PROJEKTBERICHT - Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung im Fokus der Selbsthilfe - Netzwerk NRW
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PROJEKTBERICHT Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung im Fokus der Selbsthilfe - Aufklärung, Aktivierung und Vernetzung der Selbsthilfe für präventive Maßnahmen gegen Depressionen und psychosomatische Störungen unter genderspezifischen Aspekten Projektzeitraum: 15.05.2010 – 31.07.2013 gefördert von in Trägerschaft von in Kooperation mit
Inhaltsverzeichnis 1. Projektrahmen…………………………………………………………………………S. 4 2. Projekthintergrund…………………………………………………………………S. 4 3. Projektträger , Projektkooperationspartner, Projektförderer………………………………………………………………………..S. 5 3.1. Landesarbeitsgemeinschaft SELBSTHILFE NRW e.V. .....................................................S. 5 3.2. NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung NRW…………………………………………………………………………S. 6 3.3. AOK Rheinland / Hamburg und AOK NORDWEST……………………..S. 6 4. Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung…………………………….S. 7 4.1. Was sind Depressionen und psychosomatische Störungen? Eine Definition…………………………………………………………………………….S. 8 4.2. Entstehungsbedingungen von Depressionen und psychosomatischen Störungen…………………………………………………S. 11 5. Projekt „Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung unter genderspezifischen Aspekten“…………………………………………..S. 12 5.1. Projektziele und Projektumsetzung…………………………………………S. 12 5.2. Erster Projektzeitraum (05 / 2010 – 05/ 2011)………………………S. 13 5.2.1. Initiierende Aktivitäten……………………………………………………….S. 13 5.2.2. Öffentlichkeitsarbeit…………………………………………………………….S. 14 5.2.3. Durchführung von Fokusgruppen und Befragung der landesweiten Selbsthilfeverbände und -gruppen in NRW……………………………………………………………………….............S. 14 2
5.2.3.1. Durchführung von Fokusgruppen zur Erhebung der Belastungen und deren Auswirkungen auf die psychische und physische Gesundheit……………………………………………………. ……………………S. 14 5.2.3.2. Fragebogen an die landesweiten Selbsthilfeverbände und Gruppen in NRW bzgl. der Aktualität des Themas Depressionen und psychosomatische Störungen………………………………………S. 21 5.2.4. Fachtagung 29.03.11 in Dortmund…………………………………….S. 24 5.3. Fazit des ersten Projektzeitraums………………………………………S. 27 5.4. Zweiter Projektzeitraum 08.2011–07.2013……………………….S. 28 5.3.1. Abschlussauswertungen………………………………………………………S. 28 5.3.2. Öffentlichkeitsarbeit…………………………………………………………….S. 28 5.3.3. Vorträge zur Information und Aufklärung der Selbsthilfe………………………………………………………………………S. 29 5.3.4. Regionale Aufklärungs- und Schulungsangebote zur Enttabuisierung der Thematik und zur Vermittlung von Methoden zum Umgang mit dem Thema innerhalb der Selbsthilfe…………………………………………………………………………….S. 36 6. Handlungsbedarfe für die Gesundheitsversorgung und die Selbsthilfe……………………………………………………………….S. 45 7. Empowerment als wesentliche Präventionsstrategie gegen Depressionen und psychosomatische Störungen..............S. 47 7.1. Das Empowerment-Konzept - Herkunft und Definition von Empowerment……………………………………………………………………..S. 47 7.2. Die Grundaussagen des Empowerment-Konzepts……………..S. 48 7.3. Empowerment-Training für Menschen mit Behinderung / chronischer Erkrankung………………………………………………………S. 49 3
Abschlussbericht und Darstellung der Projektergebnisse 1. PROJEKTRAHMEN Von Mai 2010 bis Juli 2013 führte die LAG SELBSTHILFE NRW e.V. in Kooperation mit dem NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung / chronischer Erkrankung NRW ein Projekt durch zum Thema „Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung/chronischer Erkrankung im Fokus der Selbsthilfe.“ 2. PROJEKTHINTERGRUND Behinderte und chronisch erkrankte Menschen sind von vielfältigen Stress erzeugenden Lebensbedingungen umgeben. Dazu gehören Formen der gesellschaftlichen Ausgrenzung bis hin zur Diskriminierung aufgrund körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung sowie ein Mangel an psychosozialer Unterstützung bis hin zu Isolation und Vereinsamung. Die im Lebensalltag entstehenden psychischen und körperlichen Belastungen ziehen bei behinderten und chronisch erkrankten Menschen häufig gravierende psychosomatische und / oder psychische Störungen insbesondere Depressionen nach sich. Diese wiederum können sich negativ auf den gesamten Verlauf einer Behinderung bzw. Krankheit auswirken mit gravierenden Folgen für das gesamte Leben (Arbeitslosigkeit / Rente / Armut / soziale Isolation). Bereits 2000 ergab die LIVE Studie zur Lebenssituation von Frauen mit Behinderung / chronischer Erkrankung, dass 93,5% aller befragten Frauen im Zeitraum eines halben Jahres vor der Befragung häufig gesundheitliche Beschwerden festgestellt haben in Form von Erschöpfungszuständen, Schlafstörungen, Schmerzen, Herz-Kreislaufstörungen und Depressionen. Die Ergebnisse stimmen mit den Erfahrungen aus der Arbeit der LAG SELBSTHILFE NRW e.V. und des NetzwerkBüros überein. Viele Frauen und Männer mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung haben mit psychischen Belastungen bis hin zu schweren Depressionen zu tun. Ein gesundes Leben, wie es die Weltgesundheitsorganisation vorsieht ist unter solchen Bedingungen nicht gegeben. Die WHO definiert in Ihrer Jakarta-Erklärung von 1997 die Grundbedingungen für Gesundheit folgendermaßen: „Grundvoraussetzungen für Gesundheit sind Frieden, Unterkunft, Bildung, soziale Sicherheit, soziale Beziehungen, Nahrung, Einkommen, Handlungskompetenzen (Empowerment) von Frauen, ein stabiles Ökosystem, nachhaltige Nutzung von Ressourcen, soziale Gerechtigkeit, die Achtung der Menschenrechte und die Chancengleichheit.“ Wie die Erfahrungen der LAG und des NetzwerkBüros zeigen, sind gleich mehrere der genannten Faktoren bei Menschen mit einer Behinderung / 4
