WAHLEN UND DEMOKRATIE VERSUS SCHARIA? - SALAFISMUS UND DIE TEILHABE AM POLITISCHEN LEBEN IM WESTEN - FODEX

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Wahlen und
                                                                                                Demokratie
                                                                                                versus Scharia?
                                                                                                Salafismus und die Teilhabe am
                                                                                                politischen Leben im Westen

                                                                                                Mahmud El-Wereny

          D
                                           Einleitung                                   pheten Muhammad (gest. 632), deduziert. Da
                                                                                        für die Normendeduktion weitere rechtstheo-
                                  ie Scharia stellt nach                                retische Methoden und Instrumente eingesetzt
                                  allgemeiner muslimischer                              werden, die je nach Zeitgeist und Lebensum-
                                  Auffassung die vollkom-                               ständen der Menschen variieren, fallen die Be-
                                  mene Ordnung Gottes dar,                              wertungen ein und derselben Handlung nicht
                                  die Gerechtigkeit, Wohl-                              selten verschieden aus. Dies führte durch die
                                  ergehen und Frieden für                               gesamte islamische Rechtsgeschichte hindurch,
                                  alle Menschen schafft. Als                            insbesondere im Zeitraum zwischen dem 8.
                                  holistisches Gebilde regelt                           und dem 9. Jahrhundert n. Chr., zur Entwick-
             sie alle Belange des Lebens, sprich die Glau-                              lung einer Systematik der Scharia und zur
             bensfragen ( ʿaqīda), die rituelle Praxis ( ʿibādāt)                       Entstehung zahlreicher Rechtsschulen.1
             sowie die zwischenmenschlichen Beziehungen
             (mu ʿāmalāt). Dennoch existiert die Scharia
             nicht in Form eines Gesetzbuches, das Musli-
                                                                                        1    Vgl. weiterführend dazu z. B. Rohe, Mathias: Das isla-
             men genaue Anweisungen für alle Fragen des
                                                                                             mische Recht. Geschichte und Gegenwart, München
             Lebens gäbe. Religiöse bzw. rechtliche Bestim-                                  2011, S. 9 ff. und El-Wereny, Mahmud: Normenlehre
             mungen werden vielmehr grundsätzlich aus                                        des Zusammenlebens: Religiöse Normenfindung für
             den islamischen Grundtexten, dem Koran und                                      Muslime im Westen. Theoretische Grundlagen und
             der Sunna (Sprüche und Handlungen) des Pro-                                     praktische Anwendung, Frankfurt a. M. 2018, S. 15 ff.

 El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

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Mahmud El-Wereny  |  Wahlen und Demokratie versus Scharia?

