Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch

 
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Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch
Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch | norient.com                           8 Dec 2021 20:13:57

    Am Anfang war ein Tropfen
    Kuhmilch
    by Milena Krstic

    Auf einer Reise durch Afrika hat die in Berlin lebende
    Schweizghanaerin Joy Frempong Tonextrakte
    zusammengetragen, die sie auf ihrem zweiten Album
    «Kokokyinaka» seziert. So verschroben ihre Methoden
    anmuten, entsteht am Ende doch eine wunderlich funkelnde
    Form von Popmusik.

    Sie stupst Puppen an und entlockt ihnen so Töne. Sie hört im Bremspedal
    eines Taxis den Bass für ihr nächstes Stück heraus. Kein Wunder, hat Joy
    Frempongs Plattenlabel Creaked Records ihr einen Freipass gegeben: Sie
    sollte eine Platte kreieren dürfen, die ihr vollkommen entspricht.

    Die ersten sieben Lebensjahre verbrachte die 1978 geborene Joy Frempong in
    Ghana. Dort, wo sich ihre Eltern, eine Schweizerin und ein Einheimischer, bei
    Bibelübersetzungen kennen lernten. Dann zog die Familie in die Schweiz. Joy
    Frempong machte die Matura und schloss die Jazzschule in Bern ab. Nach
    dem Studium entschied sie sich für einen eigenwilligen Weg, schrie in
    Mikrofone und streifte den Dadaismus. Sie spielte Konzerte rund um den
    Globus, aber ein Auftritt als Sängerin der Berner Elektro-Dub-Band Filewile in
    Südafrika blieb ihr in besonderer Erinnerung. Er veranlasste Joy Frempong zu
    einer Rückkehr.

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Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch
Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch | norient.com                            8 Dec 2021 20:13:57

    Das Potenzial dieses politisch geladenen Landes sei für die Künstlerin enorm
    gewesen: «Sehr bald war ich integriert in eine Szene, in der Kunst immer auch
    ein politisches Statement ist. Meine eigene Musik schien in dieser Umgebung
    an Bedeutung zu gewinnen.» Dann reiste sie weiter, gemeinsam mit einer
    Freundin und zwei Aufnahmegeräten: nach Mali, Burkina Faso und Ghana, in
    ihre Heimat. Ob auf Busfahrten erster, zweiter und dritter Klasse oder im
    Gewusel eines bunten Marktplatzes: Joy Frempong sammelte die
    Soundextrakte wie andere edle Souvenirs. Wollte sie unbemerkt aufnehmen,
    drückte sie unauffällig auf die Play-Taste des kleineren Recorders.

    Interview im Rahmen des Norient-Projektes Sonic Traces: From Switzerland

    Gemeinsam mit dem Produzenten Lleluja-Ha, der die Sängerin am
    Schlagzeug begleitet, hat sie Ordnung in die Sammlung von Klangschnipseln
    gebracht. Dazu meint Joy: «Irgendwann bin ich an Grenzen gestossen. Auf
    der Strasse einen Klang zu finden, der als Bass funktioniert, ist gar nicht so
    einfach.» Lachend ergänzt sie: «Aber die Waschmaschine meiner Mutter hats
    auch getan.» Oder, zur Not, ist es dann der Synthesizer. Denn eigentlich hatte
    sie nicht vor, ihn einzusetzen.

    Die schnarchende Tonmeisterin

    Es gibt Songs auf diesem Album, die an Zauber gewinnen, wenn Joy
    Frempong ihr Geheimnis lüftet. «At the beginning there was a huge drop of
    milk», rezitiert sie etwa in «Doondari» und verarbeitet darin nicht weniger als
    den Entstehungsmythos der Welt – so wie ihn die Fulbe-Nomaden sehen.

    Am Anfang ist also dieser gigantische Tropfen Kuhmilch. Bei Oy ist es
    zusätzlich ein flackernder Beat. Bald rennt ein Xylofon über eben diesen, über
    Joys verfremdete Stimme und wuchtige Trommelschläge. An einem
    Klangfetzen, den man als Refrain auszumachen glaubte, möchte man sich
    festkrallen. Aber die Tonmeisterin kennt keine Gnade: Sie zerreist die
    flüchtige Sicherheit mit einem rasanten Kehrreim. Episch leitet der
    Synthesizer das Ende ein. Ein Baby weint im Takt.

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Am Anfang war ein Tropfen Kuhmilch | norient.com                           8 Dec 2021 20:13:57

    Welt aus Geschnipsel und Flickwerk
    Die Tonsezierung scheint grenzenlos: In «Millionaire in Beggars Wear»
    zerhäckselt Joy ein Feuerwerk zu einem Beatgefüge. Aufgenommen hat sie
    die platzenden Feuerwerkskörper in Mali, an der Eröffnung eines
    Musikfestivals. (Reinhören: hier). Spätestens bei «No, I Don’t Snore» wird
    klar, dass es sich hier nicht um eine klassische Musik-CD handelt. Joy
    umrahmt ihre warme, beruhigende Stimme mit einer exquisiten Tonkulisse
    und kreiert so ein okkultes Hörspiel. Und: Niemand schnarcht so schön wie
    Joy Frempong.

    «Kokokyinaka» ist nicht nur eine unschuldige Herausforderung Oys an ihre
    Hörerschaft, sie verarbeitet auch Lebensansichten und traditionelle Mythen
    einiger afrikanischer Volksgruppen. Es ist nicht einfach, die Eingangstüre zu
    dieser Welt aus lauter Geschnipsel und Flickwerk zu finden. Aber hat man die
    Klinke einmal nach unten gedrückt und ist eingetreten, lässt es sich von einer
    nachhaltigen Faszination zehren.

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    Joy Frempong im Skype-Interview zu ihrem neuen Album in
    der Norient-Sendung Sonic Traces auf Radio Bern RaBe vom
    18. März [7']

    Der Text ist zuerst erschienen in Der Bund vom 23. März 2013.

    → Published on March 26, 2013

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    → Last updated on October 26, 2020

    Milena Krstic, in Bern ansässig, ist freie Journalistin und Musikerin. Solo tritt sie als
    Milena Patagônia auf, im Duo mit Sara Elena Müller als Cruise Ship Misery.

    → Topics

           Music Production
             Soundscape
              All Topics

    → Special
    Sonic Traces: From
    Switzerland

    → Snap

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