Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn

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Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine   PORTRÄT

                                                                                          Zinedine Zidane
                                                                                          Zwischen Genie und Wahnsinn
                                                                                          Mal göttlich, mal teuflisch, Zinedine Zidane hat bei dieser WM bewiesen,
                                                                                          dass Himmel und Hölle nahe beieinander liegen. Ein begnadeter Spieler im
                                                                                          Fegefeuer!

                                                                                          VON JEAN VIREBAYRE

          1890 - 22 footballers use net for first time.

          2006 - Millions of fans use net billions of times.

20 million fans visited the Yahoo! hosted 2002 FIFAworldcup.com site 2.4 billion times.
                             We’re ready for more, are you?

                                                                                                                                                 SEPTEMBER 2006   15
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine       PORTRÄT
                                                                                                                                                                                               Zidanes
                                                                                                                                                                                               wichtigste Tore
     T        alent ist unvergänglich, wie die
              Wahl des 34-jährigen Zinedine
              Zidane zum besten Spieler
     der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft
     Deutschland 2006™ eindrucksvoll ge-
                                                 nen kontrollierten und geschmeidigen
                                                 Bewegungen und seinem unglaub-
                                                 lichen Spielinstinkt ein ganzes Stadion
                                                 in Ekstase versetzen konnte. Doch der
                                                 bescheidene Star hat sich selbst nie als
                                                                                             Euro 2000 haben daran nichts geän-
                                                                                             dert. „Ich bin noch immer der gleiche.
                                                                                             Ich habe mich nicht verändert, da man
                                                                                             sich immer treu bleiben muss“, so der
                                                                                             Franzose.
                                                                                                                                                                                                Das erste Tor:
                                                                                                                                                                                                Cannes, 8. Februar 1991: Beim 2:1-Sieg gegen Nantes erzielt Zinedine Zidane in der 56.
                                                                                                                                                                                                Minute sein erstes Tor als Profi. „Der Präsident von Cannes, Alain Pedretti, hatte mir für
                                                                                                                                                                                                mein erstes Tor ein Auto versprochen“, erinnert er sich. „Er hielt sein Wort: Bei einer Feier
     zeigt hat. Nach seiner Meisterleistung      besten Spieler der Welt gesehen: „Mir          In La Castellane im Norden der fuss-                                                            mit meinen Teamkollegen schenkte er mir mein erstes Auto: einen roten Clio.“
     gegen die brasilianischen Ballzauberer      fehlt so viel ... vor allem die Konstanz.   ballverrückten Stadt Marseille als Sohn
     im Viertelfinale, die er schon 1998 fast     In jeder Saison habe ich mit einigen        eines kabylischen Einwanderers gebo-                                                               Sein internationales Debüt:
     im Alleingang bezwungen hatte, sollte       Problemen zu kämpfen.“ Seine Sprache        ren, schien „Yazid“, wie er von Familie                                                            Bordeaux, 17. August 1994: Vor heimischem Publikum bestreitet Zidane gegen die Tsche-
     das Finale der krönende Abschluss einer     ist einfach und ehrlich; heilig ist ihm     und Freunden genannt wird, anfangs                                                                 chische Republik sein erstes Länderspiel. Beim Spielstand von 0:2 in der 63. Minute von
     aussergewöhnlichen Karriere – dieje-        die Ehre seiner Familie. Selbst der Welt-   kaum Aussicht auf eine grosse Karri-                                                               Aimé Jacquet eingewechselt, wird Zidane in den letzten fünf Minuten zum Helden des
     nige eines Fussballgenies, so die Worte     meistertitel 1998 und der Gewinn der        ere zu haben, zumal er auch noch an                                                                Spiels. Mit einem Heber und per Kopf holt er für sein Team in diesem Freundschaftsspiel
     der brasilianischen Fussballlegende Pelé                                                Thalassämie, einer im Mittelmeerraum                                                               noch ein Unentschieden heraus – seine erste Grosstat für die „Bleus“.
     – werden.                                                                               verbreiteten Form von Blutarmut, litt,                   Zidane als junger Spund: bei
       Doch wie so oft im Leben liegen Ge-                                                   die bei ihm zwar nicht stark ausgeprägt                  Cannes 1991 (ganz oben)                   Auf dem Fussballolymp:
     nie und Wahnsinn eng beieinander.                                                          war, aber an seinen Kräften zehrte.                   und in der französischen                  Paris, 12. Juli 1998: Im Finale der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ im Stade de France
     Vor den Augen von Milliarden von                                                            Nur mit Mühe konnte er der kör-                      Nationalmannschaft 1994.                  läuft Zidane nach harzigem WM-Start zu Hochform auf, so wie es sich für einen echten
     Fernsehzuschauern rammt Zidane                                                               perlichen Belastung standhalten.                                                              Star gehört. Zidane ist allgegenwärtig und fegt Brasilien praktisch im Alleingang vom
     dem Italiener Marco Materazzi                                                                                                                                                              Platz. Zweimal trifft er in der ersten Halbzeit per Kopf und legt damit den Grundstein
     kurz vor Schluss der Verlängerung                                                              MIT TALENT GESEGNET                                                                         für den 3:0-Triumph der Franzosen. Ein neuer Nationalheld ist geboren.
     den Kopf gegen die Brust: rote                                                                   Technisch ist er heute nahezu
     Karte, die 14. in seiner Karriere,                                                            perfekt. Auf seinem Weg nach                                                                 Europäische Bestätigung:
     für die Wahnsinnstat, die die Welt                                                            oben hat er sich aber nie allein                                                             Rotterdam, 2. Juli 2000: Die Franzosen sind noch dominanter als 1998 und werden
     entsetzt und für die es keine Ent-                                                             auf sein Talent verlassen, sondern                                                          nach 1984 wiederum Europameister, auch wenn der Sieg letztlich an einem seidenen
     schuldigung gibt, provozierende                                                                immer auch hart gearbeitet, um                                                              Faden hängt. Gegen die hartnäckigen Italiener bringt erst das Golden Goal zum 2:1 die
     Worte des Italieners hin oder her.                                                            dereinst das Publikum mit seinen                                                             Entscheidung zugunsten Frankreichs. Obwohl er dieses Mal nicht zu den Torschützen
       Mit Zidane ist der letzte grosse                                                          formvollendeten Kunststücken und                                                               zählt, ist Zidane, von den Italienern gleichermassen geliebt wie gefürchtet, wiederum
     Künstler abgetreten, der mit sei-                                                         Pirouetten zu verzücken. „Ich habe                                                               Baumeister des Erfolgs.
                                                                                             viel gearbeitet, viel ausprobiert und
                                                                                             andere herausgefordert. Ich habe von                                                               Meisterprüfung:
                                                                                             morgens bis abends Fussball gespielt,                                                              Glasgow, 12. Mai 2002: In seinem dritten Finale, dieses Mal mit Real Madrid, gelingt
                                                                                             auch um mich zu beschäftigen. Wa-                                                                  Zidane endlich der erste Erfolg in der UEFA Champions League. Unvergessen ist nicht
                                                                                                ren wir zu wenige für ein richtiges                                                             so sehr der 2:1-Triumph gegen Bayer Leverkusen, sondern Zidanes Siegestor: Flanke von
                                                                                                        Spiel, spielten wir eins gegen                                                          Roberto Carlos, messerscharfer Volleyschuss mit links – ein Tor für die Ewigkeit, vielleicht
                                                                                                                                                                                                der schönste Treffer seiner Karriere.
                                                                                                          eins, zwei gegen zwei oder
                                                                                                            halt Fussballtennis. Oder
                                                                                                                                                                                                Die Rückkehr:
                                                                                                              wir zielten auf Gegen-
                                                                                                                                                                                                Montpellier, 17. August 2005: Bedrohlich wankt Frankreich in der Qualifikation für die
                                                                                                                stände. Da lernt man
                                                                                                                                                                                                FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006™. Retter in der Not ist Zidane, der ein Jahr zuvor
                                                                                                                von alleine viel dazu.
                                                                                                                                                                                                aus dem Nationalteam zurückgetreten ist. Im Freundschaftsspiel gegen die Elfenbeinküste
                                                                                                                Wenn ich das Ziel zu                  Wichtige und schöne Treffer:
                                                                                                                                                                                                lässt er Frankreich auferstehen. 3:0 lautet das überzeugende Resultat, an dem Zidane
                                                                                                               oft verfehlte, machte                  Zidane trifft im WM-Finale 1998
                                                                                                                                                                                                massgeblichen Anteil hat. Nach einem Eckball von Wiltord trifft Zidane, der am langen
                                                                                                              ich weiter, bis es klapp-               per Kopf und erzielt 2002 im
                                                                                                                                                                                                Pfosten sträflich alleine gelassen wird, zum 2:0.
                                                                                                             te“, erinnert er sich.                   Finale der UEFA Champions
                                                                                                               Sensibel und schüch-                   League ein Traumtor.
                                                                                                                                                                                                Das letzte Tor:
                                                                                                          tern hatte Zidane das
                                                                                                                                                                                                Berlin, 9. Juli 2006: Nach seinen entscheidenden Toren im Achtelfinale gegen Spanien
                                                                                                       Glück, zum richtigen Zeit-
                                                                                                                                                                                                und im Halbfinale gegen Portugal trägt sich Zidane auch im Endspiel der FIFA WM 2006™
                                                                                                     punkt auf Menschen zu treffen,
                                                                                                                                                                                                gegen Italien in die Torschützenliste ein – und wie. Mit seinem Elfmeter nach dem Vorbild
                                                                                                 die ihn verstanden und förderten.         de Bordeaux, wo er abseits vom grossen               Panenkas lässt er Gianluigi Buffon keine Chance. Nie zuvor hat ein Strafstossschütze in
                                                                                                Da war etwa Jean Varraud, Zidanes          Fussballrummel zu einem grossen Spie-                einem WM-Finale einen solchen Heber gewagt.
                                                                                                „spiritueller Vater“, der während der      ler heranreifen konnte.
                                                                                                Weltmeisterschaft leider verstorben           Noch während seiner Zeit bei Cannes
                                                                                                ist. Er war es, der ihn in die Fussball-   ereilte ihn der Ruf von Nationaltrainer
                                                                                                schule der AS Cannes holte und ihm         Aimé Jacquet, der um Zidane herum         zösischen Team. Vergessen war Eric
                                                                                                    mit 16 Jahren den Weg in die Pro-      eine neue „Equipe tricolore“ aufbauen     Cantona, der von Jacquet für die Euro-
                                                                                                      fimannschaft ebnete. Es folgte        wollte. Bei der Euro 1996 war Zidane      pameisterschaft gar nicht erst berück-
                                                                                                         der Wechsel zu Girondins          bereits Dreh- und Angelpunkt im fran-     sichtigt worden war.

