Wahlversprechen und Abstimmungsverhalten - Zenodo

 
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Wahlversprechen und
               Abstimmungsverhalten
   Empirische Mixed Methods Studie zu Positionsveränderungen von
                         Nationalrät*innen

                                  Bachelorarbeit
                                zur Erlangung des
                                 Bachelorgrades
               der Kultur- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der
                                Universität Luzern

                                  vorgelegt von

                                    Urs Joller
                                   18-452-078

                           Eingereicht am: 01.03.2021

Gutachter: Sean Müller
Urs Joller, 18-452-078                                                                                              Universität Luzern

Inhalt
Tabellenverzeichnis .................................................................................................................... 3

Abbildungsverzeichnis ............................................................................................................... 3

Abstract ...................................................................................................................................... 4

1      Begründung der Arbeit und Fragestellung ......................................................................... 5

2      Positionsveränderungen in parlamentarischen Prozessen .................................................. 7

    2.1        Voting Advice Application ........................................................................................ 7

    2.2        Repräsentation ............................................................................................................ 9

    2.3        Wahlversprechen ...................................................................................................... 10

    2.4        Person ....................................................................................................................... 11

       2.4.1       Persönlichkeit ....................................................................................................... 11

       2.4.2       Geschlecht ............................................................................................................ 12

       2.4.3       Kognition .............................................................................................................. 13

    2.5        Fraktion und Partei ................................................................................................... 15

    2.6        Ausserparlamentarische Einflüsse............................................................................ 18

       2.6.1       Lobbying .............................................................................................................. 18

       2.6.2       Medien .................................................................................................................. 19

       2.6.3       Wähler*innen ....................................................................................................... 20

3      Mixed Methods Ansatz .................................................................................................... 21

    3.1        Quantitative Untersuchung ....................................................................................... 23

       3.1.1       Datenbasis und abhängige Variable ..................................................................... 23

       3.1.2       Unabhängige Variablen ........................................................................................ 27

       3.1.3       Analyse ................................................................................................................. 30

       3.1.4       Ergebnisdarstellung .............................................................................................. 31

    3.2        Qualitative Untersuchung ......................................................................................... 34

       3.2.1       Stichprobe............................................................................................................. 35

       3.2.2       Datenerhebung ..................................................................................................... 36

       3.2.3       Datenauswertung .................................................................................................. 40
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       3.2.4      Ergebnisdarstellung: Qualitative Analyse der Kategorien ................................... 47

4      Diskussion ........................................................................................................................ 52

5      Fazit .................................................................................................................................. 55

Literaturverzeichnis .................................................................................................................. 59

Anhang 1: Operationalisierung der unabhängigen Variablen nach Schädel, Schwarz und
Ladner (2016) ........................................................................................................................... 63

Anhang 2: Anfrage und Erinnerungsmail an die Nationalrät*innen ........................................ 64

Anhang 3: Interview-Leitfaden ................................................................................................ 65

Anhang 4: Codesystem............................................................................................................. 66

Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Fallauswahl für die quantitative Analyse. ............................................................... 24
Tabelle 2: Proximity Matrix der abhängigen Variable............................................................. 25
Tabelle 3: Anzahl an MPs und Abstimmungen im Daten-Set. ................................................ 26
Tabelle 4: Veränderungen der Positionen von Smartvote-Umfrage zu Abstimmungsverhalten.
       .......................................................................................................................................... 26
Tabelle 5: Mittelwert der unveränderten Positionen der Nationalratsmitglieder nach Partei.
       Gegenüberstellung der Daten dieser Untersuchung und jener von Schwarz, Schädel und
       Ladner (2010). .................................................................................................................. 27
Tabelle 6: Logit-Modelle für die Veränderung der Position zwischen Smartvote-Umfrage und
       Abstimmung im Nationalrat in der Übersicht. ................................................................. 33
Tabelle 7: Bestimmung der Stichprobe für die qualitative Studie. .......................................... 36
Tabelle 8: Übersicht über die Reaktionen auf die Interview-Anfragen. .................................. 36

Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Ablaufmodell des Datenauswertungsprozesses nach der zusammenfassenden
       Inhaltsanalyse (Mayring 1991; Mayring und Fenzel 2019). ............................................ 42

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Abstract
 In dieser Arbeit wird untersucht, wie sich Positionswechsel von Parlamentarier*innen in
 Bezug auf Ratsgeschäfte erklären lassen. Grundlage dazu bieten Unterschiede zwischen den
 Angaben der Nationalrät*innen in der Voting Advice Application Smartvote zum Zeitpunkt
 vor den Wahlen und dem Abstimmungsverhalten im Rat.
 Die Arbeit verfolgt einen Mixed Methods Ansatz und beforscht die Fragestellung mit einer
 quantitativen und einer qualitativen Untersuchung.
 Der quantitative Teil umfasst eine logistische Regressionsanalyse, welche sich vom Aufbau
 an der Untersuchung von Schwarz, Schädel und Ladner (2010) orientiert. Der qualitative
 Teil umfasst neun Expert*innen-Interviews mit Nationalratsmitgliedern.
 Aus der logistischen Regressionsanalyse ergibt sich ein optimiertes Modell mit sechs
 signifikanten Variablen, welche einen Zusammenhang zu Positionsveränderungen von
 Parlamentarier*innen aufweisen: Alter, Unentschlossenheit zum Zeitpunkt der Smartvote-
 Erhebung, Uneinigkeit mit der Fraktionsmehrheit, Wichtigkeit der Abstimmung auf den
 Gesetzgebungsprozess, Zeitspanne zwischen Smartvote-Erhebung und Abstimmung im
 Parlament sowie Zugehörigkeit zu einer Mittepartei.
 Aus der qualitativen Untersuchung können noch zwei Faktoren ergänzt werden, von denen
 ebenfalls ein direkter Einfluss auf Positionsveränderungen angenommen werden darf: Es
 sind dies ausserparlamentarische Einflüsse (allen voran das Lobbying) und das
 Selbstverständnis als Politiker*in Bezug auf Rolle (z.B. Repräsentationsfunktion, Ziel
 parlamentarischer Arbeit) und Grundwerte der Persönlichkeit.

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1 Begründung der Arbeit und Fragestellung
In der politikwissenschaftlichen Forschung hat die Thematik Voting Advice Applications
(VAA) in den letzten zwanzig Jahren hohe Verbreitung erfahren. VAAs geben uns die
Möglichkeit, Wähler*innen und Politiker*innen gleichermassen zu beforschen und damit
zentrale Akteur*innen in der repräsentativen Demokratie besser zu verstehen. In der Schweiz
hat sich mit Smartvote ein für die Forschung über Politiker*innen besonders geeignetes VAA
etabliert. Die Bereitschaft der Kandidierenden ist sehr hoch, die über 60 Fragen zu
beantworten. Smartvote erstellt für jede Person ein Profil mit den jeweiligen Policy-
Präferenzen. In Kombination mit dem Abstimmungsverhalten gewählter
Parlamentarier*innen können diese Daten für ein besseres Verständnis der Meinungsbildung
genutzt werden.

