125 Jahre Kino - Kinofenster.de
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Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Am 25. April 1896 eröffnete an der Berliner Pracht- straße Unter den Linden die erste feste Abspielstät- te für Filme in Deutschland. Das Jubiläum nimmt kinofenster.de zum Anlass für eine Zeitreise durch 125 Jahre Kinogeschichte: Die Einleitung gibt einen Überblick von den Anfängen der Kinematografie bis zur digitalen Gegenwart. Die Hintergrundtexte des Dossiers werfen einen Blick auf einzelne Epochen, reflektieren die aktuelle Situation und erklären das Dispositiv Kino. Ein Interview widmet sich zudem der Zukunft des Kinos. Zum Thema finden Sie dar- über hinaus Unterrichtmaterial ab der 7. Klasse. © picture-alliance / akg-images
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Inhalt EINLEI T U N G HINTERGRUND 04 125 Jahre Schaulust – 17 Blockbuster und globali- eine kurze Reise durch sierte Filmkunst die Geschichte des Kinos Jurassic Park (1993) und Chihiros Reise ins HINTER G R U N D Zauberland (2001) 08 Von der Jahrmarkt attraktion zur stummen HINTERGRUND Erzählkunst 20 Immersion und Unmittel- Die Reise zum Mond barkeit (1903) und Der Letzte Avatar – Aufbruch Mann (1924) nach Pandora (2009) und Victoria (2015)E S P R E C H U N G HINTER G R U N D HINTERGRUND 11 Zwischen Eskapismus 23 Das permanente Festival – und Realismus zur Gegenwart des Kinos Der Zauberer von Oz (1939) und INTERVIEW Fahrraddiebe (1948) 25 „Das Kino hat sich immer wieder erneuert“ Alfred HINTER G R U N D HolighausB ES P R E C H 14 Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino HINTERGRUND Lawrence von Arabien 27 Exkursion in die Höhle – (1963) und Das Dispositiv Kino Easy Rider (1969) www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino ANREGUN G E N 30 Außerschulische Filmarbeit zum Thema 125 Jahre Kino UNTERR I C H T S M A T E R I A L 35 Arbeitsblatt 125 Jahre Kino - DIDAK T I S C H - M E T H O D I S C H E R K O M M E N T A R - SIEBE N A U F G A B E N 55 Filmglossar 73 Links und Literatur 77 Impressum 3 (77) www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (1/3) Aufnahmen oder kurze gestellte Szenen, die zumeist mit starrer Kamera gefilmt waren, wenn sie nicht spielerisch die Möglichkeiten der Apparatur vorführten – und dienten vor- rangig der Befriedigung der Schaulust. Kurzfilm: Arrival Of A Train At La Ciotat https://archive.org/details/11- arrival-of-a-train-at-la-ciotat Die Entwicklung zum Erzählkino kündigte sich erst mit Filmen wie Georges Méliès‘ Die Reise zum Mond (1902) und Edwin S. Porters Der grosse Eisenbahnraub (1903) © Studiocanal an. Maßgeblich angetrieben wurde sie durch das Aufkommen einfacher ortsfester Kinosäle in Großstädten, die in der Arbei- terschaft enormen Zuspruch fanden. Der Bedarf an Filmen wuchs, und der Aufbau 125 Jahre Schaulust – eine eines Verleihsystems und eines internati- 4 onalen Vertriebs machten es nun lukrativ, (77) kurze Reise durch die Geschichte aufwändiger zu produzieren. Zensurbe- strebungen animierten Filmunternehmen des Kinos zudem, auf bewährte Elemente der bür- gerlichen Kultur zurückzugreifen, vor allem Der Einführungstext widmet sich den zentralen Wendepunkten und des Theaters, um so gezielt auch wohlha- Entwicklungen in der 125-jährigen Geschichte des Kinos. bendere Kreise anzusprechen – ab 1910 boten in den Metropolen Filmpaläste mit eigenen Orchestern dafür einen adäqua- A m 25. April 1896 eröffnete in Berlin die erste feste Abspielstätte für Filme in Deutschland. In den 125 Jahren seither Vom Varieté zum Filmpalast Ende des 19. Jahrhunderts lag das Kino qua- si in der Luft: Gleich mehrere Ingenieure in ten Rahmen. Der Theatralik des damaligen Kinos begegneten derweil nicht zuletzt US- amerikanische Regisseur/-innen wie David hat das Kino nicht nur im deutschsprachi- Europa und den USA entwickelten damals W. Griffith und Lois Weber, indem sie die gen Raum, sondern global eine stete und unabhängig voneinander Apparate zum Ausformulierung spezifischer filmästheti- oftmals rasante Entwicklung erlebt, die Filmen und Projizieren bewegter Bilder. Als scher Mittel voranbrachten. Vor allem mit keineswegs geradlinig und auch nicht in al- Geburtsstunde des Kinos gilt gemeinhin die neuartigen Montagetechniken trugen sie len Ländern parallel verlief. Sie war ebenso erste Vorführung des Cinématografen der entscheidend dazu bei, die bis heute wirk- durch technische Innovationen wie durch Brüder Auguste und Louis Lumière vor zah- samen Grundzüge des illusionistischen wirtschaftliche, gesellschaftliche oder po- lendem Publikum am 28. Dezember 1895 im narrativen Films zu etablieren. litische Prozesse beeinflusst. Gleichwohl Pariser Grand Café, bei der unter anderem lassen sich Wegmarken festhalten, die das Die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von Propaganda und Kino maßgeblich geprägt haben – sowohl La Ciotat gezeigt wurde. Der narrative As- Unterhaltungskunst in ästhetischer und ökonomischer Hinsicht pekt war in den anfangs nur wenige Sekun- Der Erste Weltkrieg veränderte das Kino als auch auf der Ebene der Rezeption und den dauernden Filmen, die in Varietés oder nachhaltig. Herrschende erkannten im des Publikumsverhaltens. auf Jahrmärkten präsentiert wurden, kaum Medium ein ideales Mittel, das Volk zu be- ausgebildet. Sie zeigten dokumentarische einflussen: Propagandafilme über die www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (2/3) © picture alliance/Glasshouse Images/ © picture-alliance/akg-images/ Glasshouse Images Erich Lessing Die Warner Brothers Studios 1930 Filmplakat zu Panzerkreuzer Potemkin von 1925 Somme-Schlacht fanden in Großbritannien, ein Trick, der es ermöglichte, Darsteller/- Während der Stummfilmzeit existierten in Frankreich und Deutschland ein Millionen- innen in Miniaturmodelle einzuspiegeln. den Kinos nicht nur vielfältigste Formen der publikum. Zugleich begünstigten Krieg und Der Science-Fiction-Klassiker, mit Produk- musikalischen Begleitung, auch sogenann- Nachkriegskrisen den Aufstieg Hollywoods tionskosten von fünf Millionen Reichsmark te Filmerzähler/-innen waren verbreitet zur Weltmacht des Kinos: Genrefilme aus seinerzeit der teuerste deutsche Film, ist so und verliehen den Vorführungen einen spe- den neuen Studiokomplexen bedienten das auch ein Beispiel für den immensen tech- zifischen Charakter. In Japan, einem Land Bedürfnis nach Zerstreuung und Glamour. nologischen Fortschritt, der sich im Kino in mit hochentwickelter Filmkultur, war diese 