       Von der Überzeugung getragen, dass die Scha-                              Auch einschlägige, deutschsprachige und via
       ria alle Belange des Lebens abdecke, legen                                Internet verbreitete Propaganda-Videos werden
       viele Muslime Wert darauf, ihr Leben nach den                             Beachtung finden; ein Indiz für deren Relevanz
       Vorschriften der Scharia auszurichten. Vie-                               kann die These deutscher Sicherheitsbehörden
       le zeitgenössische Islamgelehrte, die sich mit                            darstellen, denen zufolge digitale Medien eine
       der Frage der Ableitung von Scharianormen                                 „große Rolle“ bei der Radikalisierung vor allem
       beschäftigen, setzen sich daher dafür ein, die                            junger Menschen spielen.5
       islamischen Quellentexte zeitgemäß zu inter-
       bzw. zu reinterpretieren und sie den Heraus-
       forderungen der Moderne anzupassen, um den
       Muslimen ein schariakonformes Leben zu er-                                Salafisten – Begriffsbestimmung
       möglichen und den Islam mit modernen politi-
       schen Ideen wie Demokratie, Menschenrechten                               Bevor wir uns nun der Frage nach Salafismus
       und Gleichberechtigung von Mann und Frau in                               und Demokratie zuwenden, sei zunächst der
       Einklang zu bringen.2 Andere Gelehrte salafis-                            hier verwendete Begriff der „Salafisten“ näher
       tischer Prägung orientieren sich hingegen am                              bestimmt. Man unterscheidet im Großen und
       Wortlaut der Islamquellen und wollen ihr Leben                            Ganzen zwischen drei Typen von Salafisten:
       nach dem Lebensstandard der muslimischen                                  Puristen bzw. Quietisten, politischen Salafisten
       Frühgemeinde der ersten drei Generationen                                 und salafistischen Dschihadisten. Die Puristen
       ausrichten.3                                                              lehnen politischen Aktivismus und die An-
                                                                                 wendung von Gewalt strikt ab und plädieren
       Im Mittelpunkt des vorliegenden Beitrags steht                            für die geistige Beschäftigung mit religiösen
       die Frage, wie salafistisch orientierte Gelehrte                          Fragen. Die Gesellschaft wollen sie eher durch
       und Prediger zur Demokratie und zur politi-                               persönliche Frömmigkeit und individuelles
       schen Partizipation von Muslimen im Westen                                frommes Handeln verändern, um ihr Ziel, ein
       stehen und wie sie ihre Position zu rechtferti-                           islamisches Gemeinwesen zu begründen, peu
       gen suchen. Hierfür werden vor allem die on-                              à peu zu verwirklichen. Zu diesem Zweck set-
       line kursierenden Ansichten namhafter zeitge-                             zen sie sich stark für Missionsarbeit (da ʿwa)
       nössischer Autoren aus Saudi-Arabien – dem                                ein. Zwar verfolgen sie keine aktive politische
       Ursprungsland des Salafismus4 – herangezogen.                             Agenda gegen den demokratischen Rechts-
                                                                                 staat, aber sie stehen der parlamentarischen
                                                                                 Demokratie zurückhaltend gegenüber. Auf
       2    Vgl. z. B. Krämer, Gudrun: Demokratie im Is-                         diesem Wege wollen sie den Islam und dessen
            lam: Der Kampf für Toleranz und Freiheit in                          vermeintlich universale und ewig gültige Ord-
            der arabischen Welt, München 2011 und dies.:
                                                                                 nung von kompromissbasierter Politik – aus
            Gottes Staat als Republik: Reflexionen zeitge-
                                                                                 ihrer Perspektive – rein halten.6
            nössischer Muslime zu Islam, Menschenrech-
            ten und Demokratie, Baden-Baden 1999.

       3    Nach Nedza besteht kein Konsens darüber, welche
            Zeitspanne genau diese drei Generationen, etwa                       5     Vgl. z. B. Niedersächsisches Ministerium für Inneres
            zwischen dem sechsten und dem neunten Jahr-                                und Sport, Abteilung Verfassungsschutz (Hrsg.): Sa-
            hundert n. Chr., umfasst. Vgl. dazu Nedza, Justyna:                        lafismus: Erscheinungsformen und aktuelle Entwick-
            „Salafismus“ – Überlegungen zur Schärfung ei-                              lungen, Hannover 2017, S. 20 ff. sowie Bundesamt für
            ner Analysekategorie, in: Said, Behnam T. / Fouad,                         Verfassungsschutz (Hrsg.): Islamismus: Entstehung
            Hazim (Hrsg.): Salafismus: auf der Suche nach dem                          und Erscheinungsformen, Köln 2013, S. 15 u. S. 28 ff.
            wahren Islam, Bonn 2014, S. 80–106, hier, S. 97 f.
                                                                                 6     Diese Gruppe bezeichnet der Islamwissenschaftler
       4    Siehe dazu Steinberg, Guido: Saudi-Arabi-                                  Joas Wagemakers als Quietisten und unterschie-
            en: Der Salafismus in seinem Mutterland,                                   det zwischen drei Typen quietistischer Salafisten:
            in: Said / Fouad: Salafismus,, S. 265–297.                                 den „Distanzierten“, die Distanz zur Politik wahren;

