Vertrauen in Demokratie - Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?
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Frank Decker, Volker Best, Sandra Fischer, Anne Küppers Vertrauen in Demokratie Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik?
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN Ein Projekt der Friedrich-Ebert-Stiftung 2018 – 2020 Wachsende soziale Ungleichheit, gesellschaftliche Polarisierung, Migration und Integration, die Klimakrise, Digitalisierung und Globalisierung, die ungewisse Zukunft der Europäischen Union – Deutschland steht vor tief greifenden Heraus- forderungen. Auf diese muss die Soziale Demokratie überzeugende, fortschrittliche und zu- kunftsweisende Antworten geben. Mit dem Projekt „Für ein besseres Morgen“ entwickelt die Friedrich-Ebert-Stiftung Vorschläge und Positionen für sechs zentrale Politikfelder: – Demokratie – Europa – Digitalisierung – Nachhaltigkeit – Gleichstellung – Integration Gesamtkoordination Dr. Andrä Gärber leitet die Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik der Friedrich-Ebert-Stiftung. Projektleitung Severin Schmidt ist Referent für Sozialpolitik in der Abteilung Wirtschafts- und Sozialpolitik. Kommunikation Johannes Damian ist Referent für strategische Kommunikation dieses Projektes im Referat Kommunikation und Grundsatzfragen. Die Autor_innen Prof. Dr. Frank Decker lehrt und forscht am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Von 2002 bis 2005 und von 2009 bis 2011 war er dort geschäftsführender Direktor. Seit 2011 ist er wissenschaftlicher Leiter der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik (BAPP). Schwerpunkte seiner Arbeit sind Parteien, westliche Regierungssysteme, Demokratie- reform und Rechtspopulismus. Dr. Volker Best ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Er beschäftigt sich unter anderem mit Parteien, Koalitionen und Demokratie- reformen. Dr. Sandra Fischer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Sie beschäftigt sich unter anderem mit vergleichender Wohlfahrts- staatsforschung, Föderalismus und Geschlechterpolitik. Anne Küppers, M. A., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie der Universität Bonn. Derzeit promoviert sie mit einer empirischen Arbeit zum Thema „Urwahlen in den Landesverbänden von SPD und CDU“. Für diese Publikation sind in der FES verantwortlich Jochen Dahm leitet die Akademie für Soziale Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Alina Fuchs ist Referentin für Demokratie & Partizipation im Forum Politik und Gesellschaft der Friedrich-Ebert-Stiftung. Weitere Informationen zum Projekt finden Sie hier: www.fes.de/fuer-ein-besseres-morgen
Frank Decker, Volker Best, Sandra Fischer, Anne Küppers Vertrauen in Demokratie Wie zufrieden sind die Menschen in Deutschland mit Regierung, Staat und Politik? Auf einen Blick 2 1. EINORDNUNG UND METHODIK 4 2. SOZIALES UND POLITISCHES VERTRAUEN – BEGRIFFE UND EINFLUSSFAKTOREN 7 3. DIE UMFRAGE: VERTRAUEN IN DIE DEMOKRATIE 27 4. VERTRAUEN ZURÜCKGEWINNEN – VORSCHLÄGE FÜR DIE POLITIK 76 Abbildungverzeichnis 82 Literaturverzeichnis 83
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN 2 Auf einen Blick Weniger als die Hälfte der Menschen in Deutschland ist damit Aussage, es sei ein Problem, dass sich ärmere Bürger_innen zufrieden, wie die Demokratie in unserem Land funktioniert. seltener an Wahlen beteiligen (71 Prozent). Zwei Drittel glauben, dass es den nachfolgenden Generatio- nen schlechter gehen wird. Das ist das besorgniserregende Deutlich wird der Zusammenhang vor allem in der Bewer- Ergebnis der vorliegenden Studie. tung von Sozialpolitik und Wirtschaftspolitik. Über zwei Drittel der Befragten sind sich einig, dass ein erheblicher Teil der Bevölkerung nicht von der guten wirtschaftlichen Entwick- GESPALTENE GESELLSCHAFT lung profitiert. Besonders schlecht fällt die Bewertung der Po- litikergebnisse in den Bereichen Rente und Wohnen aus. Hier Vor allem sozial schlechtergestellte Bürger_innen haben we- sind nur rund 25 bzw. 15 Prozent damit zufrieden, wie der nig Vertrauen in die politischen Prozesse und Ergebnisse. Da- Staat seine Aufgaben erfüllt. zu zählen mehr als 70 Prozent derjenigen, die sich selbst der Arbeiter- oder Unterschicht zuordnen, und 67 Prozent der Menschen mit geringem Einkommen. DEMOKRATIEZUFRIEDENHEIT UND POLITIKERGEBNISSE Auch regional zeigen sich erhebliche Unterschiede. In West- deutschland ist knapp die Hälfte der Bürger_innen zufrieden Die Bewertung von Sozial- und Wirtschaftspolitik und die Zu- mit der Demokratie. In Ostdeutschland hingegen ist es nur friedenheit mit dem Funktionieren des politischen Systems etwas mehr als ein Drittel. Auffallend ist, dass dieser Abstand hängen deutlich zusammen. Diejenigen, die mit der Sozialpo- zwischen den Werten in Ost und West seit der Wiederverei- litik unzufrieden sind, sind auch zu fast zwei Dritteln mit dem nigung nahezu unverändert geblieben ist. Funktionieren der Demokratie unzufrieden. Unter denjenigen, die einen Anstieg sozialer Ungleichheit feststellen, sind 60 Prozent unzufrieden. KRITIK AM POLITISCHEN SYSTEM Die Unzufriedenheit richtet sich einerseits dagegen, wie das VERTRAUEN ZURÜCKGEWINNEN politische System funktioniert. Sie entzündet sich aber auch an den Ergebnissen von Politik. Erfreulich ist, dass nur eine Neben einem differenzierten Bild des Vertrauensverlustes verschwindend geringe Minderheit von rund einem Prozent bietet die Studie zahlreiche Ansatzpunkte, wie Vertrauen zu- ein autoritäres Regierungsmodell der Demokratie vorzieht. rückgewonnen werden kann. Dazu gehört der deutliche Bei der Frage nach verschiedenen Demokratiemodellen wird Wunsch nach mehr Möglichkeiten der Beteiligung. Zum ei- jedoch die Unzufriedenheit mit dem aktuellen repräsentati- nen befürworten die Befragten Verfahren der direkten De- ven System deutlich. Letzteres rangiert in der Zustimmung mokratie. Hier muss man allerdings feststellen, dass die Be- knapp hinter der Volksgesetzgebung. Hinzu kommt, dass die geisterung dafür seit dem Brexit abgenommen hat. Zudem Menschen den Politiker_innen allgemein ein schlechtes Zeug- meinen fast 90 Prozent der Befragten, ihre Mitbürger_innen nis ausstellen, auch wenn immerhin zwei Drittel anerkennen, seien nur mangelhaft politisch informiert. Nimmt man hinzu, dass diese einen schweren Job haben. Die allgemeine Unzu- dass die Menschen erhebliche gesellschaftliche Spaltungen friedenheit geht einher mit dem deutlichen Wunsch nach sehen, scheint zweifelhaft, ob es dem gesellschaftlichen mehr Möglichkeiten, sich politisch zu beteiligen. Fortschritt zuträglich wäre, politische Entscheidungen auf Ja/ Nein-Fragen zu reduzieren. KRITIK AN ERGEBNISSEN VON POLITIK GELOSTE BÜRGER_INNENFOREN Daneben gibt es viele Hinweise, dass auch die Kritik an den Ergebnissen von Politik mitverantwortlich für die verbreitete Eine Ergänzung der repräsentativen Demokratie, die sowohl Unzufriedenheit ist. Beide Aspekte sind eng miteinander ver- der Komplexität von Politik Rechnung trägt als auch das Risiko bunden. Das zeigt nicht zuletzt die hohe Zustimmung zu der sozialer Selektivität begrenzt, können repräsentative Bürger_