chronischen Erkrankung nicht gegeben. Trotz der hohen Betroffenheit von Depressionen oder anderen psychischen Störungen gibt es kaum Unterstützungsleistungen, die auf die Bedarfe von Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung eingestellt sind. Die Unwissenheit in Bezug auf das Thema ist sehr groß. Die mangelnde Datenlage zum Thema und die fehlenden Unterstützungs- strukturen machen die Bearbeitung des Themas von Seiten der Selbsthilfe dringend erforderlich. Inbesondere durch Selbsthilfe werden die persönlichen und sozialen Gesundheitsressourcen gefördert und gestärkt. Durch ihr breites Aufgabenspektrum kann die Selbsthilfe die Qualität der angebotenen medizinischen Leistungen beurteilen und Verbesserungsbedarfe aufzeigen. Die Erfolge von Selbsthilfearbeit zeigen sich in der verbesserten Krankheits- und Problembewältigung, der psychosozialen Nachsorge sowie dem Abbau von Risikofaktoren (vgl. Heiko Ulbrich, BKK Landesverband NRW). Ferner verfügt die Selbsthilfe über eine bis in die örtlichen Ebene hinein ausdifferenzierte Organisations- und Vernetzungsstruktur, sowohl innerhalb der Selbsthilfe als auch zur Gesundheitsversorgung – eine notwendige Voraussetzung bei der Prävention von Depressionen und psychosomatischen Störungen. 3. PROJEKTTRÄGER UND PROJEKTKOOPERATIONSPARTNER 3.1. LANDESARBEITSGEMEINSCHAFT SELBSTHILFE VON MENSCHEN MIT BEHINDERUNG UND CHRONISCHER ERKRANKUNG UND IHREN ANGEHÖRIGEN NRW E.V. (LAG SELBSTHILFE NRW E.V.) Die LAG SELBSTHILFE NRW e.V. – Landesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung und chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen NRW, ist Träger des Projekts „Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung/chronischer Erkrankung im Fokus der Selbsthilfe“. In der LAG SELBSHILFE NRW e.V. (gefördert durch das Ministerium für Arbeit, Gesundheit, Soziales Nordrhein - Westfalen) sind 120 Mitgliedsverbände behinderter und chronisch kranker Frauen und Männer zusammengeschlossen, die im Themenbereich Gesundheit involviert sind und über breite Kenntnisse im Gesundheitswesen, über Krankheit und Behinderung und über eine ausgeprägte Vernetzungsstruktur verfügen. Als Dachverband der Selbsthilfeorganisationen chronisch kranker und behinderter Menschen in Nordrhein-Westfalen bietet die LAG SELBSTHILFE NRW e.V. eine ideale Informations- und Austauschplattform für die Belange Betroffener auch in Bezug auf das Thema Depressionen und psychosomatische Störungen. 5
3.2. PROJEKTKOOPERATIONSPARTNER NETZWERKBÜRO FRAUEN UND MÄDCHEN MIT BEHINDERUNG/CHRONISCHER ERKRANKUNG NRW Das NetzwerkBüro Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung NRW (gefördert vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen) in Trägerschaft der LAG Selbsthilfe NRW- ist Fachstelle für die Selbsthilfe und agiert als sozialpolitische Interessenvertretung von Frauen und Mädchen mit Behinderung/chronischer Erkrankung in Nordrhein-Westfalen. Sie verfügt über eine stabile Vernetzungsstruktur zu bundes- wie landesweiten Organisationen der Selbsthilfe, landesweiten Verteilern von Kommunen und Beratungsstellen sowie über einen breit angelegten Verteiler betroffener Personen, wie beispielsweise Institutionen der Behinderten(selbst)hilfe. Das NetzwerkBüro setzt sich für die nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation von Frauen und Mädchen mit Behinderung und chronischer Erkrankung ein. Um dies zu erreichen, tritt es in der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit für die Gleichstellung, Teilhabe und Selbstbestimmung betroffener Frauen und Mädchen ein und deckt die besonderen Belange behinderter Frauen sowie die strukturellen und ideellen Barrieren auf, denen betroffene Frauen immer wieder ausgesetzt sind. Durch ihre inzwischen fünfzehnjährige Erfahrung sind Mitarbeiterinnen des NetzwerkBüros und ihre ehrenamtlichen Netzwerkfrauen sehr nah an den Bedürfnissen, Problemen und Wünschen von Frauen mit Behinderung / chronischer Erkrankung. Zudem sind die Mitarbeiterinnen als selbst behinderte Frauen für die Betroffenen vertrauenswürdige Zuhörerinnen und Unterstützerinnen. Eine wesentliche Aufgabe sieht das NetzwerkBüro in der Unterstützung und Stärkung des Selbstbewusstseins von Frauen und Mädchen mit Behinderung, welche eine wesentliche Rolle bei der Prävention gegen Depressionen und psychosomatische Störungen spielt. 3.3. PROJEKTFÖRDERER AOK RHEINLAND / HAMBURG UND AOK NORDWEST Gefördert worden ist das Projekt von der AOK Rheinland / Hamburg und der AOK NORDWEST im Rahmen der kassenindividuellen Selbsthilfeförderung gem. § 20 c SGB V. Die folgenden Ausführungen sind im Projekt erarbeitet worden und dienten u.a. als Arbeitsgrundlage für Vorträge, Artikel etc. 6
4. DEPRESSIONEN UND PSYCHOSOMATISCHE STÖRUNGEN BEI MENSCHEN MIT BEHINDERUNG / CHRONISCHER ERKRANKUNG Die Ergebnisse einer weltweit durchgeführten WHO-Untersuchung zur Prävalenz psychiatrischer Erkrankungen belegen, dass 8,6% der Patienten in Allgemeinarztpraxen unter Depressionen leiden, die durch rezidivierende und chronifizierende Verläufe zu einem hohen Grad an psychosozialer Beeinträchtigung (28,2%) führen.1 Darüber hinaus hat die Anzahl der Menschen, die an psychosomatischen Krankheiten (körperliche Erkrankungen, die durch psychische Faktoren ausgelöst und/oder verstärkt werden können) leiden, erheblich zugenommen. Die gesundheitspolitischen Auswirkungen und Kosten psychischer und psychosomatischer Störungen sind erheblich. Die WHO erwartet für die nächsten Jahre eine weitere Zunahme von psychischen und psychosomatischen Störungen.2 Menschen mit Behinderung / chronischer Erkrankung aller Altersgruppen sind aufgrund ihrer multifaktoriellen Belastungen besonders gefährdet an einer psychischen und / oder an einer psychosomatischen Störung zu erkranken. Die entscheidenden sozialen Säulen eines im weitesten Sinne „gesunden“ Lebens sind Erwerbstätigkeit und finanzielle Absicherung, Familie und Kinder, Freunde und soziale Kontakte, physische