16    SEPTEMBER 2006                                                                                                                                                                                                                                       SEPTEMBER 2006             17
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine           PORTRÄT

Zidanes Rekorde
Mit seinem Tor im Endspiel gegen Italien hat
sich Zinedine Zidane weitere Einträge in das
Buch der WM-Rekorde gesichert.                                               Ein Zauberer am Ball, erfolgreich,                                                           Zidane als Kapitän der „Equipe tricolore“, im Training
- Zusammen mit seinen zwei Toren im Finale                                    aber meist öffentlichkeitsscheu.                                                            von Real Madrid, als Schminkvorlage und mit seinem
1998 gegen Brasilien ist Zidane erst der vierte                        Ausnahmsweise posiert Zidane im Juni                                                                           Freund und Mitspieler bei Real, Ronaldo.
Spieler, der in zwei Endspielen getroffen hat.                         2005 beim French Open mit dem Sieger
Dieses Kunststück ist vor ihm nur den Brasili-                             des Turniers, Rafael Nadal (rechts).
anern Pelé (1958 und 1970) und Vava (1958
und 1962) sowie dem deutschen Verteidiger
Paul Breitner (1974 und 1982) gelungen.

                                                                                                                                                                                               ZINEDINE
                                                                                                                                                                                                 ZIDANE
- Mit drei Finaltoren zieht er mit den bishe-                                                                                                                                                             Geboren am: 23. Juni 1972 in Marseille
rigen Rekordhaltern Pelé und Vava (Brasilien)             Nach dem Wechsel zum italienischen       erreicht habe, denn ich weiss, was Not        Rücktritt vom Rücktritt ist nicht ohne                   (Frankreich)
sowie dem Engländer Geoff Hurst gleich, der            Klub Juventus Turin, der noch immer         heisst. Für mich ist es ganz im Gegenteil     Risiko, aber allein mit seiner Präsenz                   Position: Mittelfeld
seine Treffer allesamt 1966 erzielte.                  Michel Platini nachtrauerte, gelang Zi-     zusätzlicher Ansporn, mich noch mehr          haucht er den Franzosen neues Leben                      Karriere: 1986–1992: AS Cannes
- Mit seinem 31. Treffer im Nationalmann-              dane bei der Weltmeisterschaft 1998         gegen Armut einzusetzen. Im Fussball          ein, die sich im letzten Spiel doch noch                 (Frankreich). 1992–1996: Girondins de
schaftsdress zieht er in der Torschützenwer-           auch international der grosse Durch-        habe ich mehrere Kollegen, etwa in der        für die Endrunde in Deutschland qua-                     Bordeaux (Frankreich). 1996–2001: Juven-
tung der „Equipe tricolore“ an den beiden              bruch. Seine beiden Kopfballtore im         französischen Nationalmannschaft, die         lifizieren.                                               tus Turin (Italien). 2001–2006: Real Madrid
französischen Fussballlegenden Just Fontaine           Finale gegen Brasilien gingen um die        sich ebenso stark engagieren, wenn auch          Es war eine Rückkehr auf Zeit: Die                    (Spanien).
und Jean-Pierre Papin vorbei und figuriert             ganze Welt und machten „Zizou“, wie         auf andere Weise“, betont Zidane.             WM soll zum Entsetzen seiner Lands-                      Erfolge: 1998: Weltmeister. 2006:
nun auf Platz vier hinter Michel Platini (41           er fortan genannt wurde, zum Liebling          Zidane weiss um die Strahlkraft sei-       leute zur endgültigen Abschiedsvorstel-                  WM-Finalist. 2000: Europameister. 2002:
Tore), Thierry Henry (36) und David Trézé-             einer ganzen Nation, zum Ideal eines        nes Namens und will ihn deshalb nicht         lung werden – und sie wird es, auch                      Gewinn der UEFA Champions League.
guet (32).                                             multikulturellen Frankreich, zum Aus-       für alles hergeben. „Jeder hat es in der      wenn ihm der krönende Abschluss im                       1996 und 2002: Gewinn des Toyota-
                                                       hängeschild der Stadt Marseille und zur     Hand, etwas zu tun. Natürlich werde           Finale verwehrt bleibt. Gegen die brasi-                 Pokals. 1996 und 2002: Gewinn des
                                                       Werbeikone, deren Image als braver Fa-      ich benutzt, aber nur so, wie ich es will“,   lianischen Ballkünstler spielt er wie von                europäischen Superpokals. 1997 und
                                                       milienvater Millionen wert war.             stellt er klar.                               einem anderen Stern. Es ist die vielleicht               1998: Finalist der UEFA Champions
                                                          Selbst der Wechsel 2001 zu Real             Nach dem WM-Triumph 1998 in                beste Leistung seiner Karriere, nahe der                 League. 1996: Finalist des UEFA-Pokals.
                                                       Madrid für die Rekordsumme von 75           Frankreich sollte der Höhenflug auch           Perfektion. Seine millimetergenauen                      2003: spanischer Landesmeister. 1997 und
                                                       Millionen Euro konnte nicht an seinem       beim FIFA-Weltpokal Korea/Japan               Pässe, seine unglaublichen Körpertäu-                    1998: italienischer Landesmeister. 2001
                                                       Bild kratzen. Zu glaubhaft waren seine      2002™ weitergehen. Doch Zidane,               schungen und seine Geistesblitze ermög-                  und 2003: Gewinn des spanischen Super-
                                                       wiederkehrenden Beteuerungen, dass          mit Real Madrid soeben Champions-             lichen Frankreich den Weg ins Halbfina-                   pokals. 1997: Gewinn des italienischen
                                                       Geld für ihn nur Nebensache sei. Und        League-Sieger geworden, trifft nach der        le. Nachdem er bereits im Achtelfinale                    Superpokals. 1998, 2000 und 2003: FIFA-
                                                       so sieht er auch keinen Widerspruch         Geburt seines dritten Sohnes verspätet        gegen Spanien als Torschütze zum 3:1                     Weltfussballer des Jahres. 2006: Gewinn
                                                       zwischen den astronomischen Summen,         im WM-Lager ein und verletzt sich im          glänzte, gelingt ihm auch gegen Portugal                 des Goldenen Balls als bester Spieler der
                                                       die im Profifussball gezahlt werden, und     letzten Testspiel so schwer am linken         der entscheidende Treffer: per Elfmeter                   WM. 1998 und 2002: Europas Fussballer
                                                       dem Kampf gegen die Armut, den er           Oberschenkel, dass er fürs Auftakt-           zum 1:0-Endstand.                                        des Jahres. 108 Länderspiele, 31 Tore.
                                                       neben Ronaldo als Botschafter der Ver-      spiel ausfällt. Seiner Seele beraubt, geht       Im Finale gegen Italien ist wiederum
                                                       einten Nationen unterstützt. „Das hat       Frankreich in Fernost mit fliegenden           Zidane der Motor im französischen                                              Stand: 11. Juli 2006
                                                       nichts miteinander zu tun. Das Geld         Fahnen unter. Auch die Euro zwei Jahre        Team. Per Strafstoss, den er nonchalant
                                                       als Fussballer ist redlich verdient, denn   später gerät zur grossen Enttäuschung,        als Heber spielt, bringt er sein Team in
                                                       im Fussball werden keine Geschenke          worauf Zinedine Zidane seinen Rück-           Führung und hat in der 104. Minute
                                                       verteilt. Ich bin stolz auf das, was ich    tritt aus dem Nationalteam erklärt.           nach einem Zuspiel von Willy Sagnol
                                                                                                                                                 gar das 2:1 auf dem Kopf, doch Gian-                                                                   Hoch dekoriert:
                                                                                                     DIE RÜCKKEHR                                luigi Buffon ist nicht umsonst der beste       unvermittelt verlassen muss. Die Vor-                    Zidane als FIFA-Weltfussballer
                                                  Der letzte Torjubel: Zidane dreht nach              Nach der harzig angelaufenen Qua-          Torhüter der Welt.                            stellung ist aus – nach einem drama-                     des Jahres 2003 (oben)
                                                  seinem verwandelten Elfmeter im                  lifikation für die FIFA Fussball-Welt-            Aus und vorbei, das weiss keiner bes-      tischen letzten Akt mit einem gefallenen                 und bei der Verleihung des
                                                  Finale der WM 2006 jubelnd ab. In                meisterschaft 2006™ kommt Zidane              ser als Zidane selbst, der sich frustriert,   Helden, dem der Applaus der Zuschauer                    „Ballon d’or“ 1998.
                                                  der 110. Minute dann der Schock: Der             im Sommer 2005 jedoch auf seine Ent-          ausgepumpt und ohnmächtig kurz dar-           dennoch gewiss ist, denn nur wenige                      FOTOS: FOTO-NET (12), IMAGO (5)