VERTRAUEN IN DEMOKRATIE 3 innenforen (Loskammern) sein. Diese sind zum Beispiel in Ir- ten. Wir müssen dieses Vertrauen wiederherstellen, um unse- land erfolgreich eingesetzt worden. Zwei Drittel der Befrag- re Demokratie auf Dauer nicht zu gefährden. Politik muss ten befürworten solche deliberativen Beteiligungsformen. wieder stärker hinsehen, hinhören und sich öffnen und der Neben den klassischen Wegen der politischen Willensbildung Staat muss wieder mehr anpacken und gestalten – im Sinne über Parteien und andere Akteur_innen bieten diese Bürger_ eines solidarischen Miteinanders. innenforen die Chance, gesellschaftliche Zukunftsfragen oder konkrete Gesetzesvorhaben unter Einbeziehung von Bürger_ Wir knüpfen mit dieser Studie als FES an eine intensive innen zu diskutieren, eine breitere öffentliche Debatte anzu- Beschäftigung mit dem Themenfeld „Demokratie und Ver- stoßen und eine Beratungsfunktion für die politischen Ent- trauen“ an.1 Herzlich danken möchten wir Prof. Frank Decker scheidungsträger_innen auszuüben. Dies würde nicht nur die und seinem Team von der Universität Bonn bestehend aus politische Selbstwirksamkeit der Bürger_innen und den ge- Volker Best, Sandra Fischer und Anne Küppers sowie Roberto sellschaftlichen Konsens und Zusammenhalt stärken. Es könn- Heinrich und Jürgen Hofrichter von Infratest dimap. te darüber hinaus dazu beitragen, politische Entscheidungen zusätzlich zu legitimieren. Wir wollen mit dieser Studie die notwendige Debatte darüber bereichern, wie das Vertrauen in unsere Demokratie gestärkt werden kann. Die Friedrich-Ebert-Stiftung wird in den kom- WUNSCH NACH AKTIVEM STAAT menden Monaten konkrete Vorschläge machen, wie wir un- sere Demokratie gemeinsam stärken und beleben können. Sehr klar belegen die Umfrageergebnisse den Wunsch der Bürger_innen nach einem aktiven Staat, der sich für den ge- sellschaftlichen Zusammenhalt und den Abbau bestehender JOCHEN DAHM Ungleichheiten einsetzt. Deutlich wird dies etwa an hohen Leiter der Akademie für Soziale Demokratie der Zustimmungswerten für eine höhere Besteuerung von hohen Friedrich-Ebert-Stiftung Vermögen und Einkommen, für die „beste“ Personal- und Finanzausstattung an Schulen in ärmeren Stadtteilen, für den JOHANNES DAMIAN Einsatz von Steuermitteln zur Verbesserung des Ö PNV, aber Referat Kommunikation und Grundsatzfragen der auch für Maßnahmen wie den Ankauf von Steuer-CDs. Friedrich-Ebert-Stiftung Interessant sind die Präferenzen in den Bereichen, in denen ALINA FUCHS die Befragten mit dem Handeln des Staates besonders unzu- Forum Politik und Gesellschaft der frieden sind: Rente und Wohnen. Unter den Befragten gibt es Friedrich-Ebert-Stiftung über alle politischen Lager hinweg eine Zustimmung zu einer Grundrente ohne Bedürftigkeitsprüfung. Im Politikfeld Woh- nen finden auch weitreichende Maßnahmen wie ein Vor- kaufsrecht der öffentlichen Hand die Zustimmung von zwei Dritteln der Befragten. Eine ähnlich hohe Zustimmung gibt es für eine präsente Kom- mune, welche die Bürger_innen auch außerhalb von Rathaus und Ämtern aktiv über deren Ansprüche und Mitwirkungs- möglichkeiten informiert. Eine differenzierte Unterstützung von Regionen – wie sie der Disparitätenbericht der FES kürz- lich nahegelegt hat – wird ebenfalls positiv bewertet. So sind etwa 87 Prozent der Befragten für schnelles Internet in Rand- regionen. Dass eine solche solidarische Politik unsere Gesellschaft wie- der stärker einen kann, zeigt sich auch an diesem Wert: Über 90 Prozent kritisieren, der gesellschaftliche Zusammenhalt ha- be gelitten, weil „Egoismus heute mehr zählt als Solidarität“. DAS BESSERE MORGEN Im Rahmen des Projekts „Für ein besseres Morgen“ entwi- ckelt die Friedrich-Ebert-Stiftung politische Vorschläge für die 1 Christian Krell/Tobias Mörschel (2012), Demokratie in Deutschland; großen Herausforderungen unserer Zeit und bezieht Position. Katrin Matuschek (2014), Vertrauen schaffen! Politik und Glaubwür- Wir glauben, diese Studie macht deutlich: digkeit; Martin Hartmann (2017), Krise des Vertrauens – Politik in der Krise; Alina Fuchs/Dietmar Molthagen (Hrsg.) (2019, im Erscheinen), Trust me if you can! Die Bedeutung von Vertrauen für die Demokratie; Das Vertrauen, dass unsere Demokratie alle hört und das Le- Thomas Hartmann/Frank Decker/Jochen Dahm (2019, im Erscheinen), ben der Menschen im Alltag verbessert, hat erheblich gelit- Zukunft der Demokratie.
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN 4 1 EINORDNUNG UND METHODIK Vertrauen ist ein Schlüsselbegriff der sozialen Beziehungen gewählt sind, aber nicht unbedingt demokratische Werte und und damit auch der Demokratietheorie. In der Demokratiefor- Prinzipien vertreten. Dass sie nicht zögern werden, ihre illibe- schung hat er jahrzehntelang ein Schattendasein gefristet – ralen und antipluralistischen Vorstellungen umzusetzen, ha- hier dominierten seit den 1960er Jahren andere Konzepte ben sie dort, wo sie selbst über Regierungsmacht verfügen, wie das der politischen Kultur (Almond/Verba 1963), der dif- bereits hinlänglich bewiesen. fusen oder spezifischen Unterstützung (Easton 1975) und der Legitimation bzw. Legitimität (Easton 1965). Soziologische Welche Ursachen liegen der Repräsentations- und Vertrau- Arbeiten wie die von Niklas Luhmann (1968), der das Vertrau- enskrise zugrunde? In der Rechtspopulismusforschung kon- en als Mechanismus begreift, um soziale Komplexität zu re- kurrieren Erklärungsangebote, die eher auf gesellschaftlich- duzieren und den Menschen dadurch in seiner Umgebung kulturelle (Koppetsch 2019) oder auf ökonomische Faktoren handlungsfähig zu machen, fanden in der Politikwissenschaft (Manow 2018) abstellen. In der vorliegenden Studie greifen wenig Widerhall. Erst in den 1990er Jahren erfuhr das Ver- wir diese Dreiteilung auf. Im ersten Teil geht es um die politi- trauenskonzept eine Renaissance, die vor allem auf die Arbei- schen Institutionen im engeren Sinne, also das, was soeben ten von Robert Putnam (1993) zurückgeht. Darin analysierte als Input-Legitimation bezeichnet wurde, im zweiten Teil um er, welche Bedeutung soziales Vertrauen und das Vorhanden- die Output-Legitimation durch sozial- und wohlfahrtsstaatli- sein von Sozialkapital in einer Zivilgesellschaft für ein stabiles che Politik und im dritten Teil um den von ökonomischen und Funktionieren der Demokratie gewinnen. kulturellen Entwicklungen bestimmten gesellschaftlichen Zu- sammenhalt. Dass die drei Bereiche stark ineinandergreifen, Die Rede von einer Vertrauenskrise unserer heutigen Demo- liegt auf der Hand. So wie Input- und Output-Legitimation kratie ist gängige Münze und – bei aller Vielschichtigkeit des eng aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig stärken Krisenbegriffs (Merkel 2015) – empirisch unabweisbar. Nie- oder schwächen (Decker et al. 2013: 10 ff.), 2 so haben wir es derschlag findet sie zum einen in der abnehmenden Zufrie- im dritten Bereich mit Faktoren zu tun, die der Demokratie denheit mit dem Funktionieren der Demokratie, die sich wie- selber vorausgehen und durch staatliches Handeln nur partiell derum aus zwei Quellen speist: der Bewertung der politischen beeinflussbar sind. Die Handlungsempfehlungen am Schluss Institutionen und Wahrnehmung der eigenen politischen Rol- müssen solche Restriktionen berücksichtigen. Das in