5 Die "Traumfabrik" mit ihrer arbeitsteiligen den 1920er-Jahren vollzog. Nicht weniger Praxis so beliebt, dass sie noch einige Jahre (77) Filmherstellung wurde für Produktionsfir- bahnbrechend war die Entwicklung in der überdauerte. In Teilen Westafrikas hat sich men in aller Welt zum Modell. Die damit UdSSR, wo Lenin das Kino zur wichtigsten die Live-Kommentierung von Filmen sogar verbundene Spezialisierung der Filmge- aller Künste erklärte. Im staatlichen Auftrag zu einer ganz eigenen Kinodisziplin weiter- werke führte auch dazu, dass weibliche entstanden dort revolutionäre Montagefil- entwickelt, die immer noch ausgeübt wird. Filmschaffende aus zentralen Bereichen me wie Panzerkreuzer Potemkin (1926). der Filmproduktion verdrängt wurden. Zur gleichen Zeit avancierte Paris zum Die Goldene Ära des Erst mit dem Autorenfilm der 1960er-Jahre Nabel des Avantgardefilms, sorgten Ani- Studiosystems wurden die Strukturen allmählich wieder mations- und Kompilationsfilme für völlig In ästhetischer Hinsicht wirkte sich der durchlässiger. neue Seherfahrungen. Und die Faszination Tonfilm vor allem auf die Schauspielerei In den Industriegesellschaften der für das junge Medium schlug sich in einer aus, die durch Dialoge zwangsläufig na- 1920er-Jahre avancierte der Film zum stetig wachsenden Zahl filmtheoretischer turalistischer wurde. Zu mehr Realismus Fixpunkt der modernen Massenkultur. Schriften nieder. im Kino trugen die sogenannten Talkies Als Goldene Ära des Stummfilms gilt das Die ab 1927 von Hollywood ausgehen- gleichwohl nur bedingt bei – seinen Sie- Jahrzehnt aber vor allem, weil sich das de Einführung der Tonspur fiel also in eine geszug verdankte der Sprechfilm nicht Kino als visuelle Kunst emanzipierte: In filmkulturell besonders vitale Epoche. Dass zuletzt dem neuen eskapistischen Genre Deutschland prägten Werke wie Friedrich Stummfilme in vielen Ländern schon nach des Filmmusicals. Der Kapitalbedarf für W. Murnaus Faust (1926) eine expressio- wenigen Jahren vollständig vom Sprech- die Tonfilmtechnologie verstärkte indes nistische Filmtradition, die eine Brücke zur film verdrängt wurden, empfanden nicht die industriellen Strukturen des Kinos. Der Hochkultur schlug. Charakteristisch für sol- wenige als Verlust, was zur Gründung der Sprechfilm erschwerte zwar anfänglich den che Prestigeproduktionen der UFA war ihre ersten Kinematheken wie zum Beispiel das Filmhandel zwischen den Sprachräumen. von Studioboss Erich Pommer eingefor- Filmhistorika Samlingarna in Stockholm Dennoch konnte Hollywood seine Domi- derte Experimentierfreude. Berühmt sind (1933) oder auch die Pariser Cinématèque nanz in den 1930er-Jahren ausbauen. Dazu die visionären Großstadtszenerien in Fritz Française (1936) beitrug. Die Tonfilmära trug auch die Einführung des Production Langs Metropolis (1927), bei denen das ging auch mit einer weitgehenden Stan- Codes bei, eine Selbstzensur der Filmindu- Schüfftan-Verfahren angewandt wurde – dardisierung der Filmpräsentation einher: strie, die vor allem die Darstellung von www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (3/3) Sexualität und Gewalt sehr weitgehend Unter dem Eindruck des Zweiten Welt- die Überlebensgröße des Kinos ausstell- reglementierte. Ab 1934 leistete der Code kriegs bildete sich Mitte der 1940er-Jahre ten. Ihren Höhepunkt fand diese Strategie so der Entwicklung eines familienkompa- in Italien eine bedeutende Erneuerungsbe- in Monumentalfilmen wie Ben Hur (1959). tiblen Unterhaltungskinos Vorschub, das wegung des Kinos: Neorealistische Filme Den Geschmack der Jugend trafen diese unausgeschöpfte Zuschauerpotenziale wie Vittorio de Sicas Fahrraddiebe (1948) Produktionen freilich kaum und auch das erschloss. In der Wirtschaftskrise erlebte besetzen mit ihrem semidokumentari- erwachsene Publikum konnten sie nicht das Studiosystem so seine Glanzzeit, was schen Ansatz eine Gegenposition zu den dauerhaft zurückerobern. auch in aufwendigen Technicolor-Filmen eskapistischen Studioproduktionen und wie Robin Hood, König der Vagabunden inspirierten Filmschaffende in aller Welt. In Trailer: Ben-Hur (1938) oder Der Zauberer von Oz (1939) den beiden deutschen Staaten, vor allem https://youtu.be/NR1ZHKw09n8 Ausdruck fand. jedoch in der Bundesrepublik, aber auch im ehemals besetzten Nachbarland Frank- Die Kinokrise erreichte die westeuropä- Trailer: The Adventures of Robin Hood reich, offenbarte sich in den Nachkriegsjah- ischen Länder zeitversetzt ab Ende der https://youtu.be/BpqR6Ca-LL8 ren bald eine erstaunliche ästhetische und 1950er-Jahre. In Frankreich wurde das Fil- personelle Kontinuität zur Filmproduktion mestablishment durch eine junge Genera- Der Sprechfilm verstärkte Nationalisie- während des Krieges. Anfang der 1950er- tion von Filmemacher/-innen um François rungstendenzen des Kinos, und bewirkte Jahre erzielte das Kino dort wie in fast allen Truffaut aufgeschreckt, überwiegend frü- in einigen Ländern sogar eine ethnische Ländern enorme Besucherzahlen. here Filmkritiker, die ihre Kinobildung in Aufsplitterung der Produktion wie in Indi- Pariser Cinéphilen-Kreisen erworben hat- en. Ein Grund dafür war jedoch auch, dass Krise und Erneuerung ten. Die mit niedrigem Budget außerhalb totalitäre Regime dem Kino besonderes Au- In den USA hingegen setzte ab den späten der Ateliers realisierten Filme der Nouvelle 6 genmerk schenkten. Im nationalsozialisti- 1940er-Jahren der Niedergang des Studio- Vague, in denen sich die gesellschaftlichen (77) schen Deutschland machten explizite Pro- systems ein. Ein Hauptgrund dafür war das Umbrüche der 1960er-Jahre bereits ankün- pagandafilme dabei einen relativ kleinen Aufkommen des Fernsehens. Die großen digten, trafen den rebellischen Nerv der Teil der Kinoproduktion aus. Die staatlich Studios reagierten auf die Herausforderung Zeit. Das propagierte Autorenkonzept regte gelenkte Filmindustrie stellte vor allem Un- nicht zuletzt, in dem sie durch teure Farbfil- in den folgenden Jahren weltweit ähnliche terhaltungsfilme her, die den zum "Volks- me im neuen breiten Cinemascope-Format Bewegungen an: In Brasilien, Polen, der körper" gehörenden Menschen Ablenkung bieten sollten. 