125 Jahre Kino - Kinofenster.de

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125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier
                                              April/Mai/Juni 2021

       125 Jahre Kino
 Am 25. April 1896 eröffnete an der Berliner Pracht-
 straße Unter den Linden die erste feste Abspielstät-
 te für Filme in Deutschland. Das Jubiläum nimmt
 kinofenster.de zum Anlass für eine Zeitreise durch
 125 Jahre Kinogeschichte: Die Einleitung gibt einen
 Überblick von den Anfängen der Kinematografie bis
 zur digitalen Gegenwart. Die Hintergrundtexte des
 Dossiers werfen einen Blick auf einzelne Epochen,
 reflektieren die aktuelle Situation und erklären das
 Dispositiv Kino. Ein Interview widmet sich zudem
 der Zukunft des Kinos. Zum Thema finden Sie dar-
 über hinaus Unterrichtmaterial ab der 7. Klasse.

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125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                    125 Jahre Kino

     Inhalt
     EINLEI T U N G                  HINTERGRUND

04   125 Jahre Schaulust –      17   Blockbuster und globali-
     eine kurze Reise durch          sierte Filmkunst
     die Geschichte des Kinos        Jurassic Park (1993) und
                                     Chihiros Reise ins
     HINTER G R U N D
                                     Zauberland (2001)
08   Von der Jahrmarkt
     attraktion zur stummen          HINTERGRUND

     Erzählkunst                20   Immersion und Unmittel-
     Die Reise zum Mond              barkeit
     (1903) und Der Letzte           Avatar – Aufbruch
     Mann (1924)                     nach Pandora (2009) und
                                     Victoria (2015)E S P R E C H U N G
     HINTER G R U N D
                                     HINTERGRUND
11   Zwischen Eskapismus
                                23   Das permanente Festival –
     und Realismus
                                     zur Gegenwart des Kinos
     Der Zauberer von Oz
     (1939) und                      INTERVIEW

     Fahrraddiebe (1948)        25   „Das Kino hat sich immer
                                      wieder erneuert“ Alfred
     HINTER G R U N D
                                      HolighausB ES P R E C H
14   Vom Monumentalfilm
     zum Independent-Kino            HINTERGRUND

     Lawrence von Arabien
                                27   Exkursion in die Höhle –
     (1963) und                      Das Dispositiv Kino
     Easy Rider (1969)

                                                               www.kinofenster.de
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Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                      125 Jahre Kino

      ANREGUN G E N

30    Außerschulische
      Filmarbeit zum Thema
      125 Jahre Kino
      UNTERR I C H T S M A T E R I A L

35    Arbeitsblatt
      125 Jahre Kino
     - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R
     - SIEBE N A U F G A B E N

55    Filmglossar

73    Links und Literatur

77    Impressum
                                                                                                          3
                                                                                                         (77)

                                                                                 www.kinofenster.de
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Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                                  125 Jahre Kino

Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (1/3)

                                                                                                      Aufnahmen oder kurze gestellte Szenen, die
                                                                                                      zumeist mit starrer Kamera gefilmt waren,
                                                                                                      wenn sie nicht spielerisch die Möglichkeiten
                                                                                                      der Apparatur vorführten – und dienten vor-
                                                                                                      rangig der Befriedigung der Schaulust.

                                                                                                         Kurzfilm: Arrival Of A Train
                                                                                                      At La Ciotat
                                                                                                      https://archive.org/details/11-
                                                                                                      arrival-of-a-train-at-la-ciotat

                                                                                                      Die Entwicklung zum Erzählkino kündigte
                                                                                                      sich erst mit Filmen wie Georges Méliès‘
                                                                                                      Die Reise zum Mond (1902) und Edwin S.
                                                                                                      Porters Der grosse Eisenbahnraub (1903)

                                                                                      © Studiocanal
                                                                                                      an. Maßgeblich angetrieben wurde sie
                                                                                                      durch das Aufkommen einfacher ortsfester
                                                                                                      Kinosäle in Großstädten, die in der Arbei-
                                                                                                      terschaft enormen Zuspruch fanden. Der
                                                                                                      Bedarf an Filmen wuchs, und der Aufbau

125 Jahre Schaulust – eine
                                                                                                      eines Verleihsystems und eines internati-
                                                                                                                                                      4
                                                                                                      onalen Vertriebs machten es nun lukrativ,      (77)

kurze Reise durch die Geschichte                                                                      aufwändiger zu produzieren. Zensurbe-
                                                                                                      strebungen animierten Filmunternehmen

des Kinos                                                                                             zudem, auf bewährte Elemente der bür-
                                                                                                      gerlichen Kultur zurückzugreifen, vor allem
Der Einführungstext widmet sich den zentralen Wendepunkten und                                        des Theaters, um so gezielt auch wohlha-
Entwicklungen in der 125-jährigen Geschichte des Kinos.                                               bendere Kreise anzusprechen – ab 1910
                                                                                                      boten in den Metropolen Filmpaläste mit
                                                                                                      eigenen Orchestern dafür einen adäqua-

A   m 25. April 1896 eröffnete in Berlin
    die erste feste Abspielstätte für Filme
in Deutschland. In den 125 Jahren seither
                                               Vom Varieté zum Filmpalast
                                               Ende des 19. Jahrhunderts lag das Kino qua-
                                               si in der Luft: Gleich mehrere Ingenieure in
                                                                                                      ten Rahmen. Der Theatralik des damaligen
                                                                                                      Kinos begegneten derweil nicht zuletzt US-
                                                                                                      amerikanische Regisseur/-innen wie David
hat das Kino nicht nur im deutschsprachi-      Europa und den USA entwickelten damals                 W. Griffith und Lois Weber, indem sie die
gen Raum, sondern global eine stete und        unabhängig voneinander Apparate zum                    Ausformulierung spezifischer filmästheti-
oftmals rasante Entwicklung erlebt, die        Filmen und Projizieren bewegter Bilder. Als            scher Mittel voranbrachten. Vor allem mit
keineswegs geradlinig und auch nicht in al-    Geburtsstunde des Kinos gilt gemeinhin die             neuartigen Montagetechniken trugen sie
len Ländern parallel verlief. Sie war ebenso   erste Vorführung des Cinématografen der                entscheidend dazu bei, die bis heute wirk-
durch technische Innovationen wie durch        Brüder Auguste und Louis Lumière vor zah-              samen Grundzüge des illusionistischen
wirtschaftliche, gesellschaftliche oder po-    lendem Publikum am 28. Dezember 1895 im                narrativen Films zu etablieren.
litische Prozesse beeinflusst. Gleichwohl      Pariser Grand Café, bei der unter anderem
lassen sich Wegmarken festhalten, die das      Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von                 Propaganda und
Kino maßgeblich geprägt haben – sowohl         La Ciotat gezeigt wurde. Der narrative As-             Unterhaltungskunst
in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht      pekt war in den anfangs nur wenige Sekun-              Der Erste Weltkrieg veränderte das Kino
als auch auf der Ebene der Rezeption und       den dauernden Filmen, die in Varietés oder             nachhaltig. Herrschende erkannten im
des Publikumsverhaltens.                       auf Jahrmärkten präsentiert wurden, kaum               Medium ein ideales Mittel, das Volk zu be-
                                               ausgebildet. Sie zeigten dokumentarische               einflussen: Propagandafilme über die

                                                                                                                                www.kinofenster.de
125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                                                       125 Jahre Kino

Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (2/3)

                                                              © picture alliance/Glasshouse Images/

                                                                                                                                                                 © picture-alliance/akg-images/
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                                                                                                                                                                 Erich Lessing
Die Warner Brothers Studios 1930                                                                      Filmplakat zu Panzerkreuzer Potemkin von 1925

