ARBEIT Die neuen Diener - Universität Göttingen
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TITELTHEMA ARBEIT Die neuen Diener Wir lagern immer mehr Haus- und Familienarbeit an andere aus. Möglichst billig, möglichst unverbindlich. Das schadet nicht nur ihnen. TEXT: KLAUS PETRUS | FOTOS: YVES ROTH | INFOGRAFIK: ANDREA KLAIBER UND ANNE SEEGER «Meine Putz- frau habe ich schwarz angestellt. Sie profitiert ja auch davon.» Sven T., 31, Unternehmer Beobachter 3/2022 15
Je mehr man verdient, desto eher beschäftigt man eine Reinigungsangestellte bei sich zu Hause. HYGIENE & 3% 10% 27% 12–14% der Schweizer Bevölkerung ORDNUNG 6000.– über beschäftigen bis 6000.– 10 000.– bis 10 000.– Reinigungspersonal eine Reinigungsangestellte. in Firmen und Haushalten D ie beiden kennen sich schon Sven T. ist keine Ausnahme, vielmehr die «Wenn wir alle über zwei Jahre, gesehen haben sie sich aber bloss drei-, viermal: Regel, sagt der Historiker Christoph Bartmann. Er redet denn auch von einer Rückkehr der Die- Anteil Kinder unter 13 Jahren, die von Nannys, Au-Pairs oder 6 von 8 QUELLEN: GFK/ONLINEHANDELSMARKT SCHWEIZ 2020, HOMEGATE.CH 2019, COMPARIS 2018, POLLI/MARKUS: «DIE UNSICHTBAREN», SRF/FISCH, STATISTA: «ONLINE FOOD DELIVERY REPORT 2021», IAW/JKU: «PROGNOSE ZUR ENTWICKLUNG DER SCHATTENWIRTSCHAFT […]» 42 Sven T.* und Martina S.*. Er ist nerschaft, an die wir alles Lästige auslagern. Die Babysittern betreut werden Haus- und PFLEGE & privat beschäftigten Unternehmer, 31, sie 38. Sie Zahlen geben ihm recht: Allein im Reinigungs- Familien Reinigungsangestellten arbeiten BETREUUNG putzt. Wenn er von ihr redet, sektor gibt es in der Schweiz gemäss Bundesamt Kinder in Paarhaushalten selbständig. arbeiten Milliarden Franken wurden im dann nur in den höchsten Tönen: Zuverlässig sei für Statistik 92 000 Angestellte, laut Fachleuten 4,6% Jahr 2020 schätzungsweise an andere sie, ordentlich und unkompliziert. Empfohlen wurde sie ihm von einem Freund. Der schwöre verdienen über 200 000 Menschen ihr Geld mit Putzen. 80 Prozent arbeiten Teilzeit, 80 Prozent 24-Stunden-Betreuerinnen, schwarz erwirtschaftet. delegieren, auf Spanierinnen, im Internet seien die leicht sind Frauen, 60 Prozent haben einen Migrations- Nannys und Au-Pairs Kinder in Einelternhaushalten Das sind sechs Prozent des bringen wir zu finden. hintergrund. Laut einer Comparis-Studie von 8,5% Bruttoinlandprodukts. das gute Martina S. kommt zwar aus Lissabon, macht 2018 beschäftigt jeder siebte Schweizer Haus- und erfüllte Leben sich aber kaum Gedanken über Sven T. Seine Wohnung ist eine von vielen, die sie zweimal pro halt eine Reinigungsangestellte, ein Viertel da- von ohne Sozialversicherungen. Die Gewerk- 4 DIE NEUEN Monat reinigt: vier Räume, grosse, offene Küche, schaften sagen, der Anteil der Schwarzarbeit davon sind nicht über ihre in Gefahr.» 