An was genau erinnert "Kiel 1969"? - GH

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Geogr. Helv., 75, 215–219, 2020
https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020
© Author(s) 2020. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

                            An was genau erinnert „Kiel 1969“?
                                                       Ulf Strohmayer
                          School of Geography, Archaeology & Irish Studies, NUI Galway, Ireland
                             Correspondence: Ulf Strohmayer (ulf.strohmayer@nuigalway.ie)

                           Received: 17 March 2020 – Accepted: 27 April 2020 – Published: 16 July 2020

       Kurzfassung. Für die Verortung der deutschen akademischen Humangeographie im Geflecht zwischen wis-
       senschaftlicher Praxis, theoretischen Propositionen und Lehralltag war der Geographentag in Kiel im Jahre 1969
       ein Meilenstein. Anlässlich der Erinnerung an den Ort und die Debatten vor 50 Jahren wurde wiederum Kiel
       im Jahre 2019 zu einem Ort der Reflektion. Der hier vorliegende Beitrag versucht in einer bewusst persönlich
       formulierten Art die Impulse, die von „Kiel 1969“ ausgingen, im universitären Alltag des Geographischen Insti-
       tutes der TU München in den 1980er Jahren zu verorten und hierdurch gewissermaßen zu relativieren. Hierdurch
       entsteht ein differenziertes Bild von richtungsweisenden Veränderungen und verharrenden Strukturen, welche in-
       einander verwoben die damals überregional bekannte Münchener Sozialgeographie charakterisierten – und für
       die deutschsprachige Humangeographie über die speziell Münchner Zustände hinaus bezeichnend waren.

   Pierre Nora zufolge sind Erinnerungsorte dadurch gekenn-        dere Leser*innen waren noch nie in Kiel oder 1969 noch
zeichnet, dass sie Erinnerungen (mémoires) erlauben, kon-          nicht einmal geboren. Festzuhalten bleibt deshalb, dass al-
kret zu werden und über sich hinaus zu gehen (Nora, 1984–          lein schon der Wille zur Erinnerung, wie auch darüber hinaus
1992; 1989). Letztere Charakterisierung, das „mehr als nur         das Objekt der Erinnerung, in der kollektiven Erinnerungsge-
ein Ort sein“, beinhaltet dabei zugleich eine symbolische          mengelage eine nicht nur vielschichtige, sondern auch poten-
Qualität, die solchen Orten zugeschrieben wird. „Kiel 1969“        tiell konfliktbesetzte Größe wird.
ist dabei einer jener Erinnerungsorte, der nur in Verbindung          Nichts am bisher Geschriebenen kann überraschen, ist
mit einem recht genau zu umreißenden Zeitpunkt – zwischen          doch das Wissen um das soziale „Konstruiertsein“ gesell-
dem 21. und dem 26. Juli 1969 – zu dem geworden ist, was           schaftlicher Erinnerungsprozesse mittlerweile Allgemeingut
ihn zum Thema dieses kurzen Einwurfes werden lässt. Wie            geworden. Es wurde gleichwohl den folgenden Gedanken
stets ist dabei die symbolische Qualität, die dem Geogra-          vorangestellt, um auf diese Weise keinerlei ursprünglicher
phentag (akkurater: der Geographentage) 1969 in Kiel seit-         Zweideutigkeit Raum zu geben: „Kiel 1969“ kann nur als
dem anhaftet, eine gemachte, ja: eine gewollte Konstellation,      Symbol diskutiert werden, dessen Bedeutung sich allenfalls
die im kollektiven Gedächtnis der Disziplin als solche wir-        kontextuell erschließt. Das Folgende ist der Versuch, diesem
kungsmächtig geworden ist. Wir erinnern uns, weil andere           Kontext durch eine persönliche Verortung der Bedeutung des
sich für uns immer schon erinnert haben. Deren Arbeit – zu-        Symbols – als Gestus im Sinne Uli Eisels – gerecht zu wer-
letzt etwa Heiner Dürr und Harald Zepps Lotsenbuch (2012)          den.