Somme-Schlacht fanden in Großbritannien,       ein Trick, der es ermöglichte, Darsteller/-                                Während der Stummfilmzeit existierten in
Frankreich und Deutschland ein Millionen-      innen in Miniaturmodelle einzuspiegeln.                                    den Kinos nicht nur vielfältigste Formen der
publikum. Zugleich begünstigten Krieg und      Der Science-Fiction-Klassiker, mit Produk-                                 musikalischen Begleitung, auch sogenann-
Nachkriegskrisen den Aufstieg Hollywoods       tionskosten von fünf Millionen Reichsmark                                  te Filmerzähler/-innen waren verbreitet
zur Weltmacht des Kinos: Genrefilme aus        seinerzeit der teuerste deutsche Film, ist so                              und verliehen den Vorführungen einen spe-
den neuen Studiokomplexen bedienten das        auch ein Beispiel für den immensen tech-                                   zifischen Charakter. In Japan, einem Land
Bedürfnis nach Zerstreuung und Glamour.        nologischen Fortschritt, der sich im Kino in                               mit hochentwickelter Filmkultur, war diese
                                                                                                                                                                                                   5
Die "Traumfabrik" mit ihrer arbeitsteiligen    den 1920er-Jahren vollzog. Nicht weniger                                   Praxis so beliebt, dass sie noch einige Jahre                           (77)
Filmherstellung wurde für Produktionsfir-      bahnbrechend war die Entwicklung in der                                    überdauerte. In Teilen Westafrikas hat sich
men in aller Welt zum Modell. Die damit        UdSSR, wo Lenin das Kino zur wichtigsten                                   die Live-Kommentierung von Filmen sogar
verbundene Spezialisierung der Filmge-         aller Künste erklärte. Im staatlichen Auftrag                              zu einer ganz eigenen Kinodisziplin weiter-
werke führte auch dazu, dass weibliche         entstanden dort revolutionäre Montagefil-                                  entwickelt, die immer noch ausgeübt wird.
Filmschaffende aus zentralen Bereichen         me wie Panzerkreuzer Potemkin (1926).
der Filmproduktion verdrängt wurden.           Zur gleichen Zeit avancierte Paris zum                                     Die Goldene Ära des
Erst mit dem Autorenfilm der 1960er-Jahre      Nabel des Avantgardefilms, sorgten Ani-                                    Studiosystems
wurden die Strukturen allmählich wieder        mations- und Kompilationsfilme für völlig                                  In ästhetischer Hinsicht wirkte sich der
durchlässiger.                                 neue Seherfahrungen. Und die Faszination                                   Tonfilm vor allem auf die Schauspielerei
   In   den   Industriegesellschaften   der    für das junge Medium schlug sich in einer                                  aus, die durch Dialoge zwangsläufig na-
1920er-Jahre avancierte der Film zum           stetig wachsenden Zahl filmtheoretischer                                   turalistischer wurde. Zu mehr Realismus
Fixpunkt der modernen Massenkultur.            Schriften nieder.                                                          im Kino trugen die sogenannten Talkies
Als Goldene Ära des Stummfilms gilt das           Die ab 1927 von Hollywood ausgehen-                                     gleichwohl nur bedingt bei – seinen Sie-
Jahrzehnt aber vor allem, weil sich das        de Einführung der Tonspur fiel also in eine                                geszug verdankte der Sprechfilm nicht
Kino als visuelle Kunst emanzipierte: In       filmkulturell besonders vitale Epoche. Dass                                zuletzt dem neuen eskapistischen Genre
Deutschland prägten Werke wie Friedrich        Stummfilme in vielen Ländern schon nach                                    des Filmmusicals. Der Kapitalbedarf für
W. Murnaus Faust (1926) eine expressio-        wenigen Jahren vollständig vom Sprech-                                     die Tonfilmtechnologie verstärkte indes
nistische Filmtradition, die eine Brücke zur   film verdrängt wurden, empfanden nicht                                     die industriellen Strukturen des Kinos. Der
Hochkultur schlug. Charakteristisch für sol-   wenige als Verlust, was zur Gründung der                                   Sprechfilm erschwerte zwar anfänglich den
che Prestigeproduktionen der UFA war ihre      ersten Kinematheken wie zum Beispiel das                                   Filmhandel zwischen den Sprachräumen.
von Studioboss Erich Pommer eingefor-          Filmhistorika Samlingarna in Stockholm                                     Dennoch konnte Hollywood seine Domi-
derte Experimentierfreude. Berühmt sind        (1933) oder auch die Pariser Cinématèque                                   nanz in den 1930er-Jahren ausbauen. Dazu
die visionären Großstadtszenerien in Fritz     Française (1936) beitrug. Die Tonfilmära                                   trug auch die Einführung des Production
Langs Metropolis (1927), bei denen das         ging auch mit einer weitgehenden Stan-                                     Codes bei, eine Selbstzensur der Filmindu-
Schüfftan-Verfahren angewandt wurde –          dardisierung der Filmpräsentation einher:                                  strie, die vor allem die Darstellung von

                                                                                                                                                    www.kinofenster.de
125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                            125 Jahre Kino

Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (3/3)

Sexualität und Gewalt sehr weitgehend          Unter dem Eindruck des Zweiten Welt-             die Überlebensgröße des Kinos ausstell-
reglementierte. Ab 1934 leistete der Code      kriegs bildete sich Mitte der 1940er-Jahre       ten. Ihren Höhepunkt fand diese Strategie
so der Entwicklung eines familienkompa-        in Italien eine bedeutende Erneuerungsbe-        in Monumentalfilmen wie Ben Hur (1959).
tiblen Unterhaltungskinos Vorschub, das        wegung des Kinos: Neorealistische Filme          Den Geschmack der Jugend trafen diese
unausgeschöpfte        Zuschauerpotenziale     wie Vittorio de Sicas Fahrraddiebe (1948)        Produktionen freilich kaum und auch das
erschloss. In der Wirtschaftskrise erlebte     besetzen mit ihrem semidokumentari-              erwachsene Publikum konnten sie nicht
das Studiosystem so seine Glanzzeit, was       schen Ansatz eine Gegenposition zu den           dauerhaft zurückerobern.
auch in aufwendigen Technicolor-Filmen         eskapistischen Studioproduktionen und
wie Robin Hood, König der Vagabunden           inspirierten Filmschaffende in aller Welt. In       Trailer: Ben-Hur
(1938) oder Der Zauberer von Oz (1939)         den beiden deutschen Staaten, vor allem          https://youtu.be/NR1ZHKw09n8
Ausdruck fand.                                 jedoch in der Bundesrepublik, aber auch
                                               im ehemals besetzten Nachbarland Frank-          Die Kinokrise erreichte die westeuropä-
    Trailer: The Adventures of Robin Hood      reich, offenbarte sich in den Nachkriegsjah-     ischen Länder zeitversetzt ab Ende der
https://youtu.be/BpqR6Ca-LL8                   ren bald eine erstaunliche ästhetische und       1950er-Jahre. In Frankreich wurde das Fil-
                                               personelle Kontinuität zur Filmproduktion        mestablishment durch eine junge Genera-
Der Sprechfilm verstärkte Nationalisie-        während des Krieges. Anfang der 1950er-          tion von Filmemacher/-innen um François
rungstendenzen des Kinos, und bewirkte         Jahre erzielte das Kino dort wie in fast allen   Truffaut aufgeschreckt, überwiegend frü-
in einigen Ländern sogar eine ethnische        Ländern enorme Besucherzahlen.                   here Filmkritiker, die ihre Kinobildung in
Aufsplitterung der Produktion wie in Indi-                                                      Pariser Cinéphilen-Kreisen erworben hat-
en. Ein Grund dafür war jedoch auch, dass      Krise und Erneuerung                             ten. Die mit niedrigem Budget außerhalb
totalitäre Regime dem Kino besonderes Au-      In den USA hingegen setzte ab den späten         der Ateliers realisierten Filme der Nouvelle
                                                                                                                                                 6
genmerk schenkten. Im nationalsozialisti-      1940er-Jahren der Niedergang des Studio-         Vague, in denen sich die gesellschaftlichen     (77)
schen Deutschland machten explizite Pro-       systems ein. Ein Hauptgrund dafür war das        Umbrüche der 1960er-Jahre bereits ankün-
pagandafilme dabei einen relativ kleinen       Aufkommen des Fernsehens. Die großen             digten, trafen den rebellischen Nerv der
Teil der Kinoproduktion aus. Die staatlich     Studios reagierten auf die Herausforderung       Zeit. Das propagierte Autorenkonzept regte
gelenkte Filmindustrie stellte vor allem Un-   nicht zuletzt, in dem sie durch teure Farbfil-   in den folgenden Jahren weltweit ähnliche
terhaltungsfilme her, die den zum "Volks-      me im neuen breiten Cinemascope-Format           Bewegungen an: In Brasilien, Polen, der
körper" gehörenden Menschen Ablenkung
bieten sollten. 1938 wurden Jüdinnen und
Juden Besuche von öffentlichen und all-        Der französische Regisseur François Truffaut
gemeinen Bühnen- und Kinovorstellungen
verboten. Das Ziel, mit dem UFA-Konzern
Hollywood Paroli zu bieten, wurde freilich
schon deshalb verfehlt, weil der Ausschluss
vor allem jüdischer Filmkünstler/-innen
auch zu einer massiven Talentabwande-
rung führte. Viele fanden als Emigrant/-in-
nen Zuflucht in Hollywood und trugen dort
nicht nur maßgeblich zum Entstehen des
Film Noir bei, sondern auch zum Kampf ge-
                                               © ddp/Everett Collection

gen Hitler-Deutschland während des Krie-
ges. Billy Wilders antideutscher Kriegsfilm
Fünf Gräber bis Kairo (1943) ist dafür nur
ein Beispiel von vielen.