der For- le (Selbstwirksamkeit) und der Bewertung der inhaltlichen schung bis heute letztlich ungeklärte Rätsel der Ursache-Wir- Politik und staatlichen Aufgabenerfüllung. Das Erstgenannte kungs-Richtung (sind es die Institutionen und die im Rahmen wird in der Demokratietheorie als „Input-Legitimation“, das dieser Institutionen von den Akteur_innen betriebene Politik, Letztgenannte als „Output-Legitimation“ bezeichnet. die zur Vertrauensbildung beitragen, oder ist das Vertrauen Voraussetzung, damit gute Institutionen entstehen und eine Zum anderen verändern sich das Wähler_innenverhalten und gute Politik hervorbringen?) kann und wird auch diese Studie in dessen Folge die Parteiensysteme. Während sich ein wach- nicht auflösen. sender Teil der Bürger_innen ganz von der Politik verabschie- det, indem er den Wahlen fernbleibt, wendet sich der andere Vertrauen ist nicht per se etwas Positives und Misstrauen nicht vermehrt systemkritischen oder -oppositionellen Randpartei- per se schlecht. Es kommt darauf an, wer jeweils vertraut oder en und hier vor allem dem Rechtspopulismus zu. Dessen Er- misstraut und wem das Vertrauen oder Misstrauen entge- starken und der gleichzeitige Niedergang der einstmals „sys- gengebracht wird (Warren 2018). Dass die Demokratie als temtragenden“ Volksparteien sind der prominenteste und Staatsform dem Wesen nach auf Misstrauen beruht, ist in sichtbarste Ausdruck der gegenwärtigen Vertrauenskrise. ihrem Sprachgebrauch fest eingewoben – so bildet etwa die Diese stellt im Kern eine Krise des Vertrauens in die repräsen- jederzeit mögliche Abberufung der Regierung bzw. des tativen Institutionen der parlamentarischen Parteiendemokra- tie dar, weshalb man sie auch als „Repräsentationskrise“ apo- strophieren kann. Manche Autor_innen sehen in dieser Entwicklung kein Alarmzeichen, sondern deuten sie als „de- 2 Den Vorrang der Output-Legitimation betont demgegenüber Gio- mokratisierenden Zuwachs im pluralistischen Parteienange- vanni Sartori (1992: 235): „Für die breite Bevölkerung bedeutet Volks- herrschaft [...] kaum, dass das Volk wirklich die Macht in die Hände bot“ sogar eher positiv (ebd.: 480). Damit wird freilich ausge- nehmen sollte, sondern die Erfüllung der Wünsche und Bedürfnisse blendet, dass die neuen Rechtsparteien zwar demokratisch des Volkes.“
VERTRAUEN IN DEMOKRATIE 5 Regierungschefs durch ein „Misstrauensvotum“ des Parla- sen. Diese Antwortoptionen wurden bei den meisten Fragen ments die institutionelle Grundlage des parlamentarischen von weniger als fünf Prozent und bei keiner Frage von mehr Systems (Steffani 1979: 39 f.). Unzufriedenheit und wachsen- als zehn Prozent der Befragten gewählt. des Misstrauen der Wähler_innen gegenüber den Regieren- den und den demokratischen Institutionen sind nicht mit un- Um die Nähe oder Ferne der Befragten zu den Parteien zu demokratischen Einstellungen oder einer systemfeindlichen ermitteln, haben wir einerseits nach dem Wahlverhalten bei Haltung gleichzusetzen. Bedenklich wird es erst, wenn sie der letzten Bundestagswahl und andererseits nach der „am eine bestimmte „systemkritische“ Schwelle überschreiten. besten gefallenden“ Partei gefragt. Dient die Rückerinne- rungsfrage auch dazu, Informationen über die Nichtwähler_ Der Hauptteil der Studie besteht aus zwei in etwa gleich langen innen zu erlangen, ist sie für eine genaue Bestimmung der Kapiteln – einem Literaturbericht, der Schneisen in die wis- Parteianhänger_innenschaft weniger gut geeignet, da es bei senschaftliche Diskussion zum Thema „Vertrauen und Demo- der Erinnerung aus vielerlei Gründen nachweislich oft zu kratiezufriedenheit“ zu schlagen versucht, und einer Bevölke- Verzerrungen kommt (Schoen/Kaspar 2009). Deshalb haben rungsumfrage, deren Ergebnisse dargestellt und interpretiert wir hierfür die präferierte Partei zugrunde gelegt. Die Befrag- werden. Anschließend folgen einige zusammenfassende ten konnten dabei auch angeben, dass ihnen keine Partei Handlungsempfehlungen. Der Literaturbericht rezipiert die gefällt. internationale, stark angelsächsisch dominierte ebenso wie die deutschsprachige Forschung. Letzteres ist wichtig, weil Der Fragebogen enthält sowohl bewährte Messinstrumente sich der nachfolgende empirische Teil ausschließlich auf die (beispielsweise die Frage zur Zufriedenheit mit dem Funktio- Bundesrepublik bezieht. Fragebogen bzw. Umfrage folgen nieren der Demokratie oder zum Institutionenvertrauen) als derselben Dreiteilung, die dem Literaturbericht und der Studie auch neue Messinstrumente zu den Reformpräferenzen der insgesamt zugrunde liegt. Befragten, den Problemen der repräsentativen Demokratie und der Bewertung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Die Umfrage fand als telefonische Repräsentativbefragung Standardmäßig wurden ebenfalls die wesentlichen soziode- (computergestützte Telefonumfrage – CATI) im Erhebungs- mografischen und -ökonomischen Merkmale der Befragten zeitrum 4. März bis 2. April 2019 statt. Sie wurde vom Berliner wie Alter, Geschlecht, Bildung, Haushaltseinkommen, soziale Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap unter Leitung Schichtzugehörigkeit und Erwerbsstatus, aber auch der von Roberto Heinrich und Jürgen Hofrichter durchgeführt, die Migrationshintergrund erhoben. Über einen solchen verfügen zusammen mit ihrem Team auch an der Erstellung und „Op- entsprechend der Definition des Statistischen Bundesamtes timierung“ des Fragebogens mitgewirkt haben. Die Grund- alle Personen, die selbst oder von denen mindestens ein gesamtheit bilden Deutsche ab 18 Jahren in Privathaushalten. Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren Die repräsentative Zufallsstichprobe umfasst 2.500 Befragte. sind. Die sozialdemografischen und -ökonomischen Merk Sie wurde bewusst hoch angesetzt, um auch in regionaler male werden ebenso wie die Abfrage des allgemeinen und Hinsicht möglichst repräsentative Befunde zu erlangen. Als spezifischen Vertrauens mit dem Antwortverhalten in den Regionen werden unterschieden: Ostdeutschland (neue anderen Bereichen gekreuzt, um genauere Auskunft über Bundesländer einschließlich Berlin), Norden (Niedersachsen, die verschiedenen Untergruppen zu erhalten. Schleswig-Holstein, Hamburg und Bremen), Süden (Bayern, Baden-Württemberg) und Westen (Nordrhein-Westfalen, Aus den erhobenen Daten wurde für die Auswertung eine Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland). Für die westliche Re- Reihe von Indizes gebildet, nämlich zum Institutionenvertrau- gion wird das Ruhrgebiet noch einmal getrennt ausgewiesen. en, zum Politiker_innenbild, zur Bewertung der sozialstaatli- chen Aufgabenerfüllung und zur Wahrnehmung gesellschaft- Den Antworten auf alle inhaltlichen Fragen zum Vertrauen licher Konflikte. Beim Politiker_innenbild war hierfür eine sowie den Einstellungen und Reformwünschen der Befragten Umcodierung der Hälfte der Items erforderlich, damit alle liegt eine vierstufige Skala (ohne die Kategorie „teils/teils“) Items die gleiche Richtung (positiv versus negativ) aufwiesen. zugrunde. Auf eine solche Mittelkategorie wurde bewusst Beim Institutionenvertrauen wurden nur Bundesregierung, verzichtet, weil sie von Befragten gerne als Ausflucht genutzt Bundestag, Parteien, Justiz/Gerichte