Zum Spannungsverhaltnis zwischen asthetischen und linguistischen Qualitatskriterien literarischer Ubersetzungen
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Małgorzata Jokiel (Opole) Zum Spannungsverhaltnis zwischen asthetischen und linguistischen Qualitatskriterien literarischer Ubersetzungen Abstract: Die U bersetzung von L iteratur geniefit in nerhalb d er Translationsw issen- schaft eine Sonderstellung, auch w enn die D ichotom ie Sachtexte vs. fiktive Texte von vielen Forschern fur iiberw unden erklart wird. Im vorliegenden Beitrag sollen gewahlte literaturwissenschaftliche und linguistische K riterien zur Bewertung d er Q ualitat von li- terarischen U bersetzungen gegeniiber gestellt werden, um zu priifen, inwiefern sich der interdisziplinare Ansatz ais produktiv erweisen kann. Im Fokus der B etrachtung stehen insbesondere die von Sigrid Kupsch-Losereit vorgeschlagenen „fur alle Bereiche gultigen“ Evaluierungsparameter. D ariiber hinaus soli die Frage nach der O bjektivierung und Er- weiterung der Q ualitatsparam eter von literarischen Ubersetzungen angesprochen werden. Schliisselwórter: U bersetzungskritik, Q ualitatsbew ertung, Funktionsgerechtigkeit, Kon- textwechsel Criticism o f Literary Translation between Aesthetic and Linguistic Quality Parameters Today, literary translation occupies a special place in the translation theory, despite the fact that some researchers consider the dichotom ous division w ithin the discipline into literary and non-literary texts as resolved and unjustified. This article is an attem pt to present a breakdown o f selected aesthetic and linguistic criteria for the quality assessm ent o f literary translations in order to consider, on this basis, the validity o f the interdisciplinary approach to the criticism of translation o f literary texts. The analysis is focused in particular on the translation quality param eters established by Sigrid Kupsch-Losereit. It is th en followed by the reflection on the possibilities to objectify and to extend param eters used for the assessment of the quality o f literary translation. Keywords: translation criticism, quality assessment, functional approach, change o f context 1. Einfuhrung Die Translationswissenschaft m it ihrer Vielfalt an konkurrierenden Ansatzen und Theorien gilt im m er noch ais eine uneinheitliche Disziplin, zumal die Trennung in die linguistisch orientierte und literaturwissenschaftlich gepragte Ubersetzungs- forschung trotz zahlreicher U berw indungs- bzw. Vereinheitlichungsversuche im m er noch weitgehend beibehalten wird u nd sich beispielsweise im Konzept Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
30 Małgorzata Jokiel eines der grundlegenden iibersetzungswissenschaftlichen Werke widerspiegelt, nam lich in den Grundlagen der Ubersetzungsforschung, gegliedert in zwei Teil- bande Ubersetzung und Literaturwissenschaft (Greiner 2004) sowie Ubersetzung und Linguistik (Albrecht 2005).1Die erw ahnte Zwiespaltigkeit trifft ebenfalls auf die Frage der Q ualitatsbew ertung der translatorischen Leistung zu und kommt auch im Titel dieses Bandes zum Vorschein, in dem die zwei Grundpositionen: Q ualitatsm anagem ent (in Bezug auf Fachtexte) und Ubersetzungskritik (haupt- sachlich in Bezug auf kiinstlerische Texte) ausdriicklich differenziert werden. Da sich m ein Beitrag auf Fragen der literarischen Ubersetzung konzentriert, m ochte ich mich im Folgenden m it Form en der Ubersetzungskritik beschaftigen und dabei sowohl die von der Literaturwissenschaft hervorgegangenen Bewer- tungsaspekte ais auch ausgewahlte linguistisch gepragte Evaluierungskriterien der Translationsqualitat beriicksichtigen, fur die im Folgenden insbesondere der An- satz von Sigrid Kupsch-Losereit stellvertretend steht, um zu priifen, inwiefern sich eine disziplintibergreifende H erangehensweise zur Beurteilung kiinstlerischer U bersetzungen ais produktiv erweisen kann. D aruber hinaus soli abschliefiend die Frage nach der Objektivierung und der eventuellen Erweiterung der Parameter zur Q ualitatsbew ertung von literarischen Ubersetzungen angesprochen werden. 