Gesundheit, Teilnahme an Freizeit und Kultur sowie die Teilhabe an den demokratischen politischen Entscheidungsinstanzen. Eine solche psychosoziale Stabilität im Rahmen der Norm ist für viele Menschen mit Behinderung / chronischer Erkrankung nicht gewährleistet, denn bei den meisten Frauen und Männern mit Behinderung / chronischer Erkrankung sind gleich mehrere der obigen Faktoren nicht oder nur sehr eingeschränkt gegeben. Leben mit einer Behinderung/chronischen Erkrankung bedeutet in der Regel ein Leben mit großen gesundheitlichen Belastungen sowie lebenslange Abhängigkeit von Assistenz, Hilfen und Hilfsmitteln sowie von medizinischer Versorgung. Und zum Leben mit Behinderung/chronischer Erkrankung gehört der regelmäßige Kontakt (nicht selten auch eine „bürokratische“ Überbelastung) mit Medizinern, Krankenhäusern, Pflegepersonal, Krankenkassen, Rentenversicherungsträgern, 1 WHO/Dilling H. et al: Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 V (F). Klinisch-diagnostische Leitlinien. 6. Auflage, Hans Huber, Bern 2008 2 http://www.h-w-k.de/presse- oeffentlichkeit/pressemitteilungen/newseinzel/artikel/internationale-konferenz-am-hanse- wissenschaftskolleg.html 7
Rehabilitationseinrichtungen, Medizinischen Diensten etc. Zu den psychosozialen Belastungen kommen häufig latente bis massive Angstformen hinzu: Angst vor der Verschlechterung des Zustandes, vor der Zukunft oder vor dem tödlichen Verlauf der Behinderung / Erkrankung. Suizidale Ausprägungen sind oft vorhanden. Eine verbreitete Form des Bewältigungsversuchs ist die Ausbildung einer Suchterkrankung (Alkohol, Drogen u. a.) oder eines Burn-out-Syndroms. Bei fehlender Möglichkeit der Aufarbeitung der Ängste, der eigenen Belastungsgrenzen und entsprechenden Bewältigungsstrategien können sich vielfältige psychische und psychosomatische Störungen chronifizieren, was sich negativ auf den gesamten Verlauf einer Behinderung bzw. Krankheit auswirkt und ausgeprägte Konsequenzen für das gesamte Leben zur Folge haben kann (Arbeitslosigkeit / Rente / Armut / soziale Isolation). Die im Lebensalltag entstehenden psychischen und körperlichen Belastungen und deren Bewältigung ziehen bei behinderten und chronisch erkrankten Menschen häufig gravierende psychosomatische und / oder psychische Störungen nach sich. Diese wiederum wirken sich häufig negativ (kontraproduktiv) auf die Behinderungs- und Krankheits- bewältigung aus. Frauen sind aufgrund der gesellschaftlichen Benachteiligung einem besonderen Risiko ausgesetzt an einer Depression oder psychosomatischen Störung zu erkranken. Insbesondere die hohe Gewalt gegen Frauen mit Behinderung /chronischer Erkrankung stellt ein erhebliches Risiko für Depressionen und psychosomatische Störungen dar. Aktuelle Studien zeigen, dass Frauen und Mädchen mit Behinderung einem vielfachem Risiko ausgesetzt Opfer sexueller oder häuslicher Gewalt zu werden.3 4.1. WAS SIND DEPRESSIONEN UND PSYCHOSOMATISCHE STÖRUNGEN? - EINE DEFINITION – Die Depression ist eine psychische Störung mit Zuständen psychischer Niedergeschlagenheit als Leitsymptom. Der Begriff leitet sich von lateinisch deprimere ‚niederdrücken‘ ab. In der Psychiatrie wird die Depression den 3 Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften und interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF):Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung im Auftrag des Bundeministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, BMFSFJ, 2011. 8
affektiven Störungen zugeordnet. Hierbei handelt es sich um psychiatrische Störungen, bei denen es zu starken Abweichungen der normalen Stimmung kommt, mit massiven Einschränkungen der Lebensqualität, der sozialen Beziehungen sowie der Erlebnis- und Leistungsfähigkeit der Betroffenen. Im gegenwärtig verwendeten Klassifikationssystem psychischer und anderer Erkrankungen (ICD 10) lautet die Krankheitsbezeichnung depressive Episode oder rezidivierende (wiederkehrende) depressive Störung. Die Diagnose wird nach Symptomen und Verlauf gestellt. Folgende Symptome können bei einer Depression auftreten: • Gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit / Interessenverlust • Verminderung des Antriebes / erhöhte Ermüdbarkeit • vermindertes Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen • Gefühle von Wertlosigkeit und Schuld • Ängste, v. a. Zukunftsängste, Ängste etwas nicht zu schaffen • unklare körperliche Symptome, Schmerzen • eingeschränkte Leistungsfähigkeit etc. bis hin zu • Wahngedanken (Schuld, Verarmung, Krankheit) und Suizidalität Oft gehen Depressionen auch mit körperlichen Beschwerden einher wie z. B.: • Kopf- und Rückenschmerzen • Herzbeschwerden • Magen-Darm-Beschwerden • Atembeschwerden • Schlafstörungen Die Ursachen einer Depression sind also vielschichtig. Körperliche und psychische Vorgänge greifen ineinander. Bei manchen depressiven Patienten steht die psychische Belastung – aktuell und / oder aus der Kindheit – im Vordergrund, bei anderen Patienten die genetische Veranlagung oder körperliche Erkrankung. Oft ist es das Zusammenwirken dieser Faktoren, die bei der Entstehung einer Depression beteiligt sind. Je nach Schweregrad der Depression ist das Auftreten und die Dauer der Symptome sehr unterschiedlich. Das deutsche Bundesgesundheitsministerium schätzt, dass in Deutschland vier Millionen Menschen von einer Depression betroffen sind und dass gut zehn Millionen Menschen bis zum 65. Lebensjahr eine Depression erlitten haben. Frauen sind dabei doppelt so häufig betroffen wie Männer.4 Psychosomatische Störungen sind körperliche Störungen, die durch psychische Probleme wie chronischen Stress, berufliche Überforderung oder private Konflikte ausgelöst werden 4 Aus: http://de.wikipedia.org/wiki/Depressionen 9
