AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 150 Jahre Reichsgründung - Bundeszentrale ...
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71. Jahrgang, 1–2/2021, 4. Januar 2021 AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE 150 Jahre Reichsgründung Christian Bunnenberg Hedwig Richter EINE MÖGLICHKEIT WARUM SICH EINE VON VIELEN BESCHÄFTIGUNG MIT DER REICHSGRÜNDUNG Siegfried Weichlein HEUTE LOHNT EIN REICH FÜR ALLE? Ulrich Pfeil Christoph Nonn VERSAILLES UND DER VON HELDEN, SCHURKEN DEUTSCH-FRANZÖSISCHE UND SONDERWEGEN KRIEG VON 1870/71 ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG Beilage zur Wochenzeitung
Inhaltsverzeichnis 150 Jahre Reichsgründung APuZ 1–2/2021 CHRISTIAN BUNNENBERG HEDWIG RICHTER EINE MÖGLICHKEIT VON VIELEN WARUM SICH EINE BESCHÄFTIGUNG Die Reichsgründung von 1871 war nur eine MIT DER REICHSGRÜNDUNG HEUTE LOHNT Antwort auf die „Deutsche Frage“, die seit dem Das dunkle Bild von einem repressiven Untergang des Heiligen Römischen Reiches Obrigkeitsstaat wird der pluralen Gesellschaft Deutscher Nation Anfang des 19. Jahrhunderts des Deutschen Reiches nicht gerecht. Das im Raum stand. Es hätte auch anders kommen Kaiserreich bot progressives Potenzial und war können, schließlich gab es konkrete Alternativen. damit Teil des internationalen Aufbruchs, der Seite 04–11 Massenpolitisierung und der Demokratisierung. Seite 25–29 SIEGFRIED WEICHLEIN EIN REICH FÜR ALLE? ULRICH PFEIL Es hat sich durchgesetzt, von der Gründung VERSAILLES UND DER DEUTSCH- des Deutschen Reiches als einem Ereignis zu FRANZÖSISCHE KRIEG VON 1870/71 sprechen, das ein Vorher und ein Nachher hatte. Der Sieg über Frankreich nahm in den ersten Tatsächlich steckte die innere Einigung voller Jahren nach der Reichsgründung einen zentralen Widersprüche, und sie vollzog sich allmählich, Platz in der deutschen Erinnerungskultur ein. über einen längeren Zeitraum hinweg. Das Schloss Versailles entwickelte sich in den Seite 12–16 folgenden Jahrzehnten zum Kristallisationspunkt für die deutsch-französische „Erbfeindschaft“. Seite 30–37 CHRISTOPH NONN VON HELDEN, SCHURKEN UND SONDERWEGEN Der Streit um die Deutung der Reichsgründung begann, bevor der neue Nationalstaat prokla- miert worden war. Heute stehen Deutungen der Reichsgründung nebeneinander, die sich vor allem darin unterscheiden, wie das Verhältnis des Kaiserreichs zur Moderne beurteilt wird. Seite 17–24
EDITORIAL „Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große historische Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“, so Anton von Werner in seinen Memoiren über den zeremoniellen Akt der deutschen Reichsgründung. Der junge Künstler war vom preußischen Kronprinzen beauftragt worden, die Ereignisse in einem Gemälde festzuhalten. Damit war von Werner einer der wenigen anwesenden Zivilisten, als am 18. Januar 1871 der preußische König Wilhelm I. im Schloss von Versailles zum deutschen Kaiser gekrönt wurde. Gewählte Volksvertreter waren ausgeschlossen – eingeladen waren Prinzen, aristokratische Militärs und Fürsten. Die Inszenierung im Spiegelsaal verdeutlicht den Charakter einer Reichs- gründung oder Revolution „von oben“. Gleichwohl war die nationale Einigung auch Hauptanliegen des liberalen Bürgertums und der Revolutionsbewegung von 1848 gewesen. Der Krieg gegen Frankreich von 1870 bis 1871 einte die deutschen Staaten vorerst. Nach Kriegsende war jedoch zunächst ungewiss, was die nationale Identität im Kaiserreich ausmachen würde – und welche exkludie- renden Effekte die Antwort auf die Frage haben würde, was „deutsch“ ist. Seit seiner Gründung wurde der erste deutsche Nationalstaat mit Militarismus, Großmachtansprüchen, kolonialen Ambitionen und wachsendem Antisemitismus in Verbindung gebracht – aber auch mit der Ausweitung des Wahlrechts, mit Erfolgen der Arbeiter- und der Frauenbewegung sowie dem Beginn der Moderne. Auch 150 Jahre später wird kontrovers darüber gestritten, wie das Kaiserreich und die damit verbundene gesellschaftliche Ordnung zu bewerten sind. Lorenz Abu Ayyash 03
APuZ 1–2/2021 EINE MÖGLICHKEIT VON VIELEN Die Reichsgründung und ihre Vorgeschichte Christian Bunnenberg Eigentlich hatte der 27-jährige Kunstmaler Anton prinzen: „Geschichtsmaler v. Werner, Karlsruhe. von Werner in den ersten Tagen des Jahres 1871 S. K. H. Der Kronprinz läßt Ihnen sagen, daß Sie keinen Grund, betrübt zu sein. Seit seinem Studi- hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben wür- um an der Kunstakademie in Karlsruhe galt er als den, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen aufstrebendes Talent. Mit dem badischen Großher- können. Eulenburg, Hofmarschall.“02 Überrascht zog Friedrich hatte der Nachwuchskünstler einen ließ Anton von Werner alles stehen und liegen einflussreichen Förderer gewonnen, in der bürger- und saß bereits am frühen Nachmittag im nächs- lichen Kunst- und Literaturszene galt Anton von ten Zug nach Frankreich. Zwei Tage und Nächte Werner als gut vernetzt, und auch privat hatte er dauerte die beschwerliche Bahnfahrt. Die letzten sein Glück gefunden. Für den Sommer 1871 war Kilometer legte der Kunstmaler mit der Postkut- die Hochzeit mit seiner Verlobten geplant, dem sche zurück, eingezwängt zwischen Mitreisenden anstehenden Umzug nach Berlin sahen beide mit und Paketen, auf dem Dach ein bayerischer Sol- Vorfreude entgegen. Auch das Wetter drückte dat als Schutz gegen Franktireurs. nicht auf die Stimmung. Zwar war es in Karlsruhe In den frühen Morgenstunden des 18. Janu- Anfang Januar 1871 frostig kalt, doch Anton von ar traf Anton von Werner gerade noch pünktlich Werner und seine Braut vergnügten sich häufig im Hauptquartier ein, im festen Glauben, er solle beim Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Wiesen. einem Sturm auf Paris beiwohnen. Der Hofmar- Vielmehr sorgte der nicht enden wollende Krieg schall klärte ihn schließlich auf: Es sei eine Fest- gegen Frankreich für schlechte Stimmung. Viele lichkeit geplant, der Maler solle einen Frack anzie- Deutsche hatten nach dem Sieg in der Schlacht von hen und sich um 11 Uhr im Schloss zu Versailles Sedan Anfang September 1870 mit einem schnellen einfinden. Dort nahm Anton von Werner schließ- Ende des Feldzuges gerechnet. Doch bisher waren lich an dem Ereignis teil, das als „Kaiserprokla- alle Hoffnungen auf Frieden vergebens, denn die mation“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte. auf den politischen Trümmern des geschlagenen Und obwohl er später schrieb, dass die Veranstal- französischen Kaiserreiches gegründete Dritte Re- tung in „prunklosester Weise und außerordentli- publik führte den Krieg unbeirrt und erbittert fort. cher Kürze“ vor sich ging, bezeichnete er die An- Inzwischen belagerten deutsche Verbände schon gelegenheit dennoch als das „große historische seit Wochen Paris. Auch wenn niemand mehr Ereignis“, als die „Errungenschaft des Krieges“.03 wirklich an einer Niederlage Frankreichs zweifel- Diesen Eindruck sollten auch seine drei gro- te, der tatsächliche Ausgang des Krieges blieb wei- ßen Historiengemälde vermitteln, die jeweils den terhin ungewiss. Und das zerrte an den Nerven. Augenblick darstellen wollten, in dem die An- Anton von Werner hatte, ausgestattet mit einem wesenden den preußischen König Wilhelm I. als großherzoglich badischen Empfehlungsschreiben, deutschen Kaiser hatten hochleben lassen. Bis im November 1870 selbst einige Zeit im Haupt- heute prägend für das Bild von der Kaiserprokla- quartier der 3. Deutschen Armee vor Paris ver- mation ist die „Friedrichsruher Fassung“ (1885), bracht, dort den preußischen Kronprinzen Fried- ein Geschenk Wilhelms I. an Bismarck anläss- rich Wilhelm kennengelernt und Eindrücke für ein lich dessen 70. Geburtstags, die im Gegensatz zur Historiengemälde gesammelt, das „Moltke mit sei- „Schlossfassung“ (1877) und „Zeughausfassung“ nem Stabe vor Paris“ zeigen sollte.01 (1882) den Zweiten Weltkrieg überstand und ge- Am Vormittag des 15. Januar 1871 erhielt der genwärtig in der Dauerausstellung der Otto-von- Künstler ein Telegramm aus Versailles. Absen- Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh unweit von der war der Hofmarschall des preußischen Kron- Hamburg präsentiert wird.04 Dabei ist das Gemäl- 04
150 Jahre Reichsgründung APuZ de, das als eine der zentralen Bildikonen der deut- kannte“.07 Diese Erzählung gründete in der als schen Geschichte bezeichnet werden kann, aber notwendig erachteten Legitimation des Deut- mitnichten ein Abbild der Ereignisse in Versailles, schen Reiches und wurde später in dieser Traditi- sondern vielmehr eine künstlerische Repräsentati- on fortgeschrieben. on des symbolischen Gründungsaktes.05 Doch wie lässt sich die Geschichte der Reichs- Diese Reichsgründung „von oben“, von zeit- gründung, des vermeintlich langen Weges nach genössischen Historikern zu einem Werk „großer Versailles, erzählen, ohne dem kritisierten Ge- Männer“ hochstilisiert, lässt sich aber nicht, wie schichtsbild aufzusitzen? Abhilfe kann ein Per- in der Historiografie und den Historiengemälden spektivwechsel schaffen, mit dem der 18. Januar angelegt, ausschließlich auf das Wollen und Han- 1871 nicht mehr als Endpunkt einer zwangläu- deln einiger weniger Akteure – Wilhelm I., Otto fig auf ihn zulaufenden Entwicklung beschrieben von Bismarck, Helmuth von Moltke, Albrecht wird, sondern als eine Möglichkeit von vielen, von Roon – zurückführen. Sie war „keine his- die letztlich zur Gründung des Deutschen Rei- torische Notwendigkeit“, „sie war nicht alterna- ches führte – denn konkrete Alternativen hatte es tivlos“.06 Vielmehr war die Reichsgründung von durchaus gegeben.08 1871 nur eine Lösung für die sogenannte „Deut- Die Vorgeschichte der Reichsgründung setzt sche Frage“, die seit dem Untergang des Heiligen gemeinhin bei der Französischen Revolution von Römischen Reiches Deutscher Nation Anfang 1789 ein, in der viele aufklärerische Ideen – von der des 19. Jahrhunderts im Raum stand: die Frage Volkssouveränität über die Gewaltenteilung bis zur nach der Gründung und Ausgestaltung eines ge- Formulierung von Menschen- und Bürgerrechten – einten deutschen Staatswesens. verwirklicht wurden und die auf Zeitgenoss*innen ebenso Faszination ausübten, wie die jakobinischen GENESE DER DEUTSCHEN FRAGE Auswüchse abschreckten. In den Napoleonischen Kriegen zeigte sich bald das große Mobilisierungs- Die Vorgeschichte der Reichsgründung von 1871 potenzial der Ideen von Nation und Nationalstaat- ist lange Zeit einseitig erzählt worden. Der His- lichkeit. Mit der Levée en masse, der Aushebung toriker Eckart Conze wies unlängst darauf hin, von Massenheeren, zog nun nicht mehr der Unter- dass „Generationen von – deutschen – Histori- tan, sondern der citoyen soldat in den Krieg, und kern (…) Generationen von Deutschen ein Ge- in seinem Gepäck hatte er die revolutionären Ide- schichtsbild vermittelt [haben], das die deutsche en von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“.09 Geschichte der ersten siebzig Jahre des 19. Jahr- Als die napoleonischen Armeen durch Europa hunderts auf die nationale Einigung unter preu- zunächst von Sieg zu Sieg eilten, bildete sich 1806 ßischer Führung hinauslaufen ließ; ein Ge- unter französischem Einfluss der Rheinbund aus schichtsbild, das in der Nationalstaatsbildung den deutschen Mittelstaaten, die zugleich ih- den historischen Fortschritt schlechthin und im ren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich Nationalstaat, in einer nationalstaatlichen Ord- Deutscher Nation erklärten. Angesichts dieser nung die Normalform politischer Existenz er- politischen Entwicklung und auf Druck Napole- ons legte der habsburgische Kaiser Franz II. nur wenige Tage später die deutsche Kaiserkrone nie- 01 Anton von Werner, Moltke mit seinem Stabe vor Paris, 1873, Öl auf Leinweind, 190 × 316 cm, Kunsthalle Kiel. der. Nach fast 900 Jahren zerfiel das Römisch- 02 Ders., Erlebnisse und Eindrücke 1870–1890, Berlin 1913, S. 31. Deutsche Reich. 03 Vgl. ders. (Anm. 1), S. 33. Während in den durch Säkularisierung und 04 Ders., Die Proklamierung des Deutschen Kaiserrei- Mediatisierung vergrößerten süddeutschen Staa- ches („Friedrichsruher Fassung“), 1885, Öl auf Leinwand, ten Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt und 167 × 202 cm, Bismarck-Museum Friedrichsruh. 05 Vgl. Charlotte Bühl-Gramer, Anton von Werner: Die Pro- klamierung des Deutschen Kaiserreichs 1871, in: Susanne Popp/ 07 Ebd., S. 23 f. Michael Wolbring (Hrsg.), Der Europäische Bildersaal. Europa 08 Vgl. das Gedankenexperiment von Dieter Langewiesche, Die und seine Bilder. Analyse und Interpretation zentraler Bildquellen, Glorreiche Deutsche Revolution von 1848/49, in: Christoph Nonn/ Schwalbach/Ts. 2014, S. 86–97; Thomas W. Gaethgens, Anton Tobias Winnerling (Hrsg.), Eine andere deutsche Geschichte von Werner: Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein 1517–2017. Was wäre wenn …, Paderborn 2017, S. 120–139. Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frankfurt/M. 1990. 09 Tobias Arand, 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Fran- 06 Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgrün- zösischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2018, dung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020, S. 23. S. 36. 05
APuZ 1–2/2021 Bayern nun an Frankreich und den französischen Dies war vor allem angesichts des preu- Modellstaaten im Rheinbund orientierte Prozesse ßisch-österreichischen Dualismus ein zentra- staatlicher Modernisierung angestoßen wurden, ler Punkt. War Österreich im Alten Reich die musste Preußen von Napoleon erst militärisch stärkste Macht, entwickelte sich Preußen seit dem geschlagen werden, bevor man sich auch dort ge- 18. Jahrhundert zu einem ernstzunehmenden Ri- nötigt sah, Reformen anzugehen: Ab 1807 wur- valen mit Großmachtsambitionen. Daher un- de zur Vermeidung eines Umsturzes von unten terstützte Preußen zunächst auch die Idee eines eine Revolution von oben vorangetrieben – mit deutschen Bundesstaates unter gemeinsamer Füh- zahlreichen Reformen in vielen sozialen und ge- rung mit Österreich. Dieses Anliegen fand bei den sellschaftlichen Bereichen, in der Verwaltung, der deutschen Mittelstaaten, dem sogenannten Drit- Bildung und dem Militär. ten Deutschland, jedoch keine Anhänger, ver- suchten diese doch ihre Unabhängigkeit von den FAULER KOMPROMISS … beiden Großmächten zu wahren. Für Österreich als Vielvölkerstaat war ein deutscher Bundesstaat Die politischen Maßnahmen brachten viele Deut- ebenfalls keine erstrebenswerte Lösung, da es eine sche, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, Debatte um die Rolle und den letztlichen Verbleib in Berührung mit Ideen von nationaler Einheit seiner nichtdeutschen Gebiete zu vermeiden such- und Freiheit, was letztlich zu einer antinapoleo- te. Und auch die europäischen Großmächte zeig- nischen Mobilisierung in den Befreiungskriegen ten kein Interesse an einem potenten deutschen ab 1813 beitrug. Nach dem Sieg über Napoleon Nationalstaat, der eine Gefahr für das empfindli- hegten die Anhänger der jungen deutschen Nati- che Mächtegleichgewicht dargestellt hätte. onalbewegung große Erwartungen an die territo- riale und politische Neuordnung; eine Massenbe- … ODER ERFOLGSMODELL? wegung war sie indes aber nicht.10 Mit den Forderungen nach einem einheitlichen Am Ende der Verhandlungen gründete sich mit Deutschland verbanden sich auch liberale und de- dem Deutschen Bund ein lockerer Staatenbund, mokratische Hoffnungen auf bürgerliche Mitbe- dem die deutschen Staaten und freien Städte als stimmung – dies war aber nicht im Sinne der ver- souveräne Mitglieder angehörten. Ein als Bundes- handelnden Mächte, die nach den Napoleonischen versammlung bezeichneter ständiger Gesandten- Kriegen auf dem Wiener Kongress eine neue Ord- kongress unter der Präsidialmacht Österreich wies nung für Europa entwarfen. Diese sahen in den re- zwar bundesstaatliche Merkmale auf, war in seinen volutionären Ereignissen in Frankreich vielmehr Möglichkeiten und Kompetenzen aber stark ein- das ausschlaggebende Moment für fast ein Vier- geschränkt. Das gesamte Konstrukt war daher eine teljahrhundert Krieg und setzten auf die Wieder- deutliche Absage an die liberalen und nationalen herstellung vorrevolutionärer Zustände und eine Hoffnungen auf einen einheitlichen Nationalstaat. strenge Überwachung aufrührerischer Tendenzen Auf Demonstrationen für eine nationale Ein- zur Vermeidung erneuter Umstürze. heit wie dem Wartburgfest 1817 und das politisch Bei den Verhandlungen über die politische motivierte Attentat des Studenten Karl Ludwig Zukunft eines Deutschlands galt es dabei mehre- Sand auf den Schriftsteller August von Kotzebue re Aspekte zu berücksichtigen. Eine Neuauflage im März 1819 wurde mit den polizeistaatlichen des Heiligen Römischen Reiches stand nicht zur Maßnahmen der Karlsbader Beschlüsse reagiert. Debatte, da die noch bestehenden 41 deutschen Die Fürsten suchten mit Zensur, Einschränkung Staaten und freien Städte auf ihrer Souveränität von Meinungs- und Pressefreiheit, Verbot von beharrten. Vielmehr bemühten sich die Abge- Burschenschaften und Überwachung der Uni- sandten um eine ausgleichende und friedenswah- versitäten alle nationalen, liberalen oder demo- rende Lösung in den Grenzen des Alten Reiches, kratischen Tendenzen sowie Proteste gegen die die sowohl Sicherheit nach innen wie außen ge- reaktionäre Politik und Kleinstaaterei des Deut- währleisten und revolutionäre oder expansive Be- schen Bundes einzugrenzen, um damit revoluti- strebungen unterdrücken und ausschließen sollte. onäre Bestrebungen im Keim zu ersticken. Wäh- rend Literaten wie Georg Büchner und Heinrich 10 Vgl. Michael Epkenhans, Der Deutsch-Französische Krieg Heine oder Journalisten wie Karl Marx ins Exil 1870/1871, Stuttgart 2020, S. 14. gingen, sollte die Flucht weiter Teile des Bürger- 06
150 Jahre Reichsgründung APuZ tums ins idyllisch verklärte Private in der Retro- ner Nationalversammlung. Im Mai 1848 traten in spektive mit dem kulturhistorischen Begriff der Frankfurt am Main die gewählten Abgeordneten Biedermeierzeit beschrieben werden. erstmals zusammen, um die Verfassung für einen Erst mit der französischen Julirevolution er- geeinten deutschen Nationalstaat zu erarbeiten. hielten nationale und liberale Bewegungen 1830 Die Debatte um die großdeutsche oder kleindeut- in ganz Europa wieder Auftrieb. Im Deutschen sche Verfasstheit des Staatsgebietes entschied sich Bund gab es in einigen Mitgliedstaaten gewalttäti- letzten Endes an der Frage der ungeklärten natio- ge Unruhen und Forderungen nach liberalen Re- nalen Zugehörigkeiten. Österreich war nicht be- formen. Im Mai 1832 versammelten sich 20 000 bis reit, seine nichtdeutschen Gebiete zugunsten ei- 30 000 Menschen am Hambacher Schloss, wo an- ner großdeutschen Lösung in den Grenzen des gesichts des polnischen Freiheitskampfes und der Deutschen Bundes aufzugeben. Auch der Vor- bürgerlichen Revolution in Belgien ein europäi- schlag eines Doppelbundes – zugleich deutscher scher Völkerfrühling beschworen wurde und auch Bundesstaat ohne Österreich und Staatenbund für die deutschen Länder der Ruf nach Einigung mit Österreich – fand keine Zustimmung, sodass und Freiheit erscholl – wenngleich die völkerver- es letztlich auf eine kleindeutsche Lösung ohne bindenden Parolen bei gleichzeitiger Betonung des Beteiligung Österreichs hinauslief.12 Im März Nationalismus mit seinen Abgrenzungstendenzen 1849, die revolutionäre Stimmung war bereits von einer gewissen Janusköpfigkeit zeugten.11 abgeflaut und die monarchisch-konservativen Trotz staatlicher Repressionen läutete das of- Kräfte wieder erstarkt, beschloss die National- fen zur Schau gestellte liberale, nationale und de- versammlung, dem preußischen König die Kai- mokratische Aufbegehren den Übergang von der serwürde anzutragen. Mit einer Ablehnung ihres sogenannten Restaurationszeit in den Vormärz Anliegens brüskierte Friedrich Wilhelm IV. die ein. Französische Forderungen nach einer Rhein- entsandten Abgeordneten; nur von „seinesglei- grenze sorgten während der Rheinkrise von 1840 chen“ und nicht aus den Händen des Volkes woll- für eine national erregte Stimmung in den west- te er die deutsche Kaiserkrone annehmen. und süddeutschen Ländern, die sich auch in Die Absage des preußischen Königs galt vor- den zeitgleich entstandenen Liedern „Wacht am nehmlich einer Nationalstaatsgründung von un- Rhein“ oder „Das Lied der Deutschen“ äußerte. ten, jedoch nicht einer kleindeutschen Lösung In diesem Zuge entdeckten auch einzelne deut- der Deutschen Frage. Im Gegenteil: Zeitgleich sche Staaten den Nationalismus als politisches zur blutigen Niederschlagung der letzten Auf- Mittel zum Zweck, was sich in der Folgezeit vor stände gab es im Sommer 1849 den preußischen allem auf den preußisch-österreichischen Dualis- Vorstoß, eine Nationalstaatsgründung von oben mus auswirken sollte. mit einer konservativen Version der Reichsver- fassung voranzutreiben – hatten doch mehrere ABGELEHNTE KAISERKRONE deutsche Mittelstaaten dem ursprünglichen Ver- fassungstext und damit der Idee eines von Preu- Nachdem im Februar 1848 erneut eine Revolu- ßen dominierten deutschen Nationalstaates be- tion Frankreich erschütterte, erfasste die revolu- reits zugestimmt. Als Gegenentwurf zur von tionäre Stimmung rasch ganz Europa. Auch im Preußen initiierten Erfurter Union warb Öster- Deutschen Bund mehrten sich Forderungen nach reich für ein Großösterreich. Einer drohenden Volksbewaffnung, Presse- und Versammlungs- militärischen Auseinandersetzung mit Österreich freiheit. Nach nur halbherzigen Zugeständnis- in der Herbstkrise 1850 konnte sich Preußen nur sen des preußischen Königs kam es im März 1848 durch die Zustimmung der Wiederherstellung des in Berlin zu Barrikadenkämpfen. Friedrich Wil- Deutschen Bundes entziehen – eine als schmach- helm IV. kündigte einlenkend an, dass Preußen in voll wahrgenommene politische Niederlage.13 Deutschland aufgehen werde, und hisste (wenn auch widerwillig) die schwarz-rot-goldene Fah- 12 Michael Epkenhans, Die Reichsgründung 1870/71, München ne der Revolution. Auf Aufstände in den deut- 2020, S. 15. 13 Vgl. Maik Ohnezeit, Der Deutsch-Französische Krieg schen Ländern folgten schließlich Wahlen zu ei- 1870/71. Vorgeschichte, Ursachen und Kriegsausbruch, in: Jan Ganschow/Olaf Haselhorst/Maik Ohnezeit (Hrsg.), Der Deutsch- 11 Vgl. Conze (Anm. 6), S. 9. Siehe hierzu auch den Beitrag Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen, von Hedwig Richter in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.). Graz 2009, S. 19. 07
APuZ 1–2/2021 Damit misslangen alle Versuche zur Gründung dem liberalen preußischen Abgeordnetenhaus. eines deutschen Nationalstaates sowohl von un- Der vom König 1862 neu berufene Ministerprä- ten als auch von oben gleichermaßen, und weder sident Otto von Bismarck sollte diese Krise im Preußen noch Österreich hatten aus den revoluti- Sinne der Krone lösen. Bismarck war als preu- onären Wirren einen wirklichen politischen Vor- ßischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt teil ziehen können. bereits vehement für die preußische Sache ein- getreten und stand für eine Politik des „Borus- BISMARCKS POLITIK sia First“. Innenpolitisch setzte er die Heeresre- DES „BORUSSIA FIRST“ form ohne gebilligten Haushalt und damit gegen das Parlament durch und arbeitete außenpolitisch Auch wenn die Revolution von 1848/49 als ge- zugleich an einer Stärkung Preußens im Deut- scheitert galt, ließ sich die Idee eines geeinten schen Bund. Zur Schwächung der Position Ös- Deutschlands nicht mehr von der politischen terreichs machte er sich dabei auch die deutsche Agenda tilgen. Zunächst wurden in der nun ein- Nationalbewegung zu eigen, ordnete deren Ziele setzenden Reaktionsära im Deutschen Bund viele aber stets preußischen Interessen unter. So kon- Errungenschaften der Revolution rückgängig ge- terte Preußen einen österreichischen Reformvor- macht, was Preußen und Österreich wieder zu- schlag 1863 mit der Forderung nach einem deut- sammenarbeiten ließ, zahlreiche aktive Liberale schen Nationalparlament, verfolgte damit aber und Demokraten aus Sorge vor politischer Ver- weniger liberale Ziele, sondern die Vermeidung folgung aber zur Auswanderung bewegte. Auf eigener Machteinbußen im Deutschen Bund. europäischer Ebene bekam die auf dem Wiener Kongress beschlossene politische Ordnung mit PREU ẞ ENS KRIEGE MIT dem Krim-Krieg Mitte der 1850er Jahre erheb- UND GEGEN ÖSTERREICH liche Risse. Russland und Österreich entzweiten sich, und Frankreich stieg zur Hegemonialmacht Als die dänische Regierung im November 1863 auf, beides brachte das Mächtegleichgewicht er- durch eine neue Verfassung das Herzogtum Schles- heblich in Schieflage. wig stärker an das Königreich binden wollte, fachte Als der preußische Prinz Wilhelm 1858 die das den 1852 mit dem Londoner Protokoll beige- Regentschaft von seinem schwer erkrankten Bru- legten Konflikt um die komplizierte Frage der na- der Friedrich Wilhelm IV. übernahm und poli- tionalen Zugehörigkeit der Herzogtümer Schles- tische Reformen sowie die Unterstützung des wig, Holstein und Sachsen-Lauenburg erneut an. Einheitsgedankens ankündigte, galt das vielen National motivierten Rufen nach einem „up ewig Zeitgenoss*innen nach einem Jahrzehnt der Läh- ungedeelten“ Schleswig-Holstein erteilte Bis- mung als Beginn einer Neuen Ära – „die große marck allerdings zunächst eine Absage, ein deut- Mehrheit der Bevölkerung versprach sich von scher Nationalkrieg gegen Dänemark lag nicht in dem Regierungswechsel sowohl mehr innere preußischem Interesse, da es Chancen zur Erwei- Freiheit als auch eine Lösung der ‚nationalen Fra- terung seines Einflusses im norddeutschen Raum ge‘“.14 Diese politische Aufbruchsstimmung fand sah. Durch diese Haltung konnte allerdings Öster- 1859, flankiert durch die Erfolge der italienischen reich – das wiederum kein Interesse an einer inten- Unabhängigkeitsbewegung, ihren Niederschlag siven Diskussion der nationalen Frage hatte – auf in Vereinsgründungen und den mit nationalem die Seite Preußens gezogen werden. Gemeinsam Pathos aufgeladenen Feiern zum 100. Geburtstag gingen sie unter Ausschluss der deutschen Mit- des „Freiheitsdichters“ Friedrich Schiller. Dem telstaaten und beobachtenden Zurückhaltung der ebenfalls neu gegründeten Deutschen National- europäischen Mächte militärisch gegen Dänemark verein gehörten bald mehrere tausend Mitglieder vor und schlugen die dänische Armee vernichtend an, die für die Idee eines liberalen kleindeutschen in der Belagerung bei den Düppeler Schanzen. Staates unter der Führung Preußens eintraten. Dänemark musste die Herzogtümer an Öster- In Preußen geriet Wilhelm I. nach seiner Krö- reich und Preußen abtreten, die über Fragen der nung 1861 über Fragen einer Heeresreform in gemeinsamen Verwaltung wieder in ihre Rivalität einen innenpolitischen Verfassungskonflikt mit zurückfielen. Die Situation spitzte sich zu, als die preußische Regierung den deutschen Staaten An- 14 Epkenhans (Anm. 12), S. 22. fang Juni 1866 einen Bundesreformplan für einen 08
150 Jahre Reichsgründung APuZ kleindeutschen Bundesstaat mit einem National- Noch während der Belagerung von Paris be- parlament unter Ausschluss Österreichs vorleg- gannen Verhandlungen über die Aufnahme der te und gleichzeitig das österreichisch verwaltete süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund. Holstein besetzte. Österreich erwirkte eine Bun- Im November 1870 einigten sich zunächst das bei- desexekution gegen Preußen, das daraufhin den trittswillige Baden und Hessen, dann das auf Son- Deutschen Bund für aufgelöst erklärte. Die Nie- derkonditionen pochende Bayern und schließlich derlage Österreichs und seiner mittel- und süd- auch das zögerliche Württemberg mit dem Nord- deutschen Verbündeten im nun folgenden Deut- deutschen Bund auf die Gründung eines Deut- schen Krieg besiegelte das Ende des Deutschen schen Bundes mit Wirkung zum 1. Januar 1871. Bundes. Aus dem ehemaligen Staatenbund gin- Gemeinsam mit dem Bundesrat des Nord- gen Preußen gestärkt, Österreich geschwächt und deutschen Bundes beschlossen die vier süd- die süddeutschen Staaten, nur noch wirtschaftlich deutschen Beitrittskandidaten die Bezeichnung durch den 1834 gegründeten Zollverein mit dem „Deutsches Reich“ und boten dem preußischen Norden verbunden, ohne den Schutz eines Staa- König mit dem von Bismarck aufgesetzten Kai- tenbundes hervor. serbrief die Krone des Deutschen Kaisers an.15 Bereits während des Feldzuges hatte Preu- Der norddeutsche Reichstag stimmte den getrof- ßen mit nord- und mitteldeutschen Staaten ein fenen Vereinbarungen ebenfalls zu und entsand- Bündnis geschlossen, das die Gründung eines te Anfang Dezember 1870 eine Kaiserdeputati- kleindeutschen Bundesstaates nördlich des Mains on aus Abgeordneten nach Versailles, um dort vorsah und 1867 mit dem Norddeutschen Bund Wilhelm I. die Kaiserwürde anzutragen. Dieser umgesetzt wurde. Mit den süddeutschen Staa- wusste um die Symbolik des Zusammentreffens, ten Bayern, Württemberg, Baden und etwas spä- die auch im Zusammenhang mit der Abweisung ter auch Hessen handelte Preußen während der der Paulskirchenabgeordneten durch seinen Bru- Friedensgespräche Schutz- und Trutzbündnisse der 1849 gesehen werden musste. Diesmal gelang aus, die gegenseitigen militärischen Beistand im eine beiderseitig gesichtswahrende Begegnung, Kriegsfalle vorsahen. wenngleich auch die Kaiserdeputation von 1870 letztlich eine Zurückweisung ihres Anliegens NATIONALKRIEG GEGEN erfuhr.16 FRANKREICH FESTAKT IN VERSAILLES Im Juli 1870 eskalierte ein diplomatischer Streit um die spanische Thronfolge zwischen Frank- Mit der am 31. Dezember 1870 im Bundesgesetz- reich und Preußen. Beide Staaten riskierten so- blatt abgedruckten und am Folgetag in Kraft ge- wohl aus innen- wie außenpolitischen Erwägun- tretenen Verfassung des Deutschen Bundes, der gen bewusst einen Krieg. Auf die Kriegserklärung sogenannten Novemberverfassung, wurde die Frankreichs folgten beidseitig des Rheins die Mo- von Bismarck angestoßene Reichsgründung von bilmachungen. Obwohl zunächst zögerlich ab- oben zwar verfassungsrechtlich Wirklichkeit, es wartend, schlossen sich die süddeutschen Arme- fehlte aber noch eine Proklamation als symboli- en dem preußischen Aufmarsch an. In mehreren scher Akt. Der preußische Kronprinz Friedrich blutigen Grenzschlachten unterlagen die fran- Wilhelm drängte Ende 1870 darauf, „Kaiser und zösischen Soldaten den deutschen Truppen. Bei Reich“ in einer Zeremonie am Neujahrstag 1871 dem elsässischen Städtchen Woerth siegten am verkünden zu lassen. 6. August 1870 preußische und süddeutsche Ver- Doch die Umstände konnten nicht ungüns- bände unter der Führung des preußischen Kron- tiger sein. Die Belagerung von Paris dauerte an, prinzen Friedrich Wilhelm – in der Deutung der und die im deutschen Hauptquartier in Versailles Zeit wurde hier der „Blutkitt“ der folgenden na- versammelten preußischen Entscheidungsträger tionalen Einigung angerührt. Der Krieg gegen das kaiserliche Frankreich und die französische Re- 15 Vgl. Michael Kotulla, Entstehung der Reichsverfassung, in: publik, die nach der Schlacht von Sedan und der Wolfgang Mährle (Hrsg.), Nation im Siegesrausch. Württemberg Gefangennahme Napoleon III. den Kampf wei- und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71, Stuttgart terführte, galt in der deutschen Wahrnehmung als 2020, S. 151–163, hier S. 156. Nationalkrieg. 16 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 12. 09
APuZ 1–2/2021 waren sich uneins. Wilhelm I. wollte zunächst drängten sich bereits mehrere hundert „Fürs- die noch ausstehende bayerische Zustimmung ten, Generale, Offiziere und Unteroffiziere, Di- zum Verfassungstext abwarten, Bismarck war er- plomaten und Angehörige des Hofes“ im Saal.20 krankt und konnte vom Kronprinzen nur mit viel Hinzu kamen weitere Künstler wie der Kriegs- Überredungskunst für den 18. Januar als mög- zeichner Fritz Schulz, der Hoffotograf Heinrich lichen Termin erwärmt werden – an diesem Tag Schnaebeli oder der Journalist William Howard war 1701 Friedrich I. zum König in Preußen ge- Russell (Abbildung). krönt worden.17 „Wir beschließen also das Jahr Nicht geladen, aber Zutritt verschafften sich 1870 mit der unwürdigen Tatsache,“ so vertrau- neben wenigen „Herren in Zivilkleidern“ auch te Friedrich Wilhelm seinem Tagebuch am Sil- eine Handvoll junger Diakonissinnen, die als vesterabend an, „unser Volk zu belügen, indem Krankenpflegerinnen im Schloss die Verwunde- wir zwar die Verfassung geben, aber aus Rück- ten versorgten – sehr wahrscheinlich die einzigen sicht auf Bayern sie nicht ausführen, indem wir anwesenden Frauen.21 Auch Anton von Werner wohl einen Kaiser, dem Wortlaut eines Paragra- wurde während der Veranstaltung bedrängt, was phen entsprechend, erhalten, diesen selbst aber er als „Zivilist hier zu suchen“ habe.22 Von der ei- verschweigen.“18 gentlichen Zeremonie bekam der Künstler aller- Auch unmittelbar vor der letztlich dann doch dings kaum etwas mit, da er eifrig mit dem Anfer- für den 18. Januar geplanten Zeremonie der Kai- tigen von Skizzen beschäftigt war. Einer „mehr serproklamation blieb der vom Kronprinzen be- politisch-vaterländisch als religiöse[n] Predigt“ klagte Mangel an Entschlussfähigkeit bestehen. des Hofpredigers Bernhard Rogge, in der die Kai- Erst am 15. Januar, an diesem Tag erhielt Anton serproklamation als Erfüllung einer seit den Be- von Werner das Telegramm aus Versailles, erklär- freiungskriegen anhaltenden Sehnsucht nach der te sich Wilhelm I. bereit, teilzunehmen und sich Wiederherstellung des Deutschen Reiches gedeu- zum Kaiser proklamieren zu lassen. Mit seiner tet wurde, folgte der von allen Anwesenden mit- Forderung, dabei aber als „Kaiser von Deutsch- gesungene Choral „Nun danket alle Gott“, bevor land“ statt als „Deutscher Kaiser“ ausgerufen Wilhelm I., die Fürsten sowie Regimentsfahnen werden zu wollen, verband sich die Sorge, die tragende Soldaten eine mehrstufige Empore be- süddeutschen Fürsten zu brüskieren, von denen stiegen und sich für den weltlichen Schlussakt der die Könige aus Bayern und Württemberg ohne- Zeremonie aufstellten.23 hin ihre Haltung durch Abwesenheit ausdrück- Wilhelm I. wandte sich von der Menge im Saal ten. Selbst ein hitziges Gespräch zwischen Wil- ab und den neben ihm versammelten Fürsten zu helm I., dem Kronprinzen und Bismarck am und erklärte, dass er die ihm angetragene Kaiser- Vortag der geplanten Zeremonie brachte kei- würde anzunehmen gedenke. Im Anschluss ver- ne Lösung – zu sehr sorgte sich der König um las Bismarck die Proklamation „An das Deut- die politische Zukunft Preußens. Erst am Mor- sche Volk!“, mit der Wilhelm I. bekundete, „es gen des 18. Januar konnte der Großherzog von als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland“ Baden, nachdem Bismarck ihm eindringlich den zu betrachten, den „Ruf der verbündeten deut- Sachverhalt dargelegt hatte, den preußischen Kö- schen Fürsten und Städte folge zu leisten und nig in einem Vieraugengespräch von einer Teil- die deutsche Kaiserwürde anzunehmen“.24 Einen nahme überzeugen.19 Moment der Stille abwartend, riss der badische Ungeachtet dieser Querelen gingen der Pro- Großherzog den Arm empor und setzte zur Er- klamation Tage der Vorbereitung voraus. Ange- leichterung Bismarcks und des Kronprinzen zu sichts der militärischen Lage fand die Zeremo- einem dreifachen Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ an. nie in Frankreich statt. Der Spiegelsaal im Schloss von Versailles, tags zuvor noch Lazarett, wurde 20 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 8. für die Veranstaltung hergerichtet. Als Anton von 21 Was eine Neuendettelsauer Diakonisse von der Kaiserpro- Werner schließlich die große Spiegelgalerie betrat, klamation in Versailles gesehen hat, in: Der Armen- und Kran- kenfreund. Eine Zeitschrift für die Diakonie der evangelischen Kirche, Januar 1911, S. 17–20. 17 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 535 f. 22 Vgl. Werner (Anm. 2), S. 33. 18 Heinrich Otto Meisner (Hrsg.), Kaiser Friedrich III. Das 23 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 563 f. Kriegstagebuch von 1870/71, Berlin–Leipzig 1926, S. 300. 24 Ernst Deuerlein, Die Gründung des Deutschen Reiches 19 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 559–566. 1870/71 in Augenzeugenberichten, Gerlingen 2011, S. 299. 10
150 Jahre Reichsgründung APuZ Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 – Ehrenabordnung der deutschen Regimenter im Spiegelsaal © bpk/H. Schnaebeli Welche Formulierung dabei genau gewählt wur- Charakter einer Reichsgründung von oben unter- de, war bereits unter den teilnehmenden Zeitge- strichen.27 In den Augen vieler Zeitgenoss*innen nossen umstritten, der befürchtete Eