass man wählen rezipiert wird. Dabei wäre es geboten, die der gehen solle, um das kleinste Übel zu wählen Radikalisierung zugrunde liegenden Inhalte, die und den Muslimen im Westen einen Vorteil Prädispositionen der jungen Menschen und zu verschaffen. Wiederum andere muslimische deren gesellschaftlich-objektive Bedingungen zeitgenössische Theologen und Intellektuelle zu hinterfragen. Andererseits bedarf es auch vertreten die Auffassung, dass sich Muslime der Debatte über den Begriff der „Radikalisie- des Westens in die Aufnahmegesellschaft in- rung“. Versteht man unter Radikalisierung die tegrieren und an den politischen Debatten des Beeinflussung mittels demokratiefeindlicher Landes beteiligen sollten. Sie sind der Ansicht, Darstellungen und Meinungen, können sala- dass Gott keine holistische, absolute Gesell- fistische Internetangebote, wie oben gezeigt, schaftsordnung vorherbestimmt habe. durchaus als Quelle islamistischer Radikali- sierung bewertet werden. Versteht man unter Radikalisierung die Förderung gewaltbefürwor- tender Auffassungen sowie den Aufruf zur Ver- übung terroristischer Anschläge zur Durchset- zung der göttlichen Ordnung, kann dies nicht pauschal bestätigt werden. Als gewaltbereit sind ohne weitere Überprüfung lediglich die salafistischen Dschihadisten einzustufen. Um dies in Bezug auf andere salafistische Gruppen zu prüfen, wird eine ausführliche Auseinander- setzung mit ihren Ansichten zur Gewaltanwen- dung vonnöten sein. Dr. Mahmud El-Wereny, geb. 1984, ist seit 2017 wissenschaftlicher Mitar- beiter der Forschungsstelle zur Analyse politischer und religiöser Extremismen in Niedersachsen am Institut für Demokratieforschung der Universität Göttingen. Er lehrt und forscht zu folgenden Schwerpunkten: Politischer Islam, Salafis- mus, islamisches Recht und schiitischer Islam. El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54. 54
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