Es gibt verschiedene Formen psychosomatischer Störungen: A: Im engeren Sinne • körperliche Erkrankungen mit einer nachweisbaren organisch bedingten Störung körperlicher Funktionen. Psychische oder soziale Faktoren spielen dabei eine mehr oder weniger bedeutsame Rolle in der Auslösung, Aufrechterhaltung oder Verschlimmerung der Störung. Beispiele für psychosomatische Erkrankungen sind: − Asthma − Bluthochdruck − Neurodermitis − Tinnitus B: Somatisierungsstörungen • körperliche Beschwerden und Krankheitsbilder, die durch psychische und psychosoziale Belastungen bzw. Überforderungen verursacht werden, ohne nachweisbaren Organbefund. Problematisch für Diagnose und Therapie. Folgende Beschwerden sind häufig vorzufinden: - Schmerzzustände wie Kopf- und chronische Rückenschmerzen - Magen-Darm-Beschwerden: Reizmagen, Reizdarm mit Übelkeit - Unterbauchschmerzen, Blasenbeschwerden - Sehstörungen / Augen - Allgemeine Müdigkeit, Abgeschlagenheit - Nervosität, Schlaflosigkeit C: Somatopsychische Erkrankungen • Krankheitsverarbeitungsstörungen psychische Folgeerscheinungen bei chronischen Erkrankungen - Krebs - AIDS - Schilddrüsenerkrankungen - zahlreiche Schmerzstörungen - Epilepsie - Erkrankungen des Gehirns (aus: Morschitzky,H.; Sator,S.:Wenn die Seele durch den Körper spricht. Psychosomatische Störungen verstehen und heilen. Walther Verlag, Düsseldorf, 2004.) 10
4.2. Entstehungsbedingungen von Depressionen und psychosomatischen Störungen Die Entstehungsbedingungen von Depressionen und psychosomatischen Störungen sind nie eindimensional zu sehen, sondern immer als ein Zusammenspiel von mehreren Faktoren. Mögliche Ursachen können sein: • genetische Faktoren • chronische Belastungen / Überforderungen • belastende Lebensereignisse • Armut • soziale Exklusion • fehlende soziale Unterstützung • neurobiologische Faktoren • chronische Schmerzen • frühkindliche Erfahrungen5 Die Ursachen einer Depression oder psychosomatischen Störung können also sehr vielschichtig sein. Körperliche und psychische Vorgänge greifen ineinander. Bei manchen depressiven Patienten steht die psychische Belastung – aktuell und / oder aus der Kindheit – im Vordergrund, bei anderen Patienten die genetische Veranlagung oder körperliche Erkrankung. Oft ist es das Zusammenwirken dieser Faktoren, die bei der Entstehung einer Depression oder psychosomatischen Störung beteiligt sind. Bei Menschen mit einer Behinderung oder chronischen Erkrankung kommt es häufig zu einer Potenzierung psychischer, körperlicher und psychosozialer Belastungen, so dass hier das Risiko an einer Depression oder psychosomatischen Störung zu erkranken besonders hoch ist. Verschiedene epidemiologische Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit eine psychische Störung zu entwickeln, bei Personen mit bestehenden 5 Prof. Dr. Reker:Psychische Folgen von Behinderungen / chronischen Erkrankungen. Vortrag auf der Veranstaltung: Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung am 29.03.2011 in Dortmund. 11
chronischen Erkrankungen im Vergleich zu Personen ohne Erkrankungen deutlich erhöht ist.6 Laut einer Studie von Härter et al. (2006) leiden 10 bis 20 Prozent der Patienten in der Kardiologie und Onkologie unter einer klinisch bedeutsamen Depressivität und Ängstlichkeit. Die Prävalenzraten für aktuelle psychische Störungen betragen zwischen 16 Prozent in der Kardiologie und 25 Prozent in der Endokrinologie. Am häufigsten sind affektive, Angst- und somatoforme Störungen.7 5. Projekt „Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung / chronischer Erkrankung im Fokus der Selbsthilfe – Aufklärung, Aktivierung und Vernetzung der Selbsthilfe für Maßnahmen gegen Depressionen und psychosomatische Störungen unter genderspezifischen Aspekten“. 5.1. PROJEKTZIELE UND PROJEKTUMSETZUNG Wie unter Punkt 2. dargestellt, ist die Unwissenheit in der Öffentlichkeit bzgl. des Themas Behinderung/chronische Erkrankung und Depressionen sehr groß, was dazu führt, dass es keine adäquaten Unterstützungsstrukturen für Betroffene gibt. Hinzukommt die mangelnde Datenlage zum Thema. Es gibt nur sehr wenige wissenschaftliche Studien, die das Thema Behinderung auf der einen Seite und psychische Folgebelastungen auf der anderen Seite eingehend untersucht haben. Wesentliche Ziele des Projekts waren daher die: Situationsanalyse bzgl. des Zusammenhangs von Behinderung auf der einen Seite und Depressionen / psychosomatische Störungen auf der anderen Seite sowie bzgl. der Aktualität des Themas in den Selbsthilfeverbänden und Selbsthilfegruppen in Nordrhein- Westfalen Aufklärung und Sensibilisierung der Öffentlichkeit und der regionalen Selbsthilfe zum Thema Depressionen / psychosomatische Störungen bei Behinderung und chronischer Erkrankung Des weiteren sollte die Selbsthilfe im Umgang mit der Thematik gestärkt werden. 6 Härter, Baumeister, Bengel (Hrsg.):Psychische Störungen bei körperlichen Erkrankungen.Springer Medizin Verlag Heidelberg, 2007 7 Härter M, Hahn D, Baumeister H, Reuter K, Bengel, J. (2006) Psychische Komorbidität bei Patienten mit körperlichen Erkrankungen – eine epidemiologische Studie in der stationären medizinischen Rehabilitation. In: Pawils S. und Koch U. Psychosoziale Versorgung in der Medizin. 12
Ein weiteres Ziel war daher die: Vermittlung von Handlungsstrategien im Umgang mit Depressionen und psychosomatischen Störungen für Selbsthilfeverbände- und Gruppen I. Umsetzung im 1. Projektzeitraum (05.2010 – 05.2011) Durchführung von Fokusgruppen Befragung der NRW-weiten Selbsthilfevereinigungen Fachtagung Abgeschlossen wurde der erste Projektzeitraum mit einer großen Fachtagung zum Thema am 29.03.11 in Dortmund auf der u.a. die Projektergebnisse vorgestellt wurden. II. Umsetzung im 2.Projektzeitraum (08/2011 – 07/2013) Informationsveranstaltungen zum Thema Vortrags-“Reisen“ zur Sensibilisierung und Aufklärung zum Thema Schulungsangebote für die Selbsthilfe zur Stärkung der Handlungskompetenz im Umgang mit Depressionen 5.2. ERSTER PROJEKTZEITRAUM (05 / 2010 – 05/ 2011) 5.2.1.INITIIERENDE AKTIVITÄTEN • Erarbeitung eines Projektverlaufplans Auf Grundlage des Bescheides zur Bewilligung des Projektes und der entsprechenden Zielvorgaben wurde ein Projektverlaufsplan incl. einer Finanzaufstellung entwickelt. • Umfangreiche Literatur- und Internetrecherche zum Thema Zur Einarbeitung in die Thematik wurde umfassende Grundlagenliteratur sowie aktuelle Veröffentlichungen zum Thema Depressionen und psychosomatische Störungen gesichtet und ausgewertet (siehe Literatur- und Publikationsverzeichnis). 13