1938 wurden Jüdinnen und Juden Besuche von öffentlichen und all- Der französische Regisseur François Truffaut gemeinen Bühnen- und Kinovorstellungen verboten. Das Ziel, mit dem UFA-Konzern Hollywood Paroli zu bieten, wurde freilich schon deshalb verfehlt, weil der Ausschluss vor allem jüdischer Filmkünstler/-innen auch zu einer massiven Talentabwande- rung führte. Viele fanden als Emigrant/-in- nen Zuflucht in Hollywood und trugen dort nicht nur maßgeblich zum Entstehen des Film Noir bei, sondern auch zum Kampf ge- © ddp/Everett Collection gen Hitler-Deutschland während des Krie- ges. Billy Wilders antideutscher Kriegsfilm Fünf Gräber bis Kairo (1943) ist dafür nur ein Beispiel von vielen. Trailer: Five Grave to Cairo https://youtu.be/K8-1gYu-4dk www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Einleitung: 125 Jahre Schaulust - eine kurze Reise durch die Geschichte des Kinos (3/3) ČSSR und den USA ebenso wie in beiden visuelle Gestaltung, der kaum noch Gren- deutschen Staaten. Auch wenn die Neuen zen gesetzt sind. Besonders deutlich wird Wellen oft kurzzeitige Phänomene waren dies in den Superhelden-, Sci-Fi- und Fan- wie in der DDR, wo ein Großteil der Film- tasy-Spektakeln, die seit der Jahrtausend- jahrgänge 1965/66 verboten wurde, verän- wende das Mainstreamkino zunehmend derten sie die Ästhetik und die Sprache des dominieren und die in modernen 3D-fä- Kinos dauerhaft, woran auch technologi- higen Multiplexkinos ideale Aufführungs- sche Neuerungen wie leichte Kameras und bedingungen finden. Digitale Technologie mobile Tonaufnahmegeräte ihren Anteil hat aber selbstverständlich längst auch im hatten. Independent-Kino Einzug gehalten – und Weltweit schärfte das Autorenkino das sei es in Gestalt kleiner Digicams. Vor allem Bewusstsein für die Bedeutung einer le- aber hat die Digitalisierung den Zugang zu bendigen Kinokultur und der Filmgeschich- Filmen grundlegend verändert: Filme sind te. In der Bundesrepublik äußerte sich dies heute dank einer ständig wachsenden Zahl etwa in der Gründung Kommunaler Kinos an Streamingdiensten nahezu ständig, oder dem Ausbau der Filmförderung und überall und in einer kaum überschauba- der Filmbildung – aber auch in den neuen ren Vielfalt verfügbar. Sie können genauso Programmkinos, die sich nicht zuletzt an auf dem Flachbild-TV, dem Notebook, dem ein studentisches Publikum richteten und Smartphone oder eben im Kinosaal gese- die auch dem im Westen allenfalls auf Fes- hen werden. Die kollektive Kinoerfahrung tivals beachteten postkolonialen Kino ein wird so zusehends durch einen individuali- 7 Forum boten. Das in den 1960er-Jahren sierten Filmkonsum abgelöst. Nostalgiker/- (77) fast überall in den westlichen Staaten ein- innen mögen darin eine Verarmung sehen. setzende „Sterben“ der großen Ein-Saal- Tatsache ist aber auch: Die Digitalisierung Kinos konnte dieses erstarkte Interesse am eröffnet jetzt schon vielfältige Möglichkei- Film allerdings nicht aufhalten. Einen nach- ten der Teilhabe und des Empowerments – haltigeren kommerziellen Aufschwung so zeugen unzählige Amateurclips im Inter- nahm das Mainstreamkino erst wieder, als net von einer Demokratisierung des Filme- sich, ausgelöst durch Kassenerfolge des machens. New-Hollywood-Kinos wie Der weisse Hai (1975), ab den späten 1970er-Jahren der Autor: moderne Blockbuster als Erfolgskonzept Jörn Hetebrügge, Filmjournalist und erwies. Unterstützt durch aggressive Ver- kinofenster.de-Redakteur, 23.04.2021 marktungsstrategien, erreichte Hollywood nun endlich auch ein junges Publikum. Trailer: Jaw https://youtu.be/U1fu_sA7XhE Das Kino in digitalen Zeiten Mit den 1990er-Jahren nahm ein Prozess an Fahrt auf, der das Kino so tiefgreifend und umfassend wie kein anderes Ereignis seit den Lumières verändert: Die Digitali- sierung. Im Bereich der Produktion ermög- lichen seither immer perfektere computer- basierte Bildgenerierungsverfahren eine www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (1/3) Von der Jahrmarktattraktion mische Alltagsszenen, Zaubertricks. Die Tableau-artige Frontalperspektive dieser zur stummen Erzählkunst Filme mit statischer Kamera war weniger technischen Hürden gezollt als den Seh- Die Reise zum Mond (1903) und gewohnheiten des Varieté-Publikums. Das Kino mit seinen illusionistischen Möglich- Der Letzte Mann (1924) keiten erwies sich als ganz besonders ge- eignet, den Bühnenzauber zu verstärken. Georges Méliès, der seine Filme bereits Die Stummfilmära dauerte kaum länger als 30 Jahre. Zwischen 1895 und 1927 international vertrieb, setzte mit den Trick- wandelte sich das Kino von einer Kuriosität zu einer neuen Kunstform. techniken und visuellen Effekten in seinem viertelstündigen Fantasyfilm Die Reise zum Mond (1902) Maßstäbe: Überblendungen, Unter den zahlreichen Apparaten des spä- Sammelsurien aus Militärparaden, Städte- Doppelbelichtungen, Split Screens, Stopp- ten 19. Jahrhunderts, die zur Herstellung und Naturaufnahmen. Für die Gestaltung tricks. Handkoloriert war der Film, also in bewegter Bilder erfunden wurden, hat sich ihrer Kurzfilmprogramme kauften sich die Farbe – wie geschätzt achtzig Prozent der der Kinematograph der Gebrüder Lumière Schaubudenbesitzer/-innen Filmrollen zu- zeitgenössischen Filme. Schwarzweiß ist durchgesetzt und damit einen Standard sammen. Ein Film und sein Preis bemaßen das Kino in seinen Anfängen nicht gewesen, für das Kino als kulturelle Praxis etabliert: sich in Metern, nicht in Minuten. und auch nicht stumm: vor, neben oder Im Gegensatz zum Kinetoskop von Thomas hinter der Leinwand traten Kinoerklärer/- Edison sollte nicht allein in einen Guckkas- Filme als Bühnennummer innen, Pianist/-innen, Orchester oder 8 ten geschaut werden, sondern als Publi- Rasch fand das Kino einen Platz in festen Schauspieler/-innen in Interaktion mit den (77) kum gemeinsam auf eine Leinwand. In den Spielstätten, zunächst in den Varieté- bewegten Bildern und dem Publikum. ersten Jahren ab 1895 war das "Wunder des Theatern der europäischen Metropolen. bewegten Bildes" als solches Attraktion ge- Als Programmteile eines abendfüllenden Der Filmpionier Georges Méliès in nug: Fahrende Schausteller/-innen zeigten Gesamtspektakels bildeten Kurzfilme dort seinem Stummfilm UN HOMME DE TÊTES, auf Jahrmärkten und in Wanderkinos bunte erste fiktionale "Genres" heraus: Gags, ko- 1898 Illustration zu einer Kinematopgraphen-Vorführung 1897 © StudioCanal © picture alliance/Mary Evans Picture Library Kino für die Massen Ab 1905 emanzipierte sich das Kino in ra- santem Tempo mit eigenen Vorführräumen in den Großstädten: Die amerikanischen Nickelodeons und ihr europäisches Pen- dant der Ladenkinos waren wenig kom- fortable Säle, der Eintritt kostete etwa so viel wie ein kleiner Laib Brot und nur ein Fünftel eines Besuchs im Varieté-Theater. So machten sie das Kinoerlebnis einem www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (2/3) städtischen