El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

                                                                                                                                                                    49
Demokratie-Dialog 2-2018

             Die politischen Salafisten machen Politik. Sie                             Wahlen und Demokratie aus
             streben ein gottgefälliges, schariakonformes                               salafistischer Sicht
             Staatssystem an und lehnen alle Staatsformen
             ab, die ihrer Auffassung nach der Scharia wi-                              Im Internet finden sich unzählige Beispiele
             dersprechen. Diese Gruppe, welche die Islam-                               salafistischer Propaganda, seien es Videos oder
             wissenschaftlerin Nina Wiedl im deutschen                                  Schriften. Sie beschäftigen sich u. a. mit Wah-
             Kontext als „Mainstream-Salafismus“ bezeich-                               len als Mittel politischer Partizipation sowie
             net, ist der politischen Ideologie des Islamis-                            der Idee der Demokratie und haben inhaltlich
             mus zuzuordnen. Die salafistischen Dschiha-                                große Schnittmengen.8 Die propagandistischen
             disten lehnen sowohl Missionsarbeit als auch                               Abhandlungen werden meist in der Form einer
             politische Aktivitäten in bestehenden staatli-                             „Fatwa“ präsentiert. Eine Fatwa ist ein religi-
             chen Strukturen als Strategie für die Wiederer-                            öses Rechtsgutachten und wird in der Regel
             richtung eines islamischen Gemeinwesens ab.                                von einer muslimischen Autorität auf Anfra-
             Der Dreh und Angelpunkt ihrer Ideologie ist die                            ge eines um Rat ersuchenden Mitgliedes der
             Anwendung von Gewalt. Darin sehen sie den                                  muslimischen Gemeinde erstellt. Fatwas sind
             einzigen Weg zu dem ihnen vorschwebenden                                   nicht wie ein Gerichtsurteil rechtsverbindlich,
             Staatswesen.7 Wenn im Folgenden die Rede                                   genießen aber bei vielen Muslimen besonde-
             von Salafisten ist, so werden darunter grund-                              re Beachtung und werden als Wegweiser und
             sätzlich Angehörige der ersten beiden Gruppen                              Orientierung für ein schariagerechtes Leben
             verstanden.                                                                angesehen. Nach dem Verständnis der Sa-
                                                                                        lafisten geben der Koran, die Sunna und die
                                                                                        Lebensweise der ‚frommen Altvorderen‘ (as-sa-
                                                                                        laf aṣ-ṣāliḥ) ein Idealbild einer sozioökono-
                                                                                        mischen und politischen Ordnung vor – eine
                                                                                        ganzheitliche Ordnung, die unabhängig von
                                                                                        den zeitlichen und örtlichen Gegebenheiten
                                                                                        durchgesetzt werden sollte. Demnach sehen die
                                                                                        Salafisten in Gott die höchste universale Auto-
                   den „Loyalisten“, die eine aktive Teilnahme an der                   rität in allen Angelegenheiten; ihm allein stehe
                   Politik befürworten, aber nur wenn es um die Un-                     das Recht zu, nicht nur über religiöse, sondern
                   terstützung muslimischer Staatssysteme geht, und
                                                                                        auch über politische Belange zu entscheiden.
                   den „Propagandisten“, die religiös-politische Regime
                                                                                        Stellte man dies infrage oder hielte man sich
                   parteilich unterstützen, vor allem das in Saudi Ara-
                   bien. Vgl. Wagemakers, Joas: Salafistische Strömun-
                                                                                        an die von Menschen gemachten Entscheidun-
                   gen und ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität                gen und Gesetze, so verstieße man gegen die
                   und Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 58 ff.              Allmacht Gottes – ein von Salafisten wie auch
                                                                                        von einigen anderen islamistischen Gruppen
             7     Vgl. El-Wereny, Mahmud: Salafiyya, Salafismus und
                   Islamismus: Verhältnisbestimmung und Ideologie-
                                                                                        politisch verstandenes Konzept, die sogenann-
                   merkmale, in: Demokratie-Dialog, Jg. 1 (2017), H. 1,                 te Herrschaft Gottes (ḥākimīyat Allāh), das die
                   S. 32–40; Steinberg, Guido: Wer sind die Salafis-
                   ten? Zum Umgang mit einer schnell wachsenden
                   und sich politisierenden Bewegung, in: SWP-Ak-
                   tuell, 28.05.2012, URL: https://www.swp-berlin.org/                  8    Vgl. z. B. URL: https://www.youtube.com/watch?-
                   fileadmin/contents/products/aktuell/2012A28_sbg.                          v=I_PaI6SKJIA; https://www.youtube.com/watch?-
                   pdf [eingesehen am 25.12.2017], S. 2 ff.; Wiedl, Nina:                    v=cDOeGIR3Lew; https://www.youtube.com/
                   Geschichte des Salafismus in Deutschland, in:                             watch?v=7O0FiY8vDig und URL: http://www.kalifat.
                   Said / Fouad: Salafismus, S. 411–442, hier S. 413 ff. und                 org/islam-und-demokratie_d494.html [einge-
                   Wagemakers, Joas: Salafistische Strömungen und                            sehen am 25.12.2017]. Bei den in diesen Videos
                   ihre Sicht auf al-wala‘ wa-l bara‘ (Loyalität und                         gezeigten Personen handelt es sich um füh-
                   Lossagung), in: Said / Fouad: Salafismus, S. 57 ff.                       rende Köpfe des Salafismus in Deutschland.