                                                  französische Spielmacher sieht nach              scheidung zurück und nimmt die Zügel          auf zu einer grenzenlosen Dummheit            haben dem Fussball so viel gegeben wie
                                                  einem Kopfstoss die rote Karte.                  bei den „Bleus“ wieder in die Hand. Der       hinreissen lässt und die grosse Bühne         Zinedine Zidane.

18     SEPTEMBER 2006                                                                                                                                                                                                                                               SEPTEMBER 2006        19
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine   INTERVIEW
                                                                                                   Joseph S. Blatter
          „Das kann nur
          der Fussball schaffen“                                                                                   FIFA magazine: Wenn Sie die
                                                                                                                   FIFA WM in Deutschland auf einer
                                                                                                                   Notenskala von eins bis zehn beur-
                                                                                                                   teilen, wie fällt Ihre Einschätzung
                                                                                                                   aus?
                                                                                                                      Joseph S. Blatter: Die Organi-
                                                                                                                   sation und die Stimmung würde ich mit
                                                                            FIFA-Präsident Joseph S. Blatter       einer neun bewerten, den fussballerischen
                                                                                                                   Gehalt mit einer acht. Ich hätte mir in der
                                                                            besuchte während der Weltmeis-         zweiten Phase des Turniers offensiveren
                                                                                                                   Fussball gewünscht. Nach meinen Ein-
                                                                            terschaft in Deutschland Spiele von    drücken war das Ziel der meisten Teams,
                                                                                                                   in der K.-o.-Runde nicht zu verlieren.
                                                                            31 Mannschaften. Seine Bilanz des      Deswegen konnten die Stars auch nicht
                                                                                                                   so glänzen, wie das hier und da erwartet
                                                                            Turniers fällt ausgesprochen positiv   worden war. Sie wirkten blockiert, weil
                                                                                                                   sie zu sehr in den Zwängen steckten, die
                                                                            aus, auch wenn er sich in den K.-o.-   ihnen die Trainer aufbürdeten. Und viele
                                                                                                                   Coaches traten jeweils mit nur einem
                                                                            Runden etwas offensiveren Fussball     Stürmer an. Das ist nicht viel. Dafür
                                                                                                                   Zinedine Zidane: Der spielte wie vor acht
                                                                            gewünscht hätte, wie er im Interview   Jahren bei der WM im eigenen Land!

                                                                            sagt.                                  Wie viele Weltmeisterschaften
                                                                                                                   haben Sie aktiv verfolgt?
                                                                                                                      Blatter: Seit 1978 bin ich für die
                                                                            VON GEORG HEITZ                        FIFA bei den Turnieren vor Ort. Die
                                                                                                                   erste WM, für die ich mich interessierte,
                                                                                                                   war aber jene 1950 in Brasilien. 1954 in
                                                                                                                   der Schweiz war ich dann live dabei. Ich
                                                                                                                   kaufte mir für sechs Franken und zehn
                                                                                                                   Rappen eine Karte für das Finale. Dieses
                                                                                                                   Ticket habe ich heute noch.

                                                                                                                   Wenn Sie die rasante Entwicklung
                                                                                                                   des Fussballs sehen, haben Sie
                                                                                                                   dann manchmal nicht Sehnsucht
                                                                                                                   nach der Vergangenheit?
                                                                                                                      Blatter: Der Fussball hat sich in und
                                                                                                                   mit der Gesellschaft entwickelt. Es gab
                                                                                                                   eine Zeit, da wurden die Spielfelder durch
                                                                                                                   Zäune vom Publikum abgetrennt. Das
                                                                                                                   war schlimm, es führte sogar dazu, dass
                                                                                                                   Menschen sterben mussten. Heute sitzen
                                                                                                                   die Zuschauer wieder nahe am Gesche-
                                                                                                                   hen, was auch ein Verdienst der Engländer
                                          Der Präsident und der Pokal:                                             ist, die eine Vorreiterrolle gespielt haben.
                              Joseph S. Blatter posiert in Berlin mit der                                          Der Komfort in den Stadien ist hoch.
                            begehrten Trophäe. Rechts: Blatter mit dem
                            ehemaligen US-Präsidenten Bill Clinton, mit                                            Und ausserhalb der Arenen feiern
                                 Pelé und mit Partnerin Ilona Boguska.                                             die Leute in den Fanmeilen …

20    SEPTEMBER 2006                                                                                                                   SEPTEMBER 2006             21
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
Blatter
     magazine        INTERVIEW