Die vorliegende Arbeit fokussiert auf Veränderungen politischer Positionen, wie sie sichtbar
werden, wenn Positionierungen im VAA vom effektiven Abstimmungsverhalten abweichen.
Ziel dieser Arbeit ist es, einen Beitrag zum besseren Verständnis von Positionswechseln von
Parlamentarier*innen zu leisten.

Es wird untersucht, welche Gründe für Nationalrät*innen relevant sind, bei bestimmten
Geschäften ein anderes Abstimmungsverhalten zu zeigen, als sie vor den nationalen Wahlen
2019 auf Smartvote vertreten haben. Dieser Arbeit liegt die folgende Fragestellung zugrunde:

       Was erklärt Abweichungen im Abstimmungsverhalten von Nationalrät*innen
       gegenüber den vor der Wahl gemachten Aussagen auf Smartvote?

Die Arbeit leistet damit einen Beitrag zum Forschungsfeld der Parlamentsforschung
(legislative studies), da sie sich mit den Institutionen und dem Funktionieren des Schweizer
Parlaments auseinandersetzt.

Die Fragestellung ist relevant, weil sie eine immer wichtiger werdende Schnittstelle zwischen
Wähler*innen und Politiker*innen in den Fokus rückt. So wurden auf Smartvote rund 2,1
Millionen Wahlempfehlungen ausgestellt, es nutzten also rund 20% der Wähler*innen die
Plattform (Smartvote.ch 2021). Die VAAs sind ein zentrales Wähler*innen-Instrument für die
Auswahl der Kandidierenden, denen man die Stimme geben will. Smartvote präsentiert sich
entsprechend auch so, dass sich feststellen lasse, welche Politiker*innen die eigene Meinung
am besten repräsentierten (Smartvote.ch 2021).

Methodisch basiert die Bachelorarbeit auf einem Mixed Methods Ansatz, welcher quantitative
und qualitative Methoden verbindet. In einem ersten Teil wird aus einer quantitativen
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Perspektive geklärt, zu welchen Veränderungen es in den Positionen der Nationalrät*innen in
der laufenden Legislatur gekommen ist. Dazu wird eine logistische Regression durchgeführt,
wobei der Positionswechsel die abhängige Variable darstellt. Bei diesem Forschungsdesign
handelt es sich um eine Replikation der Arbeit von Schwarz, Schädel und Ladner (2010),
welche Veränderungen zwischen den Smartvote-Einträgen und dem Abstimmungsverhalten
für den Zeitraum von 2003 bis 2009 untersucht haben. Die Replikation hat das Ziel die
Resultate kritisch zu prüfen und als Basis für meine qualitative Untersuchung zu validieren.

In einem zweiten Teil wird mit qualitativen Methoden nach Erklärungen für
Positionsveränderungen gesucht. Dazu werden Interviews mit Nationalrät*innen
durchgeführt. Die 30-minütigen Befragungen wurden durch einen Leitfaden strukturiert und
fanden aufgrund der Rahmenbedingungen grossmehrheitlich online statt. Für die Fallauswahl
wurde auf die Daten der quantitativen Analyse abgestützt. Die Interviews wurden mittels
einer qualitativen zusammenfassenden Inhaltsanalyse nach Mayring (1991) ausgewertet. Das
aus dieser Analyse entstandene Kategoriensystem liefert zum einen vertiefte Erkenntnisse zu
den Ergebnissen des quantitativen Teils und dient zum anderen zur Exploration von weiteren
Faktoren, welche einen Positionswechsel von Parlamentarier*innen erklären können.

Somit gliedert sich die Bachelorarbeit wie folgt: Nach dieser Einleitung wird im Theorieteil
dargelegt, welchen Blick die Forschung auf VAAs wirft und es wird insbesondere ihre
Bedeutung für die Repräsentation und das Wahlversprechen beleuchtet. Im Kern geht es um
die Frage, ob die Antworten auf Smartvote tatsächlich als Positionsbezüge der
Parlamentarier*innen verstanden werden können.

Weiter wird auf Forschung zur Meinungsbildung und zu Positionswechseln von
Parlamentarier*innen eingegangen. Dargestellt werden Erkenntnisse zu personenbezogenen
Faktoren wie Persönlichkeit, Geschlecht oder die psychologischen Grundvoraussetzungen der
politischen Meinungsbildung. Anschliessend wird der Einfluss von Fraktion und Partei, von
Lobbying, Medien und Wähler*innen auf die Positionsfindung beleuchtet.

Im anschliessenden Methodenteil wird das Mixed Methods Design ausgeführt, bevor dann die
Ergebnisse der quantitativen und qualitativen Untersuchung präsentiert werden.

Abschliessend werden die Resultate von beiden Untersuchungen in einer Diskussion
zusammengeführt und die Arbeit wird in einem Fazit verdichtet.

An dieser Stelle bedanke ich mich bei allen Personen, die mich beim Verfassen dieser Arbeit
unterstützt haben. Allen voran Sean Müller für die inspirierende und fachkundige Betreuung
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der Arbeit. Weiter danke ich dem Team von Smartovote.ch für die Bereitstellung des
Datensatzes für meine Analyse. Ebenso danke ich folgenden Nationalrät*innen, welche ich im
Rahmen dieser Arbeit interviewen durfte: Martin Candinas (Mitte/GR), Thomas de Courten
(SVP/BL), Doris Fiala (FDP/ZH), Kurt Fluri (FDP/SO), Thomas Rechsteiner (Mitte/AI),
Franziska Roth (SP/SO), Andri Silberschmidt (FDP/ZH), Lilian Studer (EVP/AG) und Beat
Walti (FDP/ZH). Wie vereinbart werden ihre Aussagen im Folgenden anonym behandelt und
es werden keine Rückschlüsse weder auf ihre Person noch auf ihre Parteizugehörigkeit
gezogen.

2 Positionsveränderungen in parlamentarischen Prozessen
In diesem Theorieteil werden Ansätze zur Erklärung von Positionswechseln von
Parlamentarier*innen erläutert. Dabei werden verschiedene Schwerpunkte gesetzt, welche wie
folgt gegliedert sind.

In einem ersten Unterkapitel werden Voting Advice Applications (VAA) und insbesondere
Smartvote aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive betrachtet.

Dann wird die Frage der Repräsentation diskutiert und es wird ihre Bedeutung für diese
Arbeit geklärt.

Anschliessend wird auf den Begriff Wahlversprechen eingegangen und die Frage, ob eine
Antwort im Smartvote-Fragebogen als Wahlversprechen verstanden werden kann.

Schliesslich werden personenbezogene Faktoren untersucht. Dazu zählen die Persönlichkeit,
das Geschlecht, aber auch kognitionspsychologische Aspekte zur Erklärung von
Meinungsbildung und Positionswechseln in politischen Fragen.

Dann wird der Einfluss von parlamentarischen (Partei, Fraktion) und von
ausserparlamentarischen Akteur*innen (Medien, Wähler*innen, persönliches Umfeld,
Lobbying) auf die Position zu einem Geschäft thematisiert.

Abschliessend wird die Bedeutung des parlamentarischen Prozesses für die Meinungsbildung
thematisiert.

2.1   Voting Advice Application
Voting Advice Applications zeichnen sich nach Garzia und Marschall (2019) durch ein
gemeinsames Ziel aus. Sie versuchen die Positionen von Parteien oder politischen
Kandidat*innen anhand von Haltungen zu Policies zu bestimmen und diese mit jener der
Wähler*innen abzugleichen. Schliesslich geben VAAs eine Liste aus, in welcher die Parteien
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oder Kandidat*innen nach deren Übereinstimmung mit dem Wähler*innenprofil geordnet
sind. Gewisse VAAs stellen die Positionierungen auch grafisch dar und machen die
Übereinstimmung und Abweichung noch augenfälliger.

VAAs sind für die Politikwissenschaften interessant, da sie Daten über Parteien,
Kandidierende und Wähler*innen erheben. Dies schlägt sich in unzähligen
Forschungsarbeiten der letzten zwanzig Jahre nieder. Einen guten Überblick liefern Garzia
und Marschall (2012) und Munzert und Ramirez-Ruiz (2021) mit Meta-Analysen und
Literatur-Reviews zum Feld der VAAs.

VAAs haben aber nicht nur für die Politikwissenschaft eine Bedeutung, sondern sie verändern
auch den Wahlkampf und die Wahlentscheidung der Wähler*innen. Dabei ist der Effekt
immer auch von der Verbreitung und Anzahl Nutzer*innen abhängig. Da sich in VAAs
Parteien und Kandidat*innen nicht nur zu den ihnen wichtigen Themen, sondern zu einem
breiteren Themenspektrum äussern müssen (Kleinnijenhuis et al. 2019, 300), können VAAs
die Dynamik von Wahlen nachhaltig prägen.

VAAs können durchaus suggerieren, dass Positionsbezüge von den Wählenden als konkrete
Wahlversprechen aufgefasst werden können. Es kann die Erwartung entstehen, dass die
Parlamentarier*innen sich dann im Parlament nach diesen Positionen verhalten. Damit besteht
das Risiko, dass durch VAAs die Nationalrät*innen nicht mehr dieselben Möglichkeit haben,
ihre Meinung in der parlamentarischen Meinungsbildung zu verändern (Ladner 2016b, 12).

In der Schweiz ist das verbreitetste VAA Smartvote. Der Fragenkatalog, auf dem Smartvote
basiert, hat sich in den letzten Jahren von Wahl zu Wahl verändert. Die Forschung zu
Smartvote konnte bereits verschiedene Effekte des VAAs aufzeigen. So etwa, dass Smartvote
bei den nationalen Wahlen 2007 die Stimmbeteiligung um rund 1.2 % erhöht hat und damit
neben einer informierenden auch über eine mobilisierende Komponente verfügt (Germann
und Gemenis 2019, 149). Ladner, Fivaz und Pianzola (2012, 382) stellen fest, dass Smartvote
im Vergleich zu anderen VAAs einen überdurchschnittlichen Einfluss auf die
Wahlentscheidung der Benutzer*innen hat.

Bei einer Befragung von Nutzer*innen zeigte sich, dass zwei Drittel der Teilnehmenden ihren
Wahlentscheid durch Smartvote beeinflusst sahen und von diesen ein Drittel darum sogar eine
andere Partei gewählt haben (Pianzola 2014, 667). Dies könnte mit der Tatsache
zusammenhängen, dass im Schweizer Wahlsystem effektiv die Kandidat*innen gewählt

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werden können, welche eine besonders hohe Übereinstimmung mit einem selbst haben, und
somit die Parteizugehörigkeit dem individuellen Profil untergeordnet wird.

Da stellt sich die Frage, ob es sich nicht lohnen würde, die Fragen nicht wahrheitsgetreu,
sondern strategisch auszufüllen und damit seine Wahlchancen zu erhöhen. Diese Frage ist
gerade im Zusammenhang mit der Forschungsfrage dieser Arbeit relevant, da die Smartvote-
Antworten die Referenzmessung für die Feststellung von veränderten Positionen darstellen.
Ladner (2017, 350) meint dazu, dass „es kaum Anzeichen dafür [gibt], dass Smartvote
systematisch benutzt wird, um gewisse Wählersegmente anzusprechen oder die
Kandidierenden auf eine einheitliche Linie zu verpflichten.“ Somit gehe ich in meiner Arbeit
davon aus, dass die Antworten von Smartvote die tatsächlichen Positionen der
Parlamentarier*innen zum Zeitpunkt der Beantwortung des Smartvote-Fragenkatalogs
darstellen.

2.2    Repräsentation
VAAs haben auch einen Einfluss darauf, wie die Repräsentation zwischen Prinzipal
(Wähler*in) und Agent (Parlamentarier*in) organisiert ist. Zu dieser Beziehung gibt es in der
demokratietheoretischen Literatur verschiedene Beschreibungen. Das VAA ermöglicht eine
Auswahl von Agenten, welche bereits vor den Wahlen ähnliche Positionen wie der Prinzipal
aufweisen. Damit stellt das VAA eine Beziehung zwischen Prinzipal und Agent her, in
welcher die beiden schon im Voraus ähnliche Ziele haben. Mansbridge (2016) spricht hier
vom Selection Model.

Dieses stellt ein alternatives Modell zum Sanctions Model dar, in welchem der Agent darum
im Sinne des Prinzipals handelt, weil bei der kommenden Wahl eine schlechte Repräsentation
bestraft werden könnte. In der Realität sind in einer demokratischen Wahl immer beide
Modelle in Kraft, welche je nach Setting unterschiedlich ausgeprägt sind (Mansbridge 2016,
12).

Das Selection Model bietet den Vorteil, dass die Wähler*innen nicht ständig die von ihnen
gewählten Parlamentarier*innen überwachen müssen. Weiter ergibt sich daraus auch ein
Spielraum für Deliberation, in welchem der Agent seine Haltung revidiert. Voraussetzung
dafür ist aber eine offene Kommunikation über die Beweggründe für einen Meinungswechsel.
Mit dieser Arbeit sollen die Beweggründe für Meinungswechsel von Parlamentarier*innen
besser erklärt werden. Dies ist insofern wichtig, da eine funktionierende Repräsentation eine
Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie ist. Denn ein Verlust an Vertrauen

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kann zu Politikabstinenz oder gar einer Apathie gegenüber der Demokratie führen, welche
dann sogar in anti-demokratisches Verhalten kippen könnte. Und letztlich stärkt der Verlust
von Vertrauen Populist*innen (Bühlmann und Fivaz 2016, 2).

2.3   Wahlversprechen
Aus einem mandatstheoretischen Demokratieverständnis heraus, wie es etwa Anthony Downs
vertritt, ist eine starke Übereinstimmung von Wahlversprechen und den Handlungen der
gewählten Politiker*innen ein zentrales Element für eine gut funktionierende Demokratie
(Mansergh und Thomson 2007, 311). Diese Feststellung ist relevant für diese Arbeit, wenn
die Smartvote-Antworten als Wahlversprechen verstanden werden. In diesem Fall wären
Positionsveränderungen als erheblich, ja gar als Bedrohung der Demokratie zu beurteilen.

Für diese Relevanz spricht auch die Tatsache, dass Wahlversprechen das Wahlverhalten der
Bürger*innen direkt beeinflussen, wie Dupont et al. (2016) zeigen konnten. Auch sie betonen
dabei die Glaubwürdigkeit und damit indirekt die Verlässlichkeit als zentrales Merkmal eines
Wahlversprechens. Die Glaubwürdigkeit von Versprechen hängt vom allgemeinen Vertrauen
in die Politik, wie auch vom konkreten Vertrauen in die entsprechende Partei und Politiker*in
ab.

Dupont et al. (2016, 9) nennen drei Merkmale, die ein Wahlversprechen ausmachen: Die
Verbindlichkeit, welche sprachlich ausgedrückt wird, die Konkretheit von Aussagen und dass
sie sich auf ein politisches Thema beziehen müssen.

Bezüglich der Verbindlichkeit gibt es verschiedene Variationen, welche sprachlich
ausgedrückt werden können. So lassen sich die zukunftsbezogenen Aussagen an Wörtern wie
„werden“, „wollen“ oder „möchten“ unterscheiden und inhaltlich abstufen. In der Literatur
wird dies in „hard“ und „soft pledges“ unterschieden (Dupont et al. 2016, 9).

Die Konkretheit lässt sich daran feststellen, dass ein geringer Handlungsspielraum für eine
Umsetzung besteht bzw. eine Umsetzung nur auf eine bestimmte Art möglich ist (Dupont et
al. 2016, 10).

Weiter ist es für ein Wahlversprechen notwendig, dass es sich auf einen politischen
Sachverhalt bezieht. Aussagen ausserhalb der politischen Sphäre gelten nicht als
Wahlversprechen (Dupont et al. 2016, 10).

Die Autoren der Studie stellen fest, dass Wahlversprechen je glaubwürdiger sind, desto
weniger verbindlich sie formuliert sind.

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Betrachtet man den Smartvote-Fragebogen, so stellt man fest, dass diese Fragen und
Antworten alle Merkmale von Wahlversprechen aufweisen. Beispielhaft kann dies an
folgender Frage aufgezeigt werden (Smartvote.ch 2019):

       „Sollen die Renten der Pensionskasse durch eine Senkung des Umwandlungssatzes
       gekürzt und an die gestiegene Lebenserwartung angepasst werden?“

Das Verb „sollen“ in der Frage zeigt klar an, dass es sich um eine verbindliche Aussage
handelt. Alle Fragen im Fragebogen beginnen mit der Formulierung „sollen“ oder
„befürworten sie“. Die Abstufung zwischen hard und soft pledges würde sich dann aus der
Antwort ergeben. Weiter ist die Frage konkret, denn sie bezieht sich klar auf ein politisches
Geschäft, nämlich die Höhe des Umwandlungssatzes. Ebenso ist die Höhe des
Umwandungssatzes eindeutig ein politisches Thema.

Aus diesem Grund werden im Rahmen dieser Arbeit fortan die Antworten von Smartvote als
Wahlversprechen verstanden, welche authentische politische Standpunkte der zu diesem
Zeitpunkt kandidierenden Politiker*innen abbilden.

2.4   Person
Wenn es um die Frage geht, wieso eine Parlamentarier*in ihre Position zu einem Thema
verändert, so müssen auch individuelle, personbezogene Erklärungsansätze berücksichtigt
werden. In diesem Kapitel wird auf verschiedene Erklärungsansätze zur
Entscheidungsfindung eingegangen, welche zu erklären versuchen, wie persönliche Faktoren
die Meinungsbildung einer Politiker*in beeinflussen. Es wird der Frage nachgegangen,
welchen Einfluss der Habitus einer Person darauf hat, wie Entscheide in politischen
Kontexten getroffen werden. Anschliessend wird der Einfluss des Geschlechts thematisiert,
um schliesslich die kognitive Ebene und ihren Einfluss zu beleuchten. Abschliessend wird auf
die Frage der Risikobereitschaft eingegangen und es wird zusammengefasst, welche
Implikationen diese Punkte für die Fragestellung haben.

2.4.1 Persönlichkeit
Sheffer et al. (2018, 317–18) erkennen drei Gründe dafür, dass sich die Persönlichkeit von
gewählten Politiker*innen von jener der durchschnittlichen Bevölkerung unterscheidet, es
also systematische Unterschiede in der Persönlichkeitsstruktur geben kann. Als erstes ist die
Wahl in ein Amt immer ein Selektionsprozess. Somit ist es möglich, dass ein bestimmter
Persönlichkeitstyp die Wahrscheinlichkeit einer Wahl erhöht und in Parlamenten effektiv
überrepräsentiert vorkommt. Dies kann nicht nur Persönlichkeitsprofile betreffen, sondern

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auch sozioökonomische und demographische Dimensionen. Zweitens kann das Lernen im
Amt selbst zu einer Veränderung im Verhalten von Gewählten führen. Und drittens passieren
politische Entscheide immer in einem sehr spezifischen Umfeld. Insbesondere die
Verantwortung, welche man hat, könnte zu einem systematisch veränderten Verhalten führen,
was über die Zeit zu Veränderungen in der Persönlichkeitsstruktur führen kann.

Auch Auyero und Benzecry (2017) haben sich der Frage angenommen, ob es in der
Persönlichkeitsstruktur von Parlamentarier*innen zu Veränderungen kommt. In einem ersten
Versuch haben sie probiert, einen Typus eines politischen Habitus zu skizzieren. Dieser
Habitus wird in einer sehr spezifischen politischen Welt reproduziert, zu welcher sie etwa
Parteien, soziale Bewegungen, Gewerkschaften oder auch Parlamente zählen. Als Ergebnis
haben sie einen klientilistischen Habitus ausgemacht, welcher sich durch die spezifische
Struktur innerhalb von politischen Parteien bildet. Er lässt sich nicht nur durch eine
Aneinanderreihung von Tauschgeschäften charakterisieren, sondern ist auch von einem
diffusen Macht- und Interaktionsverhältnis geprägt.

Es ist also davon auszugehen, dass verschiedene institutionelle Kontexte unterschiedliche
Formen eines politischen Habitus hervorbringen.

In einer anderen Forschung zum Einfluss von Persönlichkeit in der Politik hat Best (2011)
Mitglieder des Bundestags auf ihre Policy Präferenzen hin untersucht. Die Forschung zeigt als
Evidenz, dass Persönlichkeitsmerkmale einen Einfluss darauf haben, ob ein Abgeordnete*r
eine Policy unterstützt oder nicht. Es besteht also ein Zusammenhang zwischen politischen
Entscheidungen und Persönlichkeitsmerkmalen.

2.4.2 Geschlecht
Ein weiterer Faktor, welcher auf das Treffen von Entscheidungen im Parlament einen Einfluss
haben könnte, ist das Geschlecht von Parlamentsmitgliedern.

Laut Erikson und Verge (2020, 2) ist dieser Einfluss aber sehr beschränkt. Sie beschreiben in
ihrem Beitrag aber verschiedene Formen von Ungleichheiten, welche im Resultat eine
Verzerrung der Repräsentation von Frauen im Parlament zur Folge haben kann.

Dass es Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Politiker*innen in ihrem
Entscheiden gibt, zeigt auch das Experiment von Sheffer (2019). Dabei wurde bei weiblichen
Parlamentsmitgliedern ein stärkerer Status-Quo Bias feststellen als bei ihren männlichen
Kollegen. Dieser Unterschied zeigte sich in der Vergleichsgruppe von Nicht-Politiker*innen
nicht. Dies wird auf zwei Gründe zurückgeführt. Zum einen auf eine grössere Aversion
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gegenüber Risiken bei Frauen. Zum anderen seien Parlamentarierinnen mehr Kritik von
Seiten der Öffentlichkeit ausgesetzt als ihre Kollegen, was zu einem defensiveren Verhalten
motiviere. Da ein Abweichen vom Status-Quo genau ein solcher Anlass für Kritik darstellen
könne, führe dies zu einem stärker ausgeprägten Status-Quo Bias (Sheffer 2019, 10).

Das Geschlecht scheint also einen Unterschied zu machen, ob und wie ein Parlamentsmitglied
Entscheidungen trifft.

2.4.3 Kognition
Wenn es in der Politikwissenschaft um das Verhalten von Politiker*innen geht, wurde die
Forschung der Kognitionspsychologie lange Zeit kaum beachtet (Hafner-Burton, Hughes und
Victor 2013, 378; Schoen 2006, 90). In neuerer Zeit wendet zum Beispiel Schoen (2006) die
kognitionspsychologische Perspektive auf die politische Meinungsbildung an. Dies tut er zwar
bezogen auf die breite Bevölkerung, jedoch lassen sich diese Feststellungen auch auf
gewählte Politiker*innen übertragen, wie wir später sehen werden.

Unser Langzeitgedächtnis besteht aus verschiedenen Knoten, welche durch Verknüpfungen
miteinander verbunden sind. Dabei hat eine politische Expert*in viele und auch einfacher
aktivierbare Knoten zu Politik, was ein Unterschied zu einer politisch weniger gebildeten
Person ausmacht. Diese kognitive Architektur ist die Grundlage für die
Informationsverarbeitung zu politischen Themen. Müssen nun neue Informationen verarbeitet
werden, ist das bisherige politische Wissen dominant, da dieses einfach aktiviert wird und
somit jenes Neue leicht angeknüpft werden kann. Ob solche Anknüpfungen passieren, hängt
von der Motivation eines Menschen bei der Informationsverarbeitung ab. Die
Kognitionspsychologie unterscheidet da zwischen zwei verschiedenen Arten von Motivation.
Zum einen gibt es die accuracy goals. Diese motivieren Menschen dazu, nach einem
objektiven Bild der Realität zu streben und dann die richtige Entscheidung daraus abzuleiten.
Unter Einfluss dieses Ziels werden bisher gewonnene Erkenntnisse durchaus auch
angezweifelt und hinterfragt (Schoen 2006, 91).

Zum anderen gibt es die directional goals, welche Menschen dazu veranlassen, aktiv
Informationen zu suchen, welche die bereits vorhandene Sichtweise stützen. Damit werden
nicht konsistente Informationen relativiert, umgedeutet oder aktiv gemieden. Solange sich
gute Gründe finden lassen, kann dies durchaus auf Kosten der eigenen Realitätsnähe gehen
(Schoen 2006, 91).

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Damit accuracy goals aktiviert werden, müssen die Folgen einer Entscheidung mit
gravierenden Auswirkungen auf einem selbst wahrgenommen werden. Dies ist aber bei
politischen Entscheidungen nicht immer gegeben (Schoen 2006, 92).

Kombinieren sich beide Motivationstypen, werden die parteilichen Verzerrungen grösser, als
wenn nur ein Typus vorhanden ist (Schoen 2006, 92).

Die politische Meinungsbildung kann nun als Wechselspiel zwischen einerseits den im
Langzeitgedächtnis gespeicherten Kenntnissen, welche unter dem Einfluss der eigenen
Überzeugungen und Affekte stehen, und andererseits den Informationen aus der Umwelt
verstanden werden. Das Gewicht, welches den einzelnen Faktoren gegeben wird, hängt von
den motivationalen und kognitiven Voraussetzungen ab, welche eine Person mitbringt und
sind ebenfalls durch äussere Faktoren beeinflusst (Schoen 2006, 92).

Für den Prozess der Entscheidungsfindung wird im Alltag nicht selten auf Heuristiken, also
vereinfachende Annahmen zurückgegriffen. Solche Heuristiken ermöglichen einfaches
Entscheiden und sind auch in der Politik geläufig. So bieten etwa Parteien eigene
Interpretationen der Realität an, welche die zur Wahl stehenden Handlungsmöglichkeiten zu
bestimmten Policy-Fragen reduzieren. Dies geschieht, indem sie diese auf eine kleine Zahl an
sich wechselseitig ausschliessenden Optionen verkleinern und dann in ein grösseres
Ideengebäude einbetten (Schoen 2006, 94).

Auch grundlegende Wertorientierungen haben einen Einfluss auf die Beurteilungen von
Sachfragen. Ein politisches Argument hat dann die beste Möglichkeit, die Meinung von
jemandem zu verändern, wenn diese mit der Wertorientierung dieser Person übereinstimmt.
Solche Wertorientierungen dürfen aber nicht überschätzt werden, wenn es um ihre
strukturierende Wirkung geht. So sind Wertorientierungen nicht bei allen Menschen gleich
ausgeprägt und müssen eine gewisse Intensität haben, damit eine strukturierende Wirkung zu
erwarten ist. Und selbst unter dem Einfluss von starken Wertorientierungen führt dies nicht
unbedingt zu stabilen Policy-Präferenzen. Diese können sehr wohl auch individuellen
Meinungsschwankungen unterworfen sein (Schoen 2006, 95–96).

Nun könnte davon ausgegangen werden, dass Parlamentarier*innen durch ihre Erfahrung im
Treffen von Entscheidungen von solchen Effekten weniger betroffen sind. Die Forschung von
Sheffer et al. (2018) legt einen anderen Schluss nahe. Sie kommen in ihren Experimenten mit
gewählten Politiker*innen aus Israel, Belgien und Kanada zum Schluss, dass Politiker*innen
gleich stark oder stärker von kognitiven Anomalien bei Entscheidungen betroffen sind, wie

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die entsprechende Durchschnittsbevölkerung. Sie stellen fest, dass Politiker*innen eher
Lösungen wählen, welche ihnen als Status-Quo präsentiert werden oder dass sie anfälliger auf
Framing-Effekte sind. Damit widerlegen sie die Annahme von Politikwissenschaftler*innen,
dass Politiker*innen als eine Gruppe verstanden werden kann, die eine starke Motivation
aufweist, bestehende Policy abzuschaffen oder zu verändern (Sheffer 2019, 9).

Weitere Forschung von Sheffer und Loewen (2019) zeigte auch, dass die Rechenschaft
(accountability), welche Politiker*innen bei kommenden Wahlen ablegen müssen, durchaus
einen Einfluss auf die Entscheide von Politiker*innen haben. So hat ein Experiment mit
lokalen Parlamentarier*innen ergeben, dass die Betonung der demokratischen
Rechenschaftsplicht, welche durch eine höhere Sichtbarkeit und Nähe zu Wahlen
operationalisiert wurde, zu einem riskanteren Verhalten geführt hat. Dieser Effekt hat sich
aber nur bei jenen Abgeordneten gezeigt, welche zur Wiederwahl anzutreten beabsichtigten.
Somit scheint es einen Unterschied zu machen, ob jemand noch länger in der Politik bleiben
möchte oder nicht.

Man kann also insgesamt Unterschiede zwischen der übrigen Bevölkerung und
Parlamentarier*innen sehen, wenn es um das Treffen von Entscheidungen geht. Jedoch ist
laut Sheffer (2018, 158–59) wichtig zu betonen, dass Politiker*innen nicht als eine homogene
Gruppe verstanden werden können. Neben ideologischen und soziodemografischen Faktoren
spielen etwa Persönlichkeitsmerkmale und Karrierepläne eine Rolle.

Gesamthaft ist davon auszugehen, dass die Komplexität politischer Entscheidungen sehr viel
stärker von motivational-affektiven Faktoren bewältigt wird, als von purer Rationalität.

2.5   Fraktion und Partei
Die Analyse von Schwarz, Schädel und Ladner (2010) hat gezeigt hat, dass bei der Fraktion
die zentrale Erklärung liegt, warum eine Parlamentarier*in ihre Position ändert. Somit scheint
es sinnvoll zu sein, sich mit dem Thema Fraktionsdisziplin bei Abstimmungen vertiefter
auseinanderzusetzen.

Traber, Hug und Sciarini (2014) untersuchten den Einfluss von Wahlen auf die
Geschlossenheit von Fraktionen. Sie konnten im Untersuchungszeitraum von 1996 bis 2007
feststellen, dass vor Wahlen die Geschlossenheit bei der FDP, der SVP und in kleinerem
Ausmass den Grünen in für die Parteien wichtigen Abstimmungen zugenommen hat. Keinen
Effekt auf die Geschlossenheit vor Wahlen hatte die Frage, ob die Abstimmungsprotokolle
veröffentlicht wurden oder nicht. Die Autoren heben hervor, dass bei künftiger Forschung ein

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grosses Augenmerk auf individuelle Faktoren zu legen sei. Etwas, was diese Arbeit
einzulösen versucht.

In anderen Parlamenten haben Fraktionspräsident*innen konkrete
Disziplinierungsmassnahmen zur Verfügung, um Fraktionsdisziplin zu erreichen, wie zum
Beispiel durch den Entzug von Vorteilen, wie etwa die Teilnahme an Reisen oder durch den
Entzug von Möglichkeiten zur Selbstvermarktung der Parlamentarier*innen. Solche
Massnahmen sind im Schweizer Parlament nicht verbreitet. Einzig der Entscheid, wer im
Plenum für die Fraktion sprechen darf, liegt in der Macht der Fraktionspräsident*in. So kann
einem Fraktionsmitglied die Möglichkeit zur Eigenwerbung im Parlament etwas
eingeschränkt werden, was aber aufgrund der umfassenden Mediatisierung der Politik nicht
wirklich eine starke Sanktionsmassnahme ist (Bailer 2018, 168). Allerdings ist eine
Entwicklung im Schweizer Parlament hin zu einem stärkeren Monitoring durchaus
festzustellen (Bailer 2018, 170).

Bei der Frage nach dem Einfluss der Fraktion ist es schwierig, das Schweizer Parlament mit
anderen Parlamenten in Europa zu vergleichen, da dieses aufgrund des Regierungssystems
andere Voraussetzungen hat. Am ehesten lässt es sich hinsichtlich des Einflusses von
Fraktionen mit dem Europäischen Parlament der EU vergleichen, was auch die Forschung von
Bailer (2018) bestätigt. In einer Untersuchung zum Europäischen Parlament stellt Hug (2016,
213) fest, dass bei automatisch veröffentlichtem Stimmprotokoll einer Schlussabstimmung
der Druck aus den Fraktionen auf die Parlamentarier*innen kleiner ist, als bei
ausschliesslicher Veröffentlichung auf Antrag einer Fraktion oder von Ratsmitgliedern.

Da im Nationalrat alle Stimmen (ausser bei einer geheimen Beratung) als Namensliste
veröffentlicht werden, ist unklar, ob und welche Wirkung dies hat. Auf jeden Fall fällt damit
für die Akteure im Parlament die strategische Möglichkeit einer namentlichen Abstimmung
weg, welche in anderen Parlamenten nachweislich eine disziplinierende Wirkung hat (Hug
und Wüest 2014, 5).

Itzkovitch-Malka und Hazan (2017) untersuchten den Einfluss des Wahlsystems auf die
Fraktionsdisziplin. Sie fanden einen Zusammenhang zwischen einem Wahlsystem, bei
welchem die Partei die Parlamentarier*innen für die Wiederwahl selektieren konnte. Sie
stellten fest: Je weniger Kontrolle die Parteien über den Nominationsprozess bei den Wahlen
hatten, desto kleiner war die Parteiloyalität. Für den Fall der Schweiz lässt sich daraus gleich
in doppelter Hinsicht ein kleinerer Einfluss der Parteien auf die Parlamentarier*innen

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ableiten. Zum einen ist den nationalen Parteien eine direkte Beeinflussung des
Nominationsprozesses durch die föderale Struktur des Schweizer Wahl- und Parteiensystems
nicht möglich. Zum anderen ergibt sich im Schweizer Wahlsystem nur bedingt die
Möglichkeit, die Wiederwahl einer Parlamentarier*in durch einen schlechten Listenplatz zu
erschweren, da Schliesslich die erhaltenen Stimmen und nicht der Listenplatz für die Wahl
entscheidend sind. Somit hat die Partei in der Schweiz kaum Möglichkeiten, über das
Wahlsystem Fraktionsdisziplin zu erzwingen.

Eine weitere Disziplinierungsmassnahe wäre es, Mandate nur linientreuen
Parlamentarier*innen zu ermöglichen. Zu diesem Thema hat Kernecker (2017) eine
Untersuchung gemacht. Er hat herausgefunden, dass Personen mit Ambitionen auf ein
nationales Exekutivamt eher nach der Parteilinie stimmen, um Chancen auf ein
Regierungsamt zu haben. Mit leichter Evidenz hat sich gezeigt, dass Abgeordnete ohne klare
Karrierepräferenzen und jene, welche ein Amt in einer regionalen Exekutive anstrebten,
weniger nach Parteilinie politisierten. Für den Schweizer Fall ist die erste Erkenntnis aufgrund
des Regierungssystems nicht aussagekräftig. Es ist davon auszugehen, dass Ambitionen auf
ein Bundesratsamt das Abstimmungsverhalten verändern können, da aber die Partei nicht
selbst entscheiden kann, wer von ihrer Partei Einsitz in den Bundesrat nimmt und es
insgesamt auch sehr wenige Exekutivmandate auf nationaler Ebene gibt, fällt diese
Möglichkeit zur Herstellung von Disziplin weg.

Interessanter sind für die Schweiz die anderen beiden Erkenntnisse. So kann die Feststellung,
dass Parlamentarier*innen mit unklaren politischen Karriereabsichten weniger mit ihrer Partei
stimmen, eine mögliche Erklärung für den Schweizer Fall von Abweichler*innen darstellen.
Insbesondere die Erkenntnisse bezüglich der regionalen Karriereambitionen scheinen mir
relevant, weil sich diese Erkenntnisse wohl auch auf die Ambition auf ein Ständeratsmandat
ausweiten lassen. So könnten veränderte Karriereprioritäten das Abweichen von
Politiker*innen und unter Umständen auch die Veränderung der eigenen Position zwischen
Wahl und einer Abstimmung zu bestimmten Geschäften in einigen Fällen erklären.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Fraktionen keine oder nur wenige
Instrumente haben, um bei Abstimmungen eine Parteidisziplin zu erzwingen. Hier dürften
aufgrund des föderalen Politikaufbaus die Parteien in den Kantonen in einer stärkeren
Position sein.

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2.6   Ausserparlamentarische Einflüsse
Einfluss auf die Positionen von Nationalrät*innen können auch von ausserhalb des
Parlamentbetriebs festgestellt werden. Diese wurden in der Studie von Schwarz, Schädel und
Ladner (2010) nicht untersucht. Drei Akteur*innen sollen hier besonders betrachtet werden,
welche direkt oder indirekt Einfluss auf die Parlamentarier*innen nehmen können. Als erstes
wird auf das Lobbying und den Einfluss von Interessensvertreter*innen eingegangen. Als
nächstes wird die Rolle von Medien auf die Positionen von Politiker*innen thematisiert und
schliesslich wird der Einfluss von Wähler*innen betrachtet.

2.6.1 Lobbying
Das Lobbying ist regelmässig Thema von öffentlichen Debatten und hat gemeinhin den Ruf,
einen relevanten Einfluss auf die Positionen von Parlamentarier*innen zu haben. Es stellt sich
die Frage, ob dies tatsächlich so ist und ob Lobbying tatsächlich ausschlaggebend sein kann,
dass Parlamentarier*innen ihre Position zu einem Geschäft wechseln.

Erste Hinweise liefert die Untersuchung von Giger und Klüver (2016). Sie untersuchten
anhand von 118 Volksabstimmungen, ob es einen Zusammenhang zwischen Lobbying und
divergierenden Positionen bei Parlamentarier*innen gibt. Ihre Untersuchung hat gezeigt, dass
Politiker*innen mit starken Verbindungen zu Branchenorganisationen (Sectional Groups)
eher von den Präferenzen ihrer Wähler*innen abweichen. Weiter wurde festgestellt, dass aber
Verbindungen zu zivilgesellschaftlichen Organisationen (Cause Groups) die
Übereinstimmung der Positionen zwischen Wähler*innen und Politiker*innen erhöht haben.
Es haben nicht alle Lobbying Gruppen denselben Einfluss auf die Positionen von
Parlamentarier*innen. Anhand dieser Resultate kann es also sein, dass sich durch den Einfluss
von Branchenverbänden Veränderungen in den Positionen erklären lassen können. Dies ist
insofern relevant, weil Giger und Klüver (2016) zeigen können, dass die Lobbyist*innen von
Branchenorganisationen jenen von zivilgesellschaftlichen Organisationen anzahlmässig bei
weitem überlegen sind.

Eine weitere Studie, die sich mit dem Lobbying in der Schweiz befasst hat, stammt von
Weiler und Brändli (2015). Sie haben sich der Frage angenommen, ob die
direktdemokratischen Instrumente die Lobbying Organisationen dazu zwingen, strategisch
anders vorzugehen als in Ländern mit einer rein repräsentativen Demokratie. Dazu haben sie
die Lobbying Strategien von Organisationen in der Schweiz und in Deutschland verglichen.
Sie stellen für den Schweizer Fall fest, dass insbesondere zivilgesellschaftliche
Organisationen eine ausbalancierte Strategie zwischen inside lobbying im Parlament und
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outside lobbying in der Öffentlichkeit wählen. Sie unterscheiden sich damit von den
zivilgesellschaftlichen Organisationen in Deutschland, wo inside lobbying sehr viel
ausgeprägter betrieben wird.

Bei den Branchenorganisationen lässt sich eine solche ausbalancierte Strategie hingegen nicht
feststellen. Diese setzen wie ihre Deutschen Kolleg*innen primär auf inside lobbying. Diese
Ergebnisse können auch zur Erklärung der Ergebnisse von Giger und Klüver (2016) dienen.

Nach Weiler und Brändli (2015) ist nicht davon auszugehen, dass sich durch ein outside
lobbying von Branchenorganisationen die Positionen von Wähler*innen und
Parlamentarier*innen über die Zeit angleichen werden.

Eine weitere Studie zu Lobbying in der Schweiz von Eichenberger (2020) setzt sich mit dem
Einfluss von zivilgesellschaftlichen Organisationen in Verwaltung und Parlament
auseinander. Diese Studie ist insofern relevant, da eine veränderte Zusammensetzung der
Lobbyist*innen tatsächlich zu einem anderen Resultat führen könnten, wie wir bereits
gesehen haben. Es wird festgestellt, dass der Anteil der zivilgesellschaftlichen Organisationen
mit Zugang zu Parlament und Verwaltung zugenommen hat. Zusätzlich wurde diese
Entwicklung durch die Wahlen 2019 und das neue Parlament gestärkt (Eichenberger 2020,
206). Betrachtet man aber die absoluten Zahlen, besteht weiterhin ein grosses
Ungleichgewicht zwischen zivilgesellschaftlichen Organisationen und
Branchenorganisationen, welches sich durch die beschriebenen Entwicklungen wohl in
absehbarer Zeit kaum angleichen wird.

Aufgrund der Literatur zu Lobbying in der Schweiz ist davon auszugehen, dass Lobbying
tatsächlich ein Erklärfaktor für die Veränderung der Position von Parlamentarier*innen sein
kann und die Thematik somit für diese Arbeit relevant ist.

2.6.2 Medien
Die Medien spielen in einer parlamentarischen Demokratie eine zentrale Rolle als
Informationsintermediär zwischen Parlament und Wähler*innen. Sie haben Einfluss auf das
Agenda Setting bei den Wähler*innen und somit einen direkten Einfluss auf die Politik
(Schenk et al. 2017, 114). Es scheint daher sinnvoll, einen Blick auf die Medien als möglichen
ausserparlamentarischen Einflussfaktor zu werfen.

Dohle, Blank und Vowe (2012) führten bei Bundestagsabgeordneten Umfragen durch. Es
zeigte sich, dass sich die Abgeordneten als wenig durch Medien beeinflusst einschätzten.
Jedoch unterstellten sie anderen Gruppen, wie etwa der Bevölkerung, einer grossen
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Beeinflussung durch die Medien ausgesetzt zu sein. Weiter zeigte sich kein Unterschied
hinsichtlich der beurteilten Stärke des Einflusses, ob sie den Einfluss der Medien als positiv
oder negativ einschätzten.

Die Forschung zur Mediatisierung der Politik kommt laut den Studienautor*innen zum
Schluss, dass Medien sehr wohl einen handlungsleitenden Druck auf Politiker*innen ausüben
können. Somit zeigen sich Differenzen zwischen den Selbstaussagen der Politiker*innen und
der Forschung. Sicher ist, dass die Medien einen Einfluss darauf haben, wie die Politik in der
Bevölkerung wahrgenommen wird (Dohle, Blank und Vowe 2012, 387). Medien können
Positionswechsel von Nationalrät*innen transparent machen und damit elektorale
Konsequenzen herbeiführen.