und proletarischen Massenpu- © picture alliance/ blikum zugänglich. In den dunklen Räumen United Archives wurde Alkohol getrunken, geraucht und eng beisammen gesessen. Die Behörden sahen in den Ladenkinos die öffentliche Moral bedroht und versuchten der schwer kontrollierbaren Wirkung des Visuellen auf die alkoholisiert-erregten Sinne mit Zen- sur und Ausschanklizenzen beizukommen. Die Filmthemen entwickelten sich von der theatral-performativen Bühnennummer weiter zu narrativen Genres mit längeren, in sich geschlossenen Handlungen. Aben- teuerfilme, Komödien, Western, aber auch soziale Dramen und Melodramen sprachen die Bedürfnisstruktur eines nun großen- teils weiblichen Publikums an. Insbesonde- re in den USA verlangten die Nickelodeons Eine Kinovorstellung im Jahr 1913 nach immer mehr und immer längerem Erzählstoff; der filmische Einakter entwi- industrie nun in die Organisationsformen sich über den Leinwandrand hinaus. Eine ckelte sich zum Multi-Shot-Film mit wech- industrieller Massenproduktion. In Arbeits- homogene fiktive Welt entstand so im Kopf 9 selnden Kamerapositionen und Szenen, die teilung wurden hier in Länge, Form und In- der Zuschauenden, die sich ganz dem Sog (77) Kinoerklärer/-innen ersetzten Zwischenti- halt hoch standardisierte Filmträume am des Imaginären hingeben konnten. Als tel. In dieser Zeit der rasanten Expansion Fließband produziert. Zur ökonomischen weltweit verstehbares "Esperanto des Au- wirkten auch viele Frauen in den zentralen Wertsteigerung der Ware Film übertrug der ges" avancierte das Kino zur universellen Gewerken der Filmherstellung – etwa als aus Deutschland stammende Studioboss Kunstform des 20. Jahrhunderts schlecht- Drehbuchautorinnen, Regisseurinnen oder Carl Laemmle das vom Theater bekannte hin, die die menschliche Wahrnehmung auch als Cutterinnen. Starsystem auf das Kino, indem er 1910 Flo- grundlegend verändern sollte. rence Lawrence zum strahlenden Gesicht Eine neue Industrie seiner Gesellschaft IMP machte. Kulturerlebnis für das Hinter der Leinwand wurde der Kampf Bürgertum um die Kontrolle über das Filmerlebnis Trailer: Intoleranz (Intolerance) Zwischen 1905 und 1913 verzwölffachte zwischen den Kinobetreiber/-innen und https://youtu.be/QaI3wBPIxx8 sich allein in Berlin die Zahl der Kinosäle den Produktionsfirmen bis etwa 1907 zu- von 16 auf 206. Knapp 20 Jahre nach der gunsten letzterer entschieden. Die Filme Für das zur Perfektion getriebene ameri- ersten Vorführung waren Kinos in deut- wurden nicht mehr an die Kinos verkauft, kanische Erzählkino ist David W. Griffiths schen Großstädten bereits so etabliert, sondern in einem regulierten Verleih-Kreis- monumentales dreistündiges Epos Into- dass die Mehrheit der Jugendlichen dort lauf ausgewertet. In den USA wehrten sich leranz (1916), mit Produktionskosten von über Filmerfahrung verfügte. Abendfüllen- unabhängige Filmemacher/-innen gegen rund zwei Millionen Dollar für lange Zeit de Spielfilme liefen nun in Kinopalästen die rigorosen Marktbeherrschungsmetho- der mit Abstand teuerste Film weltweit, mit mehr als 1000 Plätzen und eigenem den der Motion Picture Patents Company. ein vollendetes Beispiel: Parallelmontage, Hausorchester. Kino wandelte sich zu ei- Sie zogen ab 1910 mit ihren Studios an die Schuss-Gegenschuss-Verfahren, Kamera- nem Kulturerlebnis für bürgerliche Schich- Westküste und gründeten Hollywood. Mé- fahrten, Variation der Einstellungsgrößen – ten. Entsprechend sicherte die künstliche liès‘ Filmstudio, eines der ersten in Frank- sämtliche bahnbrechenden Erfindungen Verknappung der Ware Film durch exklusi- reich, war der Handwerksbetrieb eines dieser Jahre dienten dazu, räumliche Kon- ve Auswertungsfenster den Palastbesitzern kreativen Tüftlers gewesen. Die ökonomi- tinuität zu etablieren und die Illusion zu eine kaufkräftige Klientel. Die Ladenkinos sche Expansion des Kinos zwang die Film- generieren, der filmische Raum erstrecke verkamen zu Nachspielstätten für die www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Von der Jahrmarktattraktion zur stummen Erzählkunst (3/3) ärmere Bevölkerung. In Deutschland hatte Oskar Messter bereits 1903 eine Produk- tionsfirma gegründet. Lange dominierte aber die französische Firma Pathé auch den deutschen Markt, nach dem Ersten Weltkrieg fluteten amerikanische Produkti- onen die deutschen Kinos. General Luden- dorff hatte bereits während des Krieges die "überragende Macht des Bildes und Films als Aufklärungs- und Beeinflussungsmittel" erkannt und ließ 1918 die UFA gründen. Trailer: Der letzte Mann (The last Laugh) https://youtu.be/Da6U9FOvzmY Der Aufschwung der deutschen Filmindust- rie gipfelte 1922 in einem Jahresrekord von 474 Spielfilmen. Ganz auf die narrative und expressive Kraft der Bilder setzte Friedrich Wilhelm Murnaus Meisterwerk Der letzte 10 Mann (1924), der mit wenigen, geschickt in (77) die Geschichte eingebundenen Zwischen- titeln auskam. Seine "entfesselte Kamera", von Kameramann Karl Freund auf ein Fahr- rad und sogar auf eine Seilbahn montiert, bewegt sich ohne Stativ im Raum, erzählt aus der subjektiven Perspektive des Pro- tagonisten und findet für dessen Gefühle originär filmische Ausdrucksmittel. Kino, schrieb der französische Filmkritiker André Bazin zwanzig Jahre später, ist auch eine Sprache. Autorin: Dr. Almut Steinlein, freie Autorin, Lehrkraft und Dozentin, 23.04.2021 www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (1/3) weltweit gefeierten Filme des italieni- schen Neorealismus, allen voran Vittorio de Sicas Fahrraddiebe (1948), verfolgten ab Mitte der 1940er-Jahre geradezu eine Flucht zurück in die Realität. Zwischen beiden Filmen liegt eine spannende Ent- wicklung, die eng verbunden ist mit der technischen Neuerung des Tonfilms. © picture alliance / United Archives Trailer: Der Zauber von Oz https://youtu.be/Ws6QT5q3YeM Musik, Tanz und Technicolor Die mit Der Jazzsänger (1927) begonne- ne und um 1933 abgeschlossene Einfüh- rung der Tonspur bedeutete eine Kinore- volution. Zugleich führte sie Hollywood aus einer Zeit der Krise, in der die Publi- kumseinnahmen zwischenzeitlich um ein Zwischen Eskapismus und Drittel zurückgegangen waren. Allerdings begünstigte das teure und aufwendige 11 Realismus Verfahren die großen Studios. Während (77) sich unabhängige, Poverty-Row-Studios Der Zauberer von Oz (1939) genannte Firmen wie Monogram Pictures auf B-Filme für Doppelvorstellungen spe- und Fahrraddiebe (1948) zialisierten, puschten MGM, Paramount und Fox