    Trailer: Five Grave to Cairo
https://youtu.be/K8-1gYu-4dk

                                                                                                                           www.kinofenster.de
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Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                125 Jahre Kino

Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (3/3)

ČSSR und den USA ebenso wie in beiden          visuelle Gestaltung, der kaum noch Gren-
deutschen Staaten. Auch wenn die Neuen         zen gesetzt sind. Besonders deutlich wird
Wellen oft kurzzeitige Phänomene waren         dies in den Superhelden-, Sci-Fi- und Fan-
wie in der DDR, wo ein Großteil der Film-      tasy-Spektakeln, die seit der Jahrtausend-
jahrgänge 1965/66 verboten wurde, verän-       wende das Mainstreamkino zunehmend
derten sie die Ästhetik und die Sprache des    dominieren und die in modernen 3D-fä-
Kinos dauerhaft, woran auch technologi-        higen Multiplexkinos ideale Aufführungs-
sche Neuerungen wie leichte Kameras und        bedingungen finden. Digitale Technologie
mobile Tonaufnahmegeräte ihren Anteil          hat aber selbstverständlich längst auch im
hatten.                                        Independent-Kino Einzug gehalten – und
   Weltweit schärfte das Autorenkino das       sei es in Gestalt kleiner Digicams. Vor allem
Bewusstsein für die Bedeutung einer le-        aber hat die Digitalisierung den Zugang zu
bendigen Kinokultur und der Filmgeschich-      Filmen grundlegend verändert: Filme sind
te. In der Bundesrepublik äußerte sich dies    heute dank einer ständig wachsenden Zahl
etwa in der Gründung Kommunaler Kinos          an Streamingdiensten nahezu ständig,
oder dem Ausbau der Filmförderung und          überall und in einer kaum überschauba-
der Filmbildung – aber auch in den neuen       ren Vielfalt verfügbar. Sie können genauso
Programmkinos, die sich nicht zuletzt an       auf dem Flachbild-TV, dem Notebook, dem
ein studentisches Publikum richteten und       Smartphone oder eben im Kinosaal gese-
die auch dem im Westen allenfalls auf Fes-     hen werden. Die kollektive Kinoerfahrung
tivals beachteten postkolonialen Kino ein      wird so zusehends durch einen individuali-
                                                                                                                                    7
Forum boten. Das in den 1960er-Jahren          sierten Filmkonsum abgelöst. Nostalgiker/-                                          (77)
fast überall in den westlichen Staaten ein-    innen mögen darin eine Verarmung sehen.
setzende „Sterben“ der großen Ein-Saal-        Tatsache ist aber auch: Die Digitalisierung
Kinos konnte dieses erstarkte Interesse am     eröffnet jetzt schon vielfältige Möglichkei-
Film allerdings nicht aufhalten. Einen nach-   ten der Teilhabe und des Empowerments –
haltigeren   kommerziellen     Aufschwung      so zeugen unzählige Amateurclips im Inter-
nahm das Mainstreamkino erst wieder, als       net von einer Demokratisierung des Filme-
sich, ausgelöst durch Kassenerfolge des        machens.
New-Hollywood-Kinos wie Der weisse Hai
(1975), ab den späten 1970er-Jahren der        Autor:
moderne Blockbuster als Erfolgskonzept         Jörn Hetebrügge, Filmjournalist und
erwies. Unterstützt durch aggressive Ver-      kinofenster.de-Redakteur, 23.04.2021
marktungsstrategien, erreichte Hollywood
nun endlich auch ein junges Publikum.

   Trailer: Jaw
https://youtu.be/U1fu_sA7XhE

Das Kino in digitalen Zeiten
Mit den 1990er-Jahren nahm ein Prozess
an Fahrt auf, der das Kino so tiefgreifend
und umfassend wie kein anderes Ereignis
seit den Lumières verändert: Die Digitali-
sierung. Im Bereich der Produktion ermög-
lichen seither immer perfektere computer-
basierte Bildgenerierungsverfahren eine

                                                                                                           www.kinofenster.de
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Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                                                                           125 Jahre Kino

                                                Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (1/3)

                                                Von der Jahrmarktattraktion
                                                                                                                                              mische Alltagsszenen, Zaubertricks. Die
                                                                                                                                              Tableau-artige Frontalperspektive dieser

                                                zur stummen Erzählkunst
                                                                                                                                              Filme mit statischer Kamera war weniger
                                                                                                                                              technischen Hürden gezollt als den Seh-

                                                Die Reise zum Mond (1903) und
                                                                                                                                              gewohnheiten des Varieté-Publikums. Das
                                                                                                                                              Kino mit seinen illusionistischen Möglich-

                                                Der Letzte Mann (1924)
                                                                                                                                              keiten erwies sich als ganz besonders ge-
                                                                                                                                              eignet, den Bühnenzauber zu verstärken.
                                                                                                                                              Georges Méliès, der seine Filme bereits
                                                Die Stummfilmära dauerte kaum länger als 30 Jahre. Zwischen 1895 und 1927                     international vertrieb, setzte mit den Trick-
                                                wandelte sich das Kino von einer Kuriosität zu einer neuen Kunstform.                         techniken und visuellen Effekten in seinem
                                                                                                                                              viertelstündigen Fantasyfilm Die Reise zum
                                                                                                                                              Mond (1902) Maßstäbe: Überblendungen,
                                                Unter den zahlreichen Apparaten des spä-        Sammelsurien aus Militärparaden, Städte-      Doppelbelichtungen, Split Screens, Stopp-
                                                ten 19. Jahrhunderts, die zur Herstellung       und Naturaufnahmen. Für die Gestaltung        tricks. Handkoloriert war der Film, also in
                                                bewegter Bilder erfunden wurden, hat sich       ihrer Kurzfilmprogramme kauften sich die      Farbe – wie geschätzt achtzig Prozent der
                                                der Kinematograph der Gebrüder Lumière          Schaubudenbesitzer/-innen Filmrollen zu-      zeitgenössischen Filme. Schwarzweiß ist
                                                durchgesetzt und damit einen Standard           sammen. Ein Film und sein Preis bemaßen       das Kino in seinen Anfängen nicht gewesen,
                                                für das Kino als kulturelle Praxis etabliert:   sich in Metern, nicht in Minuten.             und auch nicht stumm: vor, neben oder
                                                Im Gegensatz zum Kinetoskop von Thomas                                                        hinter der Leinwand traten Kinoerklärer/-
                                                Edison sollte nicht allein in einen Guckkas-    Filme als Bühnennummer                        innen,   Pianist/-innen,   Orchester    oder
                                                                                                                                                                                                        8
                                                ten geschaut werden, sondern als Publi-         Rasch fand das Kino einen Platz in festen     Schauspieler/-innen in Interaktion mit den               (77)
                                                kum gemeinsam auf eine Leinwand. In den         Spielstätten, zunächst in den Varieté-        bewegten Bildern und dem Publikum.
                                                ersten Jahren ab 1895 war das "Wunder des       Theatern der europäischen Metropolen.
                                                bewegten Bildes" als solches Attraktion ge-     Als Programmteile eines abendfüllenden        Der Filmpionier Georges Méliès in
                                                nug: Fahrende Schausteller/-innen zeigten       Gesamtspektakels bildeten Kurzfilme dort      seinem Stummfilm UN HOMME DE TÊTES,
                                                auf Jahrmärkten und in Wanderkinos bunte        erste fiktionale "Genres" heraus: Gags, ko-   1898

                                                Illustration zu einer Kinematopgraphen-Vorführung 1897

                                                                                                                                                                                       © StudioCanal
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                                                                                                                                              Kino für die Massen
                                                                                                                                              Ab 1905 emanzipierte sich das Kino in ra-
                                                                                                                                              santem Tempo mit eigenen Vorführräumen
                                                                                                                                              in den Großstädten: Die amerikanischen
                                                                                                                                              Nickelodeons und ihr europäisches Pen-
                                                                                                                                              dant der Ladenkinos waren wenig kom-
                                                                                                                                              fortable Säle, der Eintritt kostete etwa so
                                                                                                                                              viel wie ein kleiner Laib Brot und nur ein
                                                                                                                                              Fünftel eines Besuchs im Varieté-Theater.
                                                                                                                                              So machten sie das Kinoerlebnis einem

                                                                                                                                                                         www.kinofenster.de
125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                         125 Jahre Kino

Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (2/3)

städtischen und proletarischen Massenpu-

                                                                                                                                © picture alliance/
blikum zugänglich. In den dunklen Räumen

                                                                                                                                United Archives
wurde Alkohol getrunken, geraucht und
eng beisammen gesessen. Die Behörden
sahen in den Ladenkinos die öffentliche
Moral bedroht und versuchten der schwer
kontrollierbaren Wirkung des Visuellen auf
die alkoholisiert-erregten Sinne mit Zen-
sur und Ausschanklizenzen beizukommen.
Die Filmthemen entwickelten sich von der
theatral-performativen     Bühnennummer
weiter zu narrativen Genres mit längeren,
in sich geschlossenen Handlungen. Aben-
teuerfilme, Komödien, Western, aber auch
soziale Dramen und Melodramen sprachen
die Bedürfnisstruktur eines nun großen-
teils weiblichen Publikums an. Insbesonde-
re in den USA verlangten die Nickelodeons      Eine Kinovorstellung im Jahr 1913
nach immer mehr und immer längerem
Erzählstoff; der filmische Einakter entwi-     industrie nun in die Organisationsformen      sich über den Leinwandrand hinaus. Eine
ckelte sich zum Multi-Shot-Film mit wech-      industrieller Massenproduktion. In Arbeits-   homogene fiktive Welt entstand so im Kopf
                                                                                                                                                       9
selnden Kamerapositionen und Szenen, die       teilung wurden hier in Länge, Form und In-    der Zuschauenden, die sich ganz dem Sog                  (77)
Kinoerklärer/-innen ersetzten Zwischenti-      halt hoch standardisierte Filmträume am       des Imaginären hingeben konnten. Als
tel. In dieser Zeit der rasanten Expansion     Fließband produziert. Zur ökonomischen        weltweit verstehbares "Esperanto des Au-
wirkten auch viele Frauen in den zentralen     Wertsteigerung der Ware Film übertrug der     ges" avancierte das Kino zur universellen
Gewerken der Filmherstellung – etwa als        aus Deutschland stammende Studioboss          Kunstform des 20. Jahrhunderts schlecht-
Drehbuchautorinnen, Regisseurinnen oder        Carl Laemmle das vom Theater bekannte         hin, die die menschliche Wahrnehmung
auch als Cutterinnen.                          Starsystem auf das Kino, indem er 1910 Flo-   grundlegend verändern sollte.
                                               rence Lawrence zum strahlenden Gesicht
Eine neue Industrie                            seiner Gesellschaft IMP machte.               Kulturerlebnis für das
Hinter der Leinwand wurde der Kampf                                                          Bürgertum
um die Kontrolle über das Filmerlebnis            Trailer: Intoleranz (Intolerance)          Zwischen 1905 und 1913 verzwölffachte
zwischen den Kinobetreiber/-innen und          https://youtu.be/QaI3wBPIxx8                  sich allein in Berlin die Zahl der Kinosäle
den Produktionsfirmen bis etwa 1907 zu-                                                      von 16 auf 206. Knapp 20 Jahre nach der
gunsten letzterer entschieden. Die Filme       Für das zur Perfektion getriebene ameri-      ersten Vorführung waren Kinos in deut-
wurden nicht mehr an die Kinos verkauft,       kanische Erzählkino ist David W. Griffiths    schen Großstädten bereits so etabliert,
sondern in einem regulierten Verleih-Kreis-    monumentales dreistündiges Epos Into-         dass die Mehrheit der Jugendlichen dort
lauf ausgewertet. In den USA wehrten sich      leranz (1916), mit Produktionskosten von      über Filmerfahrung verfügte. Abendfüllen-
unabhängige Filmemacher/-innen gegen           rund zwei Millionen Dollar für lange Zeit     de Spielfilme liefen nun in Kinopalästen
die rigorosen Marktbeherrschungsmetho-         der mit Abstand teuerste Film weltweit,       mit mehr als 1000 Plätzen und eigenem
den der Motion Picture Patents Company.        ein vollendetes Beispiel: Parallelmontage,    Hausorchester. Kino wandelte sich zu ei-
Sie zogen ab 1910 mit ihren Studios an die     Schuss-Gegenschuss-Verfahren,     Kamera-     nem Kulturerlebnis für bürgerliche Schich-
Westküste und gründeten Hollywood. Mé-         fahrten, Variation der Einstellungsgrößen –   ten. Entsprechend sicherte die künstliche
liès‘ Filmstudio, eines der ersten in Frank-   sämtliche bahnbrechenden Erfindungen          Verknappung der Ware Film durch exklusi-
reich, war der Handwerksbetrieb eines          dieser Jahre dienten dazu, räumliche Kon-     ve Auswertungsfenster den Palastbesitzern
kreativen Tüftlers gewesen. Die ökonomi-       tinuität zu etablieren und die Illusion zu    eine kaufkräftige Klientel. Die Ladenkinos
sche Expansion des Kinos zwang die Film-       generieren, der filmische Raum erstrecke      verkamen zu Nachspielstätten für die

                                                                                                                      www.kinofenster.de
125 Jahre Kino - Kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                          125 Jahre Kino

Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (3/3)

ärmere Bevölkerung. In Deutschland hatte
Oskar Messter bereits 1903 eine Produk-
tionsfirma gegründet. Lange dominierte
aber die französische Firma Pathé auch
den deutschen Markt, nach dem Ersten
Weltkrieg fluteten amerikanische Produkti-
onen die deutschen Kinos. General Luden-
dorff hatte bereits während des Krieges die
"überragende Macht des Bildes und Films
als Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel"
erkannt und ließ 1918 die UFA gründen.

   Trailer: Der letzte Mann
(The last Laugh)
https://youtu.be/Da6U9FOvzmY

Der Aufschwung der deutschen Filmindust-
rie gipfelte 1922 in einem Jahresrekord von
474 Spielfilmen. Ganz auf die narrative und
expressive Kraft der Bilder setzte Friedrich
Wilhelm Murnaus Meisterwerk Der letzte
                                                                                                              10
Mann (1924), der mit wenigen, geschickt in                                                                   (77)
die Geschichte eingebundenen Zwischen-
titeln auskam. Seine "entfesselte Kamera",
von Kameramann Karl Freund auf ein Fahr-
rad und sogar auf eine Seilbahn montiert,
bewegt sich ohne Stativ im Raum, erzählt
aus der subjektiven Perspektive des Pro-
tagonisten und findet für dessen Gefühle
originär filmische Ausdrucksmittel. Kino,
schrieb der französische Filmkritiker André
Bazin zwanzig Jahre später, ist auch eine
Sprache.

Autorin:
Dr. Almut Steinlein, freie Autorin,
Lehrkraft und Dozentin, 23.04.2021

                                                                                     www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                    125 Jahre Kino

Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (1/3)

                                                                                        weltweit gefeierten Filme des italieni-
                                                                                        schen Neorealismus, allen voran Vittorio
                                                                                        de Sicas Fahrraddiebe (1948), verfolgten
                                                                                        ab Mitte der 1940er-Jahre geradezu eine
                                                                                        Flucht zurück in die Realität. Zwischen
                                                                                        beiden Filmen liegt eine spannende Ent-
                                                                                        wicklung, die eng verbunden ist mit der
                                                                                        technischen Neuerung des Tonfilms.
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                                                                                           Trailer: Der Zauber von Oz
                                                                                        https://youtu.be/Ws6QT5q3YeM

                                                                                        Musik, Tanz und Technicolor
                                                                                        Die mit Der Jazzsänger (1927) begonne-
                                                                                        ne und um 1933 abgeschlossene Einfüh-
                                                                                        rung der Tonspur bedeutete eine Kinore-
                                                                                        volution. Zugleich führte sie Hollywood
                                                                                        aus einer Zeit der Krise, in der die Publi-
                                                                                        kumseinnahmen zwischenzeitlich um ein

Zwischen Eskapismus und
                                                                                        Drittel zurückgegangen waren. Allerdings
                                                                                        begünstigte das teure und aufwendige
                                                                                                                                        11

Realismus
                                                                                        Verfahren die großen Studios. Während          (77)
                                                                                        sich unabhängige, Poverty-Row-Studios

Der Zauberer von Oz (1939)
                                                                                        genannte Firmen wie Monogram Pictures
                                                                                        auf B-Filme für Doppelvorstellungen spe-

und Fahrraddiebe (1948)
                                                                                        zialisierten, puschten MGM, Paramount
                                                                                        und Fox Hollywoods globale Dominanz.
                                                                                        Film wurde jetzt wirklich zur perfekt
Während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs bietet                      durchorganisierten Industrie, gestützt
das Kino vor allem Ablenkung. Erst danach wendet es sich                                von Banken und Großkapital, die von den
verstärkt der Wirklichkeit zu. Die Filme Der Zauberer von Oz (1939)                     Produzenten Rendite erwarteten.
und Fahrraddiebe (1948) stehen exemplarisch dafür.
                                                                                           Trailer: Schneewittchen
                                                                                        https://youtu.be/Uv6U6Zdkiug
Nie strahlte die "Traumfabrik" heller als    träumt sich die vom Kinderstar Judy Gar-
in der dunklen Zeit von Weltwirtschafts-     land gespielte Farmerstochter Dorothy      Das geringste Risiko bildeten familien-
krise und Zweitem Weltkrieg. Darin be-       in ein Zauberreich „jenseits des Regen-    freundliche Unterhaltungsfilme, die nun
steht kein Widerspruch: Die „Goldene         bogens“. Wie durch Magie wechselt der      in großer Zahl, aber auch in einer bisher
Ära“ Hollywoods mit ihren großen Stu-        Film in diesen Szenen von Schwarz-Weiß     ungekannten Qualität veröffentlicht wur-
dioproduktionen bot einem verunsicher-       zu schillerndem Technicolor – das gerade   den. Disneys erster abendfüllender Zei-
ten Publikum die Flucht aus der Wirk-        eingeführte Farbfilmverfahren verspricht   chentrickfilm Schneewitchen und die 7
lichkeit, nach der es sich sehnte. In Der    auch auf technischer Ebene jene Traum-     Zwerge (1937) und das Südstaaten-Epos
Zauberer von Oz (1939), dem berühmten        welt, in der sich alle Probleme spielend   Vom Winde verweht (1939), das mit rund
Musicalfilm des Hochglanzstudios MGM,        lösen lassen. Wenn Dorothy am Ende wie-    vier Millionen Dollar das dritthöchste
wird diese elementare Funktion des Ki-       der in ihre schwarzweiße Ursprungswelt     Budget aller Hollywoodfilme des Jahr-
nos sogar in der Handlung reflektiert: Aus   zurückkehrt, nimmt sie gänzlich unbe-      zehnts verschlang, sind weitere farben-
der grauen Zeit der Großen Depression        wusst den nächsten Schritt vorweg: Die     prächtige Meilensteine dieser Zeit.

                                                                                                                 www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                       125 Jahre Kino

Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (2/3)

Unmittelbar auf den Tonfilm zurückzu-         vor "fremden" Einflüssen und Sprachen        hene Regisseure wie Billy Wilder, Robert
führen ist die damalige Popularität des       geschützt werden. In Deutschland wur-        Siodmak und Fritz Lang ersetzten das
Musical-Genres: Zwischen 1929 und 1933        de der Film der Propaganda unterstellt:      sanfte   High-Key-Lighting     Hollywoods
führten Musicals viermal die Jahresliste      Seichte Unterhaltungsfilme suggerierten      erfolgreich durch den ausdrucksstarken
der umsatzstärksten Filme in Nordame-         Normalität, die Propagandawerke Leni         Schattenstil des deutschen Expressio-
rika an. Tanzend und singend machten          Riefenstahls (Triumph des Willens, 1934)     nismus. Auch politisch wandelte sich die
Stars wie Ginger Rogers und Fred Astaire      monumentale Größe. In Italien, wo der fa-    Stimmung. Für Hollywoods zögerliche
(Swing Time 1936), Judy Garland und Mi-       schistische Zugriff weniger stark ausfiel,   Haltung gegenüber den faschistischen
ckey Rooney Träume wahr, stellvertre-         blieb die turbulente Volkskomödie popu-      Regimen bestand nach Wegfall der Ex-
tend für ihr Publikum. Die Stars bildeten     lär. Film wurde zur nationalen Aufgabe       porte kein Grund mehr. Die Widerstands-
das Rückgrat des Studiosystems, oft zu        mit begrenzter Reichweite.                   romanze Casablanca (1942), realisiert
schikanösen Vertrags- und Arbeitsbedin-                                                    vom Ungarn Michael Curtiz mit vielen
gungen. Als Angestellte gehörten sie zur      Die Schatten des Film Noir                   Emigrant/-innen in Haupt- und Nebenrol-
Verfügungsmasse der Studios, wie auch         Mit dem Zweiten Weltkrieg kam der welt-      len, ist das bekannteste Beispiel dieser
die     zahlreichen    Maskenbildnerinnen,    weite Filmaustausch endgültig zum Er-        Entwicklung.
Kostümdesignerinnen und Skriptgirls –         liegen. Dafür besann sich Hollywood auf
die Zurückdrängung von Frauen in Tätig-       alte Stärken. Das 1934 mit dem Hays Code     Rückkehr zur Wirklichkeit
keitsbereiche, die einem traditionellen       eingeführte System der Selbstzensur, das     Die Rückkehr zu einfacheren, oft düste-
Geschlechterbild entsprachen, war eine        eine Phase ruppiger Gangsterfilme und        ren Alltagsgeschichten, geprägt von einer
weitere Folge der Industrialisierung der      frecher Komödien jäh beendet hatte,          zwischenzeitlichen Abkehr von der Farbe,
Filmproduktion. Die Zeit, in der sie in der   verlor allmählich an Wirkung. Die Dar-       hatte selbst in Hollywood auch ökono-
                                                                                                                                           12
Regie und vor allem als Drehbuchautorin-      stellung von Sexualität und Gewalt blieb     mische Gründe. In Europa folgte sie weit       (77)
nen am Aufbau der Branche mitwirkten,         zwar stark eingeschränkt. In der dialog-     mehr noch einem existenziellen Bedürf-
war endgültig vorbei.                         starken, vor allem Geschlechterverhält-      nis. Gegen die falschen Versprechungen
                                              nisse behandelnden Screwball-Komödie         der Vergangenheit setzten nach 1945 vor
      Trailer: Swing Time                     (Die Nacht vor der Hochzeit, 1940) und       allem die italienischen Neorealisten, wie
https://youtu.be/_HwqoBrjrmA                  in den düsteren Großstadtkrimis des Film     Roberto Rossellini (Deutschland im Jah-
                                              Noir (Frau ohne Gewissen, 1944) gelang       re null, 1948) und Vittorio de Sica, eine
                                              es allerdings immer besser, das steife Re-   "Poetisierung der Wirklichkeit".
Film als nationale Aufgabe                    glement durch kunstvolle Andeutungen
Andere Filmnationen konnten mit Hol-          zu umgehen.                                     Trailer: Fahrraddiebe
lywoods Marktmacht nicht mithalten.                                                        https://youtu.be/yz4IKtX3V3s
Zwar sorgte auch in Deutschland, wo die          Trailer: The Hitch-Hiker
Babelsberger UFA das US-Studiosystem          https://youtu.be/XIeFKTbg3Aw                 De Sicas Fahrraddiebe zeigt die Ge-
kopieren sollte, der Musikfilm (Die Drei                                                   schicke eines Arbeitslosen, der für eine
von der Tankstelle, 1930) für Furore.         Beide Genres boten überdies starke Frau-     neue Anstellung als Plakatkleber auf
Aber ein neues Problem belastete die in-      enfiguren, entsprechend einem nicht erst     sein Fahrrad angewiesen ist. Als es ihm
ternationale Verbreitung: Die universale      durch den Krieg gewandelten Rollen-          gestohlen wird, wird er vor den Augen
Bildsprache des Stummfilms hatte ihre         bild. Neben neuen Starregisseuren wie        seines kleinen Sohnes selbst zum Dieb.
Gültigkeit verloren. Die eilige Umstellung    Howard Hawks, Orson Welles und Alfred        Die Geschichte aus dem wahren Leben
auf mehrsprachig abgedrehte Versionen         Hitchcock etablierte sich – nach dem         einfacher Leute, aufgenommen auf den
desselben Films und bald auch die Syn-        Krieg – auch die Schauspielerin Ida Lupi-    Straßen Roms mit Laiendarsteller/-in-
chronisation versprachen Abhilfe, doch        no (The Hitch-Hiker, 1953) als eine der      nen, wurde in der Heimat verhalten auf-
die politischen Vorzeichen hatten sich        wenigen Filmemacherinnen der Studio-         genommen, und veränderte doch das
gewandelt. In einem von Faschismus und        Ära. Zu ihrem bevorzugten Genre, dem         Weltkino. Der Neorealismus beeinflusste
zunehmendem Antiamerikanismus ge-             Film Noir, trugen allerdings wesentlich      die französische Nouvelle Vague, aber
prägten Europa sollte die eigene Kultur       Emigrant/-innen bei. Aus Europa geflo-       auch Länder wie Indien oder Japan – de-

                                                                                                                    www.kinofenster.de
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                                                                        125 Jahre Kino

Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (3/3)

ren Filme umgekehrt in Europa auf den
neu gegründeten Festivals nun erstmals
wahrgenommen wurden. Nach den trost-
losen Jahren von Krieg und Abschottung
begann eine Zeit gegenseitiger Befruch-
tung. Auch Hollywood, wo de Sicas Film
mit einem Auslands-Oscar geehrt wurde,
musste die neuen Realitäten anerkennen:
Das alte Studiosystem gehörte der Ver-
gangenheit an, unabhängigeren Filmen
und Produzenten die Zukunft. Jedenfalls
bis zur nächsten Krise – der Ankunft des
Fernsehens.

Autor:
Philipp Bühler, freier Filmjournalist
und Redakteur, 23.04.2021

                                                                                            13
                                                                                           (77)

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                                                                                                                                                                      125 Jahre Kino

                                                   Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (1/3)

                                                                                                                                          Mit Sandalen gegen
                                                                                                                                          die Kinokrise
                                                                                                                                          Die Filmindustrie geriet nicht allein durch
                                                                                                                                          die Fernsehkonkurrenz unter Druck, son-
                                                                                                                                          dern auch, weil die Studios am progres-
                                                                                                                                          siven Zeitgeist der aufziehenden 1960er-
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                                                                                                                                          Jahre   vorbei   produzierten:    Einstige
                                                                                                                                          Attraktionen wie der Technicolor-Farb-
                                                                                                                                          film waren zur Gewohnheit verblasst.
                                                                                                                                          Hollywood reagierte auf den drohenden
                                                                                                                                          Niedergang zuerst mit audiovisuell über-
                                                                                                                                          wältigenden Musicals (West Side Story,
                                                                                                                                          1961) und Monumentalfilmen. "Sanda-
                                                                                                                                          lenfilme" wie Ben Hur (1959) sollten die
                                                                                                                                          Schauwerte des Kinos betonen und das
                                                                                                                                          zunächst meist schwarz-weiße TV-Erleb-
                                                                                                                                          nis im 4:3-Format in den Schatten stellen.
                                                                                                                                             Technische Innovationen wie die Mehr-
                                                                                                                                          kanal-Tonspur, das Breitwandformat Cine-

                                                   Vom Monumentalfilm zum
                                                                                                                                          mascope und erste 3D-Versuche konnten
                                                                                                                                          das Publikum jedoch nicht nachhaltig bin-
                                                                                                                                                                                          14

                                                   Independent-Kino
                                                                                                                                          den – auch wenn bildgewaltige Leinwan-         (77)
                                                                                                                                          depen wie die britische Großproduktion

                                                   Lawrence von Arabien (1963)
                                                                                                                                          Lawrence von Arabien künstlerische und
                                                                                                                                          kommerzielle Erfolge feierten. Letzterer

                                                   und Easy Rider (1969)
                                                                                                                                          spielte das Dreifache seines Budgets von
                                                                                                                                          rund 15 Millionen US-Dollar ein. Auch die
                                                                                                                                          Sowjetunion partizipierte mit Epen wie
                                                   Ab den 1950er-Jahren macht das Fernsehen dem Kino Konkurrenz.                          Sergei Bondartschuks 432-minütigem His-
                                                   Lawrence von Arabien (1963) und Easy Rider (1969) stehen für zwei ganz                 toriendrama Krieg und Frieden (1966) am
                                                   unterschiedliche Ansätze, mit denen die Filmbranche auf die                            kinematographischen Überbietungswett-
                                                   Herausforderung reagiert.                                                              bewerb. Die Publikumsresonanz schwand
                                                                                                                                          trotzdem. Die jungen Babyboomer inte-
                                                                                                                                          ressierten sich für kritische Gegenwarts-
                                                   Wer vor den 1950er-Jahren Kinobilder be-    dem Hintergrund des abspenstigen Pub-      bezüge, weniger für den Eskapismus der
                                                   staunen wollte, ging ins Lichtspielhaus.    likums. Zwei so unterschiedliche Produk-   Nachkriegszeit. Der Ost-West-Konflikt, der
                                                   Das änderte sich mit dem Aufkommen de s     tionen wie das epische Wüstenabenteuer     Vietnamkrieg und die US-amerikanische
                                                   Fernsehens. Schon Mitte des Jahrzehnts      Lawrence von Arabien (1963) von David      Bürgerrechtsbewegung hatten alte Sche-
                                                   besaß die Hälfte aller US-amerikanischen    Lean und das hippieske Roadmovie Easy      mata auf den Kopf gestellt.
                                                   Haushalte ein TV-Gerät. Auch in Deutsch-    Rider (1969) von und mit Dennis Hopper
                                                   land und anderen Industrieländern avan-     stehen exemplarisch für zwei Strategien,   Die nächste Generation:
                                                   cierte der Fernseher allmählich zum Mas-    mit denen Filmschaffende der Herausfor-    New Hollywood
                                                   senphänomen. 1969 verfolgten geschätzt      derung begegneten.                         Als Mitte
                                                                                                                                                  l ge
                                                                                                                                                     gen die Krise e
                                                                                                                                                                   rwie
                                                                                                                                                                      sen
                                                   500 bis 600 Millionen Menschen weltweit                                                sich Independent-Filme im Zeichen der
                                                   die US-Mondlandung vor den heimischen          Trailer: Lawrence von Arabien           Pop- und Gegenkultur. Die 1967 erfolg-
                                                   oder   in   Schaufenstern   aufgestellten   https://youtu.be/vOlRhGEhG7k               te Ablösung der im "Hays Code" festge-
                                                   "Flimmerkisten". Das Kino wankte vor                                                   setzten Zensur durch ein freiwilliges

                                                                                                                                                                   www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                                                                     125 Jahre Kino

Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (2/3)