wie auch das 2014 erschiene Themenheft der Geographica                Für den 1961 geborenen Verfasser dieser Zeilen wurde
Helvetica – trifft auf unsere jeweilige Nostalgie, ein „Sich-      „Kiel 1969“ erst im Geographiestudium mit Bedeutung ver-
Erinnern-Wollen“ (Legg, 2005), welches den Ort der Erin-           sehen (vordem war das Datum, wie auch für Carl Troll, als
nerung zum mythosbeladenen (Korf, 2014) „Gestus“ (Eisel,           epochal allenfalls mit der Mondlandung besetzt und der Ort
2014) gefrieren lässt.                                             war mir gleich vollends unbekannt; siehe Michel, 2014, 303);
   Konditioniert wird dieser Gestus dabei jeweils eigen: War       dann aber gleich mit gründender Kraft versehen, war doch
die eine Leserin 1969 in Kiel dabei und aufmerksam an den          die TU München einer der Orte, an welchem zumindest der
Debatten beteiligt, so war der andere Überflieger dieser Zei-      Mythos des Neuen und Anderen, des Angewandten, bewusst
len zwar dort, aber geistig eher abwesend. Noch wieder an-         gepflegt und in die Praxis umgesetzt wurde. Die Entschei-

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
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dung für das Studium an der TU München war ihrerseits            levanz“ und „problemorientierten[n] Fragestellungen“ (Me-
mit dem für mich damals unsichtbaren Schatten von „Kiel          ckelein und Borcherdt, 1970, 201f), welche „Kiel 1969“
1969“ versehen: Als Nutznießer des ersten Jahrgangs von          maßgeblich geprägt hatten. Das Repertoire der modernen So-
in Baden-Württemberg angebotenen Erdkundeleistungskur-           zialwissenschaften wurde so im Studienalltag vermittelt und
sen wurde mir in den späten 1970er Jahren von Lehrer*innen       angewandt: Ganze Semester fanden gewissermaßen auf der
und Lehramtskandidat*innen unmissverständlicherweise be-         Straße statt und wurden der konkreten Anwendung der ge-
deutet, dass ein „modernes“ Studium der Geographie nicht         lernten Fähigkeiten gewidmet; die gegenwärtige Fokussie-
an allen deutschen Lehrstühlen zu gewährleisten sei; die         rung des Studiums auf individuelle Fertigkeiten und identifi-
TUM wurde mir als ein fortschrittlicher Studienort empfoh-       zierbares, berufliches Können mit all seinen Vor- und Nach-
len. Vorwegnehmend gesagt: Für die damaligen Ratschläge          teilen hat also hier sozusagen ihre Wurzeln. Interessanterwei-
bin ich auch heute noch weitestgehend dankbar.                   se war bei all dieser sozialwissenschaftlichen Ausrichtung
   Den Anspruch an ein „fortschrittliches“ Studium einzu-        des Studiums der eigentlich zentrale Dreh- und Angelpunkt
lösen, beinhaltete dann in den folgenden Monaten und Jah-        des Erinnerungsortes „Kiel 1969“ – die lauthals eingefor-
ren zuerst einmal die gewissermaßen rückwärtsgewandte Er-        derte Hinwendung zu einem raumwissenschaftlichen Ansatz
hellung der eigenen historischen Existenz: Ein Studium um-       und dessen Einlösung vermittels einer quantitativ orientier-
schreibt ja im gelungensten Fall auch Prozesse, die zur per-     ten Methodik – im Lehrplan zwar durch verpflichtende Kur-
sönlichen Reife beitragen. „Kiel 1969“ wurde solcherart ein-     se in Statistik und gelegentlich praktizierter Methodenkritik
gebunden in die Reflexion des kulturellen und politischen        ausgewiesen, gelangte aber gleichwohl selten nur über den
Umschwungs, der damals gemeinhin mit der Bezeichnung             Rang einer eigentlich ästhetischen Qualität hinaus. Wurden
„Mai 1968“, mit dem Ende Nachkriegsdeutschlands, vor al-         also eifrig Lochkarten in den universitären Rechner einge-
lem aber mit der Person Willy Brandts in Zusammenhang ge-        lesen und in einem anderen als dem TU Hauptgebäude die
stellt und von mir persönlich bisweilen nostalgisch als „Fluch   ausgedruckten Endlospapierschleifen abgeholt, so war doch
der späten Geburt“ reflektiert wurde: Gerne hätte ich den        das erlernte Verstehen eher ein qualitativ ausgerichtetes.
