Arzneimittel in der Umwelt
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Arzneimittel in der Umwelt 70
Inhalt Vorwort 3 Zusammenfassung 5 Abstract 6 1. Kurzfassung der Forderungen und Empfehlungen des BUND 7 2. Worum geht es? Ein Problemaufriss 8 3. Wie relevant ist das Problem? Die Zeit zum Handeln ist längst reif 13 4. Wo ansetzen? Maßnahmen zur Vermeidung oder Minimierung der Umweltbelastung durch Arzneimittel 20 5. Fazit 34 6. Glossar 35 7. Nachweise 36 8. Impressum 44 2 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
Vorwort Die Welt steht vor immensen ökologischen, gesell- Sollen die Ausrottung von immer mehr Arten schaftlichen und sozialen Herausforderungen. Der beendet und unsere Naturräume geschützt wer- BUND sucht und gestaltet dafür Lösungen, die den, dann muss endlich der Flächenverbrauch für ökologischen und sozialen Kriterien gerecht wer- immer mehr Straßen-, Gewerbe- und Siedlungs- den. Als Umwelt- und Naturschutzverband kämpft flächen beendet und die Landwirtschaft natur- er insbesondere für die Einhaltung der 1,5 Grad- und tierwohlverträglich werden. Der Rohstoffver- Obergrenze in der Klimakrise und für Klimagerech- brauch muss im Laufe dieses Jahrhunderts dra- tigkeit, für die Beendigung des Artensterbens, und stisch, z. B. um einen Faktor 10 oder mehr, redu- den Schutz und die Wertschätzung von Natur und ziert werden – eine schnelle und massive Absen- biologischer Vielfalt. Wir fordern eine tatsächlich kung würde helfen die Klimakrise zu bewältigen, nachhaltige Landwirtschaft ohne Gentechnik, den den Biodiversitätsverlust zu stoppen und den sofortigen Atomausstieg, und eine Minderung des kommenden Generationen in allen Ländern glei- Ressourcenverbrauchs. Kampagnen des BUND zie- che Entwicklungschancen zu ermöglichen. len auf ein Ende der Vermüllung und Vergiftung unserer Umwelt, unter anderem mit Pestiziden, Stofflich und energetisch muss unser Wirtschafts- zahllosen Schadstoffen und Mikroplastik. Als system schlanker werden. Das ist eine große Her- Nachhaltigkeitsverband setzt sich der BUND für ausforderung, aber es ist machbar. Jedoch wird die soziale wie ökologische Gerechtigkeit, Armuts- Bewältigung dieser Aufgabe unmöglich, wenn die bekämpfung, Menschenrechte und Demokratie Politik weiterhin dem Wirtschaftswachstum Vor- ein. Das eine ist ohne das andere nicht zu haben, rang vor der Bewahrung unserer Lebensgrundlagen das haben uns unsere Erfahrungen gelehrt. gibt. Wachstumspolitik, ob erfolgreich oder nicht, ist der Treiber für Schäden an Natur und Umwelt – Diese Ziele sind nur zu erreichen, wenn nicht nur beispielsweise durch den Ausbau von Infrastruktur alle umwelt- und sozialverträglichen Möglichkei- mit exzessivem Flächenverbrauch (Flughäfen, ten zur Steigerung der Effizienz bei der Straßen, Flussausbau), die Förderung einer exporto- Ressourcennutzung ausgeschöpft werden. Zur rientierten Landwirtschaft mit viel zu hohem Tier- absoluten Reduzierung unserer Ressourcenentnah- bestand und vielem anderen mehr. Sie fordert und me aus der Umwelt brauchen wir außerdem Suffi- fördert Niedriglohnsektoren, Einkommenspolarisie- zienz: wir müssen nicht nur anders, sondern auch rung und eine globale Raubwirtschaft. Demokrati- weniger konsumieren. Eine nachhaltige Änderung sche Entscheidungen und Bürger*innenmitsprache der Lebensweise aller Bürger*innen ist aber keine werden durch Beschleunigungsgesetze und die individuelle Verantwortung, sondern eine gemein- Schwächung von Bürgerbeteiligung eingeschränkt, same und gesellschaftliche. Zur Förderung des um die Wachstumsziele nicht zu gefährden. Gemeinwohls brauchen wir mehr Mitwirkungs- rechte der Zivilgesellschaft, vor allem aber förderli- Die notwendige sozial-ökologische Transformation che politische Rahmenbedingungen. So fordert der bietet die Chance zu einem gerechten und weniger BUND seit langem, durch Energiesparen den End- durch Egoismen, Konkurrenz und Ausbeutung energieverbrauch mindestens um die Hälfte zu bestimmten Leben im Einklang mit den planetaren senken, damit der Rest aus erneuerbaren Energien Systemen. Wie notwendig eine solche Wende zum bereitgestellt werden kann – Studien des Umwelt- guten Leben ist, haben viele Mitbürger*innen bundesamtes geben diesen Forderungen Recht. erkannt, nicht zuletzt in der Pandemiekrise seit 2020. Viele Arbeitsverhältnisse und Lebensweisen BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 3
werden sich ändern und ändern müssen, durch neue Technologien ebenso wie durch eine neue, nachhal- tige Gestaltung für gute Erwerbs- wie Nichterwerbs- arbeit. Das erfordert nicht nur neue Berufsbilder und Qualifikationen, sondern auch, dass Status, Bezah- lung und soziale Sicherung in vielen Bereichen von Wirtschaft und Verwaltung verbessert werden. Der BUND steht nicht nur für die ökologische, sondern auch für soziale, institutionelle und ökonomische Nachhaltigkeit – deshalb enthalten unsere Positionen immer auch Ansätze, die zu sozialer Gerechtigkeit, zu guter Arbeit und zu zukunftsfähigem Wirtschaften beitragen. Dabei blickt der BUND immer über den Tellerrand und entwickelt Perspektiven zusammen mit den Part- nerorganisationen in unserem internationalen Netzwerk, Friends of the Earth Europe und Friends of the Earth International und anderen Organisa- tionen der Zivilgesellschaft. Es gibt Alternativen zu einer Politik, die mit immer höherer Geschwindigkeit in die Sackgasse fährt! Solche Alternativen zeigt der BUND in den BUND- Positionen, die von den Bundesarbeitskreisen und vom Wissenschaftlichen Beirat des BUND erarbei- tet sowie vom Bundesvorstand beschlossen wer- den. In den Bundesarbeitskreisen wird akademi- sche und nichtakademische Expertise zusammen- geführt, im wissenschaftlichen Beirat werden die Positionen von Expert*innen aus 20 Themenberei- chen gemeinsam geprüft – der BUND praktiziert seit Jahrzehnten das Prinzip der transdisziplinären Wissenschaft. So basieren alle BUND-Positionen auf mehrfach und interdisziplinär geprüften aktu- ellen wissenschaftlichen Erkenntnissen und zeigen politische und gesellschaftliche Lösungswege auf. Jede dieser Positionen, auch die hier vorliegende, ist ein wichtiger Baustein im Gesamtbild des sozi- al-ökologischen Umbaus hin zu einer nachhaltigen Wirtschafts- und Lebensweise. 4 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