Hollywoods globale Dominanz. Film wurde jetzt wirklich zur perfekt Während der Weltwirtschaftskrise und des Zweiten Weltkriegs bietet durchorganisierten Industrie, gestützt das Kino vor allem Ablenkung. Erst danach wendet es sich von Banken und Großkapital, die von den verstärkt der Wirklichkeit zu. Die Filme Der Zauberer von Oz (1939) Produzenten Rendite erwarteten. und Fahrraddiebe (1948) stehen exemplarisch dafür. Trailer: Schneewittchen https://youtu.be/Uv6U6Zdkiug Nie strahlte die "Traumfabrik" heller als träumt sich die vom Kinderstar Judy Gar- in der dunklen Zeit von Weltwirtschafts- land gespielte Farmerstochter Dorothy Das geringste Risiko bildeten familien- krise und Zweitem Weltkrieg. Darin be- in ein Zauberreich „jenseits des Regen- freundliche Unterhaltungsfilme, die nun steht kein Widerspruch: Die „Goldene bogens“. Wie durch Magie wechselt der in großer Zahl, aber auch in einer bisher Ära“ Hollywoods mit ihren großen Stu- Film in diesen Szenen von Schwarz-Weiß ungekannten Qualität veröffentlicht wur- dioproduktionen bot einem verunsicher- zu schillerndem Technicolor – das gerade den. Disneys erster abendfüllender Zei- ten Publikum die Flucht aus der Wirk- eingeführte Farbfilmverfahren verspricht chentrickfilm Schneewitchen und die 7 lichkeit, nach der es sich sehnte. In Der auch auf technischer Ebene jene Traum- Zwerge (1937) und das Südstaaten-Epos Zauberer von Oz (1939), dem berühmten welt, in der sich alle Probleme spielend Vom Winde verweht (1939), das mit rund Musicalfilm des Hochglanzstudios MGM, lösen lassen. Wenn Dorothy am Ende wie- vier Millionen Dollar das dritthöchste wird diese elementare Funktion des Ki- der in ihre schwarzweiße Ursprungswelt Budget aller Hollywoodfilme des Jahr- nos sogar in der Handlung reflektiert: Aus zurückkehrt, nimmt sie gänzlich unbe- zehnts verschlang, sind weitere farben- der grauen Zeit der Großen Depression wusst den nächsten Schritt vorweg: Die prächtige Meilensteine dieser Zeit. www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (2/3) Unmittelbar auf den Tonfilm zurückzu- vor "fremden" Einflüssen und Sprachen hene Regisseure wie Billy Wilder, Robert führen ist die damalige Popularität des geschützt werden. In Deutschland wur- Siodmak und Fritz Lang ersetzten das Musical-Genres: Zwischen 1929 und 1933 de der Film der Propaganda unterstellt: sanfte High-Key-Lighting Hollywoods führten Musicals viermal die Jahresliste Seichte Unterhaltungsfilme suggerierten erfolgreich durch den ausdrucksstarken der umsatzstärksten Filme in Nordame- Normalität, die Propagandawerke Leni Schattenstil des deutschen Expressio- rika an. Tanzend und singend machten Riefenstahls (Triumph des Willens, 1934) nismus. Auch politisch wandelte sich die Stars wie Ginger Rogers und Fred Astaire monumentale Größe. In Italien, wo der fa- Stimmung. Für Hollywoods zögerliche (Swing Time 1936), Judy Garland und Mi- schistische Zugriff weniger stark ausfiel, Haltung gegenüber den faschistischen ckey Rooney Träume wahr, stellvertre- blieb die turbulente Volkskomödie popu- Regimen bestand nach Wegfall der Ex- tend für ihr Publikum. Die Stars bildeten lär. Film wurde zur nationalen Aufgabe porte kein Grund mehr. Die Widerstands- das Rückgrat des Studiosystems, oft zu mit begrenzter Reichweite. romanze Casablanca (1942), realisiert schikanösen Vertrags- und Arbeitsbedin- vom Ungarn Michael Curtiz mit vielen gungen. Als Angestellte gehörten sie zur Die Schatten des Film Noir Emigrant/-innen in Haupt- und Nebenrol- Verfügungsmasse der Studios, wie auch Mit dem Zweiten Weltkrieg kam der welt- len, ist das bekannteste Beispiel dieser die zahlreichen Maskenbildnerinnen, weite Filmaustausch endgültig zum Er- Entwicklung. Kostümdesignerinnen und Skriptgirls – liegen. Dafür besann sich Hollywood auf die Zurückdrängung von Frauen in Tätig- alte Stärken. Das 1934 mit dem Hays Code Rückkehr zur Wirklichkeit keitsbereiche, die einem traditionellen eingeführte System der Selbstzensur, das Die Rückkehr zu einfacheren, oft düste- Geschlechterbild entsprachen, war eine eine Phase ruppiger Gangsterfilme und ren Alltagsgeschichten, geprägt von einer weitere Folge der Industrialisierung der frecher Komödien jäh beendet hatte, zwischenzeitlichen Abkehr von der Farbe, Filmproduktion. Die Zeit, in der sie in der verlor allmählich an Wirkung. Die Dar- hatte selbst in Hollywood auch ökono- 12 Regie und vor allem als Drehbuchautorin- stellung von Sexualität und Gewalt blieb mische Gründe. In Europa folgte sie weit (77) nen am Aufbau der Branche mitwirkten, zwar stark eingeschränkt. In der dialog- mehr noch einem existenziellen Bedürf- war endgültig vorbei. starken, vor allem Geschlechterverhält- nis. Gegen die falschen Versprechungen nisse behandelnden Screwball-Komödie der Vergangenheit setzten nach 1945 vor Trailer: Swing Time (Die Nacht vor der Hochzeit, 1940) und allem die italienischen Neorealisten, wie https://youtu.be/_HwqoBrjrmA in den düsteren Großstadtkrimis des Film Roberto Rossellini (Deutschland im Jah- Noir (Frau ohne Gewissen, 1944) gelang re null, 1948) und Vittorio de Sica, eine es allerdings immer besser, das steife Re- "Poetisierung der Wirklichkeit". Film als nationale Aufgabe glement durch kunstvolle Andeutungen Andere Filmnationen konnten mit Hol- zu umgehen. Trailer: Fahrraddiebe lywoods Marktmacht nicht mithalten. https://youtu.be/yz4IKtX3V3s Zwar sorgte auch in Deutschland, wo die Trailer: The Hitch-Hiker Babelsberger UFA das US-Studiosystem https://youtu.be/XIeFKTbg3Aw De Sicas Fahrraddiebe zeigt die Ge- kopieren sollte, der Musikfilm (Die Drei schicke eines Arbeitslosen, der für eine von der Tankstelle, 1930) für Furore. Beide Genres boten überdies starke Frau- neue Anstellung als Plakatkleber auf Aber ein neues Problem belastete die in- enfiguren, entsprechend einem nicht erst sein Fahrrad angewiesen ist. Als es ihm ternationale Verbreitung: Die universale durch den Krieg gewandelten Rollen- gestohlen wird, wird er vor den Augen Bildsprache des Stummfilms hatte ihre bild. Neben neuen Starregisseuren wie seines kleinen Sohnes selbst zum Dieb. Gültigkeit verloren. Die eilige Umstellung Howard Hawks, Orson Welles und Alfred Die Geschichte aus dem wahren Leben auf mehrsprachig abgedrehte Versionen Hitchcock etablierte sich – nach dem einfacher Leute, aufgenommen auf den desselben Films und bald auch die Syn- Krieg – auch die Schauspielerin Ida Lupi- Straßen Roms mit Laiendarsteller/-in- chronisation versprachen Abhilfe, doch no (The Hitch-Hiker, 1953) als eine der nen, wurde in der Heimat verhalten auf- die politischen Vorzeichen hatten sich wenigen Filmemacherinnen der Studio- genommen, und veränderte doch das gewandelt. In einem von Faschismus und Ära. Zu ihrem bevorzugten Genre, dem Weltkino. Der Neorealismus beeinflusste zunehmendem Antiamerikanismus ge- Film Noir, trugen allerdings wesentlich die französische Nouvelle Vague, aber prägten Europa sollte die eigene Kultur Emigrant/-innen bei. Aus Europa geflo- auch Länder wie Indien oder Japan – de- www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Zwischen Eskapismus und Realismus (3/3) ren Filme umgekehrt in Europa auf den neu gegründeten Festivals nun erstmals wahrgenommen wurden. Nach den trost- losen Jahren von Krieg und Abschottung begann eine Zeit gegenseitiger Befruch- tung. Auch Hollywood, wo de Sicas Film mit einem Auslands-Oscar geehrt wurde, musste die neuen Realitäten anerkennen: Das alte Studiosystem gehörte der Ver- gangenheit an, unabhängigeren Filmen und Produzenten die Zukunft. Jedenfalls bis zur nächsten Krise – der Ankunft des Fernsehens. Autor: Philipp Bühler, freier Filmjournalist und Redakteur, 23.04.2021 13 (77) www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (1/3) Mit Sandalen gegen die Kinokrise Die Filmindustrie geriet nicht allein durch die Fernsehkonkurrenz unter Druck, son- dern auch, weil die Studios am progres- siven Zeitgeist der aufziehenden 1960er- © picture alliance / Captital Pictures | CAP/RFS Jahre vorbei produzierten: Einstige Attraktionen wie der Technicolor-Farb- film waren zur Gewohnheit verblasst. Hollywood reagierte auf den drohenden Niedergang zuerst mit audiovisuell über- wältigenden Musicals (West Side Story, 1961) und Monumentalfilmen. "Sanda- lenfilme" wie Ben Hur (1959) sollten die Schauwerte des Kinos betonen und das zunächst meist schwarz-weiße TV-Erleb- nis im 4:3-Format in den Schatten stellen. Technische Innovationen wie die Mehr- kanal-Tonspur, das Breitwandformat Cine- Vom Monumentalfilm zum mascope und erste 3D-Versuche konnten das Publikum jedoch nicht nachhaltig bin- 14 Independent-Kino den – auch wenn bildgewaltige Leinwan- (77) depen wie die britische Großproduktion Lawrence von Arabien (1963) Lawrence von Arabien künstlerische und kommerzielle Erfolge feierten. Letzterer und Easy Rider (1969) spielte das Dreifache seines Budgets von rund 15 Millionen US-Dollar ein. Auch die Sowjetunion partizipierte mit Epen wie Ab den 1950er-Jahren macht das Fernsehen dem Kino Konkurrenz. Sergei Bondartschuks 432-minütigem His- Lawrence von Arabien (1963) und Easy Rider (1969) stehen für zwei ganz toriendrama Krieg und Frieden (1966) am unterschiedliche Ansätze, mit denen die Filmbranche auf die kinematographischen Überbietungswett- Herausforderung reagiert. bewerb. Die Publikumsresonanz schwand trotzdem. Die jungen Babyboomer inte- ressierten sich für kritische Gegenwarts- Wer vor den 1950er-Jahren Kinobilder be- dem Hintergrund des abspenstigen Pub- bezüge, weniger für den Eskapismus der staunen wollte, ging ins Lichtspielhaus. likums. Zwei so unterschiedliche Produk- Nachkriegszeit. Der Ost-West-Konflikt, der Das änderte sich mit dem Aufkommen de s tionen wie das epische Wüstenabenteuer Vietnamkrieg und die US-amerikanische Fernsehens. Schon Mitte des Jahrzehnts Lawrence von Arabien (1963) von David Bürgerrechtsbewegung hatten alte Sche- besaß die Hälfte aller US-amerikanischen Lean und das hippieske Roadmovie Easy mata auf den Kopf gestellt. Haushalte ein TV-Gerät. Auch in Deutsch- Rider (1969) von und mit Dennis Hopper land und anderen Industrieländern avan- stehen exemplarisch für zwei Strategien, Die nächste Generation: cierte der Fernseher allmählich zum Mas- mit denen Filmschaffende der Herausfor- New Hollywood senphänomen. 1969 verfolgten geschätzt derung begegneten. Als Mitte l ge gen die Krise e rwie sen 500 bis 600 Millionen Menschen weltweit sich Independent-Filme im Zeichen der die US-Mondlandung vor den heimischen Trailer: Lawrence von Arabien Pop- und Gegenkultur. Die 1967 erfolg- oder in Schaufenstern aufgestellten https://youtu.be/vOlRhGEhG7k te Ablösung der im "Hays Code" festge- "Flimmerkisten". Das Kino wankte vor setzten Zensur durch ein freiwilliges www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (2/3) Bewertungssystem leistete dem wage- Internationaler Austausch Wirtschaftswunderjahre für hinfällig und mutigen Kino Vorschub. Arthur Penns Die Modernisierung des Kinos ging mit ei- läutete eine Phase der Erneuerung ein. Gewaltstudie Bonnie und Clyde und ner stetigen Wechselwirkung nationaler Finanziell erfolgreich waren die Werke Mike Nichols' Coming-of-Age-Film Die Filmografien einher. So war New Holly- des Neuen Deutschen Films – anders Reifeprüfung (beide 1967) gelten als wood direkt von den "Neuen Wellen" des als die vielen Sex- und Aufklärungsfilme Initialzündungen des New-Hollywood- europäischen Autorenkinos beeinflusst, der Zeit – kaum, dafür aber internatio- Kinos, das eine formale und inhaltliche insbesondere von der französischen Nou- nal gerühmt. Einen wichtigen Anteil am Modernisierung anstrebte. Das mit einem velle Vague um Jean Luc Godard (Ausser Durchbruch der jungen Regiegeneration Budget von gerade einmal 360.000 Dollar Atem, 1960) und François Truffaut (Ju- um Werner Herzog, Rainer Werner Fass- gedrehte Roadmovie Easy Rider von Den- les und Jim, 1962), die seinerseits auf binder und Volker Schlöndorff hatte der nis Hopper beinhaltet die Neuerungen in Hollywood-Auteure wie Howard Hawks Ausbau der Filmförderung in der Bun- mustergültiger Form: Antihelden brettern (Rio Bravo, 1959) und den italienischen desrepublik – speziell die Gründung des auf ihren Harleys durch den mittleren Neorealismus rekurrierten und im Ci- Kuratorium junger deutscher Film (1965). Westen, schmuggeln, kiffen, pöbeln und nema Novo eine brasilianische Variante Das erwachte Bewusstsein für Kinokultur werden von zeitgenössischer Rockmusik fanden. Parallel verfolgten das französi- und Filmkunst spiegelte sich auch in einer untermalt, die nun gleichberechtigt ne- sche Cinéma Vérité und das in den USA verstärkten Filmbildungsarbeit wider, die ben symphonischen Filmscores stand. entstandene Direct Cinema das Ziel, den in den folgenden Jahrzehnten weiterent- Dokumentargehalt der Filmbilder durch wickelt und zunehmend vernetzt wurde. Trailer: Easy Rider einen Rückzug der Regie zu potenzieren, Die Fördermittel ermöglichten zudem https://youtu.be/UcNYMz6XCEM mit der Kamera als Zeugin oder "Fliege an endlich anspruchsvollere