2. Begriffsdifferenzierung 2.1. Ubersetzungskritik Zunachst soli zwischen dem linguistischen und literaturwissenschafflichen Ver- standnis der Begriffe Ubersetzungskritik, Ubersetzungsvergleich sowie Uberset- zungsbewertung differenziert w erden, um auf diese Weise Erkenntnisse iiber den Stellenwert der genannten Term ini fur die beiden Disziplinen gewinnen zu konnen. Zur Frage der asthetisch gepragten Ubersetzungskritik sei insbesondere auf das allgemeine literaturwissenschaftliche Rahm enm odell hingewiesen, dargestellt in der Studie von Apel/Kopetzki (2003: 65), welches drei G rundelem ente ais Min- destanforderungen an die U bersetzungskritik nennt: „eine Charakterisierung des Ausgangstextes im Zusam m enhang der Literatur der Ausgangssprache; eine 1 D abei sei hervorgehoben, dass die Verfasser der beiden Teile keinen Bedarf nach der Etablierung einer separaten Disziplin sehen, die sich m it dem Phanom en Ubersetzung beschaftigen sollte, sondern je nach dem eigenen Fachbereich die U bersetzung ais Text bzw. ais Reprasentation frem dsprachiger literarischer Kunstwerke auffassen und davon ausgehen, dass die Erforschung dieses Phanom ens jeweils m it Zieleń und M ethoden der Linguistik bzw. der Literaturwissenschaft erfolgen kann (vgl. G reiner 2004: 7). Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
Asthetische und linguistische Qualitatskriterien 31 Charakterłsierung der Ubersetzung ais Text im Zusam m enhang der Zielsprache; leserorientierte Inform ationen dariiber, unter welcher Rezeptionseinstellung die Ubersetzung ais Text aufgefasst werden sollte“. Nach Ansicht von Apel/Kopetzki sollte die O bersetzungskritik ferner auch Aufschliisse iiber die U bersetzungs- m ethoden, Verfahren und Strategien sowie iiber Kom m entare des Ubersetzers (soweit vorhanden) zu seinen translatorischen Prinzipien und Entscheidungen liefern. Welche weiteren Bewertungskriterien die Q ualitat kiinstlerischer Uber- setzungen mafigeblich pragen, dariiber herrscht kein Konsens innerhalb der li- teraturwissenschaftlich orientierten Ubersetzungsforschung. Stattdessen gibt es zahlreiche Vorschlage, jeweils im Zusam m enhang mit einem konkreten translato rischen bzw. komparatistischen Ansatz. Bei der Suche nach Qualitatsparam etern literarischer Ubersetzungen erscheint allerdings nicht n u r die Differenzierung zwischen den Anforderungen der drei grofien G attungen (Lyrik, Epik, Drama), sondern auch die Beriicksichtigung des Genres und des jeweiligen asthetischen W erkkonzepts grundsatzlich ais produktiv. M aria Krysztofiak (2011: 82-142) verortet Q ualitatskriterien literarischer Ubersetzungen einerseits innerhalb drei globaler translatorischer (des lexikalisch- semantischen, kulturellen und asthetischen) Codes, andererseits verweist sie auf die Móglichkeit der Gestaltung individueller Q ualitatsparam eter der literarischen Ubersetzung auf der G rundlage der A uSerungen von U bersetzern selbst, ins- besondere von denjenigen, die in der Lage sind, das eigene Ubersetzungskonzept zu formulieren (Krysztofiak 2011: 161). Bei Sommerfeld (2015) finden wir eine ganze Palette an m óglichen iibersetzungskritischen Aspekten, die gleichzeitig zu Beurteilungsmafsstaben der translatorischen Q ualitat w erden kónnen, an- gefangen mit der Aquivalenz iiber Polysemie, Isotopien, Kultursymbole bis zur Verwendung von Sprachvarietaten und Intertextualitat. Statt universeller Kriterien, mit denen in Bezug auf literarische Texte oft weder wissenschaftliche Objektivitat noch Vergleichbarkeit erzielt w erden kann, wird daher in vielen iibersetzungskritischen Studien fur die G ew innung einmaliger an die individuelle Poetik des jeweiligen zu untersuchenden Werks angepasster Beurteilungsmafistabe pladiert,’ dieser Meinung schliefit sich auch die Verfasserin dieses Beitrags an. 2 Einige Beispiele hierfur: Das Weltbild u n d die literarische Konvention ais U berset- zungsdeterm inanten in K atarzyna Lukas' Analyse deutscher N achdichtungen von Adam Mickiewiczs W erken (Lukas 2009); A nna Fimiak-Chwiłkowskas U ntersuchung der Strategie Klaus Staem mlers in Bezug auf seine U bersetzungen gew ahlter Werke der polnischen Literatur m it der besonderen Beriicksichtigung der Kategorie .Kultur- bilder' (Fimiak-Chwiłkowska 2013); die A nw endung der Param eter Frem dheit, Un- Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