„fortschrittlichen“ Geist, der damals prägend Lehrerfahrun-         Die hier beschriebene Münchner Sozialgeographie war
gen neu zu definieren versuchte, von Anbeginn erlebt. Nicht      folglich in den 1970er und 1980er Jahren zu Recht als eine
vergessen werden darf hierbei, dass die Empfehlung hin-          progressiv ausgerichtete Schule bekannt: Die auf dem Kie-
sichtlich der TUM von jungen Lehrer*innen ausgesprochen          ler Geographentag 1969 angegriffene Länderkunde kam hier
wurde, die ihrerseits oft als Student*innen die Ereignisse im    kaum noch zum Zuge und wurde, wenn überhaupt, am Rande
und um den „Mai 1968“ erlebt und den Weg hin zur kreati-         vermittelt. Ähnliches galt im Übrigen auch für die Rezeption
ven Pädagogik mitgestaltet hatten. Darüber hinaus sind ge-       der bahnbrechenden Habilitation von Dietrich Bartels (Bar-
rade auch die thematischen Erweiterungen der gymnasialen         tels, 1968) – auch sie wurde 15 Jahre später im Unterricht
Lehrpläne – nicht nur, aber auch im Zuge der gymnasialen         nicht gelehrt oder besprochen.
Oberstufenreformen der späten 1970er Jahre – erwähnens-             Von zentraler Bedeutung war hierbei der für die TUM
wert, welche das Fach Geographie bewusst breiter aufstell-       1962 geschaffene, zunehmend praxisnahe Diplomstudien-
ten und gesellschaftlich zu verankern suchten. Kurz, das Re-     gang, welcher in Kombination mit Nebenfächern, Stu-
formjahrzehnt zwischen 1970 und 1979 hinterließ seine Spu-       dent*innen auf dem Weg in eine berufliche Zukunft vor allem
ren gerade auch im nicht-universitären Geographieunterricht.     in kommunalen (Planungs-)Ämtern das hierfür nötige Wis-
   Intellektuell wurde die Möglichkeit einer anderen Geo-        sen und Können zur Hand geben sollte. Nicht zuletzt war
graphie ihrerseits schnell eingebunden in den studentischen      hierbei auch die breite Auswahl an prinzipiell frei zu kombi-
Münchner Lehrplan, welcher seinerseits neben den bekann-         nierenden Nebenfächern – Soziologie, Politologie, Psycho-
ten, wenn auch erheblich modernisierten, länderkundlichen        logie, BWL, VWL, Ethnologie, Landschaftsökologie etc. –
Vorlesungen zunehmend methodologische und epistemolo-            richtungsweisend und für Studierende verlockend. Darüber
gische Module anbot. Gerade der Reflektion der Gedanken          hinaus wurde auch die Art und Weise des Vermittelns verän-
Thomas Kuhns wurde hierbei Raum bereitet (Kuhn, 1962;            dert und erweitert: Projektseminare und verbindliche Prak-
1967) – und solcherart das paradigmatisch „andere“ der ört-      tika verlängerten einerseits zwar den zeitlichen Umfang des
lich praktizierten Geografie indirekt betont. Das „Unmit-        Studiums, brachten aber andererseits auch neue, der Zeit ge-
telbare“ einer immer schon gegebenen Geographie (siehe           schuldete Befähigungen wie Gruppenarbeit und interdiszipli-
Schulz, 1971, 3) war hier von einer „gemachten“ und al-          näres Denken in eine dezidiert handlungsorientierte Geogra-
so „anders machbaren“ Geographie ersetzt worden. Viel di-        phie hinein.