 El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

50
Mahmud El-Wereny  |  Wahlen und Demokratie versus Scharia?

       Grundlage für die Ablehnung demokratischer                                was Gott (in der Schrift) herabgesandt hat,
       Ordnungsvorstellungen bildet.9                                            sind die wahren Ungläubigen.“12

       Vor diesem Hintergrund bewerten salafisti-                                Politische Systeme im Westen basieren nach
       sche Autoritäten wie etwa Ibn Bāz10, von dem                              dieser Auffassung auf Unglauben, da das
       zahlreiche Fatwas in deutscher Sprache auf                                Parlament anstelle Gottes die gesetzgebende
       dem reichweitenstarken Internetportal islam-                              Funktion einnehme. Würde man an Präsident-
       fatwa.de übersetzt vorliegen,11 die Beteiligung                           schafts- oder Parlamentswahlen teilnehmen
       an einer Wahl oder am politischen Leben im                                oder eine Partei unterstützen, sei dies eine
       Generellen, in dem nicht nach Vorschriften der                            Art Bevollmächtigung zum Vollzug verbotener
       Scharia geurteilt und gelebt wird, als Abfall                             Handlungen; denn bei der Wahl eines Kan-
       vom Glauben. Denn auf diesem Wege werde                                   didaten handele es sich nicht bloß um eine
       Gott als souveräner Herrscher und obers-                                  Personenwahl, sondern um die Wahl eines
       te Autorität abgelöst und den Menschen die                                politischen Programms, das schariawidrige
       Herrschaft überlassen. Zur Rechtfertigung der                             Grundsätze beinhalte und somit der Salafisten
       Gottesherrschaft dienen Belege aus dem Koran                              vorschwebenden Staatsordnung widerspricht.
       und der Sunna, die jedoch aus ihrem Kontext                               Die Mehrheit der Salafisten erachtet es dem-
       herausgerissen werden, wie z. B. folgender Vers:                          nach als verboten, sich politisch zu engagie-
       „Diejenigen, die nicht nach dem entscheiden,                              ren oder an Wahlen teilzunehmen. Keinesfalls
                                                                                 dürften politische Agenden unterstützt werden
                                                                                 wie bspw. die gleichgeschlechtliche Ehe, denn
                                                                                 dies sei mit den Werten des Islams nicht ver-
                                                                                 einbar.13