        Blatter: Diese Idee stammt von              in der Partie zwischen Deutschland und       des Interesses zu stehen als Sie                Blatter: Oft halfen sich die Spieler
                                                                                                                                                                                          Blatter, der Marathonmann
     Gregor Lentze, einem FIFA-Mitarbeiter          Frankreich. Leider werden heute in der       selbst. Hat Sie das gestört?                 gegenseitig dabei aufzustehen. Zudem
     in Deutschland. Durch diese Fanmeilen          Verlängerung kaum mehr Tore erzielt. Ich        Blatter: Nein. Er war überall, er hat     gab es schöne Szenen nach dem Schluss-       Die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft Deutschland 2006™ war für FIFA-Präsident Joseph S.
     werden auch die Fans, die kein Ticket          habe keine Lösung bereit, aber ich versi-    seine WM gefeiert. Er ist eine grossartige   pfiff, beispielsweise zwischen den Brasili-    Blatter überaus hektisch. Mit Spielen, Medienkonferenzen und Gesprächen mit zahlreichen
     kaufen konnten, in die WM einbezogen.          chere, dass ich jedes Mal mit den Spielern   Persönlichkeit, deren Anwesenheit bei        anern und den Franzosen oder zwischen        Persönlichkeiten war sein Terminkalender randvoll, wie folgender Ausschnitt (ohne offizielle
     Die Bilder, die uns von diesen Fanmeilen       leide, wenn es zu einem Elfmeterschiessen    den Spielen nötig war. Meine Aufgaben        den Engländern und den Portugiesen.          Sitzungen) zeigt:
     erreichten, sind fantastisch. Der Fussball     kommt – und zwar mit den Torhütern und       waren andere. Ich konnte – bis auf die       Nur die Argentinier und die Deutschen
     hat diesbezüglich eine erfreuliche Ent-        den Schützen.                                schwedische – jede der Delegationen          gingen am Ende aufeinander los. Grund-       9. Juni    18.00 Uhr   München          Deutschland – Costa Rica
     wicklung genommen. Seit dem Turnier                                                         besuchen und mit den Verbandsvertretern      sätzlich wurde aber das Fairplay im Sinne    10. Juni   15.00 Uhr   Frankfurt        England – Paraguay
     in Frankreich 1998 ist die Atmosphäre          Zurück zur WM in Deutschland.                diskutieren.                                 der FIFA gelebt.                             11. Juni   15.00 Uhr   Leipzig          Serbien und Montenegro – Niederlande
                                                                                                                                                                                           12. Juni   21.00 Uhr   Hannover         Italien – Ghana
     freundschaftlich. Beispielhaft war dies        Ab dem Halbfinale verkam sie zur
                                                                                                                                                                                           13. Juni   21.00 Uhr   Berlin           Brasilien – Kroatien
     in Korea und Japan zu beobachten, aber         Europameisterschaft.                         Wie sehr ärgerte Sie der Verband             Die FIFA initiierte eine Antirassis-
                                                                                                                                                                                           14. Juni   21.00 Uhr   Dortmund         Deutschland – Polen, Treffen mit der Familie von
     auch dieses Jahr in Deutschland.                  Blatter: Nein, da wehre ich mich          Togos mit all den Turbulenzen, die           musaktion, bei der die Kapitäne                                                      Daniel Nivel
                                                    entschieden dagegen. Es ist eine Welt-       er auslöste?                                 vor dem Anpfiff der Viertelfinal-            15. Juni 15.00 Uhr Nürnberg             England – Trinidad und Tobago
     Gibt es für Sie in der Fussballge-             meisterschaft, bei der sich zwei europä-        Blatter: Das war sehr traurig. Da         partien jeweils eine Erklärung               16. Juni 18.00 Uhr Stuttgart            Niederlande – Elfenbeinküste, Besuch des
     schichte das Spiel schlechthin?                ische Teams im Viertelfinale gegen die        kam ein WM-Neuling und produzierte           verlasen. Sind Sie mit dem Effekt                                                    Landtags von Baden-Württemberg, Eintrag ins goldene
        Blatter: Jede Partie bedeutet Emo-          zwei grossen Mannschaften aus Süd-           fast nur Negativschlagzeilen. Schliesslich   zufrieden?                                                                           Buch von Baden-Württemberg, Treffen mit Minister-
     tionen und Leidenschaft. Der Fussball          amerika durchsetzten. Letztmals hatten       mussten wir in den Prämienstreit zwi-          Blatter: Ja, denn der Fussball wirkt                                               präsident Oettinger
     kann zu einem Drama werden oder gar            wir 1982 die Situation, dass unter den       schen dem Verband und den Spielern           verbindend. Ich freue mich über jede         17. Juni 15.00 Uhr Kaiserslautern       Enthüllung des Fritz-Walter-Denkmals im Fritz-Walter-
     zu einer Tragödie, dann nämlich, wenn          letzten vier kein südamerikanisches Land     eingreifen. Die Verantwortlichen haben       Mannschaft, die Spieler mit verschiedener                                            Museum zusammen mit dem rheinland-pfälzischen
     es zu einem Elfmeterschiessen kommt.           mehr war.                                    sich nachträglich per Brief bei der FIFA     Hautfarbe vereint. Der Fussball hat inte-                                            Ministerpräsidenten Kurt Beck
                                                                                                                                                                                           17. Juni   21.00 Uhr   Kaiserslautern   Italien – USA
     In dieser Kurzform der Entscheidung                                                         entschuldigt.                                grative Fähigkeiten.
                                                                                                                                                                                           18. Juni   21.00 Uhr   Leipzig          Frankreich – Korea Republik
     verliert er auch seinen Charakter als          Wie wichtig ist es für ein solches
                                                                                                                                                                                           19. Juni   18.00 Uhr   Hamburg          Saudiarabien – Ukraine
     Mannschaftssport. Denn es gibt nur noch        Turnier, dass der Gastgeber mög-             Diego Maradona war eine der                  Was für Lehren zieht die FIFA aus            20. Juni   16.00 Uhr   Berlin           Ecuador – Deutschland
     Duelle zwischen dem Torhüter und dem           lichst lange dabei ist?                      auffälligen Figuren auf den Tri-             dem Turnier in Deutschland im                21. Juni   16.00 Uhr   Leipzig          Iran – Angola
     Elfmeterschützen.                                 Blatter: Wichtig sind diesbezüg-          bünen. Was sagen Sie zu seinem               Hinblick auf die Weltmeisterschaft           22. Juni   21.00 Uhr   Dortmund         Japan – Brasilien, Besuch des Frauenfussballturniers
                                                    lich die Gruppenspiele und die erste         Verhalten?                                   2010 in Südafrika?                                                                   in der adidas World of Football in Berlin
     Wie kann man das ändern?                       K-o.-Runde. Da hilft ein erfolgreiches          Blatter: Ich habe ihn getroffen, und er       Blatter: Wir werden uns den dor-          23. Juni   16.00 Uhr   Berlin           Ukraine – Tunesien
        Blatter: Nun, wir führten vor einigen       Abschneiden des Heimteams, um ein            hat mir zum 30. Mal versichert, er komme     tigen Gegebenheiten anpassen müssen,         23. Juni   21.00 Uhr   Köln             Togo – Frankreich