rekter war „Kiel 1969“ allerdings präsent in der pragmati-          Der Erinnerungsort „Kiel 1969“ als indirekter, vermittel-
schen, konkreten Berufsorientierung, welche viele Aspekte        ter und praktizierter Betrachtungspunkt – kaum je als di-
des Studiums durchzog, und ihrerseits den Bezug zur ge-          rekt thematisierter – war dementsprechend im Umkreis der
samtgesellschaftlichen Relevanz des Faches stets vor Augen       TU München in den frühen 1980er Jahren vor allem ein Ort
hatte. Die doppelte Erinnerung trügt hierbei nicht, waren es     praktischer Relevanz: Wir wurden ausgebildet, um eine klar
doch gerade die Forderungen nach „gesellschaftlicher Re-         definierte Rolle in der damaligen bundesrepublikanischen

Geogr. Helv., 75, 215–219, 2020                                                     https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020
U. Strohmayer: An was genau erinnert „Kiel 1969“?                                                                          217

Wirklichkeit zu übernehmen – was beispielsweise unter der            „Im Rahmen des Positivismusstreits der deutschen
Führung von Günter Heinritz und seinem Team Forschung                Soziologie war der Unterschied zwischen kritisch-
über stadtferne Einkaufszentren, deren Planung und Anbin-            rationaler und gesellschaftskritischer Position ge-
dung beinhaltete (Heinritz, 1999). Dabei sollte auch nicht           rade der Hauptstreitpunkt: Sollte Sozialwissen-
vergessen werden, dass „Kiel 1969“ keinesfalls als ein im            schaft Sozialtechnologie oder Sozialkritik sein?
Kuhn’schen Sinne epochaler oder ,paradigmatischer‘ Bruch             Was in den Sozialwissenschaften Gegenstand tief-
mit einer akzeptierten, hegemonialen Wissenschaftslogik in           greifender Spaltung war, spielte in der geogra-
der Geographie gesehen werden muss oder soll: Auch die               phischen Debatte nur deshalb keine Rolle, weil
Münchener Sozialgeographie erwuchs ja ihrerseits beispiels-          die gemeinsame Ablehnung des Hergebrachten die
weise aus einem bei Hans Bobek skizzenhaft entwickelten,             geographische Studentenschaft einigte“ (Werlen,
funktional gedachten Begriffsvokabular, welches über das             2014, 295; siehe hierzu auch Michel, 2014, 301).
ursprünglich dem Landschaftsbegriff anhaftende, deskriptive
Erkenntniswollen hinaus einen klar analytischen Anspruch           Hards frühere Anmerkung, dass Debatten in der Geogra-
realisieren wollte (Bobek, 1959). Hartkes bahnbrechende Ar-     phie nach „Kiel 1969“ als „Gleichzeitigkeit des Ungleich-
beiten über den Pendlerbegriff realisierten ihrerseits diesen   zeitigen“ bezeichnet werden können, trifft diesen Umstand
Anspruch schon vor „Kiel 1969“ im Rahmen einer auf Indi-        anders, wenn auch auf nicht minder prägnante Art (Hard,
katoren basierenden Sozialwissenschaft, mündend im 1956         1971).