Kinder- und der Wand". Zusätzlich ermöglichten Film- Jugendfilme wie Hark Bohms Tschetan, 15 Weitere technische Neuerungen wie die festivals wie die 1951 lancierte Berlinale der Indianerjunge (1972). Bis dahin (77) flexibleren 16-mm-Kameras mit synchro- und neue Vertriebsstrukturen kleineren hatten Minderjährige als Zielgruppe für ner Tonaufzeichnung erleichterten unab- Produktionen eine internationale Aus- die bundesdeutsche Filmindustrie kaum hängige Filmdrehs. Die neue Generation wertung. Davon profitierte das asiatische eine Rolle gespielt. Anders dagegen in der drehte vermehrt an Locations "auf der Kino, das ab Mitte der 1950er-Jahre welt- staatlich organisierten Filmwirtschaft der Straße" und verknüpfte die stilistische weit Beachtung fand. Die ästhetische Raf- DDR, die schon seit den 1950er-Jahren Wucht mit kernigen Charakterporträts. finesse von Akira Kurosawa (Rashomon, gezielt Kinderfilme produziert hatte. Der An den neu eröffneten Filmschulen und in 1950) und anderen schärfte den Blick Kinobesuch von Kindern wurde dort auch Kinoclubs entwickelten die "jungen Wil- westlicher Cinephiler. Und Mother India durch stark subventionierte Ticketpreise den" einen eigenen Zugriff auf das Kino. (1957) war der erste indische Film, der gefördert: Die Eintrittskarte kostete für Obwohl progressiv ausgerichtet, war das eine Oscar-Nominierung erhielt. sie in der Regel 25 Pfennige – ein Viertel Filmschaffen der Zeit jedoch männlich des Erwachsenentickets. dominiert. Dennoch gab es neue Frauen- Trailer: Rashomon Während in der Bundesrepublik in den typen, verkörpert von Schauspielerinnen https://youtu.be/Zqoyl2p8_lw 1960ern erste Programmkinos und kom- Faye Dunaway oder Jane Fonda. Die im munale Kinos entstanden, sank zugleich Zuge der Industrialisierung der Kinopro- Deutsches Kino im Wandel die Zahl der Eintritte in den Mainstreamki- duktion zurückgedrängten Frauen kehr- Auch die deutsche Kinokultur veränder- nos rasant. So gingen etwa in München die ten zaghaft zurück. Vor allem Europäerin- te sich in den 1960ern. Die DDR erlebte jährlichen Kinobesuche pro Kopf zwischen nen wie Agnès Varda (Cleo – Mittwoch nach dem Mauerbau eine kurze Phase 1956 und 1976 von im Schnitt 23,1 auf 3,3 zwischen 5 und 7, 1961), Lina Wertmüller der Liberalisierung, die sich in den DEFA- zurück. Als Reaktion schlossen zahlreiche (Mein Körper für ein Pokerspiel, 1967) Produktionen des Jahrgangs 1965/66 große Ein-Saal-Kinos oder wurden zu soge- oder Mai Zetterling (Die Mädchen, 1968) deutlich äußerte. Die Filme wanderten nannten "Schachtelkinos" mit vielen klei- filmten den Weg für nachfolgende Regis- allerdings nach einem politischem Kurs- nen Sälen und winzigen Leinwänden umge- seurinnen frei. wechsel nahezu vollständig "in den Kel- baut. Das "Kinosterben", das sich zeitgleich ler". In der BRD erklärte das Oberhause- in fast allen Industrieländern vollzog, the- ner Manifest von 1962 "Papas Kino" der matisierte der US-Film Die letzte Vorstel- www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (3/3) lung (1971) von Peter Bogdanovich. Zu den wenigen bundesdeutschen Produkti- onen der 1960er-Jahre, die internationalen Hits wie den frühen James-Bond-Filmen an der Kinokasse Paroli bieten konnten, zählten vor allem Karl-May-Adaptionen wie Der Schatz im Silbersee (1962), der allein im Inland geschätzte zehn Millionen Menschen in die Kinos lockte. Der Erfolg löste nicht nur in der Bundesrepublik eine Western-Welle aus: Die ostdeutsche DEFA reagierte mit eigenen "Indianerfilmen" (Spur des Falken, 1968). Über Europa hi- naus sorgten aber nicht zuletzt innovative Italo-Western wie Sergio Leones Für eine Handvoll Dollar (1964) für Aufsehen – sie inspirierten wiederum die aufstrebenden jungen US-Filmemacher/-innen. Trailer: Für eine Handvoll Dollar https://youtu.be/4z9fxf_7Vik 16 (77) Die Geburt des Blockbusters Letztlich waren es paradoxerweise auch die wenigen spektakulären Kassenerfol- ge New Hollywoods und anderer Neue- rungswellen, die das Filmemachen von Neuem dem Diktat der Studio-Kalkula- tion unterwarfen: 1975 glückte Steven Spielberg mit Der weisse Hai ein Som- merhit, der bereits am Startwochenende sein Budget von sieben Millionen Dollar wieder einspielte. Im Geiste ein New- Hollywood-Film, begründete er zugleich das moderne Blockbuster-Kino. Bald darauf verschaffte die VHS-Kassette (Vi- deo Home System) dem Kino neuerliche Konkurrenz und ließ weitere cineastische Subkulturen entstehen. Autor: Christian Horn, freier Filmjournalist in Berlin, 31.05.2021 www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Blockbuster und globalisierte Filmkunst (1/3) der Shoah. Aus ökonomischer Sicht war es für das Studio Universal eine Prestige-Pro- duktion mit mittelgroßem Budget (ca. 22 Millionen US-Dollar), wie sie heute von Hol- lywood-Majors kaum noch produziert wird (zunehmend allerdings von Streaming-An- bietern). Der Box-Office-Hit Jurassic Park war dreimal so teuer und spielte, inklusive einer Wiederaufführung in 3D (2013), über © picture-alliance / dpa | dpa-Film eine Milliarde US-Dollar ein. Mit über 9 Mil- lionen Kinobesuchen stand der Film auch in Deutschland mit Abstand an der Spitze der Jahres-Charts. Sein Erfolg wurde zur Blaupause für die Blockbuster-Produktion in Hollywood. Der britische Filmkritiker David Thomson nennt Jurassic Park des- halb den "vielleicht einflussreichsten Film seit Der Jazzsänger" (USA 1927) – also seit dem ersten Tonfilm. Blockbuster und Hollywood: Vom Event-Block- 17 globalisierte Filmkunst buster zum Franchise-System (77) Mit Der Weisse Hai (USA 1976), E.T. – Der Jurassic Park (1993) und Ausserirdische (USA 1982) sowie der Indi- ana Jones-Trilogie (USA 1981-1989) hatte Chihiros Reise ins Zauberland Spielberg bereits maßgeblich das Ende der New-Hollywood-Ära und die Etablie- (2001) rung des Blockbuster-Systems im US-Kino mitgeprägt. Familientaugliches Eventkino wurde in den 1980er- und frühen 1990er- Jurassic Park begründet 1993 die Ära Visual-Effect-geladener Blockbuster. Jahren zunehmend zum Markenkern von Ab den 1990er-Jahren erwacht aber auch zunehmend das Interesse an Hollywood, und immer häufiger wurden Kinokulturen abseits von Hollywood - wie der Erfolg von Chihiros Reise Erfolgsfilme mit Sequels fortgesetzt. Ac- in die Zauberwelt (2001) zeigt. tion- und Science-Fiction-Filme nahmen eine wichtige Rolle ein, hinzu kam in den 1990ern eine Renaissance des Katastro- In der einzigartig erfolgreichen Filmkar- Trailer: Schindlers Liste phen-Films. Jurassic Park vereint Ele- riere