     Jahren das Golden Goal ein, wonach bei         stimmungsvolles Ambiente zu erzeugen.        bald zu einem Besuch an den FIFA-Haupt-      aber die Fanmeilen beispielsweise wollen     24. Juni   21.00 Uhr   Leipzig          Argentinien – Mexiko
     einem Tor in der Verlängerung die Partie       Danach aber spielt das keine Rolle mehr,     sitz in Zürich und werde für unseren Ver-    wir unbedingt beibehalten, denn es ist       25. Juni   21.00 Uhr   Nürnberg         Portugal – Niederlande
     sofort beendet war. Dann kamen aber die        weil die Fans einfach den Fussball im        band arbeiten … Maradona ist Maradona,       besonders wichtig, in Südafrika das Volk     26. Juni   17.00 Uhr   Kaiserslautern   Italien – Australien
                                                                                                                                                                                           26. Juni   21.00 Uhr   Köln             Schweiz – Ukraine
     Traditionalisten und wiesen darauf hin, dass   Allgemeinen feiern.                          mehr gibt es dazu nicht zu sagen.            zusammenzubringen. Sie haben es mit
                                                                                                                                                                                           27. Juni   17.00 Uhr   Dortmund         Brasilien – Ghana
     einige der berühmtesten Spiele der Historie                                                                                              einer Rugby- und einer Kricket-Welt-
                                                                                                                                                                                           28. Juni                                Medienkonferenz zum FIFA-Tag gegen
     erst wirklich packend wurden, nachdem in       Franz Beckenbauer, der Präsident             Haben Sie während der WM eine                meisterschaft versucht, aber das Vorhaben
                                                                                                                                                                                                                                   Diskriminierung
     der Verlängerung der erste Treffer gefallen     des lokalen Organisationskomi-               Geste gesehen, die Sie besonders             misslang. Nur der Fussball kann das          30. Juni 17.00 Uhr Berlin               Deutschland – Argentinien
     war. Etwa bei der WM 1982 in Spanien           tees, schien fast mehr im Zentrum            freute?                                      schaffen.                                     1. Juli  17.00 Uhr Gelsenkirchen        Portugal – England, Fotoaufnahmen mit dem
                                                                                                                                                                                                                                   britischen Sportminister Richard Caborn und
                                                                                                                                                                                                                                   englischen Schulkindern, die von der FIFA
                                                                                                                                                                                                                                   Eintrittskarten erhalten haben
                                                                                                                                                                                           2. Juli              Berlin             Strassenfussballturnier
                                                                                                                                                                                           4. Juli    21.00 Uhr Dortmund           Deutschland – Italien
                                                                                                                                                                                           5. Juli    21.00 Uhr München            Frankreich – Portugal, Übergabe eines Schecks an SOS-
                                                                                                                                                                                                                                   Kinderdorf International, Treffen mit Spike Lee, Besuch
                                                                                                                                                                                                                                   bei iSe Hospitality
                                                                                                                                                                                           6. Juli                Berlin           Fotoaufnahmen mit First National Bank
                                                                                                                                                                                                                                   (Sponsor der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2010),
                                                                                                                                                                                                                                   Begrüssung durch den deutschen Bundespräsidenten
                                                                                                                                                                                                                                   Horst Köhler
                                                                                                                                                                                           7. Juli                Berlin           Lancierung von „Afrika ruft”, Unterzeichnung eines
                                                                                                                                                                                                                                   neuen Sponsorenvertrags, Empfang des Bundesver-
                                                                                                                                                                                                                                   dienstkreuzes im deutschen Bundeskanzleramt
                                                                                                                                                                                           8. Juli                Stuttgart        Deutschland – Portugal, Unterzeichnung eines Spon-
                                                                                                                                                                                                                                   sorenvertrags mit McDonald’s
                                                                                                                                                                                           9. Juli                Berlin           Italien – Frankreich, Medienkonferenz und
                                                                                                                                                                                                                                   Unterzeichnung einer FIFA/EU-Vereinbarung,
                          Blatter mit Franz Beckenbauer, mit der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel, vor dem Berliner                    FOTOS: FOTO-NET
                                                                                                                                                                                                                                   Empfang durch den deutschen Bundespräsidenten
                                                                            Olympiastadion und beim Empfang von Kindern.