30 000 zwei Badezimmer, wenige Möbel, aber modern, dürfte um einiges höher sein. Arbeitgeber unfallversichert. teure Küchengeräte. Er wird genug Geld haben, Christoph Bartmann, TIEFLOHN- Historiker meint Martina S. Sie wohnt ebenfalls in Bern, «Letztlich ein Skandal.» Diese Auslagerungen bloss ein wenig ausserhalb und bescheidener. von Arbeiten hätten viel mit Wertigkeit zu tun, sogenannte Care-Migrantinnen Ganz normal, sagt Sven T. auf die Frage nach sagt Bartmann. «Um uns dem Höherwertigen aus Osteuropa sind Schätzungen JOBS dem Lohn: mittleres Kader, knapp 120 000 Fran- widmen zu können, legen wir das Niedrigwerti- zufolge in Privathaushalten 2 ken auf 100 Prozent. Er arbeitet vier Tage die ge in fremde Hände.» Das seien klare Anzeichen beschäftigt. Wie viele Woche, aber recht flexibel. Seine Freundin, 28, einer neofeudalen Wohlstandsgesellschaft. Es 24-Stunden-Betreuerinnen mit der er die Wohnung teilt, ist 60 Prozent in der geht ihm nicht um jene «müssige Klasse», die es insgesamt in der Schweiz tätig Verwaltung tätig. Zusammen verdienen sie um sich leisten kann, nicht zu arbeiten. Sondern um sind, ist nicht bekannt. erhalten nicht mal Übers Internet vermittelt, Sozialleistungen. die 150 000 Franken im Jahr. Genug, aber nicht Menschen wie Sven T., die ihr Privileg, sich be- luxuriös sei das: Miete, Steuern, Versicherungen, dienen zu lassen, über Ausbildung und Leistung kein Vertrag, keine Versicherung: Klamotten, Ausgang, Auto, Fitness und Ferien, erworben haben – ein Privileg, das massive Un- So stark hat der Onlinehandel prekäre Verhältnisse für viele. das läppere sich zusammen, rechnet Sven T. vor. gleichheiten hervorrufe und letztlich ein Skan- aus dem In- und Ausland INFOGRAFIK: ANNE SEEGER UND ANDREA KLAIBER Martina S. bekommt von ihm 23 Franken die dal sei, meint Bartmann. zugenommen; Marktvolumen Stunde. Das Geld legt er ihr auf den Tisch, meist Sven T. ist das egal. Für ihn stimmt der Deal. in Milliarden Franken. in einem Couvert. Einen Vertrag gibt es nicht. «Ich gebe ihr Arbeit, sie verkauft mir Zeit.» Zeit, 15 So viele Millionen Pakete wurden 13,1 Mrd. Fr. 50 000 Überhaupt habe er erst gar nicht realisiert, dass die er in angeblich Wichtigeres investiert als ins 2019 und 2020 versandt ( ) und er nun Arbeitgeber sei. Eine vertragliche Rege- Putzen, Hemdenbügeln oder Einkaufen. Zeit, die 12 retourniert ( ). lung war ihm dann aber zu kompliziert, also hat er in noch mehr Arbeit steckt, in seine Beziehung er Martina S. schwarz angestellt. «Schliesslich und seine Hobbys. Zeit auch, die er brauche, um 9 69,6 Sans-Papiers arbeiten profitiert ja auch sie davon. Mit den Abzügen mal abzuschalten, um zu gamen, die sozialen schätzungsweise in Privat käme sie kaum auf 20 pro Stunde. Das ist schon Medien zu checken, Filme zu streamen. haushalten als Reinigungs 6 nicht der Haufen», sagt Sven T. Für all das hat Martina S., Mutter von zwei 5,1 Mrd. Fr. angestellte oder in der Pflege. Kindern, kaum Ressourcen. Ihr Leben ist kom- 55,7 Das ist die Hälfte aller Menschen, Das Leben «on demand». Dass er eine Putzhilfe pliziert, weil ihre Arbeit kompliziert ist. Das be- 3 die ohne Aufenthaltsbewilligung hat, findet Sven T. normal. Fast alle seine Be- ginnt mit den unterschiedlichen Arrangements: in der Schweiz leben. kannten machen das so. Ihm und seiner Freun- Acht Stunden die Woche ist sie bei einer Reini- 0 2010 2020 din fehle schlicht die Zeit dafür. «Und ja», fügt er gungsfirma tätig, wo sie einen im Gesamtarbeits- an, «wer putzt schon gern.» Zeit oder, wie er auch vertrag geregelten Mindestlohn von Fr. 19.20 be- Immer mehr Leute bestellen sich Mahlzeiten nach Hause – direkt bei sagt, Entlastung erkauft sich Sven T. auch in kommt, sozialversichert ist und Zuschläge erhält Restaurants oder über Onlineplattformen. Der Anteil der Bevölkerung, anderen Bereichen. Er hat für fast alles eine App, auf Nachtschichten und Wochenendeinsätze. der diese Dienstleistung nutzt, wird weiter zunehmen. KONSUM & kauft online ein – Geräte, ein neues Regal, Essen Dazu kommt fast ein Dutzend private Haushalte; beim Discounter, auch Kleider – und bestellt die meisten reinigt Martina S. zweimal pro Mo- TRANSPORT 30% regelmässig Pizza oder Curry beim Kurier. Das nat, im Schnitt jeweils zwei Stunden. Hier arbei- meiste, was er braucht, bekommt er so «on de- tet sie mehrheitlich schwarz, der Stundenlohn mand» und «in time». An die Menschen dahinter beträgt zwischen 22 und 30 Franken bar auf die 20% denke er kaum, er sieht sie ohnehin nicht. Wie Hand. Manche Kundinnen und Kunden beste- Food-Kuriere, er auch Martina S. nie sieht. hen auf einem regulären Arbeitsvertrag, dann Paketzustellerinnen 13,9 15,4 10% 0% 2017 2018 2019 2020 2021 2022 2023 2024 2025 16 Beobachter 3/2022 *Name der Redaktion bekannt 2019 2020
arbeitet sie nach Abzügen schon mal für unter Sven T. fühlt sich wohler, wenn er Martina S. 20 Franken. nicht begegnet, wenn sie seine Küche aufräumt Früher hat sich Martina S. über Agenturen an- und sein WC putzt. Eine gewisse Scham spüre geboten, doch damit hat sie aufgehört, seit sie er schon. Nur: «Was ist die Alternative? Ich könn- von den horrenden Provisionen weiss. In einem te ihr mehr Geld geben. Sie weiterempfehlen. Fall verlangte die Agentur vom Kunden 32 Fran- Oder ordentlich anstellen. Aber sonst?» Sven T. ken. Sie erhielt 22 Franken. Heute bietet sie sich ist sich bewusst, dass er aus einer bevorzugten über Vermittlungsplattformen an oder wird, wie Position heraus redet. Wohl aber weniger, dass im Fall von Sven T., weiterempfohlen. er mit seinen Lösungen die augenfällige Un- Diese Minijobs sind zeitintensiv, teils fährt gleichheit zwischen ihm und Martina S. bei «Wer so Martina S. – ohne Entschädigung – über eine behalten möchte. arbeiten Stunde von Wohnung zu Wohnung. «Ich bin mal hier, mal dort, meine Tage sind zerstückelt. Da- Es bringe wenig, einzelne Personen zu be- schuldigen, so die Soziologin Nicole Mayer-Ahu- muss, darf runter leiden auch die Kinder – und meine Ehe.» ja. Man überwinde besser die strukturellen Hin- definitiv Weil sie immer wieder abends arbeiten muss dernisse. Damit meint sie die Ausweitung der nicht und ihr Mann, auch er Portugiese, als Lagerist Arbeitszeit und die immer höheren Ansprüche gesehen «Meine Mutter bei einem Grossunternehmen Schichten macht, kann es sein, dass sie sich tagelang kaum sehen. an die Flexibilität. «Dadurch wird es für Ange- stellte schwieriger, neben ihrem Job noch Haus- werden.» selber zu Das Schlimmste aber sei die Isolation, sagt Mar- tina S. «Ich komme kaum noch mit Leuten in halts- und Familienarbeiten zu verrichten. Hier braucht es alternative Arbeitsmodelle.» Oder Nicole Mayer-Ahuja, Institut für Soziologie, pflegen, hiesse: Kontakt. Wo ich arbeite, ist sonst niemand.» dass sich die Wertschätzung einer Arbeit nicht Universität Göttingen meine Karriere Diese Isolation geht einher mit der