und Medien einbezogen, wird, damit sie sich – insbesondere bei heiklen Themen – also die für die Formulierung, Anwendung und Auslegung nicht klar positionieren müssen. Auch wenn Befragte die Fra- von Recht sowie die Information der Öffentlichkeit maßgeb- ge ansonsten mit „keine Angabe“ oder „weiß nicht“ beant- lichsten Institutionen. Die einzelnen Items innerhalb der Indi- worten würden, kann es passieren, dass sie aus Gründen der zes wurden gleich gewichtet und die ordinale Antwortskala sozialen Erwünschtheit lieber die mittlere Antwortkategorie als quasimetrisch behandelt (zum Beispiel sehr großes Ver- wählen, um ihr Unwissen oder ihre fehlende Einstellung zu trauen = 4, großes Vertrauen = 3, wenig Vertrauen = 2, kein verbergen. Des Weiteren wird die Mittelkategorie bisweilen Vertrauen = 1). Je nachdem, ob der arithmetische Mittelwert von demotivierten oder ermüdeten Befragten genutzt, die für die Elemente eines Index größer oder kleiner als 2,5 war, damit ihren kognitiven Aufwand bei der Beantwortung des wurden die Befragten in zwei Gruppen unterteilt (zum Bei- Fragebogens reduzieren wollen („Satisficing“-Verhalten). In spiel großes versus geringes Institutionenvertrauen). Aus den Kauf genommen wird mit einer Skala ohne mittlere Antwort- Items „Demokratiezufriedenheit“ und „politisches Interesse“ kategorie allerdings, dass Befragte mit tatsächlich neutraler (als Proxy für aktives/passives Verständnis der eigenen Rolle oder ambivalenter Einstellung in weniger passende Antwort- als Bürger_innen) wurden vier Typen von Bürger_innen kon- kategorien gezwungen werden. Die Angaben „weiß nicht“ struiert (siehe Abb. 1 im Literaturbericht). 2 Bei den hierfür oder „keine Angabe“ wurden aus der Analyse ausgeschlos- verwendeten Dummy-Variablen wurde mittleres politisches
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN 6 Interesse als niedrig eingeordnet und somit als passives Rol- lenverständnis gewertet. 3 Einzelne Fragen (Meinung zu Politiker_innen, demokratiepo- litische Vorschläge sowie sozialstaatliche Reformpräferenzen mit Ausnahme der Items „aufsuchende Kommune“ und „Vor- kaufsrecht“) wurden – um die Interviewdauer zu reduzieren – nur der Hälfte des Samples vorgelegt. Die durchschnittliche Dauer eines Interviews lag bei 25 Minuten. Um ein Interview zu erhalten, mussten 15 Teilnehmer_innen angewählt wer- den – ein üblicher Wert. Auch die Abbrecher_innenquote bewegte sich mit 0,5 Prozent im normalen Rahmen. Befragte, die ein Interview begannen, führten es also in fast allen Fällen auch vollständig zu Ende. 3 Denk et al. (2015: 366) ziehen darüber hinaus für die Systembewer- tung noch das Vertrauen in das Parlament, die Parteien und die Po- litiker_innen sowie für das Rollenverständnis noch zwei Items zur politischen Selbstwirksamkeit hinzu, gewichten diese aber jeweils deutlich geringer als die Demokratiezufriedenheit und das politische Interesse. Im Ergebnis erscheinen sie uns verzichtbar.
VERTRAUEN IN DEMOKRATIE 7 2 SOZIALES UND POLITISCHES VERTRAUEN – BEGRIFFE UND EINFLUSSFAKTOREN Nachfolgend soll ein kurzer Überblick über die nationale und Komplexität besteht darin, dass wir trotz aller Bemühungen internationale Forschung zum Vertrauenskonzept und dessen um Organisation und rationale Planung niemals genau wis- empirischer Verwendung in der Politikwissenschaft gegeben sen können, wie sich unser Handeln auswirkt. Diese Unsicher- werden. Wir gehen in vier Schritten vor. Am Beginn stehen die heiten müssen absorbiert werden. In Unternehmen wird theoretischen Grundlagen. Hier soll gezeigt werden, was un- diese Aufgabe typischerweise von den Manager_innen über- ter sozialem und politischem Vertrauen im Allgemeinen zu nommen, im Staat von den Politiker_innen. Ob sie darin er- verstehen ist und wie sich der Vertrauensbegriff zum Konzept folgreich sind, kann nur im Nachhinein beurteilt werden. „Die- der politischen Unterstützung sowie zur Bestimmung und ses Zeitproblem überbrückt das Vertrauen, das als Vorschuß empirischen Messung der Demokratie(un)zufriedenheit ver- auf den Erfolg im voraus auf Zeit und auf Widerruf gewährt hält. Im zweiten Teil geht es um die Input-Legitimation und wird, zum Beispiel durch Einsetzung von Personen in Ämter, das Institutionenvertrauen. Die Input-Seite eines politischen durch Kapitalkredit usw. Das Komplexitätsproblem wird auf Systems umfasst die politischen Institutionen und Normen diese Weise verteilt und dadurch verkleinert: Einer vertraut („polity“), die die Verarbeitung der innerhalb der Gesellschaft dem anderen vorläufig, daß er unübersichtliche Lagen erfolg- vorhandenen politischen Einstellungen und Präferenzen reich meistern wird, also Komplexität reduziert, und der an- strukturieren. In einem weiteren Sinne können auch die inner- dere hat auf Grund solchen Vertrauens größere Chancen, tat- halb des Institutionengefüges ablaufenden Prozesse („poli- sächlich erfolgreich zu sein“ (Luhmann 1968: 30 f.). tics“) hierunter gefasst werden. Der dritte Teil wendet sich der Bedeutung des Vertrauens auf der Output-Seite zu, also der Die verlässlichsten Anhaltspunkte für Vertrauen stellen eige- konkreten Gesetzgebungstätigkeit, bzw. auf der Outcome- ne Erfahrungen mit dem Handeln anderer in der primären Seite, den intendierten und nicht intendierten Folgen von Lebenswelt dar. Die auf diesen Erfahrungen basierenden In- Staatstätigkeit. Die Leistungsfähigkeit eines politischen Sys- formationen werden generalisiert und in die Zukunft projiziert. tems gilt als ein zentraler Bestimmungsfaktor des politischen Luhmann (ebd.: 22) bezeichnet diese Voraussetzung von Ver- Vertrauens. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob und auf wel- trauen als Vertrautheit. Das Problem des interpersonalen Ver- che Weise (Wohlfahrts-)Staatstätigkeit Einfluss auf das soziale trauens liegt in seiner begrenzten Reichweite. Ich kann Freun- und politische Vertrauen bzw. die Demokratiezufriedenheit den, Bekannten und Kolleg_innen vertrauen, aber es gibt ausübt. Der abschließende vierte Abschnitt fragt, welche öko- keine überzeugenden Gründe, Fremden zu vertrauen, die ich nomischen und kulturellen Entwicklungen dem abnehmen- nicht kenne und über die ich demzufolge keine bedeutsamen den gesellschaftlichen Zusammenhalt zugrunde liegen. Dabei Informationen haben kann. In den komplexen Gesellschaften wird einerseits auf soziologische Erklärungsansätze, anderer- der Moderne ist das Individuum aber permanent genötigt, als seits auf das politikwissenschaftliche Cleavage-Konzept und Akteur_in innerhalb des wirtschaftlichen und politischen Sys- dessen Anwendung in der neueren Populismus- bzw. Rechts- tems in der Gegenwart Entscheidungen zu treffen, die mit populismusforschung zurückgegriffen. dem Handeln fremder Personen in der Zukunft rechnen müs- sen. Auf diese Weise entsteht ein Bedarf an Vertrauen, das – so Luhmann – „immer weniger durch Vertrautheit gestützt A) SOZIALES UND POLITISCHES VER- werden kann“ (ebd.: 24). Ist ein solches Vertrauen überhaupt TRAUEN – THEORETISCHE GRUNDLAGEN möglich? Das Vertrauen, das damit gemeint ist und das komplexe Ge- VERTRAUEN ALS SOZIALWISSENSCHAFT- sellschaften erfordern, ist das Vertrauen in Institutionen. Diese LICHER BEGRIFF basieren auf bestimmten Werten und Normen, die die Bür- ger_innen kennen und teilen und von denen sie wissen oder Dieser einführende Abschnitt soll drei Fragen beantworten: annehmen, dass sie auch die anderen Bürger_innen kennen Was ist Vertrauen? Wie entsteht Vertrauen? Und welche Be- und teilen. Indem wir den anderen Bürger_innen auf diese ziehung besteht zwischen sozialem und politischem Vertrauen? Weise vertrauen, vertrauen wir zugleich den Entscheidungs- träger_innen, die im Rahmen der politischen Institutionen Der Soziologe Niklas Luhmann betrachtet Vertrauen als einen handeln. Für dieses Vertrauen sind keine weiteren Informati- Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität. Die soziale onen über die anderen notwendig, es kann sich also auch auf