       9    Siehe zum Konzept der ḥākimīya statt vieler
                                                                                 12    Koran 5:44. z. B. al-Munağğid: „Ḥukm ad-dīmuqrāṭīya
            Damir-Geilsdorf, Sabine: Herrschaft und Gesell-
                                                                                       wa-l-intiḫābāt wa-l- ʿamal fī anẓimatihā“, unter:
            schaft. Der islamistische Wegbereiter Sayyid
                                                                                       URL: https://islamqa.info/ar/107166; URL: https://
            Qutb und seine Rezeption, Würzburg 2003.
                                                                                       www.youtube.com/watch?v=I_PaI6SKJIA und URL:
       10   ʿAbd al- ʿAzīz Ibn Bāz ist einer der populärsten                           http://www.kalifat.org/islam-und-demokratie_d494.
             und einflussreichsten Rechtsgelehrten des sun-                            html [eingesehen am 23.12.2017]. Zu den weiteren
             nitischen Islam und wird heute als Leitfigur des                          erwähnten Koranstellen in diesem Zusammen-
             puristisch-traditionalistischen Salafismus an-                            hang zählen u. a.: „Gottes Urteil ist fürwahr das
             gesehen. Neben seinen zahlreichen staatlichen                             beste; das erkennen nur die Menschen, die von
             Funktionen fungierte er von 1992 bis zu seinem                            Gottes Gerechtigkeit (innerlich) überzeugt sind.“
             Tode 1999 als Großmufti Saudi-Arabiens. Seine                             (5:50); „Diejenigen, die nicht nach dem entschei-
             Fatwas und Predigten wurden sowohl in diver-                              den, was Gott (als Offenbarungsschrift) herab-
             sen Printmedien als auch online veröffentlicht                            gesandt hat, sind die (wahren) Frevler.“ (5:47).
             und sind daher einem breiten Publikum zu-
                                                                                 13    Vgl. URL: https://islamqa.info/ar/118135 [eingesehen
             gänglich. Vgl. URL: https://www.binbaz.org.sa/
                                                                                       am 23.12.2017]. Ähnliche Position vertreten Anhän-
            life-article/256 [eingesehen am 15.01.2018].
                                                                                       ger der Hizb-ut-Taḥrīr – einer dem Islamismus
       11   Die Website Islamfatwa.de ist eine deutschspra-                            zuzurechnenden Partei, die in Deutschland auf-
            chige Fatwa-Datenbank salafistischer Prägung.                              grund ihrer Befürwortung der Gewaltanwendung für
            Die Mehrzahl der dort erstellten Rechtsgutachten                           die Durchsetzung ihrer Ziele, der Wiedererrichtung
            stammt von Gelehrten saudi-arabischer Herkunft.                            des islamischen Kalifats, 2003 verboten wurde. In
            Vgl. URL: https://islamfatwa.de/gelehrte [einge-                           ihrer online verfügbaren Abhandlung zur politi-
            sehen am 15.01.2018]. In der deutschen Version                             schen Partizipation im Westen werden alle poli-
            der Google-Suchmaschine wird die Seite den                                 tischen Aktivitäten in den bestehenden Staaten
            Nutzern als erstes muslimisches Angebot, um                                aus schariarechtlicher Sicht für strikt verboten
            sich über Fatwas zu informieren, angezeigt.                                erklärt. Vgl. Hizb-ut-Tahrir in Europa (Hrsg.): Die