• Erstellung eines umfangreichen E-Mail-Verteilers auf Grundlage der Recherchen zum Aufbau einer Vernetzung zum Thema in NRW 5.2.2.ÖFFENTLICHKEITSARBEIT Projektvorstellung - bei der Selbsthilfegruppe gehörloser Frauen aus Münster - bei der AG Frauen mit Behinderung in Münster - bei der Frauenforschungsstelle D.I.W.A/Münster Landesweite Bekanntmachung des Projekts über die Verteiler der LAG SELBSTHILFE und des NetzwerkBüros Erstellen einer Projektbeschreibung und breitgestreute Verteilung auf diversen Veranstaltungen der LAG und des NetwerkBüros, sowie auf der Reha-Messe „Reha-Care“ in Düsseldorf. 5.2.3 DURCHFÜHRUNG VON FOKUSGRUPPEN UND BEFRAGUNG DER LANDESWEITEN SELBSTHILFEVERBÄNDE UND -GRUPPEN IN NRW 5.2.3.1 DURCHFÜHRUNG VON FOKUSGRUPPEN ZUR ERHEBUNG DER BELASTUNGEN, UND DEREN AUSWIRKUNGEN AUF DIE PSYCHISCHE UND PHYSISCHE GESUNDHEIT Als Verfahren aus der qualitativen Sozialforschung eignen Fokusgruppen sich besonders gut, wenn man tiefergehende Informationen über die Situation, die Erwartungen und Wünsche einer bestimmten Zielgruppe erfahren möchte. Zur Analyse der Belastungen und ihrer Auswirkungen auf das psychische und psychosomatische Befinden wurden zwei Fokusgruppen mit Frauen und Männern mit unterschiedlichen Behinderungen und Erkrankungen durchgeführt. A Organisatorische und inhaltliche Tätigkeiten als Vorbereitung für die Fokusgruppen Literaturrecherche zur Handhabung der Fokusgruppenmethode TeilnehmerInnenaquise für die Fokusgruppen über landesweiten Verteiler, sowohl per e-mail als auch postal Inhaltliche Erarbeitung und Vorbereitung der Fokusgruppen Einarbeitung in die Methode der „Fokusgruppen“, inhaltliche Erarbeitung eines Diskussionsleitfadens als Gesprächsgrundlage, Erstellung von Unterlagen für die 14
Fokusgruppenteilnehmer, Erstellung von Präsentationsmaterial für die Diskussionen Organisatorische Vorbereitungen für die Veranstaltungen Durchführung von 2 Fokusgruppen; einer gemischtgeschlechtlichen und einer Frauengruppe zur zusätzlichen Erhebung frauenspezifischer Belastungen in Kooperation mit der Leiterin des NetzwerkBüros a jeweils 4,5 Stunden Transkribieren der Fokusgruppen Analyse und Erschließung zentraler Aussagen, inhaltliche und formale Strukturierung und Gliederung, Interpretation der Ergebnisse B Ablauf der Fokusgruppen Ziel der Fokusgruppen war es tiefergehende Informationen zu gewinnen über: Belastungen und deren Auswirkungen auf das psychische / psycho- somatische Befinden, Erfahrungen mit und in der Selbsthilfe behinderter und chronisch kranker Menschen, Erfahrungen mit psychosozialen und therapeutischen Unterstützungs- leistungen. Es wurden jeweils zwei moderierte Gruppendiskussionen á 4,5 Std. durchgeführt. Eine gemischtgeschlechtliche Gruppe mit 10 TeilnehmerInnen und eine reine Frauengruppe mit 14 Teilnehmer- Innen zur zusätzlichen Erfassung frauenspezifischer Belastungen. Die TeilnehmerInnen sind sowohl von Körberbehinderungen betroffen, wie z.B. Amputation, Kinderlähmung als auch von chronischen Erkrankungen wie z.B. Organtransplantation und Multiple Sklerose und auch von Sinnesbehinderungen wie Hör- oder Sehbehinderungen. Dabei zeigte sich, dass es sich bei dem Thema Depressionen und psychosomatische Störungen um ein Querschnittsthema handelt. C Zusammenfassende Ergebnisse Wiederkehrende Belastungen Die Durchführung der Fokusgruppen, sind äußerst gehaltvoll und aufschlussreich in Bezug auf das Thema gewesen. Beide Gruppen wurden sehr gut angenommen. 15
In der ersten Diskussionsrunde sind bei beiden Fokusgruppen folgende Aspekte als immer wiederkehrende Belastungen genannt worden: Zum einen wurden von den TeilnehmerInnen wiederkehrende körperliche Symptome genannt, wie z.B. Schmerzen oder chronische Erschöpfungs- zustände. Weiter wird der Bereich soziale Kontakte häufig als belastend erlebt. Einsamkeit und Isolation sind ein häufiges Problem. Insbesondere bei Menschen mit einer sogenannten „unsichtbaren“ Behinderung oder Erkrankung spielt Isolation eine Rolle, wie z.B. bei einer Hörbehinderung, bei der die Kommunikationsbarriere dazu führen kann, dass Betroffene außen vor sind und größere Schwierigkeiten haben mit ihren Mitmenschen in Kontakt zu treten, wie das Zitat von einer Frau mit Hörbehinderung zeigt: „Es ist eine enorme Belastung, dass man einfach nicht erklären kann, was es heißt hörgeschädigt zu sein, wo die Grenzen sind, nicht dabei sein, nicht zuhören, nicht mitlachen und sich freuen zu können und diese Situation ist eine enorme Belastung, die sehr stark zu Depressionen führen kann.“ Ein weiteres Problem mit denen Betroffene zu tun haben ist die chronische Überforderung. „Was ich aus meinem Alltag kenne ist mich ständig zu überfordern und deshalb auch schon mal an einer schweren Depression erkrankt bin“, so eine Frau mit einer Contergan-Schädigung. Eine Teilnehmerin mit einer Beinamputation drückte es folgendermaßen aus: „Also die Belastungen wirken sich bei mir psychosomatisch aus, also die Belastung der Überforderung. Wenn ich lauf, muss ich im Gegensatz zu Jemand mit zwei Beinen, drei mal so viel ackern. Und in den letzten Jahren hatte ich mich so überladen, weil ich auch ein temperamentvoller Mensch bin und es auch schwer einschätzen konnte, was kann ich leisten, was kann ich nicht leisten, so dass ich ein Burn-Out und psychosomatische Beschwerden hatte, wie Herz-Kreislaufstörungen und auch Depressionen. Also Depressionen, die einfach aus einer totalen Erschöpfung kamen.