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN 8 fremde Personen beziehen, mit denen wir im luhmannschen an denselben Personenkreis denken und sich die Breite oder Sinne nicht vertraut sind. Streng genommen handelt es sich Enge des Vertrauensradius kulturell unterscheidet. 4 bei diesem Konzept nicht um ein Vertrauen in Institutionen, sondern weiterhin um ein Vertrauen in andere Akteur_innen bzw. Personen, nur dass die Quellen des Vertrauens weniger MÖGLICHE ERKLÄRUNGEN – WOHER KOMMT in den Akteur_innen selbst liegen als in den Werten und Nor- SOZIALES VERTRAUEN? men der Institutionen, die ihr Verhalten steuern. Darüber, worin der Ursprung sozialen Vertrauens liegt, Delhey und Newton (2005: 311) definieren Vertrauen als die herrscht keine Einigkeit und gibt es eine Vielzahl von Erklä- Überzeugung, dass die Akteur_innen oder Institutionen, de- rungsansätzen mit widersprüchlichen empirischen Ergebnis- nen man sein Vertrauen schenkt, einem willentlich oder wis- sen. Glanville und Paxton (2007: 231) unterscheiden zwei sentlich keinen Schaden zufügen werden und bestenfalls im theoretische Perspektiven: Vertrauen beruht demnach entwe- Interesse der/des Vertrauenden handeln werden. der auf Erfahrungen, die ein Mensch im Laufe seines Lebens macht, oder Vertrauen ist eine Veranlagung, die ein Mensch Laut Putnam ist Sozialkapital, dessen Hauptbestandteil sozia- von Geburt an besitzt oder in frühester Kindheit entwickelt. les Vertrauen ist, Voraussetzung dafür, dass Menschen ko- Das impliziert, dass das Maß an Vertrauen sich nicht oder operieren können. Ohne Vertrauen bleiben Probleme des kaum durch Erfahrungen ändern lässt. kollektiven Handelns bestehen, das heißt, eigentlich stünden alle besser da, wenn sie kooperieren würden, aber gleichzei- Laut Putnam ist der durch Vertrauen bewirkte soziale und tig hat die/der Einzelne einen rationalen Anreiz, sich egois- kulturelle Zusammenhalt der Bürger_innen in einer Zivilgesell- tisch zu verhalten, und erwartet ein ebensolches Verhalten schaft, der sich an ihrem Engagement in freiwilligen Organi- auch von ihrem/seinem Gegenüber. Ein einzelner Mensch sationen oder Netzwerken festmacht, der maßgebliche Fak- verhält sich für sich genommen rational, aber das Gesamter- tor für die Qualität und Stabilität einer Demokratie. In der gebnis ist nicht rational im Sinne aller (Putnam 1993: 164). bahnbrechenden Studie „Making Democracy Work“ 5 unter- Vertrauen hilft uns folglich dabei, Probleme des kollektiven suchte er diese Zusammenhänge am Beispiel Italiens, wo das Handelns aufzulösen. Sozialkapital zwischen dem Norden und Süden des Landes sehr unterschiedlich verteilt ist. In seinem zweiten wichtigen Vertrauen ist kein einheitliches Konzept. Es ist zwischen par- Werk, das unter dem Titel „Bowling Alone“ im Jahre 2000 tikularem sozialem Vertrauen, generellem (oder generalisier- erschien,6 beschrieb Putnam, wie sich das Sozialkapital in den tem) sozialem Vertrauen und politischem Vertrauen zu unter- USA seit Ende des Zweiten Weltkrieges in einem schleichen- scheiden. Eine Person kann dabei – je nach Art des Vertrauens den Prozess aufgelöst habe. Infolge der Ausbreitung individu- (partikular, generell, politisch) – ein unterschiedlich hohes alistischer Selbsterfahrungswerte, der Durchsetzung des Fern- Maß an Vertrauen aufweisen. Partikulares soziales Vertrauen sehens als dominierender Form der Freizeitgestaltung, der meint Vertrauen in die Familie, Freund_innen, die Nachbar- Technisierung menschlicher Kommunikationsbeziehungen schaft – also Menschen, die uns persönlich bekannt sind, und und der erhöhten Mobilität verbrächten die Menschen ihre Menschen, die so sind wie wir. Generelles soziales Vertrauen Freizeit nicht mehr gemeinsam mit anderen in Sport- und Ge- bezieht sich dagegen auf Menschen, denen wir zum ersten sangvereinen, Kegelclubs und Wohltätigkeitsorganisationen. Mal begegnen, Menschen anderer Nationalität oder anderer Stattdessen säßen sie vor ihren Fernsehgeräten oder PCs, gin- Religion (Newton/Zmerli 2011: 171). Besonders letztere Art gen alleine zum Bowlen und beruhigten ihr soziales Gewis- von Vertrauen ist für das Zusammenleben in modernen und sen mit Geldspenden für karitative Zwecke. komplexen Gesellschaften aber unabdingbar (ebd.). Unter po- litischem Vertrauen wird Vertrauen in bestimmte Politiker_in- Putnam reklamiert die Erfindung des Begriffs „Sozialkapital“ nen oder in die politischen Institutionen (wie die Regierung, nicht für sich, sondern verweist darauf, dass das Konzept in das Parlament oder die Parteien) verstanden. Vertraut wird seinen Grundzügen bereits im frühen 20. Jahrhundert von dabei im Prinzip den Akteur_innen, die innerhalb dieser Insti- einem Pädagogen namens Lyda Judson Hanifan (1920) ent- tutionen ein Amt innehaben. Nur speist sich dieses Vertrauen wickelt wurde. Hanifan definierte das Sozialkapital als Produkt aus den Werten und Normen der jeweiligen Institutionen, die informeller Nachbarschaftsbeziehungen und solidarischer das Verhalten der Akteur_innen leiten (Warren 2018: 88). Netzwerke in einer Gemeinde, das nicht nur der/dem Einzel- nen zum Vorteil gereiche, sondern zugleich der Verbesserung Beinahe alle Menschen vertrauen der eigenen Familie. Je ent- der Lebensbedingungen der gesamten Gemeinschaft und fernter bzw. abstrakter aber das Objekt des Vertrauens ist, je damit der allgemeinen Wohlfahrt diene. Der Grund dafür sei, weiter also der Vertrauensradius gezogen ist, desto niedriger dass die Netzwerke zur Entstehung von „Normen einer ver- liegt der Anteil derjenigen, die diesem Objekt (etwa Men- allgemeinerbaren Gegenseitigkeit“ beitrügen. Man tut etwas schen, denen wir zum ersten Mal begegnen, Menschen an- für die anderen, auch wenn man dafür keine unmittelbare derer Religion) ihr Vertrauen schenken (Zmerli/Newton 2011: 74). Gegenleistung erhält, weil man weiß, dass die anderen dieses Generelles soziales Vertrauen wird zumeist mit der Frage ge- messen, ob jemand den „meisten Menschen“ vertraut. In der 4 Delhey et al. ( 2011) zeigen, dass der Radius derer, die die Befragten Vertrauensliteratur wird vor allem in der ländervergleichenden unter „meiste Menschen“ subsumieren, in asiatischen Ländern wie Forschung vor dem unkritischen Einsatz dieses Items gewarnt, Südkorea und China wesentlich enger ist als in westlichen Ländern. da die Formulierung „meiste Menschen“ den Befragten einen 5 Putnam (1993). Interpretationsfreiraum lässt. Das führt dazu, dass nicht alle 6 Putnam (2000).