22    SEPTEMBER 2006                                                                                                                                                                                                                                     SEPTEMBER 2006            23
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine   FIFA FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT DEUTSCHLAND 2006™

                           Die Gefahr droht
                               von rechts
 Die technische Studiengruppe (TSG) der FIFA hat alle 64 Spiele der WM
 in Deutschland genau analysiert und ist zu interessanten Erkenntnissen
          gelangt. Das FIFA magazine präsentiert einige der Ergebnisse.

                                                                         VON HOLGER OSIECK*

                                       DIE SPIELSYSTEME
                                       Absolute Neuheiten waren beim Turnier in Deutschland nicht
                                       zu beobachten. 28 der 32 teilnehmenden Teams spielten mit
                                       einer Viererkette in der Abwehr. Japan, das mit einer Dreierab-
                                       wehr begann, wechselte später ebenfalls zu einer Viererkette.
                                          Die Mittelfeldformationen zeigten jedoch unterschiedliche
                                       Formen. Die klassische Anordnung des 4-4-2 mit zwei zen-
                                       tralen und zwei äusseren Mittelfeldspielern praktizierten unter
                                       anderen Brasilien, Deutschland, England und die USA, wobei
                                       im Viertelfinale sowohl Brasilien als auch England ihr norma-
                                       les System modifizierten, indem sie einen zusätzlichen defensi-
                                       ven Mittelfeldspieler aufboten.
                                          Andere Teams spielten mit nur einem defensiv ausgerich-
                                       teten Aufbauer vor der Abwehr. Dies traf beispielsweise auf
                                       Argentinien und Ghana zu. Hierbei konnte man bei den Süd-
                                       amerikanern eine „Diamantformation“ im Mittelfeld ausma-
                                       chen, während die Afrikaner eine Dreierreihe vor dem defensi-
                                       ven Mittelfeldspieler positionierten.
                                          Interessant war zudem, dass mit Portugal, Frankreich und
                                       Italien drei der vier Halbfinalisten mit einer ähnlichen Spiel-
                                       philosophie antraten: Vor den beiden defensiven zentralen
                                       Mittelfeldspielern spielte eine Dreierreihe, während vorne nur       Kompaktes Abwehrverhalten: Die Italiener Gennaro Gattuso (links) und Fabio Cannavaro
                                       eine einzige Sturmspitze aufgeboten wurde.                           gegen Australiens Stürmer Mark Viduka.
                                          Bezüglich Spielanlage gab es das ganze Spektrum verschie-
                                       dener Spielstile zu beobachten. Aufgrund ihrer Tradition be-
                                       vorzugten Teams wie Portugal, Argentinien oder auch Mexiko           DAS DEFENSIVVERHALTEN
                                       ein schnelles Kurzpassspiel, man war aber auch in der Lage,
                                       die Angriffe mit weiten, spielöffnenden Pässen auf die Flügel          Bei dieser WM war in erster Linie ein kompaktes, auf Torsi-       Der Einfluss des zentralen defensiven Mittelfeldspielers
                                       vorzutragen, wobei dann die kopfballstarken Spieler im Zen-          cherung bedachtes Abwehrverhalten zu erkennen. Nur selten       bei der Angriffsauslösung gewinnt immer mehr an Bedeu-
                                       trum gesucht wurden. Andere, etwa die Schweden, suchten              wurde ein Pressing im vorderen Spielfeldbereich durchgeführt.   tung. Spieler wie der Italiener Andrea Pirlo oder der Ghanaer
                                       mit langen Bällen oft den direkten Weg in die Spitze.                Man wollte somit bei einem eventuellen Ballverlust mögliche     Michael Essien sind beispielsweise keine reinen Defensivspieler
                                          Bei aller Vielfalt der Spielsysteme entschied letztlich die in-   Konter des Gegners verhindern. Es war meist so, dass sich bei   mehr, sondern in der Lage, dank ihrer guten Technik und ih-
                                       dividuelle Klasse über Erfolg oder Misserfolg.                       gegnerischem Spielaufbau der erste Angreifer zum ballführen-    ren kreativen Pässen das Angriffsspiel der eigenen Mannschaft
                                                                                                            den Akteur hin orientierte und der Rest der Mannschaft einen    mitzugestalten. Sie bauen aber nicht nur den Angriff auf, son-
                                                                                                            defensiven Block bildete. Die Abwehrreihen standen tenden-      dern bestimmen auch den Spielrhythmus. Situationsbedingt
                                     Die meisten Teams – hier Deutschland – spielten mit                    ziell recht tief, nach der Balleroberung wurde ein möglichst    spielen sie entweder lange Bälle auf die Stürmer oder bevorzu-
                                     einer Viererkette in der Abwehr.                                       schnelles Umschalten auf Angriff angestrebt.                     gen einen gesicherten Spielaufbau mit Querpässen.

24    SEPTEMBER 2006                                                                                                                                                                                                 SEPTEMBER 2006           25
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine   FIFA FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT DEUTSCHLAND 2006™
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                                                                                                                                                                   DAS OFFENSIVVERHALTEN
                                                                                                                                                                   Grundsätzlich waren alle Teams bemüht, die Räume auf den
                                                                                                                                                                   Seiten zu nützen. In der Regel waren die Aussenspieler schnell
                                                                                                                                                                   und dribbelstark. Man wollte sich so den Angriffsraum auf den
                                                                                                                                                                   Seiten nutzbar machen, um in den Rücken der gegnerischen
                                                                                                                                                                   Abwehr zu gelangen und dann mit Flanken oder Zuspielen die
                                                                                                                                                                   zentralen Angreifer in Abschlussposition zu bringen.
                                                                                                                                                                      Bei Mannschaften, die mit zwei zentralen Mittelfeldspielern
                                                                                                                                                                   spielten, zum Beispiel Torsten Frings und Michael Ballack bei
                                                                                                                                                                   Deutschland, rückten die Aussenspieler (etwa Bernd Schnei-
                                                                                                                                                                   der) als Anspielstation mehr ins Zentrum, um so die Verbin-
                                                                                                                                                                   dung zwischen Mittelfeld und Angriff herzustellen. Bei Argen-
                                                                                                                                                                   tinien spielte Juan Román Riquelme im zentralen offensiven
                                                                                                                                                                   Mittelfeld und leitete in dieser Funktion die meisten Angriffe
                                                                                                                                                                   seines Teams ein. Dabei wurde er von Javier Mascherano, der
                                                                                                                                                                   ihm den Rücken freihielt, wirkungsvoll unterstützt.
                                                                                                                                                                      Positionswechsel fanden vor allem über aussen statt: Der
                                                                                                                                                                   linke und der rechte Mittelfeldspieler tauschten die Seiten. Ex-
                                                                                                                                                                   emplarisch dafür waren die Portugiesen mit Cristiano Ronaldo
                                                                                                                                                                   und Luis Figo. Man wollte so Verwirrung stiften und die geg-
                                                                                                                                                                   nerische Abwehr vor Probleme stellen.
                                                                                                                                                                      Ein Detail am Rande: Über die rechte Seite wurden deutlich
                                                                                                                                                                   mehr Tore vorbereitet als über links (15 Treffer von rechts, 4
                                                                                                                                                                   von links).