El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

                                                                                                                                                                        51
Demokratie-Dialog 2-2018

             Die salafistische Ablehnung der Demokratie                                 Islam infrage stellen. Im Kontext der politischen
             geht Hand in Hand mit dem „Glauben an Gott“                                Ideologie der Salafisten wird kufr auf alle
             (tauḥīd): Man unterscheidet im islamisch-theo-                             Handlungen übertragen, die den Absolutheits-
             logischen Sinne zwischen tauḥīd al-rubūbiyya,                              anspruch der Scharia konterkarieren oder die
             d. h. dem Glauben an Gott als alleinigen Schöp-                            demokratisch verfassten Systeme unterstützen.
             fer, und tauḥīd al-ulūhiyya, d. h. die alleinige                           Folgerichtig werden säkulare Verfassungen wie
             Anbetungswürdigkeit Gottes. Dieses theologi-                               auch die „Allgemeine Erklärung der Menschen-
             sche Grundprinzip wird von Salafisten politisch                            rechte“ gleichermaßen als kufr gebrandmarkt.16
             instrumentalisiert. Sie interpretieren tauḥīd
             al-rubūbiyya dahin gehend, dass Gott eine ab-                              Eng verknüpft mit der Debatte über die aus
             solute, d. h. auch eine politische und gesetzge-                           salafistischer Sicht postulierte Unzulässigkeit
             bende Gewalt zukomme. Der Mensch habe sich                                 einer politischen Partizipation der im Westen
             dem zu unterwerfen und dieses Verständnis                                  lebenden Muslime ist die Frage nach deren
             des tauḥīd stets aufrechtzuerhalten. Der tauḥīd                            Haltung gegenüber dem Staat und dessen Ge-
             alulūhiyya wiederum impliziert, dass allein                                setzen: Wie sollen sich diese Muslime stattdes-
             Gottes Herrschaft und Gesetz gelten müssten,                               sen verhalten? Muslimen, die sich für ein dau-
             was die Ablehnung demokratischer Syste-                                    erhaftes Leben außerhalb islamisch geprägter
             me mit sich bringt. Nach diesem Verständnis                                Gesellschaften entscheiden, wird auferlegt, sich
             stellt es einen eindeutigen Verstoß gegen den                              von sämtlichen als unislamisch stigmatisierten
             tauḥīd dar, wenn man schariawidrige Verfas-                                politischen Systemen loszusagen. Gesetze seien
             sungsordnungen und Gesetze anwendet oder                                   nur im Notfall zu akzeptieren, d. h. nur dann,
             jedwede Form von Demokratie akzeptiert.14                                  wenn man keine andere Alternative habe. In
             Diese Ideologie hat zur Folge, dass Muslime,                               diesem Zusammenhang dient das Prinzip des
             welche die Demokratie befürworten oder an                                  sogenannten al-walāʾ wa-l-barāʾ („Loyalität und
             demokratischen Prozessen teilnehmen, für un-                               Lossagung“) als zentrale argumentative Grund-
             gläubig (kāfir) erklärt werden.15                                          lage. Wenngleich diese Doktrin in erster Linie
                                                                                        theologischer Natur ist und sich vor allem auf
             Der Begriff kāfir („Ungläubige“) oder kufr („Un-                           das Verhalten gegenüber Gott, seinem Prophe-
             glaube“) ist ebenfalls in erster Linie theolo-                             ten und anderen Mitmenschen bezieht, wird
             gischer Natur, wird aber auch politisch inst-                              sie von Salafisten politisch ausgelegt und ihre
             rumentalisiert: Ursprünglich bezeichnet er die                             Umsetzung den Gläubigen zur Pflicht gemacht.
             Gegner des Propheten Muḥammad bzw. Men-                                    Sie erklären die Loyalität zu westlichen – aus
             schen, welche die Einheit Gottes im theologi-                              ihrer Sicht schariawidrigen – Staatssystemen
             schen Sinne oder grundlegende Prinzipien des                               für verboten, da nur Gott allein das Recht
                                                                                        auf Gesetzgebung zustehe. Jegliche Form von
                                                                                        Demokratie oder Rechtsstaat wird, weil sie
                   politische Partizipation im Westen und der diesbe-
                                                                                        dieser Grundidee widerspricht, als unislamisch
                   zügliche Rechtsspruch des Islam. 1423 / 2002, URL:                   betrachtet, und die Lossagung von diesen
                   http://www.hizb-ut-tahrir.info/info/files/German/                    politischen Systemen wird propagiert. Musli-
                   Books/die_politische_partizipation_im_westen.                        me, die ein Mehrparteiensystem befürworten
                   pdf [eingesehen am 03.01.2018]., S. 10 f. u. S. 38.                  oder sich in diesem engagieren, machen sich
             14    Siehe ausführlich dazu Farschid, Olaf: Salafis-                      gemäß dieser Meinung unzulässiger Loyalität
                   mus als politische Ideologie, in: Said / Fouad:                      gegenüber politischen Führern schuldig und
                   Salafismus, S. 160–193, hier S. 168 f.                               seien somit keine wahren Muslime. Was die
             15    Vgl. ebd., S. 172 f., URL: https://www.youtu-
                                                                                        Menschen verbinde, sei weder das Blut noch
                   be.com/watch?v=7O0FiY8vDig sowie ht-
                   tps://www.youtube.com/watch?v=YMde-
                   GenYIpk [eingesehen am 27.12.2017].                                  16   Vgl. Farschid: Salafismus, S. 170.