Bewertungssystem leistete dem wage-         Internationaler Austausch                    Wirtschaftswunderjahre für hinfällig und
mutigen Kino Vorschub. Arthur Penns         Die Modernisierung des Kinos ging mit ei-    läutete eine Phase der Erneuerung ein.
Gewaltstudie Bonnie und Clyde und           ner stetigen Wechselwirkung nationaler       Finanziell erfolgreich waren die Werke
Mike Nichols' Coming-of-Age-Film Die        Filmografien einher. So war New Holly-       des Neuen Deutschen Films – anders
Reifeprüfung (beide 1967) gelten als        wood direkt von den "Neuen Wellen" des       als die vielen Sex- und Aufklärungsfilme
Initialzündungen des New-Hollywood-         europäischen Autorenkinos beeinflusst,       der Zeit – kaum, dafür aber internatio-
Kinos, das eine formale und inhaltliche     insbesondere von der französischen Nou-      nal gerühmt. Einen wichtigen Anteil am
Modernisierung anstrebte. Das mit einem     velle Vague um Jean Luc Godard (Ausser       Durchbruch der jungen Regiegeneration
Budget von gerade einmal 360.000 Dollar     Atem, 1960) und François Truffaut (Ju-       um Werner Herzog, Rainer Werner Fass-
gedrehte Roadmovie Easy Rider von Den-      les und Jim, 1962), die seinerseits auf      binder und Volker Schlöndorff hatte der
nis Hopper beinhaltet die Neuerungen in     Hollywood-Auteure wie Howard Hawks           Ausbau der Filmförderung in der Bun-
mustergültiger Form: Antihelden brettern    (Rio Bravo, 1959) und den italienischen      desrepublik – speziell die Gründung des
auf ihren Harleys durch den mittleren       Neorealismus rekurrierten und im Ci-         Kuratorium junger deutscher Film (1965).
Westen, schmuggeln, kiffen, pöbeln und      nema Novo eine brasilianische Variante       Das erwachte Bewusstsein für Kinokultur
werden von zeitgenössischer Rockmusik       fanden. Parallel verfolgten das französi-    und Filmkunst spiegelte sich auch in einer
untermalt, die nun gleichberechtigt ne-     sche Cinéma Vérité und das in den USA        verstärkten Filmbildungsarbeit wider, die
ben symphonischen Filmscores stand.         entstandene Direct Cinema das Ziel, den      in den folgenden Jahrzehnten weiterent-
                                            Dokumentargehalt der Filmbilder durch        wickelt und zunehmend vernetzt wurde.
   Trailer: Easy Rider                      einen Rückzug der Regie zu potenzieren,      Die Fördermittel ermöglichten zudem
https://youtu.be/UcNYMz6XCEM                mit der Kamera als Zeugin oder "Fliege an    endlich anspruchsvollere Kinder- und
                                            der Wand". Zusätzlich ermöglichten Film-     Jugendfilme wie Hark Bohms Tschetan,
                                                                                                                                         15
Weitere technische Neuerungen wie die       festivals wie die 1951 lancierte Berlinale   der Indianerjunge (1972). Bis dahin            (77)
flexibleren 16-mm-Kameras mit synchro-      und neue Vertriebsstrukturen kleineren       hatten Minderjährige als Zielgruppe für
ner Tonaufzeichnung erleichterten unab-     Produktionen eine internationale Aus-        die bundesdeutsche Filmindustrie kaum
hängige Filmdrehs. Die neue Generation      wertung. Davon profitierte das asiatische    eine Rolle gespielt. Anders dagegen in der
drehte vermehrt an Locations "auf der       Kino, das ab Mitte der 1950er-Jahre welt-    staatlich organisierten Filmwirtschaft der
Straße" und verknüpfte die stilistische     weit Beachtung fand. Die ästhetische Raf-    DDR, die schon seit den 1950er-Jahren
Wucht mit kernigen Charakterporträts.       finesse von Akira Kurosawa (Rashomon,        gezielt Kinderfilme produziert hatte. Der
An den neu eröffneten Filmschulen und in    1950) und anderen schärfte den Blick         Kinobesuch von Kindern wurde dort auch
Kinoclubs entwickelten die "jungen Wil-     westlicher Cinephiler. Und Mother India      durch stark subventionierte Ticketpreise
den" einen eigenen Zugriff auf das Kino.    (1957) war der erste indische Film, der      gefördert: Die Eintrittskarte kostete für
Obwohl progressiv ausgerichtet, war das     eine Oscar-Nominierung erhielt.              sie in der Regel 25 Pfennige – ein Viertel
Filmschaffen der Zeit jedoch männlich                                                    des Erwachsenentickets.
dominiert. Dennoch gab es neue Frauen-         Trailer: Rashomon                            Während in der Bundesrepublik in den
typen, verkörpert von Schauspielerinnen     https://youtu.be/Zqoyl2p8_lw                 1960ern erste Programmkinos und kom-
Faye Dunaway oder Jane Fonda. Die im                                                     munale Kinos entstanden, sank zugleich
Zuge der Industrialisierung der Kinopro-    Deutsches Kino im Wandel                     die Zahl der Eintritte in den Mainstreamki-
duktion zurückgedrängten Frauen kehr-       Auch die deutsche Kinokultur veränder-       nos rasant. So gingen etwa in München die
ten zaghaft zurück. Vor allem Europäerin-   te sich in den 1960ern. Die DDR erlebte      jährlichen Kinobesuche pro Kopf zwischen
nen wie Agnès Varda (Cleo – Mittwoch        nach dem Mauerbau eine kurze Phase           1956 und 1976 von im Schnitt 23,1 auf 3,3
zwischen 5 und 7, 1961), Lina Wertmüller    der Liberalisierung, die sich in den DEFA-   zurück. Als Reaktion schlossen zahlreiche
(Mein Körper für ein Pokerspiel, 1967)      Produktionen des Jahrgangs 1965/66           große Ein-Saal-Kinos oder wurden zu soge-
oder Mai Zetterling (Die Mädchen, 1968)     deutlich äußerte. Die Filme wanderten        nannten "Schachtelkinos" mit vielen klei-
filmten den Weg für nachfolgende Regis-     allerdings nach einem politischem Kurs-      nen Sälen und winzigen Leinwänden umge-
seurinnen frei.                             wechsel nahezu vollständig "in den Kel-      baut. Das "Kinosterben", das sich zeitgleich
                                            ler". In der BRD erklärte das Oberhause-     in fast allen Industrieländern vollzog, the-
                                            ner Manifest von 1962 "Papas Kino" der       matisierte der US-Film Die letzte Vorstel-

                                                                                                                   www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021
                                                                              125 Jahre Kino

Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (3/3)

lung (1971) von Peter Bogdanovich. Zu
den wenigen bundesdeutschen Produkti-
onen der 1960er-Jahre, die internationalen
Hits wie den frühen James-Bond-Filmen
an der Kinokasse Paroli bieten konnten,
zählten vor allem Karl-May-Adaptionen
wie Der Schatz im Silbersee (1962), der
allein im Inland geschätzte zehn Millionen
Menschen in die Kinos lockte. Der Erfolg
löste nicht nur in der Bundesrepublik eine
Western-Welle aus: Die ostdeutsche DEFA
reagierte mit eigenen "Indianerfilmen"
(Spur des Falken, 1968). Über Europa hi-
naus sorgten aber nicht zuletzt innovative
Italo-Western wie Sergio Leones Für eine
Handvoll Dollar (1964) für Aufsehen – sie
inspirierten wiederum die aufstrebenden
jungen US-Filmemacher/-innen.

   Trailer: Für eine Handvoll Dollar
https://youtu.be/4z9fxf_7Vik
                                                                                                  16
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Die Geburt des Blockbusters
Letztlich waren es paradoxerweise auch
die wenigen spektakulären Kassenerfol-
ge New Hollywoods und anderer Neue-
rungswellen, die das Filmemachen von
Neuem dem Diktat der Studio-Kalkula-
tion unterwarfen: 1975 glückte Steven
Spielberg mit Der weisse Hai ein Som-
merhit, der bereits am Startwochenende
sein Budget von sieben Millionen Dollar
wieder einspielte. Im Geiste ein New-
Hollywood-Film, begründete er zugleich
das moderne Blockbuster-Kino. Bald
darauf verschaffte die VHS-Kassette (Vi-
deo Home System) dem Kino neuerliche
Konkurrenz und ließ weitere cineastische
Subkulturen entstehen.

Autor:
Christian Horn, freier Filmjournalist
in Berlin, 31.05.2021

                                                                         www.kinofenster.de
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                                                                                                                                                               125 Jahre Kino

                                      Hintergrund: Blockbuster und globalisierte Filmkunst (1/3)

                                                                                                                                  der Shoah. Aus ökonomischer Sicht war es
                                                                                                                                  für das Studio Universal eine Prestige-Pro-
                                                                                                                                  duktion mit mittelgroßem Budget (ca. 22
                                                                                                                                  Millionen US-Dollar), wie sie heute von Hol-
                                                                                                                                  lywood-Majors kaum noch produziert wird
                                                                                                                                  (zunehmend allerdings von Streaming-An-
                                                                                                                                  bietern). Der Box-Office-Hit Jurassic Park
                                                                                                                                  war dreimal so teuer und spielte, inklusive
                                                                                                                                  einer Wiederaufführung in 3D (2013), über
© picture-alliance / dpa | dpa-Film

                                                                                                                                  eine Milliarde US-Dollar ein. Mit über 9 Mil-
                                                                                                                                  lionen Kinobesuchen stand der Film auch
                                                                                                                                  in Deutschland mit Abstand an der Spitze
                                                                                                                                  der Jahres-Charts. Sein Erfolg wurde zur
                                                                                                                                  Blaupause für die Blockbuster-Produktion
                                                                                                                                  in Hollywood. Der britische Filmkritiker
                                                                                                                                  David Thomson nennt Jurassic Park des-
                                                                                                                                  halb den "vielleicht einflussreichsten Film
                                                                                                                                  seit Der Jazzsänger" (USA 1927) – also seit
                                                                                                                                  dem ersten Tonfilm.

                                      Blockbuster und                                                                             Hollywood: Vom Event-Block-
                                                                                                                                                                                   17

                                      globalisierte Filmkunst
                                                                                                                                  buster zum Franchise-System                     (77)
                                                                                                                                  Mit Der Weisse Hai (USA 1976), E.T. – Der

                                      Jurassic Park (1993) und
                                                                                                                                  Ausserirdische (USA 1982) sowie der Indi-
                                                                                                                                  ana Jones-Trilogie (USA 1981-1989) hatte

                                      Chihiros Reise ins Zauberland
                                                                                                                                  Spielberg bereits maßgeblich das Ende
                                                                                                                                  der New-Hollywood-Ära und die Etablie-