Zusammenfassung Arzneimittel sind physiologisch hochaktive Verbin- tem für Arzneimittel, um Ärzt*innen zu ermöglichen, dungen, die insbesondere durch die Ausscheidungen die am wenigsten umweltbelastenden Medikamente von Menschen und Tieren in Gewässer und Boden zu verabreichen. Maßnahmen an der Quelle, um Ein- gelangen. In zunehmenden Maße werden sie in der träge ins Abwasser zu vermeiden, und der schritt- Umwelt nachgewiesen, häufig auch in Konzentra- weise Ausbau zumindest großer Kläranlagen, um die tionen, die für den Menschen und andere Lebewesen Belastung der Gewässer zu senken, sind ebenso vor- nicht unschädlich sind. Die Verbrauchsmengen von zusehen wie eine Sammlung von Arzneimittelresten Arzneimitteln steigen, vor allem wegen der demo- durch Apotheken, umfassende Information von grafischen Entwicklung. Maßnahmen zur Reduktion Ärzt*innen, Pflegekräften und Verbraucher*innen der Umweltbelastung sind deshalb erforderlich. sowie ein Werbeverbot für nicht rezeptpflichtige Arz- neimittel und der Ausbau der Gesundheitspräventi- Die verbreitete Anwendung von Antibiotika in der on. Monitoringprogramme für Wasser und Boden Nutztierhaltung stellt ein besonderes Problem dar; in Bezug auf Arzneimittel und Resistenzen und denn dadurch wird die Entstehung (multi)resistenter Anforderungen an die Produktion von Arzneimitteln Keime begünstigt. Antibiotikarückstände in Wasser nach dem Stand der Technik sowie eine Förderung und Boden können sogar zur Bildung und Verbrei- der Forschung zur Entwicklung umweltverträglicher tung von Resistenzen beitragen. Da kaum neue Wirkstoffe ergänzen die Palette. Gemäß dem Verur- Wirkstoffklassen entwickelt und zugelassen werden, sacherprinzip sind die Hersteller und Vertreiber von stellt insbesondere die Verabreichung von Reserve- Arzneimitteln an der Finanzierung dieser Maßnah- und Breitbandantibiotika an Tiere ein großes Pro- men zu beteiligen. blem für die Behandlung von Infektionen beim Menschen dar. Die verbreitete Massentierhaltung ist ohne den intensiven Einsatz von Tierarzneimitteln nicht denkbar. Nicht nur aus Gründen des Tierwohls ist deshalb eine grundsätzliche Änderung der Hal- tungsbedingungen notwendig. Seit 2006 ist die Bewertung von Umweltrisiken Teil der Zulassung von Arzneimitteln, - ein deutlicher Fortschritt. Allerdings ist das Verfahren defizitär und – bei Humanarzneimitteln – zahnlos. Kombinati- onswirkungen werden ebenso wenig berücksichtigt wie spezielle Wirkmechanismen und die Resistenz- bildung bei Antibiotika. Altarzneimittel, die vor 2006 zugelassen wurden, sind nach wie vor ungeprüft auf dem Markt. Zur Verbesserung der Situation ist ein umfassendes Maßnahmenpaket erforderlich. Dies muss die Stär- kung der Umweltprüfung im Rahmen der Zulassung ebenso umfassen wie ein Umweltklassifikationssys- BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 5
Abstract Medicinal products are physiologically highly active administer the least environmentally harmful drugs. substances that enter the water and soil, particularly Measures implemented at source to avoid discharges through human and animal excretion. They are into wastewater and the gradual expansion of min- being detected in the environment to a greater and imum at large wastewater treatment plants to reduce greater extent, often in concentrations that are not water pollution must be included in planning, as harmless to humans and other living organisms. The the collection of drug residues by pharmacies, com- consumption of pharmaceuticals is increasing, main- prehensive information for doctors, nurses and con- ly due to the aging of the population. Consequently, sumers, a ban on advertising non-prescription drugs measures to reduce environmental pollution are and the expansion of preventive health care. Mon- therefore necessary. itoring programmes for the water and soil with regard to pharmaceuticals and resistances and The widespread use of antibiotics in farm animal requirements for the production of pharmaceuticals husbandry poses a particular problem, as it may pro- according to the best available techniques (BAT) as mote the development of (multi)resistant bacteria. well as the promotion of research into the develop- Antibiotic residues in water and soil can even con- ment of environmentally compatible active ingredi- tribute to the formation and spread of resistance. ents complete the range of measures. In accordance Since almost no new classes of antibiotic substances with the polluter-pays principle, the manufacturers are being developed and approved, the administra- and distributors of pharmaceuticals must be involved tion of reserve and broad-spectrum antibiotics to in financing these measures. animals in particular is posing a major problem for the treatment of human infections. Widespread mass animal husbandry is inconceivable without the intensive use of veterinary medicines. A fundamental change in husbandry conditions is thus necessary, not only to promote animal welfare. Since 2006, the assessment of environmental risks has been part of the approval process for medicinal products, – a significant advance. However, the pro- cedure is deficient and – in the case of medicinal products for human use – toothless. Combination effects are not being taken into account, nor are special modes of action or the development of resis- tance to antibiotics. Existing medicinal products that were approved before 2006 are still on the market without being assessed for environmental risks. A comprehensive package of measures is needed to improve the situation. This must include the strengthening of environmental assessment as part of the approval process, as well as an environmental classification system for drugs to enable doctors to 6 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
1. Kurzfassung der Forderungen und Empfehlungen des BUND Arzneimittel-Wirkstoffe werden in zunehmendem • Ein generelles Werbeverbot auch für nicht ver- Maße in der Umwelt nachgewiesen, teilweise in schreibungspflichtige Arzneimittel soll eingeführt bedenklichen Konzentrationen. Der BUND empfiehlt werden. deshalb ein umfassendes Maßnahmenpaket, um die Belastung der Umwelt durch Arzneimittel zu redu- • Für die Nutztierhaltung und die landwirtschaft- zieren. Hierzu zählen vor allem: liche Verwertung von Wirtschaftsdünger müssen strenge Regeln gelten, die auch flächendeckend • Die rechtliche Verankerung der Umweltprüfung überwacht werden. von Arzneimitteln ist zu stärken. Altmedikamente sind zu bewerten und bei vorhandenen Risiken • Medikamentenreste dürfen nicht ins Abwasser vom Markt zu nehmen. sondern sollten von Apotheken gesammelt wer- den. Verbraucher*innen müssen darüber infor- • Das Monitoring von Arzneimittel-Wirkstoffen miert werden. und antibiotikaresistenten Keimen in der Umwelt ist zu entwickeln und auszubauen. • Abwasserteilströme mit besonders hoher Belas- tung sind vor Einleitung in die Kanalisation zu • Die Entwicklung umweltverträglicher Wirkstoffe behandeln. Bei Kontrastmitteln sind die Ausschei- muss ein Forschungsschwerpunkt werden und ist dungen der Patient*innen getrennt, z. B. in Urin- durch Anreize zu fördern („Green Pharmacy“). beuteln, aufzufangen und zu entsorgen. • Für die Herstellung von Arzneimitteln müssen • Bei höherer Belastung sind schrittweise Klär- international und national strenge Umweltanfor- anlagen (4. Reinigungsstufe) auszubauen, damit derungen gelten. sie effektiv die Arzneimittelkonzentrationen in Abwassereinleitungen reduzieren. • Ärzt*innen, Apotheker*innen, Pflegekräfte und Landwirt*innen sollen gezielt über Maßnahmen • Durch Ausbau der Gesundheitsprävention und zur Senkung des Arzneimittelverbrauchs fortge- -vorsorge soll zukünftig der weitere Anstieg des bildet werden. Arzneimittelverbrauchs verhindert werden. • Sowohl die Nutztierhaltung als auch Aquakultu- • An der Finanzierung der Maßnahmen müssen ren sind so zu verändern, dass die Belastung der Hersteller und die anderen Verursacher angemes- Gewässer und Böden geringer wird und Belange sen beteiligt werden (Verursacherprinzip). des Tierschutzes erfüllt werden. Verbindliche Transformation der Tierhaltung zu mehr Tierwohl, mehr Umweltschutz und weniger Tierarzneimit- teln. Biologische Haltungsbedingungen erfordern einen geringeren Medikamenteneinsatz. • Ein einzuführendes Umweltklassifikationssystem soll es Ärzt*innen zukünftig ermöglichen, umwelt- verträgliche Alternativpräparate zu verschreiben. BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 7
2. Worum geht es? Ein Problemaufriss 2.1 Arzneimittelwirkstoffe in der Umwelt Seit Mitte der 1980er-Jahre berichten Wissenschaft- Die häufigsten Eintragsquellen waren kommunales lerinnen und Wissenschaftler vermehrt über Arznei- Abwasser, Krankenhäuser, Wirtschaftsdünger aus der mittelfunde in der Umwelt. Als endokrine Substan- Landwirtschaft, Aquakultur und Arzneimittel-Pro- zen in den 1990er-Jahren verstärkt in den duktionsstätten. Der am häufigsten vorkommende Blickpunkt rückten, wandte sich die Diskussion auch Wirkstoff, das Schmerzmittel Diclofenac, konnte in hormonellen Medikamenten u.a. zur Schwanger- 50 Ländern, oftmals in ökotoxikologisch relevanten schaftsverhütung und deren Umweltwirkungen zu. Konzentrationen nachgewiesen werden. Die UBA- Hinzu kam die Besorgnis über häufigere Funde von Studie verdeutlicht, dass Medikamente in der Antibiotika-resistenten Keimen, die mit dem Ver- Umwelt ein globales Problem darstellen, und zwar brauch von Antibiotika in der Human- und Tierme- nicht nur in Industrieländern, sondern in zuneh- dizin in Verbindung gebracht werden (PAN 2015). mendem Maß auch in Ländern des Globalen Südens Obwohl Arzneimittel-Wirkstoffe biologisch nicht (UBA 2016). Dabei ist zu beachten, dass inzwischen weniger wirksam sind als die Wirkstoffe von agrari- in Indien und China die wichtigsten Produktions- schen und nicht-agrarischen Pestiziden, erfährt das stätten für Pharmaka liegen. Thema eine geringere öffentliche Aufmerksamkeit, da Arzneimittel üblicherweise mit Gesundheit asso- Im Dezember 2014 stimmten alle UN-Länder dafür, ziiert werden. Arzneimittelrückstände in der Umwelt als eines von acht prioritären politischen Themen in das Chemi- Für eine Studie im Auftrag des Umweltbundesamtes kalienprogramm der Vereinten Nationen (SAICM) (UBA) zur Aufnahme des Themas „Arzneimittel in aufzunehmen, um nach globalen Lösungen zu der Umwelt“ in den „Strategischen Ansatz für ein suchen (SAICM 2020). Auch die nachhaltigen Ent- internationales Chemikalienmanagement“ (Strategic wicklungsziele der Vereinten Nationen (Sustainable Approach to an International Chemicals Manage- Development Goals – SDGs) bieten einen Ansatz- ment - SAICM) des Umweltprogramms der Vereinten punkt, um auf globaler Ebene nachhaltige Lösungen Nationen (UNEP) wurden über 1.000 Publikationen bei Versorgung und Verbrauch von Arzneimitteln und Datenquellen ausgewertet (UBA 2016). Die aus anzustreben (SDG 3 – Gesundes Leben für alle, der o.g. Studie entwickelte Datenbank des UBA, die SDG 6 – Wasser und Sanitärversorgung für alle, ständig aktualisiert wird, enthält mittlerweile über SDG 14 – Bewahrung der Meere und SDG 15 – Land- 178.000 Einträge aus ca. 1.500 Publikationen. Zur- ökosysteme schützen) (UN 2015). zeit liegen demnach Daten über Wirkstoffe oder deren Transformationsprodukte aus 75 Ländern aller Die gemessenen Konzentrationen der Arzneimittel- Weltregionen vor. Insgesamt konnten weltweit 771 wirkstoffe in der Umwelt liegen in der Regel unter- unterschiedliche pharmazeutische Substanzen in halb der therapeutischen Dosen der einzelnen Prä- Umweltmedien nachgewiesen werden, davon in parate (Humanarzneimittel) bzw. der für sie Deutschland 269, in den Ländern der EU insgesamt festgelegten, maximal zulässigen Rückstandsmen- 596 Wirkstoffe. Die meisten Substanzen fanden sich gen in Nahrungsmitteln (Tierarzneimittel) (BMJ im Ablauf von Kläranlagen. In Oberflächenwasser, 2009, EU 2009). Für die Umwelt bedeutet dies aber Grund- und Trinkwasser wurden weltweit 528 und keineswegs eine Entwarnung. So sahen sich z. B. die in Deutschland 159 Wirkstoffe oberhalb der Nach- Berliner Wasserbetriebe veranlasst, gemeinsam mit weisgrenzen gemessen. 19 Arzneimittelwirkstoffe dem Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales wurden in der aquatischen Umwelt in allen fünf UN- (LAGESO) wegen jahrelanger Überschreitungen des Regionen nachgewiesen (UBA 2020). gesundheitlichen Orientierungswertes von Valsar- 8 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
tansäure im Trinkwasser, die Ärzteschaft zum 2.2 Humanmedizin Ersatz durch weniger belastende Mittel aufzu- Exakte Verbrauchsmengen der in Deutschland in der rufen (DGK 2017, Schimmelpfennig und Dünn- Humanmedizin eingesetzten Arzneistoffe liegen bier 2019). nicht vor. In verschiedenen Forschungsvorhaben wurde immer wieder versucht, einigermaßen verläss- Obwohl Arzneimittel zu den humantoxikologisch liche Daten zu gewinnen. Da keine offiziellen Sta- am besten untersuchten Stoffen zählen, sind die tistiken geführt werden, ist dies aus vielerlei Gründen ökotoxikologischen Folgen der vergleichsweise schwierig (siehe Ausführungen hierzu in TAB 2019). geringen, dafür aber kontinuierlichen Belastung Bergmann et al. ermittelten, dass in Deutschland im der Gewässer, der Sedimente und der Böden mit Jahr 2001 insgesamt 37.915 t der zugelassenen Arzneimittelwirkstoffen bzw. deren Abbaustoffe 2.671 Arzneiwirkstoffe verkauft wurden. Im Jahr weitgehend unbekannt. 1999 waren es noch 28.878 t bei 2.754 Wirkstoffen gewesen. Die meistverkauften Wirkstoffgruppen sind Arzneimittel sind zuzulassen. Die Bedingungen demnach (für das Jahr 2001) die Analgetika für die Zulassung werden auf EU-Ebene durch (Schmerzmittel) (1.837 t), die Antirheumatika die Richtlinie 2001/83/EG für Humanarzneimit- (633 t), die Antibiotika (496 t), die Antiepileptika tel (EU 2001) und die Verordnung 2019/6 für (204 t) und die Beta(ß)-Rezeptorenblocker (160 t) Tierarzneimittel (EU 2019) geregelt. Rein natio- (Bergmann et al. 2011). Neuere belastbare Zahlen nale Zulassungen sind heute selten. Humanarz- sind nicht verfügbar. Diese Zahlen suggerieren eine neimittel werden meist in der ganzen EU zentral Exaktheit, die nicht existiert. Deshalb werden heute oder dezentral zugelassen. Die Zulassung gilt in meist Schätzwerte verwendet. So geht das Umwelt- der Regel unbefristet. Seit einer Änderung der bundesamt (UBA) für das Jahr 2012 von einem Jah- Richtlinien im Jahr 2004, die 2006 umgesetzt resverbrauch an Humanarzneimitteln in Deutschland wurde, ist eine Umweltprüfung vorgeschrieben, von ca. 30.000 t aus, wobei mit ca. 2.300 Wirkstof- allerdings nur für Präparate, deren Zulassung fen in rund 31.000 Medikamenten gerechnet wird. seitdem beantragt wurde. Vorher zugelassene Etwa 1.100 der Wirkstoffe werden dabei per se als Arzneien sind ohne Umweltprüfung auf dem nicht umweltrelevant angesehen. Sie zählen zu den Markt. Ca. 47 % der in Deutschland zugelasse- Elektrolyten, Mineralien, Peptiden, Vitaminen, bei nen Arzneimittel sind rezeptpflichtig; die übrigen denen angesichts ihrer geringen Beständigkeit (Per- sind apothekenpflichtig oder freiverkäuflich sistenz) und Toxizität keine schädlichen Wirkungen (ABDA 2019). in der Umwelt zu erwarten sind. Eine Umweltbe- wertung im Rahmen der Zulassung findet deshalb nicht statt. Somit existieren laut UBA ca. 1.200 potentiell umweltrelevante Humanarzneimittelwirk- stoffe mit einem Jahresverbrauch von ca. 8.100 t (UBA 2014, 2018a). Angesichts des zunehmenden Durchschnittsalters der Bevölkerung wird mit einem steigenden Arznei- mittelverbrauch gerechnet. So wird bis 2045 mit einer weiteren Zunahme des Arzneimittelverbrauchs um 43 % bis 69 % gerechnet, wobei insbesondere ein weiterer Anstieg bei rezeptfreien Arzneimitteln BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 9
erwartet wird (Civity Management Consultants same Substanzen, beispielsweise zur Brunstsynchro- 2017). nisation bei Sauen (PAN 2015). Da die Arzneimittelwirkstoffe zum großen Teil mit Tierarzneimittel werden überwiegend im landwirt- den menschlichen Ausscheidungen in das Abwasser schaftlichen Bereich für die Behandlung von Nutz- gelangen und meist in den Kläranlagen nur unvoll- tieren wie Rindern, Schweinen, Hühnern, Puten, ständig eliminiert werden, erfolgt ein steter Eintrag Schafen, Ziegen und Pferden eingesetzt. Wie der von Arzneimittelwirkstoffen in die Umwelt, wenn Mensch scheiden auch Tiere die meisten Wirkstoffe auch in relativ geringen Konzentrationen. Nach unverändert oder in metabolisierter Form wieder aus. Schätzungen der pharmazeutischen Industrie sind Präparate für Heimtiere wie Hunde und Katzen wer- die Hauptquellen für Humanarzneimittel im Ober- den in geringerem Umfang eingesetzt und unter- flächenwasser Patientenausscheidungen (88 %), liegen deshalb in den meisten Fällen keiner Umwelt- unsachgemäße Entsorgung über Toilette und Spüle bewertung. Ausnahmen sind Antiparasitika, die bei (10 %) und Herstellungsprozesse (2 %). Bezüglich Heimtieren äußerlich gegen Flöhe, Zecken und Mil- der unsachgemäßen Entsorgung geht das UBA ben eingesetzt werden. Wirkstoffe wie Fipronil oder davon aus, dass bis zu 47 % der Verbraucherinnen Imidacloprid sind im ng/l-Bereich toxisch und kön- und Verbraucher ihre Arzneimittelreste immer oder nen im Kontakt mit Wasser Schäden hervorrufen. gelegentlich unsachgemäß entsorgen (UBA 2018a). Die EMA diskutiert aktuell, solche Medikamente einer Umweltbewertung zu unterziehen (EMA 2020). 2.3 Tiermedizin Reste von Tierarzneimitteln in tierischen Ausschei- Als Tierarzneimittel sind in Deutschland etwa 430 dungen werden als Gülle oder Mist auf landwirt- Wirkstoffe in 2.295 Präparaten zugelassen, von schaftliche Flächen ausgebracht. Boden ist damit denen 270 als potenziell umweltrelevant eingestuft das wichtigste Zielkompartiment. Je nach Beschaf- werden können, da sie nicht zu den von der Umwelt- fenheit des Bodens können die Arzneimittelreste in bewertung ausgeschlossenen Stoffen (s. o.) gehören. das Grundwasser versickern oder durch Abschwem- Ein Teil der zugelassenen Tierarzneimittelwirkstoffe mung bei Starkregenereignissen in Oberflächenge- ist ebenfalls als Humanarzneimittelwirkstoffe zuge- wässer gelangen. Bei Weidetieren ist darüber hinaus lassen, so dass bei Funden im Gewässer und im der Einfluss von Antiparasitika auf die Dungfauna Boden die Quelle nicht immer eindeutig zugeordnet (Käfer und Fliegen) zu beachten, ohne die sich der werden kann. Die wichtigste Wirkstoffgruppe in der Kot nicht zersetzen kann. Tiermedizin sind Antibiotika (siehe Abschnitt 2.4). Speziell ist die Anwendung von Arzneimitteln in Im Jahr 2019 betrug die an Tierärzte abgegebene Aquakulturen, die häufig in direktem Kontakt mit Antibiotikamenge 670 t (BVL 2020). Zu den anderen Oberflächengewässern stehen. Durch Tauchbäder oder Wirkstoffgruppen liegen keine verlässlichen Daten Futter werden die Mittel appliziert. Futtermittelreste, vor (TAB 2019). Weitere häufig in der Tiermedizin Fischkot und gebrauchte Tauchbäder/-becken belas- verwendete Arzneimittel sind Mittel gegen Parasiten ten Teiche, Flüsse oder Küstengewässer (BUND 2013, (Antiparasitika), zur Behandlung von Entzündungen PAN 2018). Auch Bienen werden mit Arzneimitteln (Antiphlogistika) und lokale Therapeutika für Haut, gegen die Varroa-Milbe behandelt (LAVES 2019). Euter und Augen sowie Mittel zur Behandlung von In der Regel lässt sich dieser Schädling allerdings Pilzinfektionen (Antimykotika) und hormonell wirk- durch milde Methoden wirksam bekämpfen. 10 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
2.4 Spezialfall Antibiotika-Resistenzen Erreger (MRE) auf der Tagesordnung. Die EU-Kom- Eines der vordinglichsten Probleme, das in der WHO, mission (One Health Action Plan against AMR) und der UN und auch bei Politikgipfeln wie G7 und G20 die Bundesregierung (Deutsche Antibiotika-Resis- auf der Tagesordnung steht, ist die Zunahme des tenzstrategie - DART 2020) haben Antibiotika-Resis- Vorkommens multiresistenter Erreger (z. B. Methi- tenz-Strategien verabschiedet (EK 2017, BMG et al. cillin-resistenter Staphylococcus aureus - MRSA) und 2019). Allerdings befasst sich DART nicht mit der die damit verbundene Gefahr, eine Vielzahl von Rolle der Umwelt als Reservoir und Überträger von Infektionskrankheiten nicht mehr wirksam behan- Antibiotika-Resistenzen. deln zu können. Tatsächlich rechnet das Robert Koch-Institut (RKI) für Deutschland schon heute mit Wegen der besonderen Resistenz-Problematik wer- jährlich ca. 10.000–15.000 Todesfällen bei den seit einigen Jahren separat die Abgabemengen 400.000–600.000 nosokomialen Infektionen (sog. von Antibiotika erhoben, die im Jahr 2016 bei Krankenhausinfektionen), die allerdings zurzeit nur Humanarzneimitteln um 666 t/Jahr (UBA 2018b), zum kleineren Teil von multiresistenten Bakterien bei Tierarzneimitteln 670 t/Jahr betrugen (BVL verursacht werden. Innerhalb der Europäischen Uni- 2020). In Deutschland hat sich die für die Tierme- on (EU) wird mit ca. 90.000 Todesfällen pro Jahr dizin abgegebene Menge an Antibiotika zwischen nach nosokomialen Infektionen gerechnet (RKI den Jahren 2011 und 2019 von 1.706 auf 670 Ton- 2019). Die häufigsten in Deutschland festgestellten nen mehr als halbiert (minus 65 %). Gegenüber dem Bakterien sind Escherichia coli, Staphylococcus Jahr 2017 ging die Gesamtmenge der abgegebenen aureus, Clostridium difficile, Enterococcus faecalis Antibiotika allerdings lediglich um 40 Tonnen und Enterococcus faecium (NRZ 2017). (5,5 %) zurück. Das ergab die Auswertung der seit 2011 erhobenen Abgabemengendaten für Antibio- Antibiotika-resistente Bakterien werden nicht nur in tika in der Tiermedizin durch das Bundesamt für Gesundheitseinrichtungen und Tierställen sondern Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL auch in der Umwelt, insbesondere in Abwasser, Ober- 2015, 2019 und 2020). flächengewässern, Badegewässern und Böden nach- gewiesen. Diese Kontaminationen resultieren aus Nachdem zwischenzeitlich die Abgabemenge der direkten Einträgen resistenter Bakterien über Gülle, Fluorchinolone in Tierarzneimitteln gestiegen war, Abwasser, Mist, Klärschlamm usw. (UBA 2018b). die als Grundlage für Reserve-Antibiotika in der Humanmedizin eine bedeutsame Rolle spielen, sind Mittlerweile ist insbesondere im Hinblick auf Anti- nun alle Wirkstoffgruppen z. T. deutlich hinter den biotika-Resistenzen der One Health-Ansatz der Welt- Abgabemengen von 2011 zurückgefallen. Das BVL gesundheitsorganisation (WHO) Konsens (WHO vermutet, dass ein neu in die Tierärztliche Hausapo- 2015). Er besagt nicht nur, dass Human- und Tier- thekenverordnung aufgenommenes Standardverfah- medizin gemeinsam betrachtet, sondern auch, dass ren bei der Abgabe dieser Stoffgruppe für den Rück- aufgrund der weiter fortschreitenden Globalisierung gang verantwortlich ist. Gegenüber dem ersten Industrieländer, Schwellenländer und auch weniger Erfassungsjahr 2011 haben die Abgaben des Poly- entwickelte Länder gleichermaßen einbezogen wer- peptids Colistin um ca. 42 % und die Menge der den müssen (Heudorf 2016). Die WHO hat einen Makrolide um rund 66 % abgenommen (TAB 2019). Globalen Aktionsplan zur Bekämpfung der Antibio- Während 2018 noch eine leichte Zunahme bei der tika-Resistenzen vorgelegt. Auch auf den letzten Abgabe von Makrolid- und Polypeptidantibiotika G7- bzw. G20-Gipfeln standen die multiresistenten registriert wurde, ist 2019 auch bei diesen beiden BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 11
Wirkstoffklassen rückläufig. Beide sind Wirkstoff- klassen, die von den von der WHO und der Weltor- ganisation für Tiergesundheit (OIE) als besonders bedeutend für die Therapie beim Menschen einge- stuft wurden (BVL 2019, 2020). Die neue Tierarz- neimittelverordnung 2019/6 der EU sieht in Art. 37(3) vor, dass antimikrobielle Wirkstoffe als Tierarzneimittel nicht mehr zugelassen werden, wenn sie für die Behandlung bestimmter Infektionen beim Menschen vorbehalten sind. Aktuell besteht die Gefahr, dass diese Bestimmung durch die EU- Kommission unterlaufen wird, die in einem Entwurf für eine Durchführungsverordnung u. a. vorsieht, dass einige Reserveantibiotika als essentiell für die Tiergesundheit erklärt werden und weiterhin ver- wendet werden können (Häusling 2020). Früher waren antibiotisch wirksame Substanzen als sog. antibiotische Leistungsförderer bei bestimmten Tierarten zugelassen. Aufgrund einer möglichen Übertragbarkeit von Resistenzen und der möglichen Förderung der Entstehung von resistenten Bakterien sind antibiotische Leistungsförderer seit dem 01.01.2006 EU-weit verboten, in den USA und Asien jedoch nach wie vor erlaubt (LGL 2020, PAN 2015). Als Futtermittelzusatzstoffe mit antibiotischer bzw. antiparasitärer Wirkung sind noch Kokzidiostatika gegen parasitäre Einzeller, die Magen-Darm-Erkran- kungen verursachen, zugelassen. Futtermittelzusatz- stoffe unterliegen nicht dem Arzneimittelrecht. Aller- dings ist eine Umweltbewertung durch die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (European Food Safety Authority – EFSA) vorgese- hen (FEEDAP 2019). 12 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
3. Wie relevant ist das Problem? Die Zeit zum Handeln ist längst reif 3.1 Einträge in die Umwelt sorgung von Arzneimittelwirkstoffen sind zusätzlich Human- wie veterinärmedizinische Arzneimittelwirk- zu berücksichtigen. stoffe werden – wenn überhaupt – in vielen Fällen nur unvollständig abgebaut. Unterschiede im Vor- Demgemäß findet man in Boden, Abwasser, Ober- kommen der Human- und Tierarzneimittel sind vor flächenwasser, Sedimente, Grundwasser, ja selbst in allem auf die unterschiedlichen Eintragspfade in die Spuren auch in Trinkwasser Reste von Arzneimittel- Umwelt zurückzuführen. Arzneimittel für den Men- wirkstoffen. Einen Überblick gibt der Bericht des schen gelangen über die Kanalisation und die Klär- Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deut- werke in Oberflächengewässer. Über das weiterhin schen Bundestag (TAB 2019). erlaubte Ausbringen von Klärschlamm werden land- wirtschaftlich genutzte Böden belastet. Auch die 3.2 Arzneimittel im Wasserrecht neue Klärschlamm-Verordnung erlaubt das Ausbrin- Eine rechtliche Verpflichtung zur Minderung und gen auf oder in Böden bei weniger als 50.000 Ein- Vermeidung von Mikroschadstoffen wie den Arznei- wohnerwerten (EW = Bewohnerzahl im Einzugsge- mittelwirkstoffen könnte sich aus der Europäischen biet einer Kläranlage). Lediglich bei höheren EW wird Wasserrahmenrichtlinie 2000/60/EG (WRRL) (EU die Verwertung ab 2029 (bei mehr als 100.000 EWR) 2000) ergeben. Relevant sind Schadstoffe gemäß bzw. 2032 (bei mehr als 50.000 EW) untersagt Punkt 4 Anhang VIII WRRL1, die die Flussgebiets- (BMUB 2017). Klärschlamm ist in der Abwasserrei- behörden im Rahmen der Ermittlung Zustands-und nigung eine Schadstoffsenke für schwer abbaubare damit Maßnahmen-relevanter Belastungen von Stoffe. Er enthält deshalb nicht nur wertvolle Nähr- Oberflächengewässern gemäß Anhang II WRRL stoffe sondern auch ein unbekannt hohe Zahl von berücksichtigen müssen. Die WRRL-Tochterrichtli- Schadstoffen. So weist eine UBA-Studie im Klär- nien ergänzen diese Anforderungen: Gemäß Artikel schlamm 3 bis 21 mg/kg Trockensubstanz (TS) 6 der Richtlinie 2006/118/EG (EU 2006a) sind die Ciprofloxacin, 0,75 bis 8,9 mg/kg TS Levofloxacin, Stoffe gemäß Punkt 4 Anhang VIII WRRL auch für 0,054 bis 1,1 mg/kg TS Carbamazepin, 0,023 bis den Grundwasserschutz zu beachten und ihre Ein- 0,16 mg/kg TS Clarithromycin, 0,0056 bis 1,1 träge entsprechend zu verhindern bzw. zu begren- mg/kg TS 17-β-Östradiol, 0,074 bis 2,1 mg/kg TS zen. Artikel 8b der Richtlinie 2013/39/EU (EU 2013) Diclofenac und 0,044 bis 1,1 mg/kg TS Metoprolol gibt die Erstellung und regelmäßige Fortschreibung nach (UBA 2019b). einer EU-weiten Beobachtungsliste für die Ermitt- lung zusätzlicher prioritärer Stoffe vor (s. u.), wäh- Die meisten Tierarzneimittel erreichen mit Gülle und rend Artikel 8 c spezifische Bestimmungen für phar- Mist aus der intensiven Tierproduktion landwirt- mazeutische Stoffe enthält (v. a. strategischer Ansatz schaftliche Flächen unbehandelt, von wo aus