                                                                                                                                                                   DIE STANDARDSITUATIONEN
                                                                                                                                                                   Bei Standardsituationen ist ein neuer Trend festzustellen. Vor
                                                                                                                                                                   allem bei Freistössen von der Seite spielen Spezialisten wie Da-
                                                                                                                                                                   vid Beckham oder Riquelme den Ball mit Effet („Inswing“) in
                                                                                                                                                                   den Strafraum, wo dann die geringste Berührung zu einem Tor
                                                                                                                                                                   führen kann. Dabei spielt es keine Rolle, ob ein Mitspieler oder
                                                                                                                                                                   ein gegnerischer Verteidiger den Ball berührt, wie am Beispiel
                                                                                                                                                                   von Englands Führungstreffer gegen Paraguay zu sehen war.
                                                                                                                                                                      Bei Freistössen in der zentralen Position gab es nur wenig
                                                                                                                                                                   Torerfolge. Es wird immer schwieriger, Freistösse direkt zu
                                                                                                                                                                   verwandeln, weil die Schützen genauestens studiert werden,
                                                                                                                                                                   die Torhüter deswegen bestens vorbereitet sind und die Mauer
                                                                                                                                                                   meistens sehr klug stellen.
                                                                                                                                                                      Auffällig bei indirekten Freistössen war der Umstand, dass
                                                                                                                                                                   kaum Finten versucht wurden; die Spieler liefen nicht über
                                                                                                                                                                   den Ball oder spielten ihn durch die Beine des Teamkollegen,
                                                                                                                                                                   um einen Dritten in eine bessere Abschlussposition zu brin-
                                                                                                                                                                   gen. Vielmehr verliess man sich auf die Schusstechnik der Spe-
                                                                                                                                                                   zialisten. Der Ball wurde angetippt oder kurz gepasst, und der
                                                                                                                                                                   Schütze suchte dann direkt den Weg aufs Tor.

                                                                                                                                                                Tauschte oft die Position mit Cristiano Ronaldo:
                                                                                                                                                                Portugals Kapitän Luis Figo.

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Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
magazine        FIFA FUSSBALL-WELTMEISTERSCHAFT DEUTSCHLAND 2006™

DAS TORWARTSPIEL
Generell waren die gezeigten Torwartleistungen hervorragend.
Die durch die Rückpassregel erforderlich gewordene Umstel-
lung bei den Torhütern hat sich sichtbar vollzogen: Viele der
Schlussmänner – Edwin van der Sar, Jens Lehmann und auch
andere – sind in der Lage, zurückgespielte Bälle sicher mit dem
Fuss anzunehmen und entsprechend präzise wieder nach vorne
zu spielen, um so das Angriffsspiel der eigenen Mannschaft
einzuleiten.
  Die Tatsache, dass bei dieser WM wenig Tore fielen, ist ne-
ben der kompakten Defensivarbeit fast aller Teams dem ver-
besserten Torhüterspiel zuzuschreiben. Gute Reaktion auf der
Linie sowie sichere Strafraumbeherrschung waren herausra-
gende Merkmale des Torhüterverhaltens.
  Die Genauigkeit der Abstösse, die die Männer zwischen den
Pfosten in der Regel selbst ausführten, sowie die Zuwürfe zu
Mitspielern waren wesentliche Elemente beim Spielaufbau ei-
ner Mannschaft. Interessant auch die Abschläge aus der Hand
bei süd- und mittelamerikanischen Torhütern, die den Ball
meist „über die Hüfte“ schlagen und dadurch dem Ball eine
flachere Flugkurve geben, so dass er schneller und präziser zum
Mitspieler gelangt.
  Eine Randbemerkung zum neuen Ball „adidas+Teamgeist™“:
Zwar wurde von einigen Torhütern ein verändertes Flugverhal-
ten zur Sprache gebracht, gesicherte Erkenntnisse dazu liegen
aber (noch) nicht vor.

*Holger Osieck war Leiter der 14 Mitglieder umfassenden tech-
nischen Studiengruppe (TSG) der FIFA bei der Weltmeisterschaft
2006. Osieck war von 1987 bis 1990 Trainer der deutschen
Nationalmannschaft. 1990 gewann er in Italien als Assistent
von Teamchef Franz Beckenbauer den Weltmeistertitel.

                                                                    Stark auf der Linie, stark am Ball: Edwin van der Sar, Torhüter der
                                                                    Niederlande.                                   FOTOS: FOTO-NET (3), IMAGO

                                                            Technische Studiengruppe FIFA WM 2006™
                                                            1. Reihe (v. l. n. r.): Andy Roxburgh, Holger Osieck (FIFA,
                                                            TSG-Leiter), Roger Milla, Jürg Nepfer (FIFA, TSG-Koordinator).
                                                            2. Reihe: Jim Selby, Josef Venglos, Roberto T. Brantschen
                                                            (FIFA, TSG-Koordinator).
                                                            3. Reihe: Kim Chon Lim, Kalusha Bwalya, Teofilo Cubillas,
                                                            Rodrigo Kenton.
                                                            4. Reihe: Francisco Maturana, Ka-Ming Kwok, Roy Hodgson,
                                                            Alvin Corneal.
                                                            5. Reihe: Walter Gagg (FIFA, Direktor Stadien und Sicherheit),
                                                            Gyorgy Mezey, Philipp Mahrer (FIFA, Produktion technischer
                                                            Bericht).

                                                                                                            SEPTEMBER 2006          29
Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn Zinedine Zidane Zwischen Genie und Wahnsinn
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