“ Als sehr belastend werden darüber hinaus Erfahrungen von Hilflosigkeit und Angst aufgrund von Fortschreiten der Erkrankung / Behinderung beschrieben, wie das Zitat von einer Frau mit einer Hörbehinderung zeigt: „Was kann ich tun, um es wenigstens aufzuhalten, habe ich die Ärzte immer wieder gefragt. Nichts, gar nichts - und das macht natürlich sehr hilflos,(…) diese Angst morgens aufzustehen und nicht zu wissen ist es jetzt schlechter geworden, kann ich arbeiten kann ich nicht arbeiten? (…) ich habe eine Angst entwickelt.“ Eine Teilnehmerin, der aufgrund ihrer Krebserkrankung ihr Bein amputiert werden musste, hatte darüber hinaus über einen langen Zeitraum panische Angst vor wiederholtem Auftreten der Erkrankung: „Ich hatte auch 16
immense Angst, ich hatte Angst davor zu sterben. Ich hatte Angst davor nochmal Krebs zu bekommen. Das war eine panische Angst, die sich auf alles ausgewirkt hat (…) und mich bestimmt noch über 15 Jahre danach sehr stark begleitet hat.“ Zu diesen unmittelbaren Belastungen, die bei den TeilnehmerInnen zu Depressionen oder psychosomatischen Störungen geführt haben, kommen viele weitere Belastungen hinzu, die den Umgang mit der Behinderung / Erkrankung stark erschweren können. Wie die Fokusgruppen gezeigt haben, können diese Faktoren vorhandene Depressionen und psychosomatische Störungen verstärken. Vielfältige Stressfaktoren im Alltag In folgenden Bereichen wurden vielfältige Stressfaktoren diskutiert: Im Bereich Partnerschaft / Familie berichteten insbesondere die weiblichen Teilnehmerinnen von der immer wiederkehrenden Angst, dem Partner oder der Familie zur Last zu fallen oder beklagten auch das häufig mangelnde Verständnis des Partners für die Behinderung / Erkrankung und die damit verbundenen Einschränkungen. Der Bereich medizinische Versorgung nahm einen sehr großen Raum in der Diskussion der Belastungen ein. Als sehr belastend wurde von den TeilnehmerInnen • die häufig kräftezehrenden Mehrfachüberweisungen zu den unterschiedlichen Fachärzten beschrieben, die u.a. dadurch zustanden kommen, dass die Ärzte sich nicht mit jeder Behinderung oder chronischen Erkrankung auskennen und die Betroffenen dann von A nach B überwiesen werden. • Weiter wurden belastende medizinische Eingriffe und Behandlungen von den TeilnehmerInnen als schmerzhaft und kräftezehrend beschrieben. • Ein großes Ärgernis stellt weiter das häufig mangelnde Feingefühl von Ärzten dar, wenn es um Diagnosestellung, Therapieverlauf und Aufklärung über die Behinderung / Erkrankung geht. Die Mehrheit der TeilnehmerInnen hatte diesbezüglich sehr negative Erfahrungen gemacht und wünschte sich mehr Sensibilität und Offenheit von Seiten der ÄrztInnen in Bezug auf ihre Bedarfe, Fragen und Nöte. Ein weiter Bereich der als Belastung erlebt wird ist der Bereich der Hilfsmittelversorgung. Zum einen durch die häufig sehr langwierige Bewilligungspraxis mit nötigen Hilfsmitteln und zum anderen auch die z.T. unzureichende Qualität und Funktion der 17
Hilfsmittel. So berichtete eine Teilnehmerin mit einer Beinamputation, dass sie sich schon seit vielen Wochen mit einer provisorischen nicht passenden Prothese plagte durch die das Gehen für sie sehr erschwert war. Ferner wurde von den TeilnehmerInnen berichtet, dass der Umgang mit Ämtern oder bürokratischen Strukturen häufig sehr schwierig ist. So berichteten die TeilnehmerInnen, dass die MitarbeiterInnen in den Ämtern häufig über mangelnde Kenntnis über behinderungs- und krankheitsspezifische Belastungen und Bedarfe verfügen und diese Unkenntnis dann zu sehr kräftezehrenden Auseinandersetzungen führt, wie z.B. der Kampf um eine Rente, die bei einer Teilnehmerin mit eine Beinamputation zuerst abgelehnt wurde mit der Begründung, dass dies keine Behinderung sei! Der Komplex Arbeit und Finanzen ist für fast alle TeilnehmerInnen mit großen Schwierigkeiten verbunden. Aufgrund mangelnder Aussichten in Ausbildung und Beruf leben fast alle TeilnehmerInnen durch den Bezug von Rente, Hartz4 oder Sozialhilfe in prekären finanziellen Verhältnissen. Weiter berichteten die TeilnehmerInnen, die in einem Arbeitsverhältnis stehen, dass sie häufig über ihre eigenen Grenzen gehen und Probleme haben sich abzugrenzen z.B. aus Angst den Job zu verlieren oder aus dem Gefühl heraus sich als behinderter / kranker Mensch besonders behaupten zu müssen. Frauen mit Behinderung / chronischer Erkrankung haben darüber hinaus nochmal mit weiteren Problemen zu kämpfen, wie z.B. mit • ungewollter Kinderlosigkeit, wenn z.B. wie es bei einigen Teilnehmerinnen der Fall war die Gebärmutter aufgrund der Erkrankung entfernt werden musste. • Weiter stellt das in unserer Gesellschaft geltende Schönheitsideal bei Frauen eine häufig große Belastung dar. Das Gefühl aufgrund der Beeinträchtigung keine „richtige Frau“ zu sein und nicht den gesellschaftlich vorgegebenen attraktiven Maßstäben zu entsprechen wird als große Last erlebt. Damit verbunden ist häufig auch die Schwierigkeit einen Partner zu finden. • Und schließlich erzählten einige TeilnehmerInnen von Erfahrungen mit häuslicher Gewalt oder auch Sexismus. Diese persönlichen Erfahrungen werden von Studien zur Gewaltbetroffenheit von Frauen mit Behinderung bestätigt. So sind Frauen und Mädchen mit Behinderung einem vielfachem Risiko ausgesetzt Opfer sexueller oder häuslicher Gewalt zu 18