32 Małgorzata Jokiel Eine besondere H erausforderung sowohl fur die Ubersetzer ais auch fur die U bersetzungskritik stellen N euiibersetzungen von beriihm ten Werken dar, da m an hierbei zum einen den neu form ulierten Skopos und zum anderen eine Auseinandersetzung mit fruheren Ubersetzungen beriicksichtigen muss. Oft sind es gerade die Ubersetzungskritiker, die die Entstehung einer neuen Ubersetzung veranlassen, indem sie die Q ualitat bestehender Translate bemangeln bzw. dereń Aktualisierung empfehlen, fordern oder gar selbst vornehmen. Auch die Auto- translation geniefit eine Sonderstellung gegenuber U bersetzungen D ritter und b edarf einer anderen iibersetzungskritischen Herangehensweise, insbesondere im H inblick auf die U rheberkom petenz des Ubersetzers (vgl. Jokiel 2015). Aus der sprachwissenschaftlichen Perspektive ist die U bersetzungskritik je nach dem Ansatz an fest deńnierte Kategorien gebunden. W ahrend in den fru heren Arbeiten die Kriterien: Invarianz, Aquivalenz, Adaąuatheit (z. B. bei Koller 2001, Albrecht 2004) bzw. die Texttyp- und Textsortenzugehórigkeit (Reifi 1971, 1993) dom inierten, gelten heutzutage vornehm lich die Funktion bzw. der Skopos der U bersetzung ais grundsatzliche Mafistabe der Translationsqualitat (Reifi/ Vermeer 1984). Albrecht (2004: 171) betont ausdriicklich, dass sich eine ordnungsgemafie U bersetzungskritik nicht n u r d arauf beschranken darf, was der Ubersetzer tatsachlich getan hat, sondern ebenfalls seine Intention beriicksichtigen sollte, sofern sie sich erschliefien bzw. seinen AuBerungen entnehm en lasst. Bei Nord (2005: 183) wird die U bersetzungskritik weitgehend m it dem Ubersetzungsver- gleich gleichgesetzt, indem dieser Begriff u. a. ais vergleichende Betrachtung und Analyse von Ausgangs- u nd Zieltext definiert wird. Im weiteren Sinne wird der Terminus U bersetzungskritik auch grundsatzlich zur Bezeichnung von Modellen verwendet, die sich auf Fragen der Beschreibung und Bewertung der translatorischen Leistung beziehen, wie z. B. der texttypologi- sche, der pragmalinguistische, der funktionale Ansatz (vgl. Kaindl 2006:373-378). 2.2. Ubersetzungsvergleich Den inter- bzw. (im Falle der Existenz von M ehrfachiibersetzungen) intralin- gualen Ubersetzungsvergleich verstehe ich ais eines der Instrum ente der Uber- konventionalitat und sprachliche Kreativitat ais Schliisselqualitaten der Prosa von Arno Schmidt und Reinhard Jirgl bei der U ntersuchung der Ubersetzungen dereń Werke ins Polnische (Jokiel 2013) bzw. die Kategorie Roman-W eltbild ais BeurteilungsmaBstab fiir die Bewertung der polnischen U bersetzungen der Werke von Franz Kafka (Jokiel 2007). Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
Asthetische utid linguistische Qualitatskriterien 33 setzungskritik, dank dem die U bersetzungsprioritaten, -m ethoden, -verfahren und -strategien erm ittelt und m it den eventuell vorhandenen diesbeziiglichen expliziten Aufierungen des Ubersetzers verglichen werden konnen. Angesichts móglicher Asymm etrien zwischen dem Original und der Ubersetzung, die sich beispielsweise aus der M ehrsprachigkeit des Ausgangstextes bzw. aus dem krea- tiven Umgang mit Sprache durch den Verfasser ergeben, kann der Ubersetzungs- vergleich allerdings nur dann seine Aufgaben objektiv und angemessen erfiillen, wenn er einen ganzheitlichen (Charakter hat und sich nicht nur auf die punktuelle Analyse ausgewahlter Problemstellen konzentriert (vgl. Albrecht 2004:172), denn besonders bei der Ubersetzung sprachspielerischer Elemente kom m t die Strategie der Kompensation bestim m ter asthetischer M erkm ale an anderen Stellen des Ófferen vor.' Aus linguistischer Perspektive wird einerseits zwischen der Anwendung des Ubersetzungsvergleichs in der kontrastiven Sprachwissenschaft und der U berset zungsforschung differenziert (Albrecht 2005: 161). Im zweitgenannten Bereich lasst sich noch zwischen Ubersetzungsvergleichen zu historisch-deskriptiven sowie prospektiv-praskriptiven Zwecken unterscheiden. Dariiber hinaus wird auf seine Einsatzmóglichkeiten im Bereich der Frem dsprachendidaktik (im Fremd- sprachenunterricht) ais Vorstufe der eigenen translatorischen Praxis sowie bei Buchbesprechungen und Rezensionen hingewiesen (N ord 2009). 2.3. Ubersetzungsbewertung Die U bersetzungsbew ertung verstehe ich hingegen ais zusam m enfassendes Schlusswort der Ubersetzungskritik, in dem die relevantesten Vor- und Nach- teile zu nennen sind u nd eine abschliefiende Beurteilung des Translats durch den Ubersetzungskritiker auf G rund des durchgefiihrten Ubersetzungsvergleichs nach den zuvor dargelegten und begriindeten Kriterien erfolgt. Diese Auffassung ist von didaktischen Evaluierungsansatzen zu unterscheiden, bei denen dieser Begriffhauptsachlich ais ein Mittel zur Beurteilung der translatorischen Leistung von angehenden U bersetzern w ahrend der Ausbildung gilt (N ord 2009: 189-193 und 2011: 267-280 bzw. Hónig 2006: 378-381) und in einem engen Zusam m en- hang mit der Frage der Ubersetzungsfehler und dereń Gewichtung steht. 3 Ein gutes Beispiel hierfiir kónnte Ryszard Wojnakowskis Translation des Rom ans Die Unvollendeten von R einhard Jirgl darstellen (vgl. Jokiel 2003). Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
34 Małgorzata Jokiel 3. Zu Integrationsversuchen linguistischer und asthetischer Kriterien der U bersetzungsąualitat Nach M einung von Kaindl (2006: 373-378) versuchen die meisten iibersetzungs- kritischen Ansatze alle translationsrelevanten Textsorten zu erfassen, woraus auf ein recht allgemeines Niveau der darauf aufbauenden Analyse geschlossen werden kann. Eine solche Herangehensweise schliefit dariiber hinaus die von der Seite der literaturwissenschaftlich gepragten Ubersetzungsforschung geforderte indivi- duelle Herangehensweise an das W erk aus, lasst seine konstitutiven asthetischen M erkmale aufier Acht und ermóglicht lediglich eine oberflachliche translations- qualitative Analyse. Gleichzeitig gibt es m ehrere Versuche, die sich ausschliefilich auf die U ber setzung von Literatur beziehen und keinen A nspruch auf die Allgemeingultig- keit erheben. H ierzu gehoren vornehm lich die grundlegenden Standardwerke der friihen literaturw issenschaftlichen U bersetzungsforschung aus den 1960er Jahren, die gewissermafien entgegengesetzte Positionen vertreten: Theorie der li- terarischen Ubersetzung (1967) von Rolf Kloepfer, der das sprachwissenschaftliche Instrum entarium bei der U ntersuchung literarischer Ubersetzungen eindeutig ablehnt und davon ausgeht, dass „die M ethoden der Linguistik in der Theorie der literarischen U bersetzung fehl am Platze sind“ (zit. nach Koller 2001: 294) und Die literarische Ubersetzung: Theorie einer Kunslgaltung (1969) von Jiri Levy, der bereits zum Zeitpunkt der Veróffentlichung seines Werkes iiberzeugt war, dass linguistische M ethoden „in den kom m enden Jahren moglicherweise auch das D enken iiber Fragen der kiinstlerischen Ubersetzung grundlegend beeinflussen werden" (zit. nach Koller 2001: 294). Ebenfalls auf literarische Werke bezieht sich das von Margaret Ammann (1990) entwickelte ubersetzungskritische Verfahren. Dieser Ansatz steht allerdings im Zusam m enhang m it der skoposorientierten linguistisch gepragten Ubersetzungs forschung, konzentriert sich hauptsachlich auf der Erfullung der fur die Zielkultur intendierten Funktion des ubersetzten Textes und operiert vor allem mit einem breit angelegten (intra- bzw. inter-) textuellen Koharenzbegriff. 3.1. Deskriptive Ubersetzungsforschung Auf der anderen Seite ist in diesem Zusam m enhang auf die deskriptive U ber setzungsforschung (DTS) hinzuweisen, die einerseits „ais Gegenbewegung zur linguistischen Ubersetzungstheorie" aufgefasst werden kann (Siever 2010: 238), die jedoch durch die Einbettung in eine breitere system theoretische und kul- turwissenschaftliche Perspektive eine Sonderstellung einnim m t „jenseits der Po- Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
Asthetische und linguistische Qualitatskriterien 35 larisierung in die literaturwissenschaftliche und die linguistische Beschaftigung m it dem Phanom en Ubersetzung" (Apel/Kopetzki 2003: 56). Die (europaischen) deskriptiven Studien zur Translation versuchten zwar die iibersetzungskritische Differenzierung zwischen literarischen u nd nichtliterarischen Texten zu iiber- winden, dennoch sind die von den DTS vorgeschlagenen Kriterien im Hinblick auf die deskriptive Vorgehensweise bei der Untersuchung von iibersetzen Texten sowie auf G rund des Verzichts auf die Aquivalenz zur Bewertung der Uberset- zungsąualitat - sowohl von Fachtexten ais auch literarischen Texten - kaum ge- eignet. Nicht einmal Tourys Auffassung u nd Typologie der N orm en (Toury 1995), die entgegen dem allgemeinen Verstandnis dieses Begriffs keine BeurteilungsmaB- stabe sind, sondern aus seiner Sicht gerade den Untersuchungsgegenstand bilden, verm ochte iibersetzungskritische Instrum ente zu schaffen. M it Hilfe der von den DTS postulierten Parameter kann hóchstens eine allgemeine Ubersetzungs- beschreibung ohne eigentliche Ubersetzungsbewertung entstehen. Innerhalb der DTS hat lediglich van den Broeck (1985) versucht, einen polysystemischen iiber- setzungskritischen Ansatz in Bezug auf Ubersetzungen zeitgenóssischer Literatur herauszuarbeiten, welcher einen strukturellen Ubersetzungsvergleich sowie die anschliefiende U bersetzungsbew ertung umfasst, bei der zwischen den obliga- torischen und fakultativen Transformationen (shifts) unterschieden wird. Dabei sollten sowohl die Normen, M ethoden und Strategien des Ubersetzers ais auch die durch den Kritiker zu setzenden Beurteilungsmafistabe beriicksichtigt werden. Ais problematisch ist allerdings die systemtheoretische Ausrichtung der de- skriptiven U bersetzungsforschung au f die N ationalliteratur anzusehen. Ange- sicht zunehm ender M igrationsbew egungen haben w ir es im m er haufiger m it Autoren zu tun, die sich nicht m ehr einer N ationalliteratur zurechnen lassen, in dereń Werken Einflusse und Impulse aus m ehreren Kulturen spiirbar sind bzw. literarisch verarbeitet werden. Infolgedessen w erden die altbekannten Begriffe Multi- bzw. Interkulturalitat verstarkt durch die Phanom ene Transkulturalitat und Quersprachigkeit ersetzt bzw. gar verdrangt. Die Beschreibung und vor allem Bewertung von U bersetzungen m ehrsprachiger Originalwerke bedarf, wie be- reits von Levy gefordert, neuer Instrum ente u nd M ethoden. H ier kónnte meines Erachtens eine Schnittstelle der literatur- und sprachwissenschaftlich gepragten Obersetzungsforschung liegen. 3.2. Integrativer Ansatz von Mary Snell-Hornby Beim Integrative Approach handelt es sich bekanntlich um einen Versuch zur Oberwindung der Zweiteilung in Fachiibersetzen und literarisches Obersetzen Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
36 Małgorzata Jokiel innerhalb der Ubersetzungswissenschaft durch die E infuhrung einer nicht naher bestim m ten Zwischenkategorie gemeinsprachliches Ubersetzen. An Stelle fester Texttypologien tritt bekanntlich eine Prototypologie, statt der Trennung wird eine Fokussierung m it flieCenden Ubergangen vorgeschlagen. Eine der Schichten der Prototypologie von Snell-Hornby bildet die stichwortartige Bestimmung der Qualitatskriterien fiir die Ubersetzung: Dem nach ist im Fali des Fachiibersetzens die Rede von Aquivalenz und term inologischer Invarianz, bei den zwei anderen Bereichen handelt es sich um einen dynam ischen Ansatz. W ahrend fiir das li- terarische U bersetzen die Kategorie Neugestaltung der sprachlichen Ditnension vorgeschlagen wird, welche die kreative D ehnung sprachlicher N orm en voraus- setzt, handelt es sich beim gemeinsprachlichen Ubersetzen um den Grad derDiffe- renzierung (Snell-Hornby 1994: 16-20). D er integrative Ansatz von Snell-Hornby m arkiert som it zwar den offenen u nd interdisziplinaren Charakter der Uberset zungswissenschaft, bleibt dennoch der linguistischen Perspektive verpflichtet. Seine stichw ortartig genannten Bewertungskriterien lassen sich schwierig hand- haben u nd bediirfen einer weiteren Prazisierung. 4. D er Evaluierungsansatz von Kupsch-Losereit U nter den m o dernen linguistisch orientierten translationswissenschaftlichen Modellen zur Evaluierung der U bersetzungsąualitat finden wir den Ansatz von Sigrid Kupsch-Losereit. Die A utorin versucht, unter H eranziehung der funk- tionalen Translationstheorie „allgemeine, fiir alle Bereiche giiltige Parameter der Bewertung aufzustellen, die fiir die Q ualitat einer U bersetzung entscheidend sind“ (Kupsch-Losereit 2008: 201). D am it bezieht sie sich allerdings nicht auf die Aufhebung der Dichotomie literarische Texte versus Sachtexte (die sie eigentlich a priori voraussetzt), sondern m eint vielmehr die U berwindung von Unterschieden in der Beurteilung der translatorischen Leistung von angehenden und profes- sionellen U bersetzern. Im Folgenden w ird versucht, die von Kupsch-Losereit herausgearbeiteten K riterien auf ihre Tauglichkeit zur Bewertung der Qualitat von literarischen Ubersetzungen aus der asthetischen Perspektive zu iiberprufen. 4.1. Funktionsgerechtigkeit4 Dieses Kriterium ist vor dem H intergrund des vorform ulierten Ubersetzungs- auftrags sowie unter Beriicksichtigung des intendierten Rezipientenkreises zu 4 Das genannte Kriterium erscheint auch bei Nord (2011), parallel zu dem gleichwertigen Param eter Loyalitat. Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
Asthetische und linguistische Qualitatskriterien 37 betrachten und erscheint ais ein durchaus produktiver Parameter, der allerdings in Bezug auf die Ubersetzung von literarischen Texten um weitere Subkategorien erw eitert werden miisste: einerseits um die A rt des Umgangs m it der Vorlage (hierbei ist zwischen Bearbeitung, Nachdichtung, Adaptation und der eigentli- chen intersprachlichen Ubersetzung zu differenzieren) sowie um die Frage nach dem Zweck der Ubersetzung, insbesondere im Falle einer Neuiibersetzung. Auch bei der Selbstubersetzung ware die Funktion des Translats unter Beriicksichtigung der A utorintention gesondert festzulegen. 4.2. Kulturspezifische Texterwartungen. Textsorten und Gebrauchsnormen Die zwei weiteren Bereiche scheinen in einem engen gegenseitigen Verhaltnis zu stehen und lassen sich nur schwer voneinander unterscheiden. Offenbar gelten diese Kriterien in erster Linie fur Sachtexte, die sich textsortenspezifisch ein- deutig zuordnen lassen und fur die es tatsachlich (zum indest teilweise) bestimmte vorgefertigte M uster oder sich wiederholende Form en gibt, d. h. grundsatzlich nur bei konventionalisierten bzw. standardisierten Gebrauchs- und Fachtexten. Doch im Wesen der Literatur liegt die kiinstlerische Freiheit der Autoren, die Licentia Poetica, die vielm ehr fur Einmaligkeit u n d O riginalitat und nicht fur W iederholbarkeit steht. Allein der Bruch m it den friiher streng befolgten Poe- tikregeln stellt gegenwartig kein gultiges Bew ertungskriterium dar. Ais Aufgabe der Literatur gilt prim ar die Entwicklung von originellen, unverwechselbaren Formen, Genres, Sprachen und Ausdrucksweisen, die m itunter auch bewusste Regelverstófie und Fehler (z. B. in Bezug auf die Rechtschreibung, Interpunktion, Grammatik, Wortbildung) enthalten. Bei der Translation literarischer Texte miiss- te der angesprochene Fragenkomplex dariiber hinaus um die Beriicksichtigung nationalliteraturspezifischer Konventionen erganzt werden (wie beispielsweise unterschiedliche M arkierung von Dialogen in polnisch- und deutschsprachigen Romanen - Verwendung anderer Typen der Anfuhrungszeichen sowie andere Interpunktionsregeln). 4.3. Textkoharenz und Textdynamik Die zwei weiteren Param eter sind traditionelle linguistische Kategorien, m it denen die M ikrostruktur des Textes charakterisiert w erden kann und die von den kulturspezifischen Texterwartungen gesteuert und beeinflusst werden. Sie lassen sich zwar theoretisch auf alle Texttypen anwenden (insbesondere aber auf Gebrauchstexte), aus der literaturwissenschaftlichen Perspektive besitzen sie aller- Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
38 Małgorzata Jokiel dings zweitrangige Relevanz und ermoglichen keine einschlagigen Aussagen iiber die Qualitat iibersetzter literarischer Kunstwerke. 4.4. Kontextwechsel In Bezug auf den Kontextwechsel, den nachsten Evaluierungsparameter, empfiehlt Kupsch-Losereit „die Intentionszuschreibung des urspriinglichen Kontextes zu yernachlassigen - da dieser fiir die aufnehm ende Kultur meist irrelevant ist - u n d durch einen Kontextwechsel neue sinnstiftende Relationen herzustellen" (Kupsch-Losereit 2008: 208). Auf G rund von Divergenzen bei der sprach- und li- teraturwissenschaftlichen Auffassung der Kategorie Kontext, liegt hier ein grund- legendes M issverstandnis vor. W ahrend dieser Begriff im linguistischen Sinne fiir den um gebenden Text einer sprachlichen Einheit bzw. fiir den inhaltlichen Sinnzusamm enhang einer Aufierung steht, halt die literaturwissenschaftliche For- schung den Kontext gerade fiir „eine zentrale sinnstiftende Kategorie fiktionaler Literatur'1 (Schultze 2004: 860). W ird die Definition von Salevsky herangezogen, so ist festzuhalten, dass die literarische U bersetzung „im (W ert)Verhaltnis zu (mindestens) zwei diachronen und synchronen literarischen Kontexten und zu zwei literarischen Traditionen" steht (Salevsky 2002: 390). Dariiber hinaus ist ein literarisches W erk aus der Perspektive von vielen moglichen Kontexten zu be- trachten, aus denen sich ein Gesamtkontext zusam m ensetzt (Schultze 2004:862). Der Ubersetzer von Literatur agiert zwar in einem veranderten Werkentstehungs- kontext u n d kann durchaus auch neue iiber den O riginaltext hinausgehende Kontextbeziige herstellen, dennoch bleibt er den im Text enthaltenen Kontexten verpflichtet. 4.5. Verstandlichkeit und Interpretierbarkeit Diese Parameter scheinen zunachst genuin literarische Mafistabe zu sein, doch der erste Eindruck tauscht. D enn die Verfasserin m eint dam it vielmehr Prazisierung und Erklarungen, z. B. im Fali der ideologischen Sprache bzw. bei Euphemismen. Dies lasst sich wiederum mit dem Wesen literarischer Werke schwer vereinbaren, in denen noch ein Spielraum fiir Interpretation existieren soli, der dem Leser er- móglicht, die Unbestim m theiten, M ehrdeutigkeiten und Leerstellen auf seine Art und Weise zu verstehen und zu interpretieren, abgesehen von der Theorie, dass jede U bersetzung von literarischen W erken schon eine Interpretation darstellt. Verstandlichkeit, aufgefasst ais erklarende Zusatze bzw. eine Vereinfachung der kom plizierten gram m atischen Struktur oder Form des Ausgangstextes, ist somit uberhaupt nicht ais Ziel bzw. Sinn der Translation anzustreben. Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
Asthetische und linguistische Qualitatskriterien 39 Die Interpretierbarkeit wird in der Literaturwissenschaft w iederum ais imma- nentes Merkmal literarischer Texte betrachtet, welches sich aus der asthetischen wie auch der sprachlichen Gestaltung des Werkes ergibt u n d nicht erst durch den Ubersetzer geschaffen werden sollte. 4.6. Zielmedium und Medienabhangigkeit Mit Zielmedium und M edienabhangigkeit m eint Kupsch-Losereit zuniichst Be- dingungen und Konventionen des jeweiligen M ediums, in dem der Text existiert, was an die Kategorie Audiomedialitat in der iibersetzungsrelevanten Texttypolo- gie von Katharina Reifi (1983)erinnert. Bei literarischen Ubersetzungen miisste grundsatzlich zwischen dem klassischen Printm edium (Buch), dem Film (bei der Adaptation) u nd dem Theater differenziert werden, die jeweils andere Zusatz- anforderungen an den Translationsprozess stellen. Andererseits steht dieses K riterium auch fur Instrum ente der com puter- gestiitzten Ubersetzung, die nach M einung von Kupsch-Losereit zum Zweck der Qualitatskontrolle (z. B. in Bezug auf solche Aspekte wie Terminologie, Format, Textlange) eingesetzt werden konnen. Ahnlich wie bei den vorgenannten Parame- tern Textsorten und Texterwartungen handelt es sich som it um Standardisierung und W iederholbarkeit, um Faktoren also, die fur die Qualitat literarischer Texte keine mafigebliche Relevanz besitzen, und die unter Umstanden nur bei parallelen Werkausgaben (des Originals samt seiner Ubersetzung) relevant werden kónnten. 4.7. Sprachliche Konvention Bei dem letzten Kriterium geht es um den Zusam m enhang zwischen dem Uber- setzungszweck, den Kupsch-Losereit bei fiktionaler Literatur ais „Realitat auf einen neuen Sinn hin iiberschreiten“ (Kupsch-Losereit 2008: 210) angibt, und den Sprachnormen. Mit Recht wird dabei bem erkt, dass die U berschreitung von sprachlichen und kulturspezifischen N orm en bzw. Konventionen nicht automa- tisch ais Fehler identifiziert werden darf. Entscheidend sind vielm ehr die Vorga- ben des Ausgangstextes und die Intention des Verfassers, was bei den literarischen Texten, in denen bewusste Regelverstó6e oft geradezu eine program m atische Rolle spielen, besonders hervorgehoben werden sollte. 5. Schlussbetrachtung Die Entwicklungstendenz in Richtung der Transparenz von Bewertungsmafi- staben fur alle Ubersetzungstypen ist grundsatzlich ausdrucklich zu begrufien. Doch konkrete Kriterien der U bersetzungsqualitat werden im m er aus einer be- Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
40 Małgorzata Jokiel stim m ten Perspektive u nd zu intendierten Zwecken konstruiert. Der Anspruch auf Allgemeingultig eines iibersetzungskritischen Modells ist meines Erachtens daher ais illusorisch zu werten, denn es ist zwar beispielsweise durchaus móglich, U bersetzungen von literarischen W erken nach sprachwissenschafflichen bzw. linguistisch orientierten translationsw issenschaftlichen Kriterien zu bewerten oder auch Fachubersetzungen im Sinne der DTS zu untersuchen, doch nur zu bestim m ten Zwecken, ohne dass dabei sachgemalse Ergebnisse erzielt werden konnen, weil m an gleichzeitig relevante Aspekte der jeweiligen Dom ane aus den Augen verliert. Eine Vereinheitlichung von Ubersetzungskriterien fur alle Text- typen und Gattungen ist nach m einer Uberzeugung nur in groben Ziigen moglich (z. B. im Hinblick auf die Funktion) u nd gar nicht in vollem Umfang erstrebens- wert. In diesem Zusam m enhang wurde anhand der von Kupsch-Losereit heraus- gearbeiteten, nach M einung der Autorin „fiir alle Bereiche giiltigen“ Parameter gezeigt, dass die linguistische u n d literaturwissenschaftliche O ptik in Bezug auf die Bewertung der U bersetzungsąualitat weit auseinandergehen. Auch wenn man dabei teilweise sogar m it den gleichen Begrilfen operiert, werden darunter andere Sachverhalte verstanden. Dieser U m stand fuhrt zu zahlreichen M issverstand- nissen, was ich an dem jeweiligen Param eter zu dem onstrieren versuchte. W ahrend asthetische Fragestellungen in Bezug auf literarisches Ubersetzen fur die linguistisch orientierte translationswissenschattliche Forschung gegenwartig eher auf wenig Interesse stofien,5 scheint es, dass die literaturwissenschaftliche U ntersuchung ihre disziplinspezifischen Fragestellungen unter U mstanden, wie von Levy prophezeit, um gewahlte sprachwissenschaftliche Kriterien erweitern kónnte, um den aktuellen sprachlichen (wie z. B. Mehr- oder gar Quersprachig- keit, Sprachvarietaten) u nd auftersprachlichen (Migrationsbewegungen, Misch- identitaten) Flerausforderungen m oderner literarischer Texte gerecht zu werden. Solche Kriterien sind allerdings in dem besprochenen Ansatz nicht vorhanden. D er Weg zur Objektivierung der Q ualitatsbew ertung von literarischen U ber setzungen fuhrt meines Erachtens einerseits iiber eine transparente Aufstellung und Offenlegung der Bew ertungskriterien durch den Kritiker sowie iiber eine umfassende und nachvollziehbare Begriindung abgegebener Urteile. 5 D ennoch gibt es beispielsweise innerhalb der polnischen G erm anistik linguistisch o ri entierte translationswissenschattliche U ntersuchungen, die sich auf literarische Texte stiitzen und dabei asthetische Aspekte beriicksichtigen vgl. A rbeiten von Germ anisten aus Rzeszów (z. B. M ałgorzata Sieradzka, Paweł Bąk). Pobrano z https://repo.uni.opole.pl / Downloaded from Repository of Opole University 2021-09-10
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