 El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

52
Mahmud El-Wereny  |  Wahlen und Demokratie versus Scharia?

       die Schwägerschaft noch das Land noch die                                 der Kandidat nicht muslimischen Glaubens sei.
       Heimat noch die Sprache, sondern allein der                               Von diesem Wege erhofft man sich, ein posi-
       Glaube. Gestützt darauf erachten Salafisten                               tives Bild des Islams zu vermitteln und dessen
       es als Pflicht eines jeden Muslims, einerseits                            Kompatibilität mit den Werten und Gesetzen
       gegenüber Gott, seinem Gesandten und den                                  der Mehrheitsgesellschaft zu verdeutlichen.19
       muslimischen Gläubigen bedingungslos loyal                                Anderen Intellektuellen wie etwa dem Schwei-
       zu sein und sich andererseits von allen nicht                             zer Islamwissenschaftler Tariq Ramadan geht
       durch die Scharia legitimierten Staatsformen                              es nicht allein um den Nutzen der Muslime.
       sowie – auf sozialer Ebene – von privaten                                 Nach seinem Verständnis sollten sich Muslime
       Kontakten mit Nicht-Muslimen loszusagen.17                                am politischen Leben und Debatten konst-
                                                                                 ruktiv beteiligen, und zwar aus einem Gefühl
       Im Gegensatz zu den Salafisten propagieren                                der Verantwortung gegenüber der Gesellschaft
       viele andere zeitgenössische Autoren und                                  heraus. Dazu schreibt er:
       Rechtsgelehrte, die oft dem islamistischen
                                                                                      „Europäer muslimischen Glaubens haben ent-
       Spektrum zugeordnet werden,18 die Teilnah-
                                                                                      sprechend jener Prinzipien zu wählen, denen
       me von Muslimen am politischen Leben im                                        sie nach Gewissen und Verstand verpflichtet
       Westen. Eine solche Partizipation wird von                                     sind, und nicht nach Kriterien ethnischer oder
       ihnen nicht nur als erwünscht, sondern sogar                                   religiöser Identität […]. Der muslimische Glaube
       als geboten verstanden. Dabei geht es aller-                                   verpflichtet unser Gewissen und die demokrati-
       dings weder darum, sich zu den demokrati-                                      sche Vernunft gebietet unserem Verstand, dass
                                                                                      die Entscheidung bei Wahlen nach der Aufrich-
       schen Prozessen in der Gesellschaft in Gänze
                                                                                      tigkeit und Kompetenz des Kandidaten getroffen
       zu bekennen, noch darum, aktiv im Dienste                                      werden, ob er nun Muslim ist oder nicht.“20
       der gesamten Gesellschaft zu wirken. Vielmehr
       wird das Hauptaugenmerk auf die Muslime im
       Westen gerichtet und auf die Frage, wie man
       durch den Gebrauch des Wahlrechts und ande-                               Fazit
       re Aktivitäten den Nutzen für die muslimische
       Bevölkerung mehren kann. Nach dieser Auffas-                              Dreh- und Angelpunkt der politischen Ideolo-
       sung sollen Muslime ihre Stimmen nutzen, um                               gie der Salafisten ist die ḥākimīyat Allāh, die
       gesellschaftliche und politische Entscheidun-                             absolute Herrschaft Gottes. Dabei gelten der
       gen im Dienste der muslimischen Minderheiten                              Koran und die Sunna als allumfassende Gesell-
       herbeizuführen. Mit politischem Aktivismus ist                            schaftsordnung, ungeachtet des zeitlichen oder
       nicht nur die Stimmabgabe gemeint, sondern                                örtlichen Kontextes. Jedwede Ordnung und
       auch die Bildung politischer Parteien, die                                jedwedes Recht, die durch Menschen in poli-
       Mitgliedschaft in diesen sowie die Kandidatur                             tischen Prozessen herbeigeführt wurden, sind
       für politische Ämter. Muslime dürften zudem,                              für Salafisten null und nichtig, Demokratie und
       wenn dies im Nutzen der Muslime liege, Wah-
       len und Kampagnen finanzieren, auch wenn

                                                                                 19     Vgl. al- ʿUṯaimīn: „Ḥukm al-mušārka fī l-intiḫābāt“,
                                                                                        URL: https://www.youtube.com/watch?v=u7hgfceIjb4;
       17   Vgl. dazu Wagemakers: Salafistische Strömungen,                             ähnlich URL: http://www.alukah.net/sharia/0/98042/,
            S. 50 ff. sowie URL: https://islamfatwa.de/sozia-                           in englischer Sprache unter https://islamqa.info/
            le-angelegenheiten/150-muslime-in-nicht-mus-                                en/111898 sowie https://www.youtube.com/watch?-
            limischen-laendern/760-gerichtsverfah-                                      v=cDOeGIR3Lew [eingesehen am 27.12.2017].
            ren-vor-kuffar- [eingesehen am 23.12.2017].
                                                                                 20 Siehe statt vieler Ramadan, Tariq: Muslim-
       18   Vgl. z. B. Wendelin Wenzel-Teuber: Islamische                           sein in Europa. Untersuchung der islami-
            Ethik und moderne Gesellschaft im Islamis-                              schen Quellen im europäischen Kontext, Köln
            mus von Yusuf al-Qaradawi, Hamburg 2005.                                2001 und El-Wereny: Normenlehre, S. 221 ff.