von Steven Spielberg kann das Jahr https://youtu.be/1kNFuf_kWQ4 mente aller drei Genres. Vor allem aber 1993 ohne Zweifel als Höhepunkt gelten. steht er für eine Revolution der visuellen Binnen weniger Monate erschienen unter Der Oscar-Gewinner Schindlers Liste ist Effekte: Das speziell dafür beauftragte, seiner Regie zwei historisch bedeutende ein mehr als dreistündiger Historienfilm von George Lucas geführte Unternehmen Filme, die für unterschiedliche ästhetische in elegischen Schwarz-Weiß-Bildern. Von Industrial Light & Magic kombinierte in und ökonomische Trends jener Kino-Ära der zeitgenössischen Kritik mehrheitlich der Postproduktion die Aufnahmen von standen. Einer der beiden gewann sieben bewundert, gilt er heute – trotz kritischer lebensgroßen, beweglichen Dinosaurier- Oscars (1994). Der andere wiederum wurde Debatten über Ethik und historische Ge- Figuren, sogenannten Animatronics, mit zum bis dato größten kommerziellen Kino- nauigkeit der Darstellung – als Klassiker computergenerierten Animationen (CGI). erfolg aller Zeiten. für die filmische Auseinandersetzung mit Die seinerzeit verblüffend realistisch www.kinofenster.de
Themendossier April/Mai/Juni 2021 125 Jahre Kino Hintergrund: Vom Monumentalfilm zum Independent-Kino (2/3) wirkenden Effekte schufen Bilder, die das Am Beispiel von Deutschland: 1993 kostete sen. In diesem Kontext wurde der Begriff Publikum so noch nicht gesehen hatte. ein durchschnittliches Kinoticket 6,33 DM "Weltkino" populär. Auch marginalisierte (Deutsche Mark) in Ostdeutschland und Gruppen verschafften sich auf Festivals Trailer: Jurassic Park 9,36 DM in Westdeutschland. Für das ost- Aufmerksamkeit, zum Beispiel das indige- https://youtu.be/PJlmYh27MHg deutsche Publikum war das, verglichen mit ne Kino (imagineNATIVE Film and Media den staatlich subventionierten Ticketprei- Arts Festival in Toronto, seit 1998) oder "Mr. Spielberg, Sie haben das Unmögliche sen in der DDR (rund eine Mark), ein enor- LGBTQI-Filmschaffende (Hong Kong Les- geschafft", erinnert sich ein nostalgischer mer Anstieg. Das durchschnittliche Brut- bian & Gay Film Festival, seit 1989; Inside YouTube-User. "Sie haben die Dinosaurier tomonatseinkommen in Westdeutschland Out Film and Video Festival in Toronto, seit zum Leben erweckt." Als Bombast-Pro- war damals 54 Prozent höher, die Arbeits- 1991). Filmemacherinnen waren in der In- duktion, die technisch virtuos hergestellte losigkeit im Osten lag bei 15,4 Prozent. Bis dustrie weiterhin unterrepräsentiert, aber Bilder für die Fantasien (meist männlicher) 2003 – nach der Einführung des Euro – er- einige, wie Jane Campion (Das Piano, NZL/ Jugendlicher findet, inspirierte Juras- höhten sich die Preise auf 5,36 Euro (Ost) AUS/F 1994) oder Claire Denis (Beau Tra- sic Park zahlreiche CGI-Blockbuster der und 5,78 Euro (West). vail, F 1999), konnten sich im Arthouse- folgenden Dekaden: die Prequel-Trilogie Nach der Einheit gingen in den ostdeut- Bereich als Regiestars etablieren. Mit der von George Lucas' Star Wars (USA 1999- schen Bundesländern zunächst weniger Popularität von Filmen wie Fahrenheit 9/11 2005), Peter Jacksons Fantasy-Reihe Der Menschen ins Kino. Trotz bleibender öko- begann eine bis heute andauernde Welle Herr der Ringe (USA/NZL 2001-2003), die nomischer Ungleichheiten näherte sich der von Kinodokumentarfilmen, nachdem die Spielzeug-Adaptionen Transformers (USA Publikumszuspruch aber schnell dem west- Gattung zuvor primär im Fernsehen gezeigt 2007-2018) sowie die Superhelden-Filme deutschen Level an: Zwischen 1993 und 2003 worden war. seit der Jahrtausendwende. Wie zuvor stiegen die jährlichen Kinobesuche pro Kopf 18 schon die erste Star Wars-Trilogie wurde von 1,1 (Ost) und 1,7 (West) auf 1,9 und 2,0. Trailer: The Piano (77) auch Jurassic Park zum crossmedialen Dabei machten die jungen Altersgruppen https://youtu.be/cyTn4XIYH8M Franchise ausgebaut: Neben der Filmrei- (10-29 Jahre) in den 1990er-Jahren jährlich he – bisher fünf Filme und ein Kurzfilm, das etwa 60 Prozent des Publikums aus, in man- In Südamerika und Afrika (unter anderem: nächste Sequel kommt 2022 – entstanden chen Jahren noch deutlich mehr. Die Zahl Nollywood-Boom in Nigeria) setzte in den Videospiele, Spielsachen, Spin-Off-Bücher der Leinwände pro 100.000 Einwohner/- 1990er-Jahren eine neue Massenproduk- und eine Netflix-Animationsserie (USA innen stieg von 5,0 (West) und 2,8 (Ost) auf tion von Filmen ein. Den Weg in die kom- 2020-2021). Damit hat Jurassic Park das 6,0 und 7,0. Die neuen Multiplex-Kinos mit merzielle Filmauswertung des globalen heute dominante ökonomische Modell der moderner Projektions- und Soundtechnik Nordens fanden aber vor allem Werke aus Hollywood-Studios mitgeprägt. sowie Polstersitzen verhalfen der Kinowirt- asiatischen Filmkulturen. Indische Bolly- schaft zu einem Boom-Jahrzehnt. Für die wood-Filme (In guten wie in schweren Ta- Kinowirtschaft nach 1990: Verleihe kamen steigende Umsätze auf dem gen, 2001) erreichten über den DVD-Markt Multiplex-Kinos und steigende Video- und DVD-Markt hinzu. Fans in Europa, Werke aus dem Iran (Der Preise Geschmack der Kirsche, 1997) oder Hong- Den Erfolg von Jurassic Park begünstig- Diversifizierung der Industrie kong (In the Mood for Love, 2000) waren ten veränderte globale Rahmenbedingun- und globalisierte Filmkunst Stammgäste auf den A-Festivals, Animes gen. Nach dem Ende des Kalten Krieges Zur gleichen Zeit diversifizierten sich aus Japan (Ghost in the Shell, 1995) wur- gab es weniger Barrieren für die interna- Produktionsbedingungen und Distributi- den in der westlichen Popkultur rezipiert. tionale Distribution, in den meisten post- onswege. Für Independent-Filme, zuvor Einen nachhaltigen und einflussreichen sozialistischen Staaten wurde auch die meist abseits der Branchen-Strukturen globalen Durchbruch der Animes bewirk- Kinowirtschaft dem westlichen Modell an- produziert, entstand eine professionelle te dann Chihiros Reise ins Zauberland geglichen. Kinos mit einem Großraumsaal Nische innerhalb der Filmindustrie und (2001). wurden zunehmend von Multiplex-Kinos ein eigener Markt. Eine steigende Anzahl mit mehreren Sälen verdrängt; zudem stie- an Filmfestivals und das Modell internati- Trailer: Chihiros Reise ins Zauberland gen seit Mitte der 1990er-Jahre in vielen onaler Ko-Produktionen sorgten für mehr https://youtu.be/ffnNmR6lBKY Ländern kontinuierlich die Ticketpreise. Diversität im internationalen Verleihwe- www.kinofenster.de
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