werden.8 Die Diskussion in den Fokusgruppen lässt erkennen, dass das Leben mit einer Behinderung / chronischen Erkrankung häufig durch lebenslange Einschränkungen, Entbehrungen und kräftezehrende Auseinandersetzungen geprägt ist. Auch ist es schwierig unter solchen Bedingungen notwendige Ressourcen wie Lebenskraft, Lebensfreude, Energie und Optimismus zu entwickeln und zu erhalten, die den Umgang mit Stress erleichtern. Fehlen diese Ressourcen, können sich Depressionen und psychosomatische Störungen als Reaktion auf die belastenden Lebensumstände entwickeln. Erfahrungen mit der Selbsthilfe und mit psychotherapeutischen Unterstützungsleistungen Neben der Erhebung der Belastungen und der Folgen für die psychische und psychosomatische Gesundheit war eine weitere Frage an die TeilnehmerInnen, welche Erfahrungen sie mit der Selbsthilfe und mit psychotherapeutischen Unterstützungsleistungen gemacht haben. Die Erfahrungen mit der Selbsthilfe waren sehr unterschiedlich. Bei den positiven Aspekten tauchten folgende Aspekte immer wieder auf: Zum einen wird der Austausch mit anderen Betroffenen im Rahmen einer Selbsthilfegruppe als emotionale Unterstützung und Stärkung des Selbsthilfepotentials erlebt. Weiter ist die Selbsthilfegruppe ein Ort für Information und Aufklärung über die Behinderung / Erkrankung oder auch über Rechte und Ansprüche. Einige TeilnehmerInnen erzählten darüber hinaus, dass sie sich sehr gut von ihrem Verband unterstützt fühlten durch das Angebot von Wochenendseminaren und Beratung im Sinne des Peer-Counselling (Betroffene beraten Betroffene). Bei den negativen Erfahrungen standen folgende Aspekte im Vordergrund: 8 Universität Bielefeld, Fakultät für Gesundheitswissenschaften und interdisziplinäres Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung (IFF):Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Eine repräsentative Untersuchung im Auftrag des Bundeministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ. 2011. 19
Zum einen der schwierige Austausch in den Gruppen, der z.B. aufgrund unterschiedlicher Ausprägungen der Erkrankung oder Behinderung zustande kommt. Weiter wurde der fehlende Austausch über emotionale Befindlichkeiten mehrfach genannt sowie mangelnde Angebote der Verbände zum gegenseitigen Austausch. Die Erfahrungen mit therapeutischen und psychosozialen Unterstützungsleistungen waren überwiegend negativ geprägt: Zum einen wurde von den TeilnehmerInnen Das mangelnde Angebot an psychosomatischen und psychotherapeutischen Kliniken kritisiert. So gibt es beispielsweise insgesamt nur zwei Kliniken in Deutschland, die auf gehörlose Menschen eingestellt sind. Weiter die mangelnde Kenntnis bei ambulanten PsychotherapeutInnen und Fachärzten bzgl. der Situation und der Bedarfe von Menschen mit Behinderung/chronischer Erkrankung. Einige TeilnehmerInnen berichteten, dass diese mangelnde Kenntnis zu Fehldiagnosen, Fehlbehandlungen und auch Fehlmedikation mit Nebenwirkungen geführt hat. Ein weiterer Kritikpunkt war die mangelnde Barrierefreiheit in psychosomatischen Kliniken und auch bei niedergelassenen PsychotherapeutInnen. Neben diesen negativen Erfahrungen gab es aber auch TeilnehmerInnen, die sehr positive Erfahrungen mit Psychotherapie gemacht haben und diese als wichtige Unterstützungsform im Umgang mit schwierigen Situationen und dem Erlernen von Bewältigungsstrategien kennengelernt haben. „Und in der Therapie bekomme ich ganz viele Tipps, wie ich damit umgehe, dass ich auch mal in mich selbst hineinschaue, dass ich positiv denke, dass ich aktiv werde, das ist ganz wichtig für mich“, so eine Frau mit einer Hörbehinderung. Fazit: Fast alle TeilnehmerInnen haben aufgrund der vielfältigen Belastungen mit depressiven / psychosomatischen Störungen zu tun. Der Mehrheit der Betroffenen fehlt eine qualifizierte Unter- stützung und Betreuung durch Ärzte, Therapeuten etc. 20
Den Erfahrungen nach fehlt häufig die Kenntnis über behinderungsspezifische Bedarfe und über mögliche Folgebelastungsstörungen. Die Erfahrungen in den Selbsthilfegruppen sind sehr unterschiedlich. Einige haben eine gute Anbindung an eine Selbsthilfegruppe und fühlen sich dort aufgefangen und unterstützt. Allerdings fehlt vielen die emotionale Unterstützung in den Selbsthilfegruppen. 5.2.3.2 FRAGEBOGEN AN DIE LANDESWEITEN SELBSTHILFEVERBÄNDE UND GRUPPEN IN NRW BZGL. DER AKTUALITÄT DES THEMAS DEPRESSIONEN UND PSYCHOSOMATISCHE STÖRUNGEN Die Erhebung der Aktualität des Themas in den Selbsthilfeverbänden und - gruppen in NRW wurde mittels eines Fragebogens erhoben, der landesweit verschickt wurde. Organisatorische und inhaltliche Tätigkeiten: • Erstellen des Fragebogens • Landesweite Verschickung an die Selbsthilfevereinigungen in Nordrhein - Westfalen an u.a.: - LAG-Mitgliederverteiler - Kommunen - Behindertenkoordinatoren - Zentrum Selbstbestimmt Leben Köln - Selbsthilfekontaktstellen - Bundesverband Körper und Mehrfachbehinderte - kommunale und Landesverbände - Koskon - Integrationsfachdienste - Sozialverband Deutschland (SOVD) - Landschaftsverband Westfalen-Lippe - Landschaftsverband Rheinland Fragebogenauswertung Depressionen und psychosomatische Störungen – Ein Thema in der Selbsthilfe / Befragung der landesweiten Selbsthilfeverbände- und Gruppen Die Umfrage hatte in erster Linie das Ziel, quantifizierbare Daten aus dem Bereich der Selbsthilfe zu erhalten. 21
Zurück erhalten haben wir 50 Bögen mit ausführlichen Antworten von Verbänden, Einzelpersonen und Gruppen. Offensichtlich haben sich VertreterInnen verschiedener Behinderungs- und Erkrankungsarten durch die Thematik angesprochen gefühlt. Man kann also nicht sagen, dass das Thema Depression nur für einige wenige Behinderungsarten relevant ist. Es ist ein Querschnitt-Thema. Übersicht über die Rückmeldungen, geordnet nach Behinderungs- / Erkrankungsformen und Institutionen 1. Kein besonderes Behinderungsbild (2 ) 2. Aphasie und Schlaganfall (4) 3. Autismus, Rhein-Wupper 4. Blinde u. Sehbehinderte (2) 5. Bündnis gegen Depressionen 6. DCCV, Morbus Crohn- Colitis Ulcerosa 7. Multiple Sklerose (3) 8. Morbus Bechterew 9. Dystonie 10. Ehlers-Danlos 11. Emotions Anonymous, LEV 12. Hirnschäden (3) 13. Hörbehinderte 14. HSP-SHG, Hereditäre Spastische Paralyse 15. Kehlkopfkrebs 16. Brustkrebs 17. Lebenshilfe 18. Pro Retina 19. Querschnitt-Verein 20. Psychisch Kranke (4) 21. Rehasport-Gruppe 22. Körperbehinderung 23. Sarkoidose 24. SKFM Hilden 25. SKFM, Sozialdienst kath. Frauen 26. SOVD Düsseldorf 27. Stotterer 28. Vertrauensleute 29. Einrichtungen, Institutionen (IFD, Gleichstellungsbeauftragte) Insgesamt sind die Aussagen auf dem Hintergrund von etwa 23 ver- schiedenen Behinderungsarten gemacht worden. Damit wird unsere erste Annahme, dass es sich um ein Querschnitts- thema handelt, bestätigt. Auf der Basis der zweiten Annahme wird nach der Aktualität des Themas Depression in der Selbsthilfe gefragt. 22