El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

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Demokratie-Dialog 2-2018

             Wahlen werden abgelehnt. Zuwiderhandlungen                                 Vielmehr sei es die Aufgabe der Menschen,
             gelten als Verstoß gegen die Allmacht und                                  sich selbst je nach zeitlichen und örtlichen
             die Autorität Gottes. Allein die Teilnahme an                              Umständen eine Verfassung und Gesetze zu
             einer freien Wahl wird als Abfall vom Glauben                              geben.
             (kufr) verstanden und mit Polytheismus (širk)
             gleichgesetzt. Die salafistische Ideologie basiert                         Um die von Sicherheitsbehörden aufgestellte
             auf einer rigiden, buchstabengetreuen Inter-                               These, salafistische Internetangebote stellten
             pretation der Quellentexte ohne Rücksicht auf                              einen Weg zur islamistischen Radikalisierung
             die Lebensumstände oder historische Entwick-                               junger Menschen dar, zu verifizieren oder zu
             lungen. Während ein Großteil der Salafisten der                            falsifizieren, braucht es einerseits empirische
             Beteiligung an Wahlen oder an demokratischen                               Forschung, die der Frage nachgeht, ob und
             Systemen ablehnend gegenüber steht, urteilen                               inwieweit im Internet verbreitete salafistische
             viele andere Autoren, die dem islamistischen                               Propaganda von Muslimen in Deutschland
             Spektrum zuzuordnen sind, dass man wählen                                  rezipiert wird. Dabei wäre es geboten, die der
             gehen solle, um das kleinste Übel zu wählen                                Radikalisierung zugrunde liegenden Inhalte, die
             und den Muslimen im Westen einen Vorteil                                   Prädispositionen der jungen Menschen und
             zu verschaffen. Wiederum andere muslimische                                deren gesellschaftlich-objektive Bedingungen
             zeitgenössische Theologen und Intellektuelle                               zu hinterfragen. Andererseits bedarf es auch
             vertreten die Auffassung, dass sich Muslime                                der Debatte über den Begriff der „Radikalisie-
             des Westens in die Aufnahmegesellschaft in-                                rung“. Versteht man unter Radikalisierung die
             tegrieren und an den politischen Debatten des                              Beeinflussung mittels demokratiefeindlicher
             Landes beteiligen sollten. Sie sind der Ansicht,                           Darstellungen und Meinungen, können sala-
             dass Gott keine holistische, absolute Gesell-                              fistische Internetangebote, wie oben gezeigt,
             schaftsordnung vorherbestimmt habe.                                        durchaus als Quelle islamistischer Radikali-
                                                                                        sierung bewertet werden. Versteht man unter
                                                                                        Radikalisierung die Förderung gewaltbefürwor-
                                                                                        tender Auffassungen sowie den Aufruf zur Ver-
                                                                                        übung terroristischer Anschläge zur Durchset-
                                                                                        zung der göttlichen Ordnung, kann dies nicht
                                                                                        pauschal bestätigt werden. Als gewaltbereit
                                                                                        sind ohne weitere Überprüfung lediglich die
                                                                                        salafistischen Dschihadisten einzustufen. Um
                                                                                        dies in Bezug auf andere salafistische Gruppen
                                                                                        zu prüfen, wird eine ausführliche Auseinander-
                                                                                        setzung mit ihren Ansichten zur Gewaltanwen-
                                                                                        dung vonnöten sein.
             Dr. Mahmud El-Wereny,
             geb. 1984, ist seit 2017
             wissenschaftlicher Mitar-
             beiter der Forschungsstelle
             zur Analyse politischer und
             religiöser Extremismen in
             Niedersachsen am Institut
             für Demokratieforschung
             der Universität Göttingen.
             Er lehrt und forscht zu
             folgenden Schwerpunkten:
             Politischer Islam, Salafis-
             mus, islamisches Recht
             und schiitischer Islam.

 El-Wereny, Mahmud (2018): Wahlen und Demokratie versus Scharia? Salafismus und die Teilhabe am politischen Leben im Westen. In: Demokratie Dialog 2 (2018), S. 48-54.

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