Privatisie- auf symbolische Anerkennung und Applaus be- rung der Reinigungsarbeit, sagt Nicole Mayer- schränkt. Das habe Corona deutlich gezeigt. «Es Mehr zum auf Eis zu legen.» Ahuja, Soziologieprofessorin an der Universität Göttingen. «Früher waren Putzhilfen vor allem geht um bessere Löhne, aber auch um soziale Absicherung und kollektive Interessenvertre- Thema prekäre Maria K., 43, Beraterin in Verwaltung und Schulen tätig. Sie arbeiteten tung», sagt Mayer-Ahuja. Sonst hafte dem Putzen Arbeits verhältnisse lesen Sie zu normalen Zeiten, gehörten zur Belegschaft, weiterhin ein sozialer Makel an und würden die im Interview mit der wurden zu Firmenessen eingeladen. Heute sind Menschen dahinter geringgeschätzt. «Heute fal- Soziologin Nicole sie bei privaten Firmen angestellt, arbeiten zu len uns diese Jobs nur noch auf, wenn sie nicht Mayer-Ahuja auf: Randzeiten oder nachts und stehen unter enor- gut gemacht werden. Das darf nicht sein.» beobachter.ch/may mem Zeitdruck.» Inzwischen vergeben 95 Prozent der Unter- **** nehmen diese Arbeit an Privatfirmen, und die Als die Familie sie fragte, ob sie sich vorstellen Branche wirbt mit «unsichtbarer Reinigung» – könne, im selben Bett zu schlafen wie die 81-jäh- die Kundschaft soll nicht durch die Anwesenheit rige K.*, da wurde ihr eng. Dabei kennt Elena A.* der Reinigungskräfte gestört werden. Die per die demenzkranke Frau K. schon gut zwei Jahre. fekte Unsichtbarkeit gebe es in Privathaushal- Damals begann Frau K., ihre Sachen zu verlegen, ten, die Putzhilfen unter prekären Bedingungen sie versteckte mal einen Schlüssel, mal eine oder schwarz anstellen, sagt Mayer-Ahuja. «Wer Haarbürste, sie reagierte unwirsch auf Geräu- so arbeiten muss, darf definitiv nicht gesehen sche oder wurde aggressiv. Einmal packte sie werden und kommt sozial gar nicht mehr vor.» ihren Enkel gar an den Haaren, einfach so. In ein Altersheim zu zügeln, kam für Frau K., Akkordarbeit und Stolz. Den Druck spürt auch die zwischendurch klar und bestimmt ist, nicht Martina S., vor allem bei Reinigungsfirmen. Es in Frage. Daraufhin engagierte ihre Tochter übers ist Akkordarbeit. Die Zeit fürs Putzen wird in der Internet eine, wie das heisst, «24-Stunden-Be- Regel nach Fläche oder Raum bemessen, egal, treuung»; eine Person, die bei ihrer Mutter wohnt wie unordentlich und verschmutzt es ist. Was und quasi rund um die Uhr für sie da ist. Und so sie besonders stresst: «Ich weiss nie, ob ich alles kam die damals 56-jährige Elena A. in das Leben FOTO: KLAUS PETER WITTEMANN gesehen habe. Dann putze ich lieber gründlich von Frau K. und bleibe halt länger.» Nicht bloss aus Angst vor Elena A. macht diese Arbeit seit 13 Jahren, Kontrollen, die offenbar mit der Anonymisierung lange in Interlaken, jetzt in der Nähe von Biel. Im der Reinigungsarbeit ebenfalls zugenommen Schnitt bleibt sie einen Monat bei Frau K., dann haben, sondern auch aus Stolz: «Ich will, dass reist sie für drei Wochen nach Rumänien zu die Räume sauber sind.» ihrem Mann und den beiden Söhnen. Zurück in *Name der Redaktion bekannt Beobachter 3/2022 19