Der übergroße Teil der Rückantworten, nämlich 74%, bestätigt, dass das Thema Depression von großer Aktualität und Relevanz in der Selbsthilfe ist. Interessant ist das Ergebnis bei der Nachfrage in Bezug auf Unterschiede bei psychosozialen Problemen von Männern und Frauen. Der größere Teil ist der Ansicht, dass die Unterschiede eher gering sind, aber auch ein nicht geringer Teil (10) macht keine Angabe. Die Frage nach Angeboten im Verband zur Thematik Depression / psychosomatische Störung wird in der Hälfte der Fragebögen verneint, obwohl sich die meisten ein solches Angebot vorstellen können und wünschen würden. Geschlechtsspezifische Angebote sind eher selten, nur 10% der antwortenden Gruppen halten Angebote vor. Selbsthilfeorganisationen und –gruppen sind vielfach mit dem Thema Beratung bzw. psychosoziale Beratung groß geworden. Beratung gehört sozusagen zu den originären Aufgaben, zum Alltagsgeschäft von Selbsthilfe. Umso erstaunlicher sind die Antworten, aus denen hervorgeht, dass nur 36% der Vereine/Gruppen psychosoziale Beratung anbieten. Von den 64%, die keine Beratung anbieten, sagt jedoch ein Großteil, dass Interesse bestehe, psychosoziale Angebote zu entwickeln, zumal der Bedarf an psychosozialer / psychotherapeutischer Beratung als sehr hoch eingeschätzt wird. In Anspruch genommen wird Beratung häufig, das sagen 62%, wenn nach Auswegen aus Stress gesucht wird. Groß ist der Wunsch nach Fortbildung zum Thema „Depressionen / Psychosomatische Störungen bei Behinderung und chronischer Krankheit“. Die meisten sehen es als ein relevantes Thema an, fühlen sich aber nur unzureichend informiert. Das spiegeln 68% der Antworten wieder. Bei der Frage nach Vernetzung mit Kooperationspartnern (BeraterInnen, PsychologInnen und ÄrztInnen) stellt sich heraus, dass weniger als die Hälfte der Vereine und Gruppen über institutionalisierte Kontakte zu professionellen Unterstützern verfügt, obwohl das als wichtig erachtet wird. Nur 14% der befragten Personen kennen Angebote der Krankenkassen und der Rentenversicherung zum Thema Depressionen, psychosomatische Störungen, Burn-Out und Stressbewältigung. 23
Bei weiteren Institutionen (Krankenhaus, Rehazentrum, Kurzentrum, usw.) werden geringe bis gar keine Kenntnisse zu den bereits genannten aufgezählt. Zusammenfassung: Wir haben es hier mit einem hochaktuellen, brisanten Thema zu tun, dessen Relevanz von Selbsthilfevertretern zwar erkannt ist, aber es fehlen materielle und personelle Ressourcen in der Selbsthilfe sowie Schulungs- und Fortbildungsangebote sowie verlässliche Kontakte zu professionellen Unterstützern, die sie befähigen könnten, sich stärker um das Thema zu kümmern. Viele fühlen sich nicht ausreichend informiert über das Thema und hätten dringend Interesse an Vorträgen, Informationsmaterial und Fortbildungen zum Thema: Depressionen / psychosomatische Störungen, Stressbewältigung, Soziale Kompetenzen, Stärkung des Selbsthilfe- Potentials, Geschlechtsspezifische Angebote. Der Ausbau von Unterstützungsleistungen in der Gesundheits- versorgung und in den Selbsthilfeverbänden ist dringend erforderlich. Insbesondere gilt es im Bereich der Selbsthilfeverbände Konzepte zu entwickeln und auszubauen welche verstärkt Möglichkeiten der Aufklärung, Begegnung und des Austauschs zwischen Betroffenen in Bezug auf die vielfältigen psychischen / psychosomatischen Belastungen ermöglichen. 5.2.4 Fachtagung 29.03.11 in Dortmund „Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung/chronischer Erkrankung als Thema im Fokus der Selbsthilfe“ Zum Abschluss des ersten Projektzeitraums wurde eine Fachtagung zum Thema durchgeführt, auf der Betroffene, VertreterInnen aus der Selbsthilfe und der Gesundheitsversorgung miteinander ins Gespräch kamen. Vorbereitende und inhaltliche Tätigkeiten: Konzepterstellung für die Fachtagung Organisation (Räumlichkeiten, GebärdensprachdolmetscherInnen etc.) Erstellung eines Einladungsflyers (Siehe Anlage) Landesweite Verschickung des Einladungsflyers 24
Absprache mit der Moderatorin und den Referenten Vorbereitung der Podiumsdiskussion Erstellen der Präsentationen (Fokusgruppen- und Fragebogenauswertung) Die Tagung war mit 90 TeilnehmerInnen sehr gut besucht. Ziel der Fachtagung war es über die Projektergebnisse zu berichten, eine Vernetzung zum Thema anzuregen und einen Bewusstseinsanstoß zum Thema zu geben. Vorträge: Siehe Anlage Prof. Thomas Reker, LWL – Klinik Münster: Zum Thema Wie entstehen psychische Störungen? Das Vulnerabilitäts – Stress- Coping- Modell als Beispiel Depression als Beispiel Frau Prof. Dr. Ingelore Welpe Zum Thema: Genderaspekte bei depressiven und psychosomatischen Störungen Wiebke Bewernitz, Projektreferentin Zum Thema: Depressionen und psychosomatische Störungen bei Behinderung/chronischer Erkrankung – Präsentation bisheriger Projektergebnisse Podiumsdiskussion Moderation: Frau Prof. Dr. Ingelore Welpe Teilnehmer: Dr. Sigrid Arnade, Stiftung LEBENSNERV – Stiftung zur Förderung der psychosomatischen MS-Forschung Linna Treuheit, Peer-Counselorin, Stiftung LEBENSNERV Burkhard Tapp, BDO - Bundesverband der Organtransplantierten e.V. Nils Könemann; BDO- Bundesverband der Organtransplantierten e.V. 25
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