VERTRAUEN IN DEMOKRATIE 9 Verhalten irgendwann erwidern werden. Vertrauen wird damit vertrauenswürdiges Verhalten sanktionieren, dafür sorgen, zum „Gleitmittel“ des gesellschaftlichen Lebens. „Wenn wirt- dass Menschen sich vertrauenswürdig verhalten. schaftliches und politisches Handeln in dichte Netzwerke so- zialer Interaktion eingebettet sind, verringern sich Anreize für Zwei weitere Quellen für Vertrauen werden auf der gesell- Opportunismus und Fehlverhalten“ (Putnam/Goss 2001: 21 f.). schaftlichen Ebene identifiziert: In Gesellschaften mit einer als Der Begriff „Kapital“ verweist darauf, dass solche Netzwerke geringer wahrgenommenen Intensität sozialer Konflikte ist nicht einfach da sind – wie physisches und Humankapital das Vertrauen höher (Delhey/Newton 2002: 17). Zudem hat müssen sie vielmehr aufgebaut und gepflegt werden. In sie soziale Ungleichheit einen negativen Effekt auf soziales Ver- zu investieren liegt dabei nicht nur im Interesse der Gemein- trauen in einer Gesellschaft (Uslaner/Brown 2005). schaft selbst, sondern ist auch eine Aufgabe des Staates. Auf der individuellen Ebene setzt dagegen die sogenannte Besonders wichtig für die Herausbildung generellen sozialen Gewinner_innenhypothese an. Sie besagt, dass die „Gewin- Vertrauens sind laut Putnam sogenannte brückenbildende ner_innen“ der Gesellschaft, also Menschen mit höherer Bil- („bridging“) Freiwilligenorganisationen, in denen Menschen dung, höherem Einkommen, höherer sozialer Schichteinstu- mit einem unterschiedlichen sozialen Hintergrund zusam- fung, ein höheres Maß an sozialem Vertrauen haben. menkommen. Bindendes („bonding“) Sozialkapital dient im Vertrauen beruht hier vor allem auf Erfahrungen, die ein Gegensatz dazu, Gruppenidentitäten zu stärken. Es entsteht Mensch im Erwachsenenalter macht. Zmerli und Newton in Organisationen mit einer homogenen Mitgliedschaft (Put- (2011) unterschieden zwischen einem psychologischen, ei- nam 2002: 22). Empirische Untersuchungen haben allerdings nem rationalen, einem soziologischen und einem institutio- gezeigt, dass Bürger_innen in Freiwilligenorganisationen in nellen Erklärungsansatz für die Gewinner_innenhypothese. der Regel ausschließlich mit ihresgleichen zusammenkom- Psychologisch haben die Gewinner_innen mehr Grund, opti- men, diese Organisationen also nicht dazu beitragen können, mistisch zu sein, und Optimismus steht – so Uslaner – in en- Vertrauen gegenüber Fremden zu entwickeln: „[I]f diversity ger Verbindung zu hohem sozialem Vertrauen. Der rationale matters for the socialization of cooperative values then volun- Erklärungsansatz besagt, dass Vertrauen immer mit dem Ri- tary associations might not be the place to look, as such siko verbunden ist, enttäuscht zu werden. Die/der Vertrauen- groups have been found to be relatively homogeneous in de ist denen, denen er/sie vertraut, ausgeliefert. Die Gewin- character“ (Stolle 2002: 26). Mehrere Autor_innen äußern zu- ner_ innen der Gesellschaf t , das heißt die sozial dem Kritik an der von Putnam vermuteten Richtung der kau- Bessergestellten, können es sich eher leisten, dieses Risiko salen Beziehung. Sie weisen darauf hin, dass Personen mit einzugehen, denn sie verkraften es besser, Geld und/oder Ei- einem ohnehin hohen Maß an sozialem Vertrauen eher bereit gentum zu verlieren, wenn ihr Vertrauen missbraucht wird. sind, sich in Freiwilligenorganisationen zu engagieren (Stolle Die soziologische Erklärung geht davon aus, dass Besserge- 2002: 25; Uslaner 1999: 146). stellte in einem vertrauenswürdigeren Umfeld leben. Sozial schlechtergestellte Menschen haben in ihrem Umfeld häufi- Die Theoretiker_innen des Sozialkapitals haben plausibel zei- ger Kontakt mit Krankheiten, Gewalt, Kriminalität, Diskriminie- gen können, warum das Engagement in bürgergesellschaft- rung oder Drogen. Diejenigen, die sich auf der Gewinner_innen- lichen Vereinigungen sich positiv auf das soziale und politi- seite der Gesellschaft befinden, können den gesellschaftlichen sche Vertrauen auswirkt. Sie tun sich aber schwer, das genaue Institutionen eher vertrauen. Diese Institutionen haben ihnen Verhältnis von Ursache und Wirkung zu bestimmen. Ist Ver- schließlich zum Erfolg verholfen und schützen sie, indem sie trauen eine Folge des Engagements? Oder setzt das Engage- Recht und Gesetz aufrechterhalten und Menschen für nicht ment ein gewisses Maß an Vertrauen bereits voraus? Handelt vertrauenswürdiges Verhalten bestrafen. Zudem verfügen die es sich um eine reziproke Beziehung, stellt sich die Frage, wel- Gewinner_innen über mehr Ressourcen, um ihre Interessen che Einflussrichtung überwiegt. Die Befunde der hierzu vor- in der Gesellschaft durchzusetzen.7 Das führt zu einer selek- liegenden Studien geben darauf bisher keine klaren Antwor- tiven Responsivität seitens der politischen Entscheidungsträ- ten. Dies könnte zum einen auf konzeptionelle Schwächen ger_innen zugunsten der Reichen. Die Präferenzen der Rei- zurückzuführen sein, wenn die Studien zum Beispiel zwischen chen haben eine deutlich höhere Wahrscheinlichkeit, politisch den verschiedenen Formen des Sozialkapitals nicht genü- umgesetzt zu werden, wohingegen die Präferenzen ärmerer gend unterscheiden. Oder es liegt an der Unzulänglichkeit der Bevölkerungsteile nur dann eine Chance auf Verwirklichung verfügbaren Daten und/oder eingesetzten Methoden (Pax- haben, wenn sie mit denen der Reichen übereinstimmen (Gi- ton/Ressler 2018). lens 2012; Elsässer et al. 2018). Als weitere Quelle sozialen Vertrauens gelten politische Insti- Uslaner vertritt dagegen die Auffassung, dass Vertrauen eine tutionen. Die Bürger_innen projizieren dabei ihre positiven psychische Veranlagung ist. Hohes soziales Vertrauen gehe oder negativen Erfahrungen mit den staatlichen oder kom- dabei Hand in Hand mit anderen Persönlichkeitszügen wie munalen Behörden und den in ihr tätigen Beamt_innen auf Optimismus, wohingegen Menschen mit einem niedrigen ihre Mitmenschen. Wird die Verwaltung als unfair, korrupt Grad an sozialem Vertrauen misanthropisch und pessimistisch oder nicht vertrauenswürdig wahrgenommen, wird diese ne- eingestellt seien. Optimist_innen seien nicht nur im Hier und gative Wahrnehmung auf die Mitbürger_innen übertragen, Jetzt optimistisch, sondern auch mit Blick auf die Zukunft. Als die dann ebenfalls als nicht vertrauenswürdig eingestuft wer- den (Rothstein/Stolle 2002: 199). Eine andere Erklärung für die Beziehung zwischen Institutionen und Vertrauen lautet, 7 Für eine Zusammenfassung der vier Erklärungsansätze siehe Zmerli/ dass Institutionen wie Polizei und Gerichte, indem sie nicht Newton (2011: 71).
FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG – FÜR EIN BESSERES MORGEN 10 Hauptursache für das schwindende generelle Vertrauen der politisches System. Spezifische Unterstützung wird den zen Amerikaner_innen macht Uslaner – anders als Putnam – nicht tralen politischen Akteur_innen wie der Regierung entgegen- das rückläufige Engagement in Freiwilligenorganisationen, gebracht und ist eine Reaktion auf die alltäglichen politischen sondern deren sinkendes Zukunftsvertrauen aus. Nur wenn Entscheidungen dieser Akteur_innen. Diffuse Unterstützung man zuversichtlich in die Zukunft blicke, könne man sich das ist dagegen eine stabile Orientierung und bezieht sich auf das Risiko leisten, andere als vertrauenswürdig einzuschätzen (Us- politische System oder die Identifikation mit der politischen laner 1999: 139). Gemeinschaft (Easton 1975: 436 f.). Diffuse Unterstützung sorgt für Stabilität, wenn die Bürger_innen mit einer amtieren- den Regierung oder dem Regierungshandeln unzufrieden BESTEHT EIN ZUSAMMENHANG ZWISCHEN sind: „Nur wenn ein hinreichend großer Teil der Systemmit- SOZIALEM UND POLITISCHEM VERTRAUEN? glieder seine Beziehung zum politischen Regime von denen zur amtierenden Regierung und der von ihr verfolgten Politik Die Sozialkapitaltheorie besagt, dass es einen Zusammen- trennt, ist gewährleistet, dass nicht jede größere Führungs- hang zwischen politischem und sozialem Vertrauen gibt. oder Effizienzkrise in eine Systemkrise umschlägt“ (Gabriel Newton und Zmerli (2011) unterscheiden drei theoretische 1989: 77). Zum Problem für die Demokratie werde ein Rück- Modelle, wie soziales und politisches Vertrauen zusammen- gang politischer Unterstützung dann, wenn der politische Un- hängen können: das Kompatibilitäts-, das Inkompatibilitäts- mut größerer Bevölkerungsteile nicht mehr nur die amtieren- und das konditionale Modell. de Regierung bzw. die politische Elite trifft, sondern das politische System als Ganzes oder gar die Idee der Demokra- Folgt man dem Kompatibilitätsmodell, gibt es Menschen, die tie selbst. In anderen Worten: Die beiden Dimensionen sind entweder in allen Bereichen ein hohes Maß an Vertrauen nicht unabhängig voneinander und die diffuse Systemunter- haben oder in allen Bereichen kein bzw. ein geringes Maß an stützung wird über kurz oder lang von der Unzufriedenheit Vertrauen aufweisen. Nach dieser Auffassung gibt es also nur mit der Performanz des demokratischen Systems, das heißt generell vertrauende und generell misstrauische Menschen. den täglichen politischen Entscheidungen, beeinflusst (Linde/ Viele ältere Studien kommen zu dem Ergebnis, dass keine Ekman 2003: 397; Easton 1975: 445). Beziehung zwischen partikularem und generellem sozialem Vertrauen existiert oder dass partikulares und generelles so- Heute wird Eastons dichotome Unterscheidung zwischen dif- ziales Vertrauen sogar zueinander im Widerspruch stehen, fuser und spezifischer politischer Unterstützung in der Regel das heißt inkompatibel sind (Banfield 1958; Yamagashi/Ya- als nicht differenziert genug angesehen. Pippa Norris entwi- magashi 1994; Stolle 1998: 521). Das konditionale Modell ckelte in Anlehnung an Easton ein fünfstufiges Kontinuum, geht dagegen davon aus, dass die Personen, die ein hohes das von Identifikation mit der nationalen Gemeinschaft über Maß an generellem sozialem Vertrauen besitzen, auch ein Unterstützung der Demokratie als Idee, Zufriedenheit mit hohes Maß an partikularem sozialem Vertrauen aufweisen. dem Funktionieren der Demokratie und Institutionenvertrau- Das Gegenteil ist jedoch nicht automatisch der Fall. Des Wei- en bis hin zu Vertrauen in die aktuelle Regierung bzw. Ver- teren besitzen Personen mit einem hohen Maß an politi- trauen in einzelne Politiker_innen reicht (Norris 2011: 24 ff.). schem Vertrauen in der Regel auch ein hohes Maß an sozialem Die abstrakteste Dimension misst das Gefühl der Verbunden- Vertrauen – auch hier ist das Gegenteil nicht zwangsläufig der heit zu einer Nation. Die nationale Identität wurzelt in kultu- Fall. Die Beziehung zwischen den verschiedenen Formen des rellen Mythen und Symbolen, einer geteilten Geschichte oder Vertrauens ist mithin asymmetrisch. Anhand der fünften Welle auch der Zuerkennung legaler und politischer Rechte an des World Values Survey (2005–2009) zeigen Newton und Staatsangehörige (ebd.: 25). Gemessen wird innerhalb dieser Zmerli, dass 99 Prozent der Befragten, die angeben, ein hohes Dimension neben Gefühlen wie Nationalstolz oder nationaler generelles Vertrauen zu besitzen, auch hohes partikulares Identität auch die Einstellung der Befragten zu intergouverne- Vertrauen aufweisen. Aber nur 45 Prozent der Befragten mit mentalen oder supranationalen Organisationen (Vereinte Na- hohem partikularem Vertrauen weisen auch ein hohes Maß tionen, Europäische Union) oder kosmopolitische Einstellun- an generellem sozialem Vertrauen auf. Menschen, die ein ho- gen, die – so die Annahme – im Zuge der Globalisierung hes Maß an politischem Vertrauen aufweisen, haben fast alle zunehmen und generell als Gegenpol zu nationalistischen auch ein hohes Maß an sozialem Vertrauen. Umgekehrt be- Einstellungen begriffen werden (ebd.: 26). steht dieser Zusammenhang jedoch nicht. Besitzt eine Person ein hohes soziales Vertrauen, kann folglich nicht automatisch Eine zweite Dimension eher diffuser Systemunterstützung ist darauf geschlossen werden, dass sie auch über ein hohes die Zustimmung zu den grundlegenden Werten und Prinzipi- Maß an politischem Vertrauen verfügt (Newton/Zmerli 2011: en, auf denen ein politisches System gründet. Eine typische 183). Partikulares soziales Vertrauen bildet demnach das Fun- Frage zur Messung dieser Dimension ist, ob die Demokratie dament für generelles soziales Vertrauen und beide zusam- die beste Staatsform sei. Dieser Aussage stimmten im vergan- men wiederum die Basis für politisches Vertrauen (Zmerli/ genen Jahr laut der Leipziger Autoritarismus-Studie 93,3 Pro- Newton 2011: 68). zent der Deutschen zu. Die Zustimmung hat in den neuen Bundesländern im Vergleich zu den Vorjahren zugenommen – im Westen dagegen ist sie leicht gesunken (Decker et al. DAS KONZEPT POLITISCHER UNTERSTÜTZUNG 2018: 96). In einer Umfrage der Bertelsmann Stiftung stimm- ten 2019 nur 75,9 Prozent der Befragten der Aussage zu David Eastons Konzept politischer Unterstützung unterschei- (Mannewitz/Vollmann 2019: 43). Zu erklären ist die Diskre- det zwischen spezifischer und diffuser Unterstützung für ein panz zwischen den beiden Befragungen hauptsächlich durch
VERTRAUEN IN DEMOKRATIE 11 die unterschiedlichen Antwor tvorgaben. Die Ber tels- 2018: 12; Warren 2018: 78). Am spezifischen Pol des Kontinu- mann-Studie enthielt hier auch die Kategorie „teils/teils“, der ums wird die Zustimmung zum amtierenden Regierungschef sich 18 Prozent der Befragten zuordneten, weshalb der Wert oder das Vertrauen in die politischen Akteur_innen gemes- für diejenigen, die die Demokratie für die beste Staatsform sen. Ein häufig verwendetes Messinstrument, um das Ver- halten, im Vergleich zu anderen Studien, die ohne Mittelkate- trauen in die amtierende Regierung zu ermitteln, sind die gorie auskommen, niedriger ausfällt. Items der American National Election Study (ANES). Dabei werden die Befragten gebeten anzugeben, ob die Regierung Ein etwas anderes Messinstrument, um die Zustimmung zur ihrer Meinung nach das Richtige tut, ob sie Steuergelder ver- Demokratie als Idee zu ermitteln, wird im Rahmen des World schwendet, ob sie im Interesse aller Bürger_innen handelt Values Survey genutzt. Hier werden hintereinander vier Regie- und ob sie korrupt ist. rungsmodelle abgefragt und die Befragten sollen dabei für eine Expert_innenregierung, eine Militärjunta, einen autoritä- ren Führer und die Demokratie jeweils angeben, ob sie dieses WAS MISST DIE FRAGE NACH DER ZUFRIEDEN- Regierungsmodell für ihr Land für sehr gut, eher gut, eher HEIT MIT DER DEMOKRATIE? schlecht oder sehr schlecht geeignet halten. In der sechsten Welle des World Values Survey (2010–2014) hält eine über- Wir schließen uns der Auffassung von Linde und Ekman an, wältigende Mehrheit von 94,1 Prozent der Deutschen die De- dass die Frage nach der Zufriedenheit mit der Demokratie mokratie für sehr gut/eher gut geeignet (64,8 Prozent „sehr nicht die Zustimmung zur Idee der Demokratie misst, denn gut“); immerhin noch eine Mehrheit von 56,7 Prozent der Be- jemand kann hundertprozentig vom Ideal der Demokratie fragten befürwortet aber auch eine Expert_innenregierung. überzeugt sein, aber das Funktionieren der Demokratie (etwa Eine autoritäre Führungspersönlichkeit wird von 3,7 Prozent aufgrund ausufernder Korruption) trotzdem schlecht bewer- der Befragten als sehr gut und von 17 Prozent als gut geeig- ten (Linde/Ekman 2003: 396). Stattdessen wird die Frage net angesehen. Eine Militärdiktatur erfährt lediglich eine Zu- nach der Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokra- stimmung von 4,1 Prozent. tie gemeinhin als Evaluation der Demokratie in der Praxis, das heißt der Performanz des politischen Systems, verstanden Die Zufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie fällt (ebd.; Anderson 2002). Die Verwendung des Items „Zufrie- in die Mitte zwischen diffuser und spezifischer politischer Un- denheit mit der Demokratie“ erfährt in der Literatur zum Teil terstützung. Während sich für die Unterstützung der Demo- Kritik.9 Moniert wird beispielsweise, dass die Frageformulie- kratie als „beste Staatsform“ im Zeitverlauf erwartungsgemäß rung den Bürger_innen Raum für Interpretation lässt; sie kön- ein eher stabiles Bild zeichnen lässt, ist für die Zufriedenheit nen mit dem Begriff „Demokratie“, der in der Fragestellung mit dem Funktionieren der Demokratie ein rapider Rückgang nicht konkretisiert wird, sehr unterschiedliche Vorstellungen zu konstatieren. Die Zahlen weisen – auch abhängig von dem assoziieren (Canache et al. 2001: 525). Nicht alle Bürger_innen genauen Wortlaut der Frage und der Zahl der Antwortkate- haben dasselbe Verständnis davon, was Demokratie meint gorien – zwar eine Schwankungsbreite auf, aber mehrere (Kriesi et al. 2016). Ein unterschiedlich weites Demokratiever- Umfragen aus den vergangenen zwei Jahren liefern den be- ständnis führt aber zu unterschiedlichen Einschätzungen be- unruhigenden Befund, dass rund vier bzw. fünf von zehn Be- züglich der individuellen Zufriedenheit mit dem Funktionieren fragten mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutsch- der Demokratie. Kriesi et al. zeigen, dass die Europäer_innen land nicht zufrieden sind.8 Eine 2018 veröffentlichte Studie der im Kern ein liberales Demokratieverständnis teilen, als dessen Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2018 kam etwa zu dem Hauptelemente sie die Gleichheit vor dem Gesetz sowie freie Ergebnis, dass insbesondere Bürger_innen mit populistischen und faire Wahlen identifizieren. Aber ein Großteil der Befrag- Einstellungen mit dem Funktionieren der Demokratie eher ten hat eine Demokratiekonzeption, die zusätzliche Elemente (45 Prozent) oder vollständig (18 Prozent) hadern (Vehrkamp/ auf der Input- und/oder Output-Seite enthält. 40 Prozent der Merkel 2018: 38). Europäer_innen verstehen unter Demokratie direktdemokra- tische Beteiligungsmöglichkeiten und für ca. die Hälfte der im Eher spezifische Unterstützung wird mit dem Vertrauen in die European Social Survey von 2013 Befragten gehört auch so- politischen Institutionen abgefragt; hier ist der Anteil der Bür- ziale Gerechtigkeit zum Konzept der Demokratie dazu. Diese ger_innen, die den parteilichen Institutionen (Regierung, Par- Befragten erwarten also, dass Demokratien Einkommensun- lament, Parteien) vertrauen, merklich geringer, als der Anteil terschiede zwischen Armen und Reichen reduzieren (ebd.: 80 f.). derjenigen, die den nicht parteilichen Institutionen (beispiels- Insgesamt verstehen rund 60 Prozent der europäischen Bür- weise der Justiz oder der Polizei) vertrauen. Dieser Unter- ger_innen unter Demokratie mehr, als das enge liberale De- schied liegt in der Natur der Sache: Die parteilichen Institutio- mokratieverständnis enthält (ebd.: 86). Insbesondere Perso- nen handeln im Sinne ihrer Wähler_innen, wohingegen von nen mit niedrigerem sozioökonomischem Status weisen ein Polizei und Gerichten erwartet wird, dass sie neutral und fair, über dieses hinausgehendes und den sozialstaatlichen Out- das heißt im Interesse aller Bürger_innen handeln (Uslaner put einschließendes Demokratieverständnis auf. Personen mit einem höheren sozialen Status haben dagegen eine Demo- kratiekonzeption nahe am (zumeist der liberalen Demokratie 8 Eine Untersuchung von Polis aus dem Jahr 2016 ergab, dass nur noch entsprechenden) Status quo, von dem sie schließlich profitie- 48 Prozent der Befragten mit dem Funktionieren der Demokratie in Deutschland (sehr) zufrieden sind. Dies entspricht einem Rückgang von 13 Prozentpunkten gegenüber 2013. Die Leipziger Autoritarismus- Studie (Decker et al. 2018) berichtet für das Jahr 2018, dass 53,2 Prozent 9 Vgl. zum Beispiel die Auseinandersetzung zwischen Canache et al. der Befragten zufrieden sind. (2001) und Anderson (2002).
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