                                      (2001)
                                                                                                                                  rung des Blockbuster-Systems im US-Kino
                                                                                                                                  mitgeprägt. Familientaugliches Eventkino
                                                                                                                                  wurde in den 1980er- und frühen 1990er-
                                      Jurassic Park begründet 1993 die Ära Visual-Effect-geladener Blockbuster.                   Jahren zunehmend zum Markenkern von
                                      Ab den 1990er-Jahren erwacht aber auch zunehmend das Interesse an                           Hollywood, und immer häufiger wurden
                                      Kinokulturen abseits von Hollywood - wie der Erfolg von Chihiros Reise                      Erfolgsfilme mit Sequels fortgesetzt. Ac-
                                      in die Zauberwelt (2001) zeigt.                                                             tion- und Science-Fiction-Filme nahmen
                                                                                                                                  eine wichtige Rolle ein, hinzu kam in den
                                                                                                                                  1990ern eine Renaissance des Katastro-
                                      In der einzigartig erfolgreichen Filmkar-        Trailer: Schindlers Liste                  phen-Films. Jurassic Park vereint Ele-
                                      riere von Steven Spielberg kann das Jahr      https://youtu.be/1kNFuf_kWQ4                  mente aller drei Genres. Vor allem aber
                                      1993 ohne Zweifel als Höhepunkt gelten.                                                     steht er für eine Revolution der visuellen
                                      Binnen weniger Monate erschienen unter        Der Oscar-Gewinner Schindlers Liste ist       Effekte: Das speziell dafür beauftragte,
                                      seiner Regie zwei historisch bedeutende       ein mehr als dreistündiger Historienfilm      von George Lucas geführte Unternehmen
                                      Filme, die für unterschiedliche ästhetische   in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern. Von       Industrial Light & Magic kombinierte in
                                      und ökonomische Trends jener Kino-Ära         der zeitgenössischen Kritik mehrheitlich      der Postproduktion die Aufnahmen von
                                      standen. Einer der beiden gewann sieben       bewundert, gilt er heute – trotz kritischer   lebensgroßen, beweglichen Dinosaurier-
                                      Oscars (1994). Der andere wiederum wurde      Debatten über Ethik und historische Ge-       Figuren, sogenannten Animatronics, mit
                                      zum bis dato größten kommerziellen Kino-      nauigkeit der Darstellung – als Klassiker     computergenerierten Animationen (CGI).
                                      erfolg aller Zeiten.                          für die filmische Auseinandersetzung mit      Die seinerzeit verblüffend realistisch

                                                                                                                                                            www.kinofenster.de
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                                                                                                                           125 Jahre Kino

Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (2/3)

wirkenden Effekte schufen Bilder, die das      Am Beispiel von Deutschland: 1993 kostete       sen. In diesem Kontext wurde der Begriff
Publikum so noch nicht gesehen hatte.          ein durchschnittliches Kinoticket 6,33 DM       "Weltkino" populär. Auch marginalisierte
                                               (Deutsche Mark) in Ostdeutschland und           Gruppen verschafften sich auf Festivals
   Trailer: Jurassic Park                      9,36 DM in Westdeutschland. Für das ost-        Aufmerksamkeit, zum Beispiel das indige-
https://youtu.be/PJlmYh27MHg                   deutsche Publikum war das, verglichen mit       ne Kino (imagineNATIVE Film and Media
                                               den staatlich subventionierten Ticketprei-      Arts Festival in Toronto, seit 1998) oder
"Mr. Spielberg, Sie haben das Unmögliche       sen in der DDR (rund eine Mark), ein enor-      LGBTQI-Filmschaffende (Hong Kong Les-
geschafft", erinnert sich ein nostalgischer    mer Anstieg. Das durchschnittliche Brut-        bian & Gay Film Festival, seit 1989; Inside
YouTube-User. "Sie haben die Dinosaurier       tomonatseinkommen in Westdeutschland            Out Film and Video Festival in Toronto, seit
zum Leben erweckt." Als Bombast-Pro-           war damals 54 Prozent höher, die Arbeits-       1991). Filmemacherinnen waren in der In-
duktion, die technisch virtuos hergestellte    losigkeit im Osten lag bei 15,4 Prozent. Bis    dustrie weiterhin unterrepräsentiert, aber
Bilder für die Fantasien (meist männlicher)    2003 – nach der Einführung des Euro – er-       einige, wie Jane Campion (Das Piano, NZL/
Jugendlicher findet, inspirierte Juras-        höhten sich die Preise auf 5,36 Euro (Ost)      AUS/F 1994) oder Claire Denis (Beau Tra-
sic Park zahlreiche CGI-Blockbuster der        und 5,78 Euro (West).                           vail, F 1999), konnten sich im Arthouse-
folgenden Dekaden: die Prequel-Trilogie           Nach der Einheit gingen in den ostdeut-      Bereich als Regiestars etablieren. Mit der
von George Lucas' Star Wars (USA 1999-         schen Bundesländern zunächst weniger            Popularität von Filmen wie Fahrenheit 9/11
2005), Peter Jacksons Fantasy-Reihe Der        Menschen ins Kino. Trotz bleibender öko-        begann eine bis heute andauernde Welle
Herr der Ringe (USA/NZL 2001-2003), die        nomischer Ungleichheiten näherte sich der       von Kinodokumentarfilmen, nachdem die
Spielzeug-Adaptionen Transformers (USA         Publikumszuspruch aber schnell dem west-        Gattung zuvor primär im Fernsehen gezeigt
2007-2018) sowie die Superhelden-Filme         deutschen Level an: Zwischen 1993 und 2003      worden war.
seit der Jahrtausendwende. Wie zuvor           stiegen die jährlichen Kinobesuche pro Kopf
                                                                                                                                               18
schon die erste Star Wars-Trilogie wurde       von 1,1 (Ost) und 1,7 (West) auf 1,9 und 2,0.       Trailer: The Piano                         (77)
auch Jurassic Park zum crossmedialen           Dabei machten die jungen Altersgruppen          https://youtu.be/cyTn4XIYH8M
Franchise ausgebaut: Neben der Filmrei-        (10-29 Jahre) in den 1990er-Jahren jährlich
he – bisher fünf Filme und ein Kurzfilm, das   etwa 60 Prozent des Publikums aus, in man-      In Südamerika und Afrika (unter anderem:
nächste Sequel kommt 2022 – entstanden         chen Jahren noch deutlich mehr. Die Zahl        Nollywood-Boom in Nigeria) setzte in den
Videospiele, Spielsachen, Spin-Off-Bücher      der Leinwände pro 100.000 Einwohner/-           1990er-Jahren eine neue Massenproduk-
und eine Netflix-Animationsserie (USA          innen stieg von 5,0 (West) und 2,8 (Ost) auf    tion von Filmen ein. Den Weg in die kom-
2020-2021). Damit hat Jurassic Park das        6,0 und 7,0. Die neuen Multiplex-Kinos mit      merzielle Filmauswertung des globalen
heute dominante ökonomische Modell der         moderner Projektions- und Soundtechnik          Nordens fanden aber vor allem Werke aus
Hollywood-Studios mitgeprägt.                  sowie Polstersitzen verhalfen der Kinowirt-     asiatischen Filmkulturen. Indische Bolly-
                                               schaft zu einem Boom-Jahrzehnt. Für die         wood-Filme (In guten wie in schweren Ta-
Kinowirtschaft nach 1990:                      Verleihe kamen steigende Umsätze auf dem        gen, 2001) erreichten über den DVD-Markt
Multiplex-Kinos und steigende                  Video- und DVD-Markt hinzu.                     Fans in Europa, Werke aus dem Iran (Der
Preise                                                                                         Geschmack der Kirsche, 1997) oder Hong-
Den Erfolg von Jurassic Park begünstig-        Diversifizierung der Industrie                  kong (In the Mood for Love, 2000) waren
ten veränderte globale Rahmenbedingun-         und globalisierte Filmkunst                     Stammgäste auf den A-Festivals, Animes
gen. Nach dem Ende des Kalten Krieges          Zur gleichen Zeit diversifizierten sich         aus Japan (Ghost in the Shell, 1995) wur-
gab es weniger Barrieren für die interna-      Produktionsbedingungen und Distributi-          den in der westlichen Popkultur rezipiert.
tionale Distribution, in den meisten post-     onswege. Für Independent-Filme, zuvor           Einen nachhaltigen und einflussreichen
sozialistischen Staaten wurde auch die         meist abseits der Branchen-Strukturen           globalen Durchbruch der Animes bewirk-
Kinowirtschaft dem westlichen Modell an-       produziert, entstand eine professionelle        te dann Chihiros Reise ins Zauberland
geglichen. Kinos mit einem Großraumsaal        Nische innerhalb der Filmindustrie und          (2001).
wurden zunehmend von Multiplex-Kinos           ein eigener Markt. Eine steigende Anzahl
mit mehreren Sälen verdrängt; zudem stie-      an Filmfestivals und das Modell internati-         Trailer: Chihiros Reise ins Zauberland
gen seit Mitte der 1990er-Jahre in vielen      onaler Ko-Produktionen sorgten für mehr         https://youtu.be/ffnNmR6lBKY
Ländern kontinuierlich die Ticketpreise.       Diversität im internationalen Verleihwe-

                                                                                                                         www.kinofenster.de
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