geprägten Begriff der ,Sozialbrache‘ (Hartke, 1956).               War das Geographische Institut der TUM in den 1980er
   Aus dem bisher skizzierten Kontext dürfte klar werden,       Jahren also eine weitgehend theorieferne Zone, in welcher
dass im Münchner Studienalltag der frühen 1980er Jahre          wissenschaftliches Tun dem Erlernen kritischer Reflexions-
„Kiel 1969“ allenfalls als methodologischer Anstoß und so-      fähigkeiten gegenüber priorisiert wurde, so war eine solche
mit als forschungspraktischer Impuls wahrgenommen wur-          forschungspraktische Rangordnung nicht auch gleichbedeu-
de. Diese Einschätzung deckt sich mit der Benno Werlens         tend mit der Abwesenheit von kritischen Diskussionen oder
zur selben Zeit am Kieler Institut „[a]ußerhalb des Lehrbe-     auch von politischer Arbeit. Kritische Arbeitskreise, ange-
reichs von Dietrich Bartels“ (Werlen, 2014, 293) und mit        wandte Methodenkritik im Unterricht, das Engagement Ein-
den Erinnerungen von deutschen Geographen, die dersel-          zelner in der SPD oder bei den Grünen trugen dazu bei, dass
ben („Boomer“-)Generation angehören (Helbrecht, 2014).          die Grenzen systemimmanenter Praktiken zumindest umris-
Der gleichfalls im Erinnerungsort „Kiel 1969“ ursprüng-         sen, wenn selten auch nur überschritten wurden.
lich mitschwingende Anspruch an eine „nicht wertfrei ar-           Als Garant für das institutionelle Infragestellen analyti-
beiten[de]“ „Theorie“ und „Kritik“-affine „Anthropogeogra-      scher Grenzen gab es am Geographischen Institut der TUM
phie“, die sich „dem Druck der Öffentlichkeit nicht bedin-      dann noch Heiner Dürr. Gewissermaßen zwischen den Stüh-
gungslos beugen [darf]“ (Meckelein und Borcherdt, 1970,         len als minderbefugter Professor lehrend, und uns Studieren-
206), war hingegen im Studienalltag weitestgehend abwe-         den primär wegen seiner Kenntnisse in Sachen „Dritter Welt“
send, oder besser: Er war marginal präsent, wurde aber nicht    vertraut, war Dürr vor allem als Vertreter einer „offene[n]
zum Leitthema wissenschaftlichen Handelns. Die Margina-         Geographie“ (Dürr, 1979) geschätzt. „Offen“ hieß hier vor
lisierung der nicht a priori systemkonformen Kritik war da-     allem: aufgeschlossen sein für neue Gedanken und auch ihm
mals an Personen festzumachen: Waren die damals an der          nicht geläufige Themen und Methodenansätze. Als beispiels-
TUM berufenen Ordinarien im Fach Geographie einer eng           weise der Verfasser dieser Zeilen im Jahre 1984 mit dem Plan
umrissenen gesellschaftlichen Relevanz (qua „funktionalis-      an ihn herantrat, eine Diplomarbeit über Obdachlosigkeit zu
tische[r] Fachkonzeption“, Werlen, 2014, 295) verpflichtet,     schreiben, deren empirischer Teil durch Veröffentlichungen
war für den sogenannten Mittelbau die praktizierte Kritik       von Anthony Giddens und den Vertretern schwedischer Zeit-
schon umfassender, mitweilen gar fundamentaler Natur (ex-       geographie theoretisch strukturiert werden sollte, war Dürr
emplarisch siehe Pohl, 1986).                                   offenen Ohres und bot kritische Begleitkommentare an (siehe
   Aus dieser Konstellation ergab sich eine für die Münch-      Strohmayer, 1988). Dürr war hierin nicht allein, wie ein Blick
ner Sozialgeographie typische Sowohl-als-auchPosition in-       in die Themen der seit 1953 vom Institut verantworteten
nerhalb der deutschsprachigen Humangeographie: Offen für        Münchner Geographischen Hefte verdeutlicht, in welchen
den Ruf nach einer neugefassten Geographie à la „Kiel           zeitgenössischer Aktionsraumforschung (Klingbeil, 1978),
1969“, war das Institut an der Ecke Luisen- und Gabelsber-      räumlichen Planungskonflikten (Kuhn, 1978) oder auch der
gerstraße gleichwohl einer systemerhaltenden Definition von     Verbreitung nicht ursprünglich in der deutschen Sprache ver-
Relevanz verpflichtet, die immerhin ansatzweise etwas mit       fasster Arbeiten (Buttimer, 1984) Raum geboten wurde.