sie ver- mit Maßnahmen). sickern und in die Vorfluter ausgeschwemmt werden können. Wenn Pflanzen Mikroschadstoffe aufneh- Auch mit der überarbeiteten Grundwasserrichtlinie 1 4. Stoffe und Zubereitungen oder men, können sie auch in die Nahrungskette gelan- 2006/118/EG ist zumindest ein Verfahren zur Beob- deren Abbauprodukte, deren achtung von Stoffe genannt, zu denen bisher wenige gen. In Bezug auf Antibiotika ist z. B. bei Getreide karzinogene oder mutagene Eigenschaften bzw. steroidogene, nachgewiesen, dass eine Aufnahme über die Wurzeln Daten vorliegen und für die ggf. EU-weite Quali- thyreoide, reproduktive oder tätsnormen oder flussgebietsspezifische Schwellen- erfolgt (Freitag et al. 2008). Arzneimittel, die in andere Funktionen des endokrinen Systems Aquakulturen Anwendung finden, gelangen direkt werte abzuleiten sind. In Deutschland sollten die beeinträchtigenden betreffenden WRRL-Bestimmungen in der nationa- in die Oberflächengewässer und in die Sedimente. Eigenschaften im oder durch das Wasser erwiesen sind Weitere Eintragspfade wie die Produktion und Ent- len Grundwasser- und Oberflächengewässerverord- BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 13
nung (GwV bzw. OGewV) v. a. um flussgebietsspezi- ähnlicher Größenordnung, sind aber Jahresmittel- fische Stoffe präzisiert werden. Für mehrere Schad- werte. stoffe gibt es bereits sowohl auf europäischer als auch auf nationaler Ebene geltende Umweltquali- Auf EU-Ebene existiert eine zwischenzeitlich aktua- tätsnormen (UQN). Bisher wurden allerdings für Arz- lisierte Beobachtungsliste von Stoffen mit Relevanz neimittelwirkstoffe weder EU-weit noch national für Oberflächengewässer, die als Kandidaten für UQN festgelegt. Das Umweltbundesamt hat aus ver- prioritäre Stoffe gelten und deshalb in Monitoring- schiedenen Quellen stammende Daten gesammelt programme einbezogen werden sollen (EK 2020). und UQN-Vorschläge abgeleitet (UBA 2018a, siehe Hierunter finden sich auch die Arzneimittel-Wirk- Tab.1). stoffe Metaflumizon, Venlafaxin (und sein Meta- bolit O-Desmethylvenlafaxin), die Antibiotika Amo- Die seit dem 01.04.2020 geltende Schweizer Gewäs- xicillin, Ciprofloxacin, Sulfamethoxazol und serschutzverordnung hat für oberirdische Gewässer Trimethoprim sowie die Antimykotika Clotrimazol, erstmals Grenzwerte für drei Arzneimittel festgelegt. Fluconazol und Miconazol. Im Rahmen der EU-weit Der erste Wert bezieht sich auf eine kurzzeitige gemeinsamen Umsetzungsstrategie wurde entspre- Messung; der zweite Wert soll eine längerdauernde chend der aktuellen Grundwasserrichtlinie (EU Belastung beurteilen und ist als Mittelwert über 2006a) zudem ein freiwilliges Watch-List-Verfahren einen Zeitraum von zwei Wochen zu ermitteln: für den Grundwasserschutz vorbereitet. Relevante Azithromycin 0,18 µg/l bzw. 0,019 µg/l, Clarithro- Stoffe, die häufiger in Deutschland und weiteren mycin 0,19 bzw. 0,12 µg/l und Diclofenac 0,05 µg/l teilnehmenden Mitgliedstaaten gefunden wurden, langdauernd (Schweizer Bundesrat 2020). Die vom sind Sulfamethoxazol, Erythromycin sowie Sulfon- UBA vorgeschlagenen UQN bewegen sich in einer amide in Gebieten mit intensiver Viehhaltung. Stoffname UQN [μg/l] 17-α Ethinylöstradiol 0,000035 17-β Östradiol 0,0004 Azithromycin 0,09 Bezafibrat 2,3 Carbamazepin 0,5 Clarithromycin 0,13 Diclofenac 0,05 Erythromycin 0,2 Ibuprofen 0,01 Metoprolol 43 Sulfamethoxazol 0,6 Tab.1: Umweltqualitätsnorm (UQN): Vorschläge für einen Jahresmittelwert für einzelne Arzneimittel- wirkstoffe (UBA 2018a) 14 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
Bereits heute werden die vorgeschlagenen UQN an Das Umweltbundesamt hat für mehr als 30 Arznei- verschiedenen Messstellen insbesondere für die mittelwirkstoffe und Metaboliten inzwischen Schmerzmittel Diclofenac und Ibuprofen z. T. deut- gesundheitliche Orientierungswerte (GOW) für Trink- lich überschritten. Vereinzelte Überschreitungen wasser abgeleitet (UBA 2019a). Bei diesen Stoffen wurden auch für das Antiepileptikum Carbamazepin, werden aufgrund meist noch unvollständiger toxi- das Antibiotikum Clarithromycin, das natürliche Hor- kologischer Daten Maximalkonzentrationen abge- mon 17-β-Östradiol und dessen synthetisches Deri- leitet, bei denen auf Dauer keine gesundheitliche vat 17-α-Ethinylöstradiol festgestellt (LAWA 2016, Belastung zu erwarten ist. UBA 2018a). 3.3 Kritische Stoffeigenschaften der Arznei- Für das Antibiotikum Sulfamethoxazol wurden im mittelwirkstoffe Ablauf kommunaler Kläranlagen Konzentrationen Für die Umwelt sind langlebige (persistente) Stoffe, im Bereich der vorgeschlagenen UQN gemessen. Bei die nach ihrem Eintrag nicht mehr entfernt werden Niedrigwasserabflüssen und hohem Abwasseranteil und sich in Organismen anreichern oder weiträumig in Gewässern sind daher Überschreitungen des UQN- verbreiten können, ein zentrales Problem (BUND Vorschlags möglich (LAWA 2016, UBA 2018a). Infol- 2019a). Verbindet sich die Persistenz mit Bioakku- ge des Klimawandels sind häufiger lang andauernde mulierbarkeit und (Öko-)Toxizität spricht man von Trockenperioden zu erwarten, die wie in den Som- PBT-Stoffen, die in der Chemikalienbewertung mern 2018 und 2019 zu extremen Niedrigwasser- inzwischen eine herausragende Stellung haben und ständen auch in den großen Fließgewässern geführt möglichst nicht mehr verwendet werden sollen. haben. Überschreitungen der UQN werden dann ver- mehrt zu beobachten sein. Auch Stoffe, die sehr persistent und sehr bioakku- mulierend sind (vPvB-Stoffe), gelten als besonders Nach Auffassung des UBA würde allerdings eine aus- besorgniserregend. In Kombination mit hoher Mobi- schließliche Fixierung auf UQN der Gesamtproble- lität im Wasserkreislauf (PMT- und vPvM-Stoffe) matik nicht gerecht, da neben dem Schutz der aqua- sind persistente Stoffe ebenfalls als sehr problema- tischen Ökosysteme und der Trinkwassergewinnung tisch für die Umwelt anzusehen (UBA 2018c). Sehr auch Meere, Sedimente und Böden generell vor einer kritisch werden auch krebserzeugende, mutagene weiteren Schadstoffbelastung zu schützen sind (UBA und fruchtschädigende Stoffe (CMR-Stoffe) beur- 2018a). teilt. Dies gilt besonders für bestimmte Zytostatika. Besonders relevant sind außerdem endokrin wirksa- Auch in der Grundwasser–Verordnung (GwV) exis- me Substanzen. Zahlreiche Hormone, insbesondere tiert für Arzneimittel bislang kein Schwellenwert. Bei Sexualhormone und Hormone für die Schilddrüse, Untersuchungen in 15 Bundesländern im Jahr 2013 sind viel verwendete Arzneimittelwirkstoffe, die mit Konzentrationen über 0,1 μg/l nachgewiesen wurden 16 Arzneimittelwirkstoffe im Grundwasser Organismen in der Umwelt wie Fische und Schne- cken beeinflussen können. (Bergmann et al. 2011, LAWA 2016). Diskutiert wird von 0,1 μg/l für agrarische und nichtagrarische Pes- eine Übernahme des allgemeinen Schwellenwerts Auch wenn die o. g. Eigenschaft(skombination)en nicht vorhanden sind, sind die meisten Arzneimit- tizide auch für Arzneimittelwirkstoffe und deren telwirkstoffe physiologisch hochaktive Substanzen, Metaboliten, zumal sich für viele Stoffe keine Wirk- die schädigend auf die Umwelt wirken können und schwellen festlegen lassen. deren Eintrag deshalb minimiert werden muss. Dies BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 15
gilt für Human- und Tierarzneimittel. Von letzteren 3.4 Umweltbewertung im Zulassungsverfahren ist der prominenteste Umweltschaden durch Arznei- Seit 2006 schreibt das EU-Recht vor, dass bei mittel bekannt: In Indien und Pakistan trat ein Gei- Human- und Tierarzneimitteln die Umweltwirkun- ersterben auf. Die Geier hatten verendete Kühe gen im Rahmen der Zulassung zu bewerten sind. gefressen, die mit dem entzündungshemmenden Dabei werden nur die Wirkstoffe bewertet, nicht die Mittel Diclofenac behandelt wurden (Prakash et al zahlreichen Formulierungshilfsstoffe. Die Bewertung 2012). Diclofenac wirkt auch schädlich auf Leber, erfolgt zweistufig: Zunächst wird ermittelt, ob unter Kiemen und Nieren von Fischen. Qiuguo Fu et al. der Annahme, dass der Wirkstoff nicht im Körper fanden heraus, dass dieser Wirkstoff in Flohkrebsen verstoffwechselt und auch im weiteren Verlauf nicht zum noch toxischeren Methylester biotransformiert abgebaut wird, einen Schwellenwert überschreitet wird (Fu et al. 2020). Weitere Beispiele für beobach- (Phase 1). Für Humanarzneimittel beträgt dieser tete schädigende Einflüsse auf die Umwelt sind Aus- Schwellenwert z. B. 0,01 µg/l in Oberflächenwasser. wirkungen auf Dunginsekten und Fische durch Nur wenn die Exposition diesen Wert überschreitet, Antiparasitika sowie Veränderungen der Zusammen- sind weitere Untersuchungen zur Persistenz und setzung von Mikroorganismen-Gemeinschaften in Ökotoxizität erforderlich (Phase 2). Übersteigt die Böden durch Antibiotika (Fornefeld und Smalla erwartete Umweltkonzentration (PEC-Wert) die 2018). Richmond et al. zeigten in einer australischen Wirkschwelle (PNEC-Wert), besteht ein Risiko und Untersuchung, dass sich diverse Pharmawirkstoffe sind Maßnahmen zur Minderung erforderlich. Liegen in aquatischen Nahrungsnetzen anreichern, was zu Hinweise vor, dass die Substanz sich in Lebewesen hohen Konzentrationen in einigen Organismen füh- anreichern kann (Bioakkumulation), ist eine PBT- ren kann (Richmond et al. 2018). Bewertung erforderlich mit dem Ziel, PBT-Stoffe als Wirkstoffe möglichst zu vermeiden. Für Antibiotika Empfindliche Arten wirbelloser Tiergruppen (z. B. und Hormone gilt der Schwellenwert nicht und ist Eintagsfliegen, Steinfliegen, Köcherfliegen) in Fließ- eine gesonderte Bewertung veranlasst (tailored risk gewässern verschwinden schon bei äußerst niedrigen assessment). Insbesondere werden weitergehende Konzentrationen von Mikroschadstoffen. Viele Arz- ökotoxikologische Untersuchungen gefordert (z. B. neimittel zählen zu den Mikroschadstoffen, die Blaualgentests bei Antibiotika oder ein Full-Lifecy- durch eine weitergehende Abwasserreinigung redu- cle-Test mit Fischen). ziert werden können (siehe Abschnitt 4.5.3, Triebs- Die Bewertung der Entwicklung von Resistenzen in korn 2017). Eine Reduktion der Mikroschadstoffe in Umweltmedien spielt bisher bei Antibiotika ebenso Gewässern ist notwendig (BUND 2017, UBA 2018a). wenig eine Rolle wie die Frage, ob der Schwellenwert nicht auch bei anderen Wirkstoffgruppen wie Anti- parasitika, Antimykotika, Zytostatika und Neuro- pharmaka ungeeignet ist (EMA 2018). Auch für Tier- arzneimittel existiert ein Leitfaden zur Umweltbewertung (EMA 2006). 16 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
Wirkstoffgruppen mit besonderer ökotoxikologischer Relevanz Antibiotika werden zur Bekämpfung bakterieller Krankheitserreger verwendet. Deshalb reagieren Bakterien und bakterielle Lebensgemeinschaften (Mikrobiome) besonders empfindlich. Tests mit Cyanobakterien (Blaualgen) können geeignet sein, das ökotoxikologische Potenzial abzuschätzen (EMA 2018). Ein beson- deres Risiko stellt die Verbreitung und Entstehung von Antibiotika-Resistenzen in der Umwelt dar, welches deshalb zwingend in die Umweltrisikobewertung einzubeziehen ist. Antimykotika wirken gegen Pilzerkrankungen. Das Antimykotikum Clotrimazol wirkt bereits bei 350 pg/l algentoxisch (TAB 2019). Eine Anwendung der PEC-Schwellenwerte in Phase 1 der Umweltrisikobewertung ist deshalb nicht möglich. Antiparasitika wirken gegen Parasiten innerhalb und äußerlich bei Nutztieren. Meist sind die bekämpften Parasiten Insekten, weshalb sie eine ausgeprägte insektizide Wirkung haben. Manche Wirkstoffe finden auch als Biozide und im Pflanzenschutz als Insektizide Verwendung. Ein Beispiel für adverse Effekte in der Umwelt ist die Wirkung von Ivermectin gegen Dunginsekten bei sehr niedrigen Konzentrationen (Liebig et al 2010). Hormone werden in der Human- und Tiermedizin z. B. zur Empfängnisverhütung verabreicht. Sie wirken auf Wasserorganismen bereits bei extrem niedrigen Konzentrationen. So ruft 17-α-Ethinylestradiol (EE2) bereits bei einer Konzentration von 0,1 ng/l Verweiblichungseffekte bei manchen Fischarten hervor (Purdom et al. 1994). Im Laborversuch führten 0,2 ng/l EE2 zu 100 %igen Reproduktionsverlust bei einer Karpfenart (Zha et al. 2008). Bei Schnecken tritt Imposex auf – die Entwicklung von Geschlechtsorganen, die gegensätzlich zum eigentlichen Geschlecht sind (SRU 2007). Eine Beurteilung des ökotoxikologischen Potenzials ist z. B. mit dem „Full Lifecycle-Test“ mit Fischen möglich. Auch von Gestagenen wird berichtet, dass sie im Nanogramm-Bereich die Entwicklung von Amphibien beeinträchtigen (Säfholm 2014). Nicht nur Sexualhormone sind von hoher ökotoxikologischer Relevanz sondern z. B. auch Schilddrüsenhormone, die ebenfalls die Larvenentwicklung bei Amphibien beeinflussen. Bei der Bewertung von Hormonen ist zu beachten, dass zahlreiche Chemikalien (ungewollt) hormonell schädliche Wirkungen haben. Sie sind endokrine Disruptoren. Die Wirkungen von Chemikalien mit gewollter und ungewollter hormoneller Wir- kung können sich in der Umwelt addieren oder sogar gegenseitig verstärken. Zytostatika wie 5-Fluoruracil, Cyclophosphamid oder cis-Platin werden in der Krebstherapie als Chemo- therapeutika eingesetzt. Viele Wirkstoffe haben eine gentoxische Wirkung. Für einige Zytostatika werden niedrige Wirkkonzentrationen kleiner als 1 µg/l berichtet (Filipic et al. 2013) z. B. bei Tests, die das gen- toxische Potenzial bei Fischen erfassen (z. B. Mikrokerntest). Neuropharmaka werden – auch angesichts der Verbreitung neurodegenerativer Erkrankungen – zuneh- mend verschrieben (UBA 2018d). Sie können z. B. die Reproduktion oder das Schwarmverhalten von Fischen stören, was deren Überlebensfähigkeit massiv beeinträchtigt. Im Projekt NEUROBOX werden aktuell Testverfahren entwickelt, die diese ökologischen Parameter erfassen (Kuckelkorn et al. 2020). BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 17
Auch Röntgenkontrastmittel (jodhaltige organische 3.5 Kombinationswirkungen Chemikalien) werden durch den Bewertungsansatz Ein deutliches Defizit der Umweltbewertung im Rah- der EMA nicht erfasst. Sie sind bestimmungsgemäß men der Zulassung ist auch die Vernachlässigung ungiftig, nicht bioakkumulierend und werden vom von Kombinationseffekten. Humanarzneimittel errei- Körper sehr rasch wieder ausgeschieden. Sie sind chen die Kläranlagen und anschließend die Vorfluter allerdings extrem persistent und hochmobil. Weder als Stoffgemisch zahlreicher Wirkstoffe, deren Wir- durch Kläranlagen noch durch Uferfiltration werden kung sich addieren, potenzieren oder vermindern sie wirksam zurückgehalten. Sie sind daher ein Para- kann. Selbst bei Kombinationspräparaten mit meh- debeispiel für vPvM-Stoffe (very persistent, very reren Wirkstoffen ignorieren die Leitfäden der EMA mobile), die aus Sicht des Umweltbundesamtes als ein Zusammenwirken. Das Risiko wird tendenziell besonders besorgniserregende Stoffe gemäß EU- unterschätzt. Auch im Forschungsprogramm Phar- Chemikalienverordnung REACH zu betrachten sind mas, bei dem Abläufe von Kläranlagen mit mehreren (UBA 2018c). Was für Röntgenkontrastmittel gilt, Arzneimittelwirkstoffen untersucht wurden, konnte trifft ebenso für Kontrastmittel in der Kernspinreso- gezeigt werden, dass sich die Wirkungen addieren nanz (MRT) zu. Gadoliniumchelate sind ebenfalls (TAB 2019). In der EU gibt es etliche wissenschaftlich sehr persistent und mobil. Die so genannte Gadoli- fundierte Ansätze, additive Wirkungen von Stoffen nium-Anomalie im Abfluss von Kläranlagen gilt zu berücksichtigen (Altenburger et al. 2018, Korten- inzwischen als Indikator für den Abwassereinfluss kamp et al. 2009). Diese sollten angewandt werden. von Oberflächen- und Grundwasser (Bayer. LfU 2020). 3.6 Spezialfall Antibiotika-Resistenzen Jüngere Untersuchungen haben gezeigt, dass Über- Letztlich ignoriert der Leitfaden der EMA (EMA gänge von resistenten Bakterien von Tieren auf den 2018) auch, dass Nanomaterialien in der Medizin an Menschen offenkundig sind. So korrelieren Funde Bedeutung gewinnen sowohl als Wirkstoffe als auch von MRSA bzw. ESBL bei Mitarbeitern von landwirt- als Carriers und Drug delivery systems. Die Risiken schaftlichen Betrieben mit MRSA- bzw. ESBL-posi- von Nanomaterialien für Mensch und Umwelt sind tiven Funden bei den Tieren. Bemerkenswert scheint, noch nicht ausreichend geklärt. Nicht nur die che- dass diese Korrelation insbesondere Schweinemast- mische Zusammensetzung sondern auch Größe, betriebe betraf, während die untersuchten Rinder- Form, Ladung etc. der Nanopartikel beeinflussen das und Geflügelbetriebe sogar MRSA-frei bzw. nur Wirkpotenzial. Für die Bewertung von Nanomate- gering mit ESBL belastet waren (Dittmann et al. rialien sind daher weitergehende Informationen zur 2016). Neuere Untersuchungen von Greenpeace physikalisch-chemischen Charakterisierung erforder- zeigten, dass von 15 untersuchten Schweinegülle- lich, um sowohl ihr Verhalten im Organismus als Proben neun ESL-bildende Erreger und elf Colistin- auch in der Umwelt beurteilen zu können (Stein- resistente Keime enthielten (Greenpeace 2020). häuser und Sayre 2017). Aktuelle Untersuchungen des Julius Kühn-Instituts (JKI) weisen nach, dass frische und zwar insbeson- dere fertig geschnittene und für den Verkauf in Folie verpackte Salate häufig nicht nur mit hygienisch problematischen, sondern auch mit antibiotikaresis- 18 BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt
tenten Bakterien belastet sind, was auf die Düngung ka-Resistenzen durch horizontalen Gentransfer zwi- mit Gülle zurückzuführen ist (BfR und JKI 2018). schen unterschiedlichen Bakterien ausgetauscht wer- Da die unmittelbare Beaufschlagung von Nahrungs- den. pflanzen mit Gülle verboten ist, weist dieser Befund auf eine Aufnahme der Keime über die Wurzeln hin. Ein Überblick über Antibiotika und Antibiotika- Resistenzen in der Umwelt findet sich bei Schröder Die Eintragspfade antibiotikaresistenter Bakterien et al. (2020). aus Human- und Tiermedizin entsprechen denen der Antibiotika. Ein sehr wichtiger zusätzlicher Ein- Ein besonderer Fall wurde 2018 bekannt: Vielen Fut- tragspfad für resistente Keime aus der Tierhaltung termitteln wurde ein Zusatzstoff mit lebensfähigen in die Umwelt ist die Abluft aus Tierstallungen, die Bakterien zugefügt, die Riboflavin (Vitamin B2) pro- weiträumig über die Umgebung verstreut wird (von duzieren. Diese Bakterien waren mit vier Resistenzen Salvati et al. 2015, Gärtner et al. 2016). Auch bei gegen Antibiotika ausgestattet. Drei davon wurden der Verteilung von Gülle und Mist auf den Feldern mit Hilfe von Gentechnik in das Erbgut der Bakterien können resistente Keime über die Atemwege aufge- eingeschleust. Nach Einschätzung der Europäischen nommen werden (Kabelitz et al 2020). Über den Lebensmittelbehörde EFSA geht von Futtermitteln Abwasserpfad werden insbesondere Oberflächenge- mit diesem Zusatzstoff ein Risiko für Verbraucher, wässer verunreinigt. Klärschlamm, Gülle und Mist Anwender und die Umwelt aus (FEEDAP 2018). Die kontaminieren potenziell Böden und nachfolgend betroffenen Futtermittel – die bereits seit 2014 auf Grund- und Trinkwasser. Die Antibiotika-Gehalte in dem Markt waren - mussten bis Mitte 2019 vom Gülle und Mist hängen stark davon ab, wie die Nutz- Markt genommen werden. Ob es weitere ähnlich tiere gehalten werden (Fromm 2013). In ökologi- gelagerte Fälle gibt, ist nicht bekannt. schen Tierhaltungen ist die Antibiotika-Gabe streng limitiert. Eine Zunahme der Antibiotikaresistenz in Auch über gentechnisch veränderte Organismen den Böden durch den Eintrag von Antibiotika wird (GVO) können Antibiotikaresistenzgene in die diskutiert, ist jedoch noch nicht abschließend geklärt Umwelt gelangen. Resistenzgene werden in der Gen- (Adler 2014). Antibiotika-Resistenzen können auch technik vielfach als Markergene eingesetzt, um die in der Umwelt erst entstehen: Bei einigen Antibiotika GVO einfach selektieren zu können, So wurde in chi- reichen bereits sehr geringe Konzentrationen - wie nesischen Flüssen das synthetische Ampicillin-Resis- sie in der Umwelt vorkommen - aus, um einen Selek- tenzgen (β-lactam, blá) aus gentechnisch veränder- tionsdruck auszuüben und zur Verbreitung von ten Bakterien nachgewiesen (Chen et al. 2012). Resistenzen beizutragen (Gullberg et al. 2011, Keen und Montforts 2012). Außerdem ist nachgewiesen, dass durch sog. Ko-Selektion bei gleichzeitiger Anwesenheit von Bioziden, Pestiziden wie Glyphosat oder Schwermetallen wie Kupfer und Zink Antibio- tika-Resistenzen in der Umwelt entstehen können (van Bruggen et al. 2018, Westphal-Settele et al. 2018). Schließlich können in der Umwelt Antibioti- BUNDposition Arzneimittel in der Umwelt 19
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