2.6.3 Wähler*innen
Auch Wähler*innen können Politiker*innen ganz direkt beeinflussen, wenn sie in einem
Thema anderer Meinung sind. Voraussetzung dafür wäre, dass Wähler*innen und
Parlamentarier*innen in einem direkten aktiven Austausch miteinander stehen. André,
Bradbury und Depauw (2014, 137) untersuchten die Präsenz von Politiker*innen in ihren
Wahlkreisen und kommen zum Schluss, dass in der Schweiz die nationalen
Parlamentarier*innen signifikant mehr Arbeit im eigenen Wahlkreis leisten, als ihre
Kolleg*innen auf kantonaler Ebene. Es kann davon ausgegangen werden, dass zumindest
interessierte Wähler*innen Einfluss auf Parlamentarier*innen nehmen können.

Butler und Dynes (2016) untersuchten die Frage, wie Politiker*innen mit Wähler*innen
umgehen, mit welchen sie die Position nicht teilen. Sie haben gezeigt, dass Politiker*innen
deren Argumente und Meinungen weniger berücksichtigen als jene von Wähler*innen mit
gleicher Meinung. Parlamentarier*innen rationalisieren dies, indem sie den Wähler*innen mit
kontroversen Positionen unterstellen, dass sie über das entsprechende Thema nicht genug
Bescheid wüssten. Mit diesem Phänomen kann nach Butler und Dynes (2016) erklärt werden,
wie sich die Meinungen von den Wähler*innen und Politiker*innen auseinanderentwickeln .
Eine Angleichung von Positionen sei normalerweise nur durch die Ersetzung der
Parlamentarier*in zu erreichen.

Aus diesen Erkenntnissen heraus ist es also eher unwahrscheinlich, dass
Positionsveränderungen zwischen einem Zeitpunkt vor und einem Zeitpunkt nach den Wahlen
durch die Einflussnahme von Wähler*innen zustande kommt.

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3 Mixed Methods Ansatz
Diese Bachelorarbeit orientiert sich methodisch an einem Mixed Methods Ansatz. Mixed
Methods Forschung hat den Vorteil, dass sie die Stärken von verschiedenen methodischen
Ansätzen kombinieren kann. Diese Stärken sind bei quantitativen Methoden die Objektivität,
also die Unabhängigkeit der Betrachter*in und die Reliabilität, also die Wiederholbarkeit der
Forschung. Weiter ergibt sich durch die statistische Auswertung eine Verallgemeinerbarkeit
der Befunde. Durch die Kombination mit qualitativen Methoden können die Vorteile genutzt
werden, dass eine Exploration von wenig oder schlecht beforschten Phänomenen möglich ist
und solche Phänomene detailliert beschrieben werden können (Kelle 2019, 161).

Ein zentrales Konzept hinter den Mixed Methods Ansätzen ist die methodologische
Triangulation. Die methodologische Triangulation wird durch das Verwenden von
verschiedenen Methoden erreicht und ermöglicht es, einen Untersuchungsgegenstand aus
verschiedenen Blickwinkeln zu erfassen (Flick 2019, 480).

Innerhalb der Mixed Methods Bewegung gibt es keine allgemein akzeptierten
methodologischen Modelle zur Verbindung qualitativer und quantitativer Forschung. Konsens
existiert lediglich über die grundlegende Idee, dass sowohl qualitative als auch quantitative
Methoden spezifische Schwächen aufweisen, die durch die Stärken des jeweils anderen
Ansatzes ausgeglichen werden können (Kelle 2019, 164).

Somit liegt es an den Forschenden, ausgehend von der Fragestellung und dem
Erkenntnisinteresse ein methodisches Vorgehen zu entwickeln und zu begründen. Dazu kann
auf die etablierten Methoden der qualitativen und der quantitativen Forschungstradition
zurückgegriffen werden. So ist eine individuelle Ausgestaltung eines methodischen
Vorgehens möglich, welches optimal zu den Rahmenbedingungen passt, allerdings droht dies
immer auch zu Lasten einer gewissen Standardisierung der Forschung zu gehen.

Es gibt Vorschläge, wie Typen von Mixed Methods Designs systematisiert und differenziert
werden können. Folgende Kriterien lassen sich zur Beschreibung von Designs verwenden
(Kelle 2019, 164–65):

   •   Es muss entschieden werden, ob quantitative und qualitative Methoden bei der
       Anwendung kombiniert werden (zum Beispiel durch die Erhebung von qualitativen
       und quantitativen Daten in einem gemeinsamen Fragebogen) oder ob die Methoden
       voneinander getrennt eingesetzt werden und dann nur ihre Ergebnisse aufeinander
       bezogen sind.
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   •     Die Reihenfolge der qualitativen und quantitativen Methoden, in welcher sie im
         Forschungsdesign kombiniert werden, muss festgelegt werden.
   •     Die relative Bedeutung quantitativer und qualitativer Methoden im gesamten
         Forschungskontext ist festzulegen.
   •     Die Funktion ist zu bestimmen, welche die beiden Methodenstränge je innerhalb des
         Forschungsprojekts haben.

Auch das Forschungsdesign dieser Arbeit lässt sich entlang dieser Kriterien beschreiben. So
werden in dieser Forschungsarbeit die quantitative und die qualitative Untersuchung getrennt
durchgeführt. Für die Fallauswahl des qualitativen Teils wird die Datengrundlage der
quantitativen Forschung aber genutzt. Zudem werden die Resultate der quantitativen
Forschung die thematische Ausrichtung des Leitfadens für die qualitative Untersuchung
wesentlich prägen. Die Reihenfolge der Teile ist so, dass zuerst die quantitative, dann die
qualitative Methodik zur Anwendung kommen wird. Betrachtet man die relative Bedeutung
der beiden Methoden, ist es schwierig eine wichtigere Methodik festzustellen. In dieser Arbeit
wird versucht, beiden Methoden eine unterschiedliche, aber gleichwertige Bedeutung
einzuräumen. Die primäre Funktion des quantitativen Teils ist einerseits zu prüfen, inwiefern
sich die Ergebnisse der Studie von Schwarz, Schädel und Ladner (2010), welche Anlass zu
dieser Arbeit gegeben hat, bestätigt werden können oder ob sich allenfalls Unterschiede
feststellen lassen. Der qualitative Zugang wird die Funktion übernehmen, die Resultate der
quantitativen Untersuchung zu vertiefen und Erklärungsansätze zu entwickeln, welche sich
der quantitativen Forschung entziehen.

Im quantitativen Teil wird die multivariate logistische Regressionsanalyse angewendet,
welche bereits in der Originalstudie von Schwarz, Schädel und Ladner (2010) verwendet
wurde.

Im qualitativen Teil werden leitfadengestützte Expert*innen-Interviews durchgeführt, welche
anschliessend mittels qualitativer Inhaltsanalyse ausgewertet und die Ergebnisse induktiv zu
einem Kategoriensystem verdichtet werden. Mayring und Fenzel (2019, 641) weisen auf die
Bedeutsamkeit der qualitativen Inhaltsanalyse für die Mixed Methods Forschung hin,
insbesondere weil sie sich für die Triangulation eignet und mit induktiver wie auch deduktiver
Analysemöglichkeiten eine hohe Anpassungsfähigkeit an verschiedene Forschungsdesigns
aufweist.

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