Wie klingt Musik ohne Kontext? - Norient

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Wie klingt Musik ohne Kontext? - Norient
Wie klingt Musik ohne Kontext? | norient.com                                 7 Feb 2022 01:27:04

    Wie klingt Musik ohne
    Kontext?
    by Johannes Rühl

    Musik ist keine universelle Sprache. Aber sie kann ein Mittel
    zur Verständigung sein. Der Ethnologe und Kurator Johannes
    Rühl hat zwei Musik-Austauschprojekte begleitet und
    beobachtet, dass man eine bereichernde und nachhaltige
    musikalische Erfahrung nicht auf dem Reissbrett entwerfen
    kann. Vielmehr kommt es auf die Bereitschaft der einzelnen
    Musiker*innen an – und den kulturellen Kontext.

    Für Schweizer Musiker*innen ist oft recht einfach, zu verreisen, um mit
    Musiker*innen aus anderen Ländern zusammenarbeiten. Andersherum ist es
    ungleich schwerer, eine Begegnung zustande zu bringen. Für den «Export
    Schweizer Kultur» ist die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia zuständig,
    ähnlich wie das Goethe Institut, das British Council oder Institut Français. Der
    Import in die Schweiz dagegen hat oft weniger finanzstarke Fürsprecher.
    Diese Asymmetrie bilden die zwei Projekte mit Schweizer Beteiligung ab.
    «Nass Makan» in Kairo und «Building Bridges» in Ascona.

    Nonverbale Kommunikation

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    Eine von der Aussenstelle von Pro Helvetia in Kairo initiierte und finanzierte
    Begegnung von Ägyptischen und Schweizer Musikern fand im Frühjahr 2019
    in Zusammenarbeit mit Norient statt. Partner auf der ägyptischen Seite war
    das «Egyptian Center for Culture and Arts - Makan» unweit des Tahir Platzes
    unter der Leitung des Gründers Ahmed El Maghraby. Das Kulturzentrum
    setzt seit seiner Gründung vor über 20 Jahren auf den Kulturaustausch und
    gibt regelmässig neben Gastmusiker*innen aus Ägypten, solchen aus der
    ganzen Welt eine Bühne.

    Im April 2019 nahmen drei Schweizer Musiker*innen an einem siebentägigen
    Workshop mit ägyptischen Musiker*innen teil: Der volksmusikalisch versierte,
    aber auch jazzerfahrene Akkordeonist Hans Hassler, die klassisch
    ausgebildete Cellistin Sara Käser und der traditionell orientierte Appenzeller
    Hackbrettspieler Elias Menzi trafen auf die Musiker*innen des vielköpfigen
    oberägyptischen Zar-Ensembles Mazaher rund um die Sängerin und
    Percussionistin Om Sameh.

    Normalerweise sind es Musiker*innen aus den Bereichen des Jazz oder der
    freien Improvisation, die nach Makan kommen. Dass auch die europäische
    Seite ihre eigene regionale, volksmusikalische Tradition mit ins Spiel brachte,
    war neu. Die Mitglieder von Mazahar sprachen kein Englisch, sodass die
    Gruppe gezwungen war, weitgehend nonverbal und ausschliesslich über die
    Musik zu kommunizieren.

    Einseitige Annäherungen
    Die Schweizer*innen waren begeistert von dieser einzigartigen Erfahrung, für
    die Ägypter*innen schien es kaum einen Unterschied zu machen, welcher
    westliche Musikstil sich ihnen nun genau näherte. Doch gerade die
    Traditonsverbundenheit beider Seiten brachte grösstmögliche Unterschiede
    der musikalischen Praxen zutage: Auf der einen Seite die sehr laute,
    ritualisierte perkussionsbetonte Besessenheitsmusik des Mazahar
    Ensembles, auf der anderen Seite die Klänge der Schweizer Gäste mit ihren
    vergleichsweise zartbesaiteten Instrumenten.

    Nur langsam begriffen sie, um was es sich bei dieser Zar-Performance
    handelte, wie die Akteur*innen des Ensembles zueinander standen und wie
    ihre Musik strukturiert war. Schlicht durch behutsames Imitieren näherte man
    sich vorsichtig der Tonalität und dem Rhythmus des Trance-Rituals an. So
    entwickelte sich mit viel Übung im Laufe der Tage eine gemeinsame
    Verständigung, bei der man subtil zueinander fand.