Rudi Dutschkes, von Gramsci inspirierten, Gang durch die           Der Zweiklang aus gesellschaftsrelevanter und gesell-
Institutionen gemein hatte. Laut Benno Werlen war in dieser     schaftskritischer Sozialgeographie war also im Alltag am
Hinsicht die Geographie als Ganze sehr eigen gepolt:            Geographischen Institut der TUM, damals noch im Hauptge-
                                                                bäude angesiedelt, ein hierarchischer: Wolfgang Hartke war
                                                                als éminence grise bisweilen sichtbar, der vordem genann-

https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020                                                     Geogr. Helv., 75, 215–219, 2020
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te Günter Heinritz als sein direkter Nachfolger und Robert            Bezeichnend ist dabei ja nicht minder, dass der Man-
Geipel (im Institut weniger als Bildungsgeograph denn als          gel von Kritik sich nicht allein in der Form einer kaum
angewandter Risikoforscher sichtbar; siehe Geipel, Pohl und        je artikulierten gesellschaftlichen Kritik offenbarte, son-
Stagl, 1988) hatten ihre jeweiligen Territorien als Leitwölfe      dern auch als fehlender Einspruch gegen universitäre Miss-
abgesteckt und tolerierten bisweilen innovative akademische        stände verwirklichte. Die symbolische Wirkung von „Kiel
Praktiken, und der vergleichsweise machtfern verortete Hei-        1969“ war in München, wie eigentlich überall an bun-
ner Dürr durfte auf einem weniger sichtbaren Posten anhand         desdeutschen geographischen Lehrstühlen, dem geographi-
von damals recht neuen Dependenztheorien versuchen, Stu-           schen Wissenschaftsbetrieb, nicht aber der tragenden Wis-
dierenden den damals noch nicht so benannten „globalen Sü-         senschaftsstruktur, gewidmet. Und obwohl dieser Sachver-
den“ nahe zu bringen. Oberflächlich gesehen war diese Hier-        halt sicher kein Alleinstellungsmerkmal der Geographie ist
archie der direkte Ausdruck eines Generationenkonfliktes;          (wie Peter Weichhart im Rahmen der Kieler Diskussion im
wichtiger erscheint im Rückblick die direkte Abschwächung          Jahr 2019 zurecht anmerkte), so bleibt doch festzuhalten,
nicht allein des Stellenwerts von Kritik, sondern (und darin       dass der Erinnerungsort „Kiel 1969“, gerade im Kontext des
verwoben) des Beitrags, den radikale Theoriearbeit im Zuge         ,anti-autoritären‘ Impulses der späten 1960er Jahre, dem Be-
wissenschaftlichen Arbeitens zu leisten in der Lage war. Mit       griff der ,Macht‘ damals wenig Erklärungskraft zugestanden
anderen Worten, „Theorie“ war im Münchener Geographie-             hat. Die Folgen hiervon zeigen sich bis heute in weitestge-
Machen stets methodologisch verankert und somit von An-            hend unhinterfragten, mitunter feudal anmutenden, hierar-
beginn empirisch gedacht.                                          chischen Strukturen an deutschen Universitäten, wie auch in
   Das Ergebnis durfte der Verfasser der oben genannten Di-        der strukturellen Akzeptanz verlängerter prekärer Arbeitssi-
plomarbeit im Rahmen der obligatorischen mündlichen Prü-           tuationen. Gerade die fortdauernde Existenz eines hochmo-
fung direkt erfahren. Die prüfenden dramatis personae sol-         bilen akademischen Prekariats war damals wie heute syste-
len unbenannt bleiben, waren aber klar hierarchisch im Prü-        merhaltend – aber wurde als solches kaum je thematisiert und
fungszimmer verteilt. Das Ereignis mündete im bis heute            im günstigsten Fall durch die persönliche Intervention einer