Putzen, pflegen, liefern lassen: So bleiben Sie fair der Schweiz, macht sie Frau K. den Haushalt, Maria K. mit der Rumänin selbst ausgehandelt. Reinigungskräfte Gewerkschafterin von Cranach Januar jedoch relativiert. Die gesamte Branche auszuarbei- putzt, kauft ein, kocht, bügelt, füttert die Katzen, Fair für beide Seiten, wie sie sagt – jedenfalls im Der Reinigungssektor boomt. empfiehlt, Putzhilfen nur über Gewerkschaften raten, sich ten. Das böte den Kurieren sie badet Frau K., föhnt ihr Haar, cremt sie ein, Vergleich zu dem, was Elena A. in Rumänien ver- Die grösste Schweizer Platt- Firmen zu suchen, die als an Agenturen zu halten, die als mehr Sicherheit sowie einen sie hört ihr zu oder erzählt von sich, von ihrer dienen würde. form Homeservice24.ch Arbeitgeber auftreten und Arbeitgeber auftreten, ihren Mindestlohn von Fr. 20.65 pro Kindheit und wie das war im Kommunismus. Von einer Win-win-Situation reden auch die wächst jährlich um bis zu mindestens dem Gesamt Sitz in der Schweiz haben, eine Stunde. Zudem dürfte eine Frau K. sei nett und höflich und zivilisiert, sagt Agenturen, die mit Slogans wie «Bezahlbare 20 Prozent. 72 000 Menschen arbeitsvertrag unterstellt sind. Bewilligung des jeweiligen Mindestarbeitszeit von drei Elena A. Nur in der letzten Zeit, da gebe sie sehr Pflege – unbezahlbare Herzlichkeit» werben. Das bieten dort ihren Service an. Das ist etwa bei Putzfrau.ch Kantons vorweisen können, Stunden nicht unterschritten ab. «Sie schreit mich an, sagt unschöne Dinge. sei krass beschönigend, sagt Soziologin Sarah Plattformen wie diese stehen der Fall oder bei der Firma mindestens zwei Betreuerinnen werden; eine Anstellung auf In der Nacht muss ich drei-, viermal aufstehen. Schilliger. «Wenn man die 24-Stunden-Betreu- in der Kritik. «Beschäftigung Proper Job, die sich für legale vermitteln, die sich abwech- Minutenbasis wäre nicht mehr «Nur wenn Sie kann nicht mehr allein sein. Ich glaube, sie ung besser regulieren, korrekt entlöhnen und über verschiedene Kleinst und faire Verhältnisse einsetzt. seln, sowie eine Pauschale möglich. So will man Minijobs Betreuerin- hat Angst.» Elena A. setzt das zu. Sie fühle sich die Angestellten sozial vollständig absichern pensen ist für die Angestellten Zudem gibt es die Vermitt- von monatlich wenigstens für einen Minilohn verhindern. nen Schicht oft hilflos, sei erschöpft, es plage sie das schlech- te Gewissen. Wenn sie einmal die Woche mit würde, wäre dieses Angebot nicht mehr günsti- ger als eine Betreuung im Altersheim oder durch prekär, und die Sozialversiche- rungen bleiben auf einem lungskooperative Autonomia, die für Reinigungsangestellte 6000 Franken verrechnen. Wenn Familienmitglieder die Das beträfe auch Lieferdienste wie Just Eat oder Smood. arbeiten, ihrer Bekannten auf einen Kaffee geht, behält sie die Spitex. Dann wäre es nicht länger eine Billig- Minimum», sagt Stefanie von Nettostundenlöhne von 30 Arbeitgeber (von migranti- Wann der Gesamtarbeits können das Handy die ganze Zeit in der Hand, falls Frau lösung für unser Betreuungssystem, bei dem die Cranach von der Gewerkschaft Franken, fünf Wochen Ferien, schen) Angestellten sind, vertrag greift, ist unklar. Das sie sich K. anrufen sollte. Als sie vor Weihnachten für vier sozialen Kosten auf Betreuerinnen ausgelagert Unia. «Einige Plattformen sind Sozialleistungen und ein berät die Plattform Careinfo.ch Basler Familienunternehmen erholen und Tage nach Hause flog, hatte Elena A. das be- stimmte Gefühl, sie hätte eigentlich in Biel blei- werden.» Hinzu komme, dass die Betreuerinnen in der Zeit, da sie bei sich zu Hause sind, nichts verkappte Arbeitgeber. Trotz- dem treten sie nur als Vermitt- geregeltes Arbeitspensum garantiert. über rechtliche Aspekte, eben- so das von der Gewerkschaft Velogourmet.ch hat sich dem- jenigen von Swiss Messenger soziale ben müssen. verdienen und dadurch der Monatslohn eigent- ler auf und stehlen sich damit VPOD Basel gegründete Logistic angeschlossen. Kontakte «Prisoner-of-Love-Dilemma» nennt die Sozio- lich halbiert werde. Im Fall von Elena A. heisst aus der Verantwortung gegen- Pflege im Haushalt Netzwerk Respekt. Co-Geschäftsführer Joost pflegen.» login Sarah Schilliger dieses Phänomen. Men- das: 3800 Franken minus 990 Franken für Kost über den Arbeitenden.» In der 24-Stunden-Betreuung Oerlemans dazu: «Man kann schen wie Elena A. sind gefangen in einem Kon- und Logis minus 220 Franken Reisekosten ge- Wenn das Arbeitsverhältnis sind mehrere Zehntausend Liefer- und Kurierdienste nicht immer klagen, dass die Sarah Schilliger, text, der auf Intimität und Gefühlen beruht und teilt durch zwei. Ihr Monatslohn: 1295 Franken. zwischen Privatperson und Menschen vor allem aus Polen, Hände weg von Lieferdiensten, Grossen sich nicht an die Soziologin sie zu einem Teil der Familie macht. «Zugleich Putzhilfe geregelt werde, führe Ungarn, Rumänien und der die ihre Kuriere nicht anstellen, Regulierungen halten, und macht genau diese Nähe es den Betreuerinnen Die Entfremdung. Dass die eigene Mutter ihr zur das häufig zu Lohndumping. Slowakei tätig. Die Zahl der empfehlen die Gewerkschaften. selber keine Zeichen setzen.» schwer, sich abzugrenzen, eigene Ansprüche zu Last geworden ist, würde Maria K. bestreiten. Zudem begünstige das die Agenturen steigt ständig. Einige der grossen Firmen Für David Roth von der formulieren und ihre Rechte einzufordern», sagt Aber die Frage, was wir unseren Eltern schulden, Schwarzarbeit. Die Betreuung in Haushalten wie Just Eat/Eat.ch haben Gewerkschaft Syndicom ist Schilliger. Nur wenn sie Schicht arbeiten kön- treibe sie schon um. «Ich habe doch auch mein «Wir informieren die Privat- ist nur schwer zu regulieren reguläre Arbeitsverträge. noch ein anderer Punkt wich- nen, können die Betreuerinnen sich ausreichend eigenes Leben, musste mir meine Unabhängig- kunden über ihre Pflichten wie und zu kontrollieren. Bisher Der Dachverband Zustellung tig: «Unabhängig, wo man erholen und soziale Kontakte pflegen. keit erkämpfen. Die Mutter selber zu pflegen, auch die Putzhilfen über ihre war sie nicht dem Schweizer Schweiz bemüht sich derzeit, bestellt, sollte man immer ein Probleme mit der Abgrenzung hatte Elena A. hiesse ja: meine Karriere auf Eis zu legen. Kann Rechte», sagt Tom Stierli, Chef Arbeitsrecht unterstellt – das mit den Sozialpartnern einen Trinkgeld geben. Und zwar am auch, als man sie fragte, ob sie die Nächte bei ich das? Will ich das?» von Homeservice24.ch, dazu. Bundesgericht hat das diesen Gesamtarbeitsvertrag für die besten bar auf die Hand.» Frau K. im Bett verbringen könne. Unangenehm Die Antwort darauf ist Elena A., die manchmal sei ihr das gewesen, doch sie habe geschwiegen. von Frau K. als «Mutter» redet und von der Maria Aus Sorge, Frau K. könne es ihr verübeln. Und K. sagt, sie halte ihr einen Spiegel des eigenen weil sie dieses schlechte Gewissen hat. Unvermögens hin, vielleicht sogar des Schei- terns – als Tochter und als Frau. Diese Rolle des «Ich bekam Panik.» Ein schlechtes Gewissen sich selbstlos aufopfernden Wesens lehnt sie für plagt auch die Tochter von Frau K., Maria. Sie ist sich ab. Sie hat an eine andere Frau delegiert. 43, Beraterin, geschieden, Mutter eines 13-Jäh- Der Historiker Christoph Bartmann sagt, dass rigen. Bevor sie Elena A. engagierte, hatte sie sich wir uns entfremden, wenn wir all unsere Haus- um ihre Mutter gekümmert. Sie machte die gros- und Familienarbeiten an andere delegieren: von sen Einkäufe, ging putzen und waschen, holte der eigenen häuslichen Sphäre, von den affekti- sie auf eine Ausfahrt ab, meist sonntags. «Bis das ven Bindungen zu unseren Kindern und altern- mit der Demenz und den Wutanfällen kam. Da den Eltern. Wenn ein gewisses Mass an solcher bekam ich Panik und wusste nicht mehr weiter. Entfremdung überschritten sei, dann sei das Ich arbeite Teilzeit, habe mein Kind, muss mir gute und erfüllte Leben in Gefahr. auch so schon jede freie Minute erkaufen. Und Wir sollten deshalb aufpassen, vor lauter Aus- mein Bruder hat es nicht gut mit der Mutter.» lagerung von Unangenehmem und Lästigem die Wie man Das Modell 24-Stunden-Care schien ihr pas- Qualität eines erfüllten Lebens nicht zu verfeh- FOTO: RUBEN HOLLINGER Putz- und send, auch in finanzieller Hinsicht. «Ein Alters- len, sagt Bartmann. «Schön und gut wäre eine Haushalts- heim kostet 10 000 Franken im Monat. Das kön- Lebensführung, die nicht auf dem Rücken von hilfen fair nen wir uns nicht leisten.» Die Onlineplattform, Dienern ausgetragen wird.» anstellt, lesen Sie auf: über die sie Elena A. gefunden hat, ist eine b losse beobachter.ch/put Vermittlungsagentur, den Arbeitsvertrag hat Lesen Sie zum Thema auch den Text auf Seite 23. 20 Beobachter 3/2022
«Da bleiben dir vielleicht 12 Franken pro Stunde» FOOD-KURIERE. Sie können strampeln, wie sie wollen – auf einen grünen Zweig kommen sie nicht. Denn die Firma will nicht Arbeitgeberin sein. Ein Betroffener berichtet. E «Viele ssen auf Bestellung war schon im Trend, merkte ich: Ich kann strampeln, wie ich will, auf mit Corona haben Food-Lieferdienste aber einen grünen Zweig komme ich nicht.» noch einmal kräftig zugelegt. Just Eat/ David Roth von der Gewerkschaft Syndicom Firmen Eat.ch etwa, die Nummer eins in der Schweiz, ist darüber nicht erstaunt. Die Mindesteinsatz- bezahlen hat den Umsatz verdoppelt. Die Kuriere mit ihren dauer sei eines der grossen Probleme dieser Lie- ihre Leute auffallenden Jacken und Rucksäcken sind aus dem Stadtbild kaum mehr wegzudenken. Und ferdienste. «Arbeit auf Abruf ist zwar gesetzlich zulässig, führt aber dazu, dass viele Firmen ihre nur für die man fragt sich: Ist das der supereasy Job für jun- Leute nur für die Dauer der Lieferung bezahlen.» Dauer der ge, fitte Leute oder Ausbeutung? Auch Michele Z. muss zwischen den Aufträ- Lieferung.» «Irgendwie beides», sagt Michele Z.*, 28. «Das gen oft Zeit totschlagen, bezahlt wird er dabei David Roth, «Das Fahren ist Fahren ist ein Segen, wenn du einen Zustupf willst, aber ein Fluch, wenn du davon abhängig nicht. Das wäre anders, wenn er etwa bei Just Eat angestellt wäre. Deshalb spricht Michele Z. Gewerkschaft ein Fluch, Syndicom bist.» Der junge Zürcher arbeitet seit zwei Jah- von einer Scheinselbständigkeit. «In Wahrheit wenn du davon ren als Kurier bei Uber Eats. Anders als manche bin ich krass abhängig. Ob ich überhaupt einen andere Kurierdienste tritt Uber Eats nur als Auftrag kriege, wann, für wen und wie viel ich abhängig bist.» «Partner« auf, nicht aber als Arbeitgeber. Und die Arbeit wird nicht im Stundenlohn vergütet, son- dafür bekomme, das alles wird von Uber Eats festgelegt.» Michele Z., 28, Kurier bei Uber Eats dern pro Lieferung. Uber-Eats-Kuriere verdienen 4 Franken pro Streik bei Smood. Wenn Kuriere von den Diens- Auftrag, Fr. 1.50 pro Kilometer und nochmals so ten angestellt werden, haben sie mehr Sicher- viel pro Ablieferung. Gemäss der Firma kommt heit – eine Garantie gegen prekäre Arbeitsbedin- ein Kurier während der Essenszeiten im Schnitt gungen ist das aber nicht. Vor allem wenn die auf 21 Franken pro Stunde. «Das gilt höchstens Verträge undurchsichtig sind wie beim Genfer auf dem Papier und auch nur dann, wenn du per- Lieferdienst Smood. Weil die Lohnabrechnun- manent dran bist», sagt Michele Z. Weil er in die- gen diffus und zu ihrem Nachteil zusammen sem Arrangement als Selbständiger tätig ist, gestellt wurden, traten die Angestellten im zahlt ihm Uber Eats keine Sozialversicherung, November 2021 in Streik. Gegenüber dem Beob- keine Ferienzulage. Reparaturen am Velo oder achter wollte sich Smood nicht zu den Arbeits- Fahrzeug werden ihm nicht vergütet, bloss eine bedingungen und Löhnen äussern. Auch Eat.ch minimale Unfallversicherung. «Unter dem Strich will den Stundenlohn der Kuriere nicht nennen; bleiben dir vielleicht 12 Franken die Stunde. man halte sich an einen Mindestlohn von Wenn du Glück hast, mal 15 Franken.» 23 Franken pro Stunde. Ob Uber Eats seine «Partner» nicht doch an- Unkompliziert, aber ... Anfänglich war das für stellen muss, wird derzeit vor Gericht geklärt. Michele Z. kein Problem. Er schätzte die Flexibi- Die Postaufsichtsbehörde Postcom hat im lität, die Unabhängigkeit, das Unkomplizierte. Herbst 2021 entschieden, dass auch private Lie- Wie mehr als die Hälfte der Leute, die für Uber ferdienste dem Postgesetz unterstehen. Damit Eats fahren, war er pro Woche maximal zehn müssten sie gegenüber ihren Kurieren als Stunden unterwegs. «Leicht verdientes Geld», Arbeitgeber auftreten. Uber Eats hat gegen die sagt er. Damals hatte er noch zwei weitere Jobs, Verfügung der Postcom beim Bundesverwal- 25 Prozent bei einer Firma, wo er für die IT ver- tungsgericht Beschwerde eingereicht. antwortlich war, und hinter einer Bar. Während Michele Z. sucht sowieso einen anderen Job. des ersten Lockdowns musste die Bar schlies- «Als Kurier arbeiten, wenn man unbedingt auf sen, eine Alternative fand Z. auf die Schnelle das Geld angewiesen ist, ist alles andere als ein nicht, also schwang er sich öfter aufs Velo. «Da Zuckerschlecken.» KLAUS PETRUS *Name der Redaktion bekannt Beobachter 3/2022 23
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