    Harmonisch komplex war diese Musik nicht, aber die ungeraden Rhythmen
    wurden zur Herausforderung. Zeitweise war es schlicht die Lautstärke, gegen
    die die europäischen Instrumente nicht ankamen. In solchen Momenten war
    vor allem die Sängerin Om Sameh sehr bemüht, zu integrieren. Sie forderte

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    die europäischen Musiker*innen immer wieder auf, mit Cello, Hackbrett und
    Akkordeon solistisch einzusteigen, während sich der Rest des Ensembles
    zurückhalten sollte.

    Umgekehrt fand kaum Verständigungen statt. Nur zögerlich begleiteten die
    ägyptischen Gastgeber Elisa Menzi (Hackbrett) oder Hans Hassler
    (Akkordeon), als sie Volksmusik aus der Schweizer Bergwelt einbrachten. Als
    die Schweizer das bekannte Volkslied «Berewegge, Chäs ond Brot»
    anstimmten und Elias Menzi auf seinem Hackbrett ein Appenzeller Zeuerli
    spielte, war die Neugierde auf der anderen Seite zwar gross. Doch wirklich
    bewegte sich meist erst dann etwas, wenn die Schweizer*innen sich ihrerseits
    dem Groove von Mazahar anglichen.

    Die ägyptischen Musiker*innen hatten, trotz der vielen Workshops, die sie
    zuvor bereits mit Europäern veranstaltet haben, kaum Interesse daran, etwas
    Gemeinsames entstehen zu lassen. Entsprechend intensiv und
    herausfordernd war der Lernprozess für die Teilnehmer*innen aus der
    Schweiz und wurde vielleicht gerade deshalb für ihr eigenes musikalisches
    Weiterkommen sehr wertgeschätzt. Unter den Gästen war man sich jedoch
    einig, dass jeder Kunstanspruch in solchen Momenten fehl am Platz und die
    Differenz niemals wirklich aufzulösen sei, solange nicht der Wille da ist, dass
    im Einvernehmen etwas ganz Neues entstehen soll.

    Positive Verwirrung am Lago Maggiore

    Eine ganz andere Ausgangslage bietet sich, wenn Musiker*innen mehrerer
    unterschiedlicher Musiktraditionen zusammenkommen. Seit Jahren
    ermöglicht das von der englischen Anthropologin Angela Hobart gestiftete
    Centro Incontri Umani (CIU) in Ascona unterhalb des Monte Verità dafür
    Gelegenheit. Auf dem Anwesen der Stiftung in einem grosszügigen Park
    kommen jeweils im Herbst bis zu sieben herausragende Musiker*innen
    zusammen, wobei jedes Jahr ein Teil von ihnen ausgetauscht wird, um neben
    stetiger Erneuerung auch ein Netzwerk unter den Akteur*innen entstehen zu
    lassen.

    Die Herkunftsländer der bisher eingeladenen Musikerinnen und Musiker
    waren Indien, Nigeria, Usbekistan, Schweiz, Vietnam, Frankreich, Syrien, Iran,
    Ukraine, Österreich und Italien. Nach zehn Tagen Leben und Arbeiten im CIU
    geht es jeweils auf eine kleine Konzertreise. Das Ergebnis ist nicht eine
    vollkommene Melange unterschiedlicher Musiktraditionen, keine Avantgarde,
    frei improvisierte, Neue Musik oder Jazz. Sondern eine Musik, die jeweils die
    eigene musikalische Sozialisierung als Ausgangspunkt für das gemeinsame
    Musizieren anwendet, wo gerade der Unterschied das Material ist, das es zu
    bearbeiten gilt.

    Gemeinsamen Nenner finden

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    Im Gespräch mit den sehr erfahrenen Musiker*innen zeigt sich, dass das
    Zusammenarbeiten zum Teil ganz anders wahrgenommen wird, zumal die
    beteiligten Instrumente bzw. ihre traditionelle Spielweise nur bedingt
    miteinander kompatibel sind, worin letztendlich aber auch der Reiz liegt:
    Cello, Sitar, Santur (Iranisches Hackbrett), italienische Rahmentrommel,
    Drehleier und Nickelharpa können nicht ohne weiteres miteinander
    harmonieren. Das diatonisch gestimmte Iranische Santur zum Beispiel
    versteht sich nur nach mühsamen Absprachen mit der Drehleier. Für die stets
    von Tabla-Perkussion begleitete Sitar wiederum macht ausgerechnet die auf
    einen Grundton gestimmte Rahmentrommel am meisten Schwierigkeit im
    Zusammenspiel - das Vokabular indischer Rhythmen ist ein völlig anderes.
    Für die Drehleier macht nicht das Santur, sondern die Sitar die meisten
    Probleme, wobei die ähnliche Nickelharpa ebenfalls mit dem Santur nur
    bedingt zurechtkommt.

    Die musikalische Sprachverwirrung scheint kompliziert, weil sich jeder in
    einer anderen Problemkonstellation befindet. Doch bei grösster Offenheit
    kann im Prinzip jedes Instrument mit jedem anderen harmonieren. Die
    Ursache der Unvereinbarkeit liegt viel mehr bei den Musiker*innen selbst als
    bei ihren Instrumenten. Es ist vor allem die Bereitschaft, sich auf das
    gegenüber einzulassen, sich selbst zurückzunehmen, zu verstehen und zu
    lernen. Und zwar jeder aus der Perspektive seiner eigenen Tradition und des
    musikalischen Systems aus der man kommt und in dem man gewohnt ist,
    sich zu bewegen. Für alle gilt, dass sie bei der Annäherung zunächst ihr
    vertrautes Spektrum der musikalischen und spieltechnischen Möglichkeiten
    drastisch reduzieren müssen, um einen gemeinsamen Nenner als
    Ausgangspunkt aufzuspüren.

    Unvereinbarkeit macht kreativ
    Die iranische Santurspielerin Arezoo Rezvani ist in der Gruppe die Einzige, für
    die vierteltönige Intervalle selbstverständlich sind. Zudem muss ihr Hackbrett
    ständig umgestimmt werden, je nachdem, welche Tonart verlangt wird. Olena
    Yeremenko aus der Ukraine ist professionelle Geigerin. Sie spielt in diesem
    Projekt allerdings die schwedische Nyckelharpa. Ihrer Meinung nach geht
    man am besten in solch ein Projekt ganz ohne Erwartungen. Der Italiener
    Paolo Rosetti Murittu, Spezialist für Rahmentrommel für Alte Musik, meint,
    man müsse zwar seine Vorurteile ablegen, jedoch ohne seine Identität zu
    ignorieren, die man ja sowieso nicht los wird.

    Das Entscheidende sei doch gerade, dass hier ganz unterschiedliche
    Persönlichkeiten mit ihrem kulturellen Ballast zusammenkommen. Sara Käser
    am Cello zufolge sei es am Anfang sowieso eine heillose Überforderung. Es
    brauche eine Weile, bis man sich gefunden habe. Um sich zu öffnen, müssen
    persönliche Beziehungen aufgebaut werden. Durch das Zusammenleben in
    Ascona sind die Voraussetzungen dafür optimal.

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    Der Drehleier-Spieler Matthias Loibner allerdings ist der Ansicht, dass der
    Unterscheid eigentlich nicht viel grösser ist als wenn er sich mit Musikern aus
    dem eigenen kulturellen Umfeld trifft. Wenn sich mehr als zwei Musiker
    treffen, sei man immer gezwungen, sich zu reduzieren. Gaurav Mazumdar, der
    permanente Gast und musikalische Leiter des Projektes, hat sein eigenes
    Credo. Er versucht zunächst einfach alles zu vergessen. Aber nicht alles lässt
    sich auslöschen. Schon der Klang des Instrumentes ist bei der obertonreichen
    Sitar mit seiner speziellen Anschlagtechnik unverkennbar. Für Gaurav
    Mazumdar steht der Lernprozesses im Vordergrund. Nämlich gut zu
    beobachten und den Anderen in seiner ganzen musikalischen Komplexität
    versuchen, so weit wie möglich zu verstehen, und sei es nur durch
    wiederholtes Nachspielen.

    Je unbekannter, desto kreativer

    Doch nicht alles lässt sich abstellen. Man ist ja immer noch derselbe mit dem
    Instrument, das erlernt wurde. Sich von der gelernten Spieltechnik und vom
    vertrauten Klang zu lösen, sagt Mazumdar, sei am schwierigsten. Zwei
    divergierende Erfahrungen In Kairo wie in Ascona, waren die
    unterschiedlichen Musiker*innen gezwungen, Gemeinsamkeiten
    auszuhandeln. Im Tessin suchten sie eine eher behutsame Annäherung und
    Verständigung. Für alle Beteiligten galt: je fremder das Gegenüber, um so
    mehr gehen die Ohren auf. Erst wenn Grenzen sichtbar sind, entsteht auch
    der Reiz, sie zu überwinden.

    In Kairo begegneten sich die Musiker*innen nicht auf Augenhöhe. Da das
    Projekt von der Schweiz finanziert wurde, waren die europäischen
    Musiker*innen zunächst in der Geberrolle, im musikalischen
    Aufeinandertreffen drehte sich die Hierarchie jedoch um: Das Mazahar
    Ensemble suchte nicht wirklich den Austausch für etwas Neues, sondern lud
    die fremden Musiker*innen ein, an ihrem Ritual teilzuhaben. Die vom Ausland
    finanzierte Begegnung war für sie Teil einer ökonomischen
    Überlebensstrategie, von der auch das organisatorisch verantwortliche
    Kulturzentrum Makan profitierte.

    Abhängig von internationaler Förderung
    In einem Land, in dem es praktisch keine Kulturförderung gibt, sichern
    derartige internationale Partnerschaften die institutionelle Existenz. Auch
    dieser Aspekt spielt in die musikalische Begegnung hinein. Schweizer
    Musiker*innen, die Musik afrikanischer Trance-Rituale (nach)spielen, sind
    womöglich genau so wenig glaubhaft wie die Heilungskraft afrikanischer
    Masken in europäischen Museen. Zudem ist das Zar-Ritual von Mazaher, das
    regelmässig im Zentrum von Kairo aufgeführt wird, weit weg von seinem
    ostafrikanischen Ursprungszusammenhang. Dennoch sind die ägyptischen
    Musiker*innen beseelt von ihrer Musik, die im urbanen Kontext von Kairo
    durchaus folkloristisch erscheinen mag.

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    Und auch das Publikum im Makan Musikzentrum hatte wohl kaum ernsthafte
    Heilserwartungen. Anders als in Ascona, wo sich alle Beteiligten hierarchielos
    am selben Ausgangspunkt befanden, zeigte sich in Kairo, dass für das
    ägyptische Ensemble um Om Sameh und ihre in der Tradition verwurzelte
    Spielpraxis eine interkulturelle musikalische Begegnung wenig Sinn macht.
    Denn für sie gab es schlichtweg keinen Grund, den eigenen kulturellen
    Kontext zu verlassen. Musik ist keine Sprache. Die Verständigung mit ihr ist
    und bleibt ein ambivalentes Unterfangen.

    Die Kommunikation miteinander über Musik wird immer auf das gegenseitige
    musikalische Versteh- und Sprachvermögen beschränkt sein. Wie in der
    gesprochenen Sprache mischt sich auch in der Musik kulturell determinierte
    Voreingenommenheit mit Vorwissen, das oft nicht weit über das Ungefähre
    hinausgeht. Dennoch kann eine Verständigung gelingen, wenn die
    Voraussetzungen stimmen.

    → Links
    Theresa Beyer: «Musik als Weltsprache: Wunschtraum oder Wahrheit? Ein
    Experiment» (SRF)

    Dieser Artikel ist erschienen im Rahmen des Projekts «Norient Musikdebatten»,
    gefördert vom Bundesamt für Kultur BAK der Schweizerischen
    Eidgenossenschaft.

    → Published on June 23, 2020

    → Last updated on July 22, 2020

    Johannes Rühl ist Ethnologe und künstlerischer Leiter des biennalen Musikfestivals
    Alpentöne in Altdorf (Uri).

    → Topics

          Cultural Diplomacy
              Encounter
               All Topics

    → Special
    Norient
    Musikdebatten

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