im Gedächtnis verbliebenen Satz des Prüfungsleiters: „Herr         machtausübenden Person abgefedert. Die Tatsache, dass sich
Strohmayer, ich versuche nun seit den 1960er Jahren einen          der Gestus „Kiel 1969“, so er sich überhaupt auf einen Ver-
praktischen Sinn in den Schriften Adornos zu finden und            gleich mit außerhalb der bundesdeutschen Geographie prä-
es tut mir leid, aber auch Sie haben es nicht geschafft, mir       genden Strukturen und Praktiken einließ, allenfalls auf die
denselben zu entschlüsseln.“ Die Anekdote dient hierbei al-        gerade im angelsächsischen Raum verbreitete Radikalität so-
lein der Erhellung der Tatsache, warum es – den Arbeiten           wohl der quantitativ-theoretischen Neuerung wie auch der
Gerhard Hards, Hans-Dietrich Schulz’, Ulrich Eisels, Benno         marxistischen oder kulturgeographischen Wende verwies, ist
Werlens und anderer zum Trotz (siehe Belina, 2009 für eine         hierbei bezeichnend. Ist es wirklich keinem der damals täti-
Spurensuche „anderer“) – noch 20 Jahre brauchen sollte, bis        gen Geographen oder keiner der wenigen damals fest ange-
im Jahre 2004 eine theorieorientierte, kritische, pluralistische   stellten Geographinnen bewusst geworden, wie anachronis-
und zugleich empirisch verankerte Form der Humangeogra-            tisch und einem offenen Dialog diametral entgegenstehend
phie in Leipzig eine kollektive Stimme erhalten sollte.            die hierarchische Universitätsstruktur war und ist? War es
   Die Münchner Schule der Sozialgeographie, welche hier           wirklich undenkbar, einfach einmal den Blick auf ,andere‘
als Beispiel des praktischen Vermächtnisses von „Kiel 1969“        Strukturen zu werfen (oder solche zu erfinden) und sich für
angeboten wird, hatte den oben angeführten ,Zweiklang‘             eine gerechtere, generationenübergreifende, inklusive Ord-
zwischen Kritik und Relevanz im Lehr- und Forschungsall-           nung an bundesdeutschen Universitäten einzusetzen?
tag also gewissermaßen zu Ungunsten einer entweder episte-            Die Tatsache, dass unter den vordem genannten, theorieaf-
mologisch mächtigen oder ontologisch fundamentalen Kri-            finen Geographen etwa Schulz bei Hard und Werlen zumin-
tik entschieden. Im Studienalltag jedenfalls spielte weder die     dest kurz bei Bartels ihren jeweiligen Gedanken Form gaben,
eine noch die andere Form der Kritik eine maßstabsetzen-           zeigt ja zumindest, wie abhängig der von „Kiel 1969“ aus-
de Rolle, was angesichts des örtlichen Kontexts kaum über-         gehende, disziplin-immanente Veränderungsimpuls von per-
raschen kann: München war zur damaligen Zeit nicht ver-            sönlich geschaffenen und für den Zeitraum einer Doktorar-
gleichbar etwa mit West-Berlin, wo die aktive Hausbesetzer-        beit oder Habilitation erhaltenen Schutzräumen sowie den
szene eine den Alltag prägende Präsenz besaß und „Kritik“          hieraus sich ergebenen Netzwerken war. Deren Abwesenheit
demensprechend allgegenwärtig war. Dürrs treffende Benen-          an einer Mehrzahl deutscher Geographielehrstühlen war es
nung, gemünzt auf Eyal Weizmans Arbeiten über kolonia-             dann auch, die eine weitergreifende Veränderung geographi-
le räumliche Praktiken des Staates Israel, einer „engagier-        scher Praktiken im Wege stand. Ist die These zu gewagt, dass
te[n] Forschung“, „deren Ziel es ist, Handlungen auf konkre-       sich hieran bis heute – der fünften Novelle des deutschen
te, namhafte Akteure zurückzuführen und mit dieser Kennt-          Hochschulgesetztes im Jahre 2002 nicht zum Trotze – we-
nis politische Entscheidungsprozesse zu beeinflussen“ (Dürr,       nig geändert hat?
2011), trifft deshalb in gewissem Maße das Manko der selek-
tiven Erinnerung an „Kiel 1969“.

Geogr. Helv., 75, 215–219, 2020                                                       https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020
U. Strohmayer: An was genau erinnert „Kiel 1969“?                                                                                    219

Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze        Hard, G.: Über die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. An-
genutzt.                                                                 merkungen zur jüngsten methodologischen Literature in der
                                                                         deutschen Geographie, Geografiker, 6 12–23, online aufruf-
                                                                         bar: http://kritische-geographie.de/wp-content/uploads/2017/01/
Interessenkonflikt. Der Autor erklärt, dass kein Interessenkon-          Geografiker6_1971.pdf (letzter Zugriff: 15 Juli 2020), 1971.
flikt besteht.                                                        Hartke, W.: Die „Socialbrache“ als Phänomen der geographischen
                                                                         Differenzierung der Landschaft, Erdkunde 10, 257–269, 1956.
                                                                      Heinritz, G. (Hrsg.): Die Analyse von Standorten und Einzugsbe-
Danksagung. Die Abfassung dieses persönlichen Beitrags basiert           reichen. Methodische Fragen der geographischen Handlungsfor-
auf einem Vortrag anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Geogra-       schung, LIS Verlag, Passau, 1999.
phentags 1969 auf dem Deutschen Kongress für Geographie 2019,         Helbrecht, I.: Der Kieler Geographentag 1969: Wunden und Wun-
ebenfalls in Kiel. Mein Dank gilt meinen Ko-Kommentator*innen            der, Geogr. Helv., 69, 319–320, https://doi.org/10.5194/gh-69-
Julia Verne und Peter Weichhart, den Organisator*innen der Veran-        319-2014, 2014.
staltung Benedikt Korf und Ute Wardenga sowie all jenen, die zum      Klingbeil, D.: Aktionsräume im Verdichtungsraum Zeitpotentiale
Zuhören gekommen waren. Darüber hinaus gilt mein Dank auch               und ihre räumliche Nutzung, Münchner Geographische Hefte,
den Autor*innen der vielen Kommentare, die mir in Kiel und her-          41, Kallmünz, Lassleben, 1978.
nach per E-Mail die Vielschichtigkeit des von mir angesprochenen      Korf, B.: Kiel 1969 – ein Mythos?, Geogr. Helv., 69, 291–292, htt-
Kontextes nahegebracht haben; vor allem danke ich den ,Ehemali-          ps://doi.org/10.5194/gh-69-291-2014, 2014.
gen‘ Hans-Jörg Brey, Walter Kuhn und Sabine Tzschaschel für ih-       Kuhn, T. A.: The structure of scientific revolutions, Chicago, Uni-
re sehr konstruktive Kritik. Ein herzliches Merci auch an Benno          versity of Chicago Press (deutsch: 1967, Die Struktur wissen-
Werlen für verschiedene Gespräche zum Thema. Alle verbleiben-            schaftlicher Revolutionen), Suhrkamp, Frankfurt/Main, 1962.
den Fehler sind selbstredend allein von mir zu verantworten.          Kuhn, W.: Geschäftsstraßen als Freizeitraum synchrone und dia-
                                                                         chrone Überlagerungen von Versorgungs- und Freizeitfunktio-
                                                                         nen, dargestellt an Beispielen aus Nürnberg, Münchner Geogra-
                                                                         phische Hefte, 42, Kallmünz, Lassleben, 1978.
Begutachtung. This paper was edited by Benedikt Korf and re-
                                                                      Legg, S.: Contesting and surviving memory: Space, nation, and
viewed by one anonymous referee.
                                                                         nostalgia in Les Lieux de Mémoire, Environ. Plann. D., 23, 481–
                                                                         504, 2005.
                                                                      Meckelein, W. und Borcherdt, C. (Hrsg.): Deutscher Geografentag
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https://doi.org/10.5194/gh-75-215-2020                                                             Geogr. Helv., 75, 215–219, 2020
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