Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini

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Zum 100. Geburtstag von Pier Paolo Pasolini
Pier Paolo Pasolini

                                                                                                                                                   APPUNTI PER UN’ORESTIADE AFRICANA (Pier Paolo Pasolini an der Kamera)
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                      PPP – die drei Majuskel, mit denen Pier Paolo Pasolinis        Pasolini seinerseits reflektierend zu Filmtheorien geäu-
                      (1922-1975) Name oftmals abgekürzt wird, wäre ohne             ßert hat. Er hat 1972 einen großen Teil seines Buchs
                      weiteres um ein viertes und ein fünftes »P« erweiterbar:       »Empirismo eretico« (Ketzererfahrungen) der Filmtheorie
                      Pier Paolo Pasolini Poeta Politico. Denn Pasolini gilt als     gewidmet und ist mit seinen originellen Ideen vor allem
                      der politisch engagierteste und diesbezüglich öffentlich       bei Umberto Eco auf großes Unverständnis gestoßen. Eco
                      exponierteste Dichter und Regisseur Italiens im 20. Jahr-      sah in Pasolini einen Naturalisten, der mit einer ›naiven‹
                      hundert, der anlässlich seines 100. Geburtstages am            Kinosemiotik den Kunstcharakter des Films verkannte.
                      5. März 2022 weltweit mit Retrospektiven geehrt wird.              Tatsächlich wurde Pasolini immer wieder als Expo-
                      Alberto Moravia hat Pasolini als einzigartigen poeta civile,   nent des italienischen Film-Neorealismus angesehen,
                      als engagierten Dichter im Kontext seiner Zeit gefeiert,       vor allem, was seine beiden ersten Filme ACCATTONE
                      dem das Paradox gelungen sei, die reaktionäre Deka-            (1961) und MAMMA ROMA (1962, mit Anna Magnani in
                      denz der Moderne mit der progressiven Theorie des              der Hauptrolle) anging. Pasolini selbst hat diese ver-
                      Kommunismus zusammenzuführen. Dies gilt für die                meintliche Zugehörigkeit abgelehnt, mit dem Argument,
                      Filmwerke Pasolinis womöglich in noch größerem Aus-            er sei ein Verfechter des Kinos der Poesie und nicht der
                      maß, in denen Pasolini ebenfalls nicht müde wurde, poli-       Prosa. In seinen Romanen »Ragazzi di vita« (1955) und
                      tische Missstände anzuprangern. Dabei fusioniert er Le-        »Una vita violenta« (1959) beschrieb Pasolini schonungs-
                      ben, Werk und Politik in einem Ausmaß, das im Ver-             los die verwahrlosten Vororte in den Peripherien Roms,
                      ständnis moderner Methodik, die von Biografien Abstand         die sogenannten borgate. Er war mit dem römischen Dia-
                      zu suchen gewohnt ist, auf Irritation gestoßen ist. Abel       lekt vertraut, weshalb ihn Federico Fellini für die Dialoge
                      Ferrara hat den engagierten Künstler in seinem Film            seines Films LE NOTTI DI CABIRIA (DIE NÄCHTE DER
                      PASOLINI (2014) mit viel Liebe zum Detail dargestellt. Ein     CABIRIA, 1957) engagierte. Ausgerechnet Fellini war es
                      Film über einen Filmemacher weist notwendig selbstre-          aber auch, der nicht bereit war, den filmischen Laien (zu
                      flexive Momente des Mediums auf, umso mehr, als sich           Beginn seiner Tätigkeit als Regisseur wusste Pasolini u.a.
nicht, dass eine Kamera mit verschiedenen Objektiven               Auch wenn Pasolini immer wieder betont hat, dass
arbeitet) und sein erstes Projekt ACCATTONE zu fördern,       seine Ästhetik auf Authentizität beruhe und er deshalb
nachdem er die Probeaufnahmen gesehen hatte. Pasoli-          lieber Laienschauspieler engagiere, verzichten seine Fil-
ni fand anschließend mit Alfredo Bini einen Produzenten,      me dennoch nicht auf illustre Namen. Neben den bereits

                                                                                                                            Pier Paolo Pasolini
der seinen Filmen nicht nur finanziell den Rücken stärkte.    genannten ›Stars‹ hat er weitere Rollen Maria Callas
Und Tonino delli Colli wurde zu Pasolinis bevorzugtem         (MEDEA) sowie Terence Stamp und Silvana Mangano
Kameramann, der dessen eigenwillige Vorstellungen (die        (TEOREMA) übertragen. Analog zu seinen politischen
nur wenige Vorbilder wie Eisenstein, Chaplin, Dreyer oder     Kampfschriften setzt Pasolini die Gegenüberstellung von
Mizoguchi akzeptierten) kongenial ins Bild setzte. Pasoli-    Subproletariat und Bürgern fort und spart dabei nicht mit
ni zeichnete die römischen Vororte in seinen frühen Fil-      schematischen Ideologisierungen. Im Kurzfilm LA RICOT-
men als eine Art Vorhölle im Dantischen Sinne, in denen       TA (DER WEICHKÄSE, 1962), der die kitschigen Je-                    3
das von ihm so genannte Subproletariat (sottoproletario)      sus-Verfilmungen seiner Zeit persifliert, stirbt der Kom-
von der bürgerlichen Klasse ausgebeutet wird. Gleich-         parse Stracci nach einer Fressattacke am Kreuz, währ-
wohl verlieren die Armen und Ausgestoßenen in den             end der Regisseur – gespielt von Orson Welles – Pasoli-
Augen Pasolinis nichts von ihrer Würde und Grazie. Sie        nis Lyrik rezitiert, darunter eines seiner bekanntesten
weisen einen spezifischen Humor auf, der insbesondere         Gedichte: »Io sono una forza del passato« (»Ich bin eine
in UCCELLACCI E UCCELLINI (GROSSE VÖGEL, KLEINE               Kraft des Vergangenen«).
VÖGEL, 1966) zur Geltung kommt. Eine der Hauptrollen               Der bekennende Kommunist Pasolini wurde auf-
übernimmt Italiens größter Komiker Totò, der gemeinsam        grund seiner Homosexualität frühzeitig von der Partei
mit Nino Davoli auch in LA TERRA VISTA DALLA LUNA             ausgeschlossen. Von Anfang an wurde sein Werk außer-
(DIE ERDE VOM MOND AUS GESEHEN, 1967) auftritt –              dem mit dem Argument kritisiert, dass er seiner politi-
einem Kurzfilm, der mit seinen tragisch-komischen Kom-        schen Ausrichtung mit nostalgischen, ja reaktionären
ponenten auf den Spuren Shakespeares zu den poe-              Aussagen widerspreche. Die notorische Abneigung ge-
tischsten Filmen Pasolinis zählt.                             gen das Bürgertum führte schließlich dazu, dass Pasolini
    Während sein preisgekrönter Gedichtband »Le Ceneri        das Reisen für sich entdeckte und dabei Material für ge-
di Gramsci« (1957) dem bekanntesten Kommunisten Ita-          plante Filme aufnahm. Auf diesen Wegen entstanden die
liens, Antonio Gramsci, huldigt, blendet UCCELLACCI E         dokumentarisch gehaltenen Filme SOPRALLUOGHI IN
UCCELLINI in dokumentarischen Bildern das Begräbnis           PALESTINA PER IL VANGELO SECONDO MATTEO (ORTS-
des Generealsekretärs des PCI (Partito Comunista Italia-      BESICHTIGUNGEN IN PALÄSTINA, 1965) und APPUNTI
no) Palmiro Togliatti ein. Der eigentliche Protagonist des    PER UN‘ORESTIADE AFRICANA (NOTIZEN ZU EINER
Films ist ein sprechender Rabe, der sich zum Marxismus        AFRIKANISCHEN ORESTIE, 1970). Nachdem die Arbeiter-
bekennt und offenkundig das Alter Ego des Regisseurs          klasse Italiens damit begann, die Ideale und Werte des
darstellt. Pasolinis Kommunismus ist in diesem Zusam-         Bürgertums zu übernehmen anstatt sich gegen die herr-
menhang kompromisslos. Auch wenn er seine Botschaft           schende Klasse zu wenden, suchte der enttäuschte
in der Verkleidung des sanft sprechenden und sympa-           Pasolini in fremden Ländern nach Völkern, die fernab von
thisch hüpfenden Raben übermittelt, weist er unerbittlich     Konsum und Hegemonisierung leben. In Indien, Afrika
darauf hin, dass die Normierung, Homogenisierung und          und in Arabien fand Pasolini auf ihn authentisch wirkende
Kommerzialisierung der bürgerlichen Werteskala zu ei-         Figuren und Gesichter, die er in Italien inzwischen ver-
nem »Genozid« sämtlicher nicht-bürgerlicher Welten und        geblich suchte. Und auch wenn er unablässig wiederhol-
diese Vereinheitlichung zum Tod kultureller Vielfalt ge-      te, mit dem Kino eine neue Sprache gefunden zu haben
führt habe. Als Regisseur und Poet hat Pasolini diesen        (welche, anders als die Schriftzeichen, die Wirklichkeit
Prozess besonders im Wandel der Sprache beobachtet,           mittels dieser selbst ausdrückte), blieb Pasolini Zeit sei-
deren vormaliger Reichtum (farbige Dialekte, folkloristi-     nes Lebens ein engagierter Dichter. Sein letztes Buch,
sche Lebendigkeit u.a.m.) von der Technokratie der Fern-      das als Romanfragment »Petrolio« posthum erschienen
sehsprache abgelöst worden sei. Die modernen Speziali-        ist, stellt die in den Augen Pasolinis verbrecherische Welt
sierungen des Wissens hat Pasolini für sich nie akzeptiert,   des Kapitalismus dar, die im Faschismus ihren Höhe-
sondern bereitwillig die Rolle des Dilettanten akzeptiert,    punkt gefunden hatte. Einem Faschismus, der keinesfalls
wenn es darum ging, die gesellschaftspolitischen Ver-         eine singuläre historische Entgleisung gewesen sei, son-
hältnisse zur Gänze – eben ›radikal‹, also von den Wur-       dern eine Grundhaltung, die sich auch in der Folge weiter
zeln her – zu kritisieren und die Prämissen des realpoliti-   durchgesetzt habe. Pasolini hat in »Petrolio« die spätka-
schen Systems von Grund auf in Frage zu stellen.              pitalistischen Medienmonarchien Italiens – so wie sie
sich in der Folge nicht nur in der Figur Berlusconis tat-      Pasolini mit SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA ve-
                                                  sächlich realisiert haben – luzide vorausgesehen.              hement Einhalt gebieten – auf eine Weise, die nachhaltig
                                                      Parallel zu »Petrolio« hat Pasolini in seinem letzten      gewirkt hat. Den Film kann man unterschiedlich bewer-
                                                  Film SALÒ O LE 120 GIORNATE DI SODOMA (SALÒ                    ten. Italo Calvino oder Roland Barthes, um stellvertretend
Pier Paolo Pasolini

                                                  ODER DIE 120 TAGE VON SODOM, 1975) die Vergewal-               nur zwei bekannte Namen zu nennen, fanden den Film
                                                  tigung aller humanistischen Werte schonungslos ins Bild        misslungen. In jedem Fall muss man Pasolini aber zu
                                                  gesetzt und setzt bei seinen Zuschauerinnen und Zu-            Gute halten, dass es ihm gelungen ist, mit diesem Film
                                                  schauern bis auf den heutigen Tag ein starkes Nerven-          ein Werk geschaffen zu haben, das sich bis heute gegen
                                                  kostüm voraus. Er überträgt in einem historischen Spa-         jegliche konsumistische Haltung nicht nur sträubt, son-
                                                  gat die Praktiken des Marquis de Sade in das                   dern diese praktisch verhindert.
  4                                               faschistische Salò und führt konsequent vor Augen, was             Mit IL VANGELO SECONDO MATTEO (DAS 1. EVAN-
                                                  passiert, wenn der Willkür der Macht kein Einhalt gebo-        GELIUM – MATTHÄUS, 1964) realisiert ausgerechnet der
                                                  ten wird. Pasolinis letzter Film vollzog insofern eine über-   bekennende Atheist Pasolini eine der schönsten Verfil-
                                                  raschende Kehrtwendung, als er kurz zuvor in der soge-         mungen des Neuen Testaments. Wie viele andere Filme
                                                  nannten »Trilogie des Lebens« (1971-1974) einen Kult           Pasolinis ist auch dieser in Schwarzweiß gedreht. Viel-
                                                  des Körpers und einen Lobpreis der Vitalität inszeniert        leicht zählt dieser Film auch deshalb zu den geglücktes-
                                                  hatte. Die Filme IL DECAMERON (DECAMERONE), I RAC-             ten des Regisseurs, weil er darin seine beiden Studienfä-
                                                  CONTI DI CANTERBURY (PASOLINIS TOLLDREISTE GE-                 cher eindrucksvoll zur Geltung bringen konnte. Als
                                                  SCHICHTEN) und IL FIORE DELLE MILLE E UNA NOTTE                Philologe, der seine universitäre Abschlussarbeit zum
                                                  (EROTISCHE GESCHICHTEN AUS 1001 NACHT) greifen                 Dichter Giovanni Pascoli geschrieben hat, achtet Pasolini
                                                  Werke der Weltliteratur auf, nämlich neben der Novellen-       auf eine wortgetreue Umsetzung des biblischen Textes.
                                                  sammlung Boccaccios den spätmittelalterlichen Text von         Pasolini hat außerdem bei einem der größten Kunsthisto-
                                                  Chaucer und die berühmte Märchensammlung. Aller-               riker Italiens studiert, bei Roberto Longhi in Bologna, und
                                                  dings lassen bereits die plakativen deutschen Übertra-         viele seiner filmischen Einstellungen sind der Malerei
                                                  gungen der Titel Ungutes ahnen. Pasolini – zunächst            entlehnt. Während IL VANGELO SECONDO MATTEO Bil-
                                                  fassungslos und dann wutentbrannt – musste erleben,            dern von Piero della Francesca nachempfunden ist, ori-
                                                  wie seine Trilogie pornografisch vermarktet wurde. Die         entiert sich LA RICOTTA an den manieristischen Kreuz-
                                                  Konsumhaltung der modernen Welt hatte damit auch die           abnahmen Pontormos und Rosso Fiorentinos. IL DECA-
                                                  Rezeption seiner eigenen Filme ergriffen. Dem wollte           MERON greift eine Reihe von Bildern Bruegels auf, und
                      IL VANGOLO SECONDO MATTEO
Pasolini verkörpert selbst einen Schüler Giottos. ACCAT-     (DER SCHWEINESTALL, 1969), der ursprünglich als Thea-
TONE wiederum spielt mit den Schattentechniken Ma-           terstück Pasolinis angelegt war. Der Text greift den deut-
saccios. Auch die Musik in Pasolinis Filmen weist neben      schen Faschismus auf und verbindet diesen mit kanniba-
modernen Anklängen kontrastierende Töne der Tradition        listischen Versatzstücken in einer satirischen Allegorie.

                                                                                                                           Pier Paolo Pasolini
auf und unterlegt die rauhen Szenen in ACCATTONE mit               Dass Anthropophagie nicht zwangsläufig ein Barba-
Klängen aus Bachs »Matthäuspassion«.                         rismus (im modernen Verständnis) sein muss, hat Paso-
    Das Vorbild für seine Form einer alles umfassenden       lini immer wieder betont. Er hat sogar unterstrichen, dass
politischen Haltung findet der in den antiken Sprachen       barbarie (Barbarei) eines seiner Lieblingswörter sei, ähn-
ausgebildete Lehrer Pasolini im griechischen zoon politi-    lich wie bestemmia (Blasphemie, Fluchen). Es lohnt sich,
kon. Demnach ist der Mensch naturgemäß ein Gemein-           den rein provokanten Gestus, hier wie auch anderweitig
schaft bildendes Lebewesen, wofür Pasolinis mythische        bei Pasolini, genauer zu hinterfragen. Die genannten                5
Filme MEDEA (1969) und EDIPO RE (1967; der deutsche          Worte fasst er letztlich im antiken bzw. im urchristlichen
Titel BETT DER GEWALT ist wenig zielführend) besonders       Sinne auf. Es handelt sich um Handlungen, die nicht ins-
eindringliche Beispiele sind. Auch diese Filme themati-      titutionalisiert sind und allein auf den Zusammenhalt von
sieren die für Pasolini kennzeichnende marxistische Di-      Gemeinschaften abheben. Das Menschenopfer und die
chotomie von archaischer Solidarität und kapitalisti-        Kindestötungen in Medea stellen keine privaten Aktionen
schem Egoismus, an der Ausnahmegestalten wie Medea           dar. Sie dienen der Stärkung von sozialen und göttlichen
und Ödipus letztlich zugrunde gehen. Sie sterben Märty-      Bindungen, was die Katholische Kirche, so Pasolini, gera-
rertode oder werden wie Aussätzige behandelt. Pasolinis      de nicht praktiziere. Pasolini agiert in diesem Punkt sehr
Gegenreden nehmen in diesem und in anderen Kontex-           differenziert. Während er seinen Film IL VANGELO SE-
ten wiederholt den Gestus eines politischen Propheten        CONDO MATTEO sogar Papst Johannes XXIII. gewidmet
und mahnenden Menetekels an, so fühlte er sich u.a. in       hat, ist sein Urteil über Papst Pius XII. vernichtend. Über
seinen Zeitungskolumnen dazu berufen, die ›wehrlose‹         den Letztgenannten schreibt er ein Gedicht und klagt
Polizei gegen die ›bürgerlichen‹ Studenten während der       darin das Oberhaupt der Amtskirche an, die Vorstädte
Revolution 1968 in Schutz zu nehmen. Das Bürgertum           Roms zwar aus dem prunkvollen Vatikan heraus wahrzu-
steht nur in wenigen Werken im Mittelpunkt der Betrach-      nehmen, aber angesichts der Armut und des Hungers
tung, und zwar nach Pasolini deshalb, weil er es gerade-     untätig zu bleiben. Es gäbe keinen größeren Sünder als
zu physisch nicht ertrage, mit der Lebensweise der Bour-     ihn, schreibt der Dichter über den Pontifex – mit einer
geoisie, genauer des Kleinbürgertums, in Berührung zu        Radikalität, die womöglich erst im Nachhinein, anlässlich
kommen. Gleichwohl zählt der weitgehend im großbür-          des 2022 veröffentlichten Gutachtens zum Missbrauch
gerlichen Milieu spielende Film TEOREMA (GEOMETRIE           der Kirche, an Pasolinis 100. Geburtstag Früchte trägt.
DER LIEBE, 1968) zu den Meisterwerken Pasolinis. Der               Als Pier Paolo Pasolini während eines seiner nächt-
Film präsentiert ein Experiment: Was passiert, wenn das      lichen Streifzüge durch Rom in Ostia im November 1975
Bürgertum mit dem Göttlichen konfrontiert wird? Ausge-       ermordet wurde, verlor nicht nur Italien eine seiner ein-
hend von dieser Frage lässt Pasolini einen jungen Mann       drucksvollsten kulturellen und gesellschaftskritischen
in einer Mailänder Familie zu Gast sein, der mit allen Fa-   Figuren. Wie hätte Pasolini im Anschluss an SALÒ O LE
milienmitgliedern sowie dem Dienstmädchen eine Lie-          120 GIORNATE DI SODOMA seine Passion für das Kino
besbeziehung eingeht und danach wieder verschwindet.         fortgesetzt? Dies ist eine Frage, die unbeantwortet blei-
Während Letztere als Vertreterin der arbeitenden Klasse      ben muss.			                                  Angela Oster
eine ›verrückte Heilige‹ wird, scheitern die bürgerlichen
Protagonisten der Reihe nach mit ihren Versuchen, dem        Accattone (Wer nie sein Brot mit Tränen aß) | Italien
Göttlichen in ihren Leben Kontinuität zu verleihen. Bei      1961 | R+B: Pier Paolo Pasolini | K: Tonino Delli Colli |
dem malenden Sohn spart Pasolini nicht an Kritik hin-        M: Johann Sebastian Bach | D: Franco Citti, Franca Pa-
sichtlich der zeitgenössischen Avantgarde. Die Tochter       sut, Silvana Corsini, Paola Guidi, Adriana Asti, Luciano
versteinert und wird in eine Anstalt überführt. Die Mutter   Conti, Luciano Gonini, Romolo Orazi, Silvio Citti, Sergio
findet in keiner ihrer weiteren Liebschaften ein Surrogat    Citti, Elsa Durante | 117 min | OmeU | »Die Ästhetik von
für das Verlorene. Das offene Ende des Films entlässt        ACCATTONE orientiert sich nicht an der offenen Episo-
den nackten, schreienden Vater in die Wüste, nachdem         dik, der naturalistischen Sentimentalität und dem popu-
er sein ›Kapital‹, eine Fabrik, preisgegeben hat. Das Bür-   listischen Optimismus des Neorealismus, sondern an
gertum ist im Kern verkommen und kann niemals Erlö-          der drastischen Realistik und Monumentalität des ers-
sung erfahren. Dies ist auch die Botschaft in PORCILE        ten Renaissance-Malers Masaccio, an der ›sakralen‹
Einfachheit Dreyers, Mizoguchis und Chaplins, an dem          gung erfährt, wird er ins Reich der Helden und der Po-
                      protestantischen Barock Bachs und der katholischen            esie aufgenommen.« (Pasolini)
                      (geschlossenen) Form der Passion, welche Accattones            Dienstag, 29. März 2022, 19.00 Uhr
                      Weg in Tod und Erlösung von den weltlichen Übeln einer         Samstag, 2. April 2022, 17.00 Uhr
Pier Paolo Pasolini

                      dantesken Hölle der Existenz zu einer exemplarischen
                      Folge von Stationen immer tieferen Leidens, ausweglo-         Sopralluoghi in Palestina per »Il vangelo secondo
                      ser Isolation und hoffnungsloser Entmutigung verdich-         Matteo« (Ortsbesichtigung in Palästina) | Italien
                      ten.« (Wolfram Schütte)                                       1965 | R+B: Pier Paolo Pasolini | K: Aldo Pennelli | 52
                       Dienstag, 15. März 2022, 19.00 Uhr                          min | OmU | »Bevor Pasolini sich dazu entschloss, eine
                       Samstag, 19. März 2022, 17.00 Uhr                          ideale Geographie der historischen Orte zu rekonstruie-
  6                                                                                 ren, um die Wirklichkeit und die menschliche Dimensi-
                      Uccellacci e uccellini (Große Vögel, kleine Vögel) |          on Christi wieder aufzuspüren, begab er sich nach Isra-
                      Italien 1966 | R+B: Pier Paolo Pasolini | K: Tonino Delli     el, um die notwendigen historischen Untersuchungen
                      Colli, Mario Bernardo | M: Ennio Morricone | D: Totò,         anzustellen.« (Robert Schär) – Appunti per un'Oresti-
                      Ninetto Davoli, Femi Benussi, Rossana Di Rocco, Lena          ade africana (Notizen für eine afrikanische Orestie)
                      Lin Solaro | 89 min | OmeU | »Italienisches Straßenkino,      | Italien 1970 | R+B+K: Pier Paolo Pasolini | K: Giorgio
                      Agitprop von vor 68. Mit einem klugscheißerischen Ra-         Pelloni, Mario Bagnato, Emore Galeassi | M: Gato Bar-
                      ben und mit der Einsicht eines linken, schreibenden           bieri | 65 min | OmeU | »Der Versuch einer Transposition
                      Intellektuellen, dass Bilder komplettere Beziehungen          der ›Orestie‹ des Aischylos in das moderne Afrika. Auf
                      zum Körper haben und dass dem Volk der Sinn für not-          der Suche nach möglichen Drehorten und Figuren filmte
                      wendige Veränderungen nicht eingetrichtert werden             Pasolini gleich mit einer kleinen Equipe auf 16mm alles,
                      kann, weil der Weg zu weit ist vom Kopf zum Bauch und         was ihm begegnete, führte also eine Art filmisches No-
                      gar erst zu den Füßen, die die Richtung bestimmen.«           tizbuch.« (Robert Schär)
                      (Frieda Grafe) – La terra vista dalla luna (Die Erde           Dienstag, 5. April, 19.00 Uhr
                      vom Mond aus gesehen) | Italien 1967 | R+B: Pier               Samstag, 9. April, 17.00 Uhr
                      Paolo Pasolini | K: Giuseppe Rotunno | M: Piero Piccioni
                      | D: Totò, Ninetto Davoli, Silvana Mangano, Laura Betti,      Il vangelo secondo Matteo (Das 1. Evangelium –
                      Luigi Leoni, Mario Cipriani | 31 min | OmeU | »Pasolini       Matthäus) | Italien 1964 | R+B: Pier Paolo Pasolini | K:
                      hat für das Unikat LA TERRA VISTA DALLA LUNA die              Tonino Delli Colli | D: Enrique Irazoqui, Margherita Caru-
                      ästhetische Kategorie eines ›metahistorischen Surrea-         so, Susanna Pasolini, Marcello Morante, Mario Socrate,
                      lismus‹ erfunden.« (Wolfram Schütte)                          Settimio Di Porto, Giorgio Agamben, Natalia Ginzburg |
                       Dienstag, 22 März 2022, 19.00 Uhr                           137 min | OmU | »Der Film war ein realer Dialog, eine
                       Samstag, 26. März 2022, 17.00 Uhr                          Beziehung zwischen einem Kommunisten (wenn auch
                                                                                    ohne Parteibuch) und den progressivsten Teilen des
                      Edipo Re (Bett der Gewalt) | Italien 1967 | R+B: Pier         italienischen Katholizismus. Die Menschlichkeit Christi
                      Paolo Pasolini, nach »Oedipus Rex« und »Oedipus auf           entspringt einer dermaßen starken inneren Kraft, einem
                      Kolonos« von Sophokles | K: Giuseppe Ruzzolini | D: Sil-      dermaßen unstillbaren Hunger nach Wissen und Verifi-
                      vana Mangano, Franco Citti, Alida Valli, Carmelo Bene,        zierung des Wissens – und zwar ohne jegliche Angst
                      Julian Beck, Pier Paolo Pasolini, Ninetto Davoli,             vor Skandalen oder Widersprüchen –, dass für diese
                      Jean-Claude Biette | 104 min | OmeU | »Der Prolog             Menschlichkeit die Metapher ›göttlich‹ schon an die
                      stellt die Kindheit eines Jungen dar, der den gesamten        Grenze der Metaphorik stößt, sie selbst wird ideell zur
                      Ödipus-Mythos träumt, wie ihn Sophokles erzählt hat,          Wirklichkeit. Das einzige Beispiel einer nicht vermittel-
                      durchsetzt mit freudianischen Elementen. Am Ende ist          ten ›moralischen Schönheit‹, einer Schönheit im Zu-
                      der Junge alt und blind. Der zweite Teil präsentiert sich     stand der Reinheit, habe ich in IL VANGELO gefunden.«
                      als großer Traum vom Mythos, der mit dem Aufwachen            (Pasolini)
                      endet, mit der Rückkehr zur Realität. Der dritte Teil han-     Dienstag, 12. April 2022, 19.00 Uhr
                      delt von der Sublimierung, wie Freud sie verstanden            Samstag, 16. April 2022, 17.00 Uhr
                      hat. Die Variante des Mythos besteht darin, dass Ödipus
                      sich in Teiresias wiederfindet: er hat sich sublimiert, wie   Teorema (Geometrie der Liebe) | Italien 1968 | R+B:
                      ein Dichter das tut, ein Prophet. Indem er sich in einem      Pier Paolo Pasolini, nach seinem Roman »Teorema oder
                      Akt der Selbstbestrafung blendet, also eine Art Reini-        Die nackten Füße« | K: Giuseppe Ruzzolini | M: Wolf-
gang Amadeus Mozart, Ted Cursen, Ennio Morricone |            gewählt. Der implizite politische Inhalt des Films ist da-
D: Terence Stamp, Silvana Mangano, Massimo Girotti,           gegen der verzweifelte Verlust des Vertrauens in jede
Anne Wiazemsky, Laura Betti, Andrès José Soublette            Gesellschaft, in die Geschichte: also ein anarchis-
Cruz, Susanna Pasolini | 97 min | OmeU | »Wie der Titel       tisch-apokalyptischer. Die vereinfachte Botschaft des

                                                                                                                                     Pier Paolo Pasolini
schon sagt, gründet der Film auf einer Hypothese,             Films ist: die Gesellschaft frisst ihre ungehorsamen
deren Beweis mathematisch ad absurdum geführt wird.           Kinder.« (Pasolini)
Wenn ein junger Gott, Dionysos oder Jehovah, eine              Dienstag 26. April 2022, 19.00 Uhr
bürgerliche Familie besuchen würde, was würde dann             Samstag, 30. April 2022, 17.00 Uhr
passieren? Dieser Besuch sprengt alles, was die Bürger
über sich selbst wissen, in die Luft. Nachdem der Gast        Salò o le 120 giornate di Sodoma (Die 120 Tage von
gegangen ist, findet sich jeder mit dem Bewusstsein           Sodom) | Italien 1975 | R: Pier Paolo Pasolini | B: Pier                     7
seiner Inauthentizität wieder, ja, mehr noch: mit der         Paolo Pasolini, Sergio Citti, Pupi Avati, nach dem Ro-
Unfähigkeit, authentisch zu sein, oder es je, wegen der       man von D.A.F. de Sade | K: Tonino Delli Colli | M:
historischen und klassenspezifischen Unmöglichkeit,           Frédéric Chopin, Carl Orff | D: Paolo Bonacelli, Aldo Val-
werden zu können.« (Pasolini)                                 letti, Uberto Paolo Quintavalle, Giorgio Cataldi, Caterina
 Dienstag, 19. April 2022, 19.00 Uhr                         Boratto, Elsa Di Giorgi, Hélène Surgère | 117 min | OmU
 Samstag, 23. April 2022, 17.00 Uhr                         | »Pasolini hat die Rituale des Sadismus in ein kaltes
                                                              Licht getaucht, in die letzten Tage des italienischen Fa-
Porcile (Der Schweinestall) | Italien 1969 | R+B: Pier        schismus verlegt – als ein paar Vertreter der Bourgeoi-
Paolo Pasolini | K: Armando Nannuzzi, Tonino Delli Colli,     sie den eigenen Untergang zelebrierten und sich in ihre
Giuseppe Ruzzolini | M: Benedetto Ghiglia | D: Pierre         Villa zurückzogen, mit genug Menschenmaterial – Jun-
Clémenti, Franco Citti, Ninetto Davoli, Jean-Pierre           gen und Mädchen, die sie in einer Orgie von Erniedri-
Léaud, Alberto Lionelli, Anne Wiazemsky, Ugo Tognazzi,        gungen und Folterungen ›verbrauchten‹. Man spürt die
Marco Ferreri | 118 min | OmeU | »Das Grauen durch-           Qualen des Intellektuellen, der merkt, dass man beim
leuchten. Ein Petrarca-Sonett über ein Thema von Lau-         verzweifelten Versuch, irgendwie die verhasste Chimä-
tréamont. Ein grausamer und sanfter Film. Der explizite       re des bürgerlichen Individuums loszuwerden, beinahe
politische Inhalt des Films hat, als historische Situation,   unausweichlich im Faschismus endet.« (Fritz Göttler)
Deutschland zum Gegenstand. Aber PORCILE handelt               Dienstag, 3. Mai 2022, 19.00 Uhr
nicht von Deutschland, sondern vom zweideutigen Ver-
hältnis zwischen altem und neuem Kapitalismus.
Deutschland wurde in seiner Eigenschaft als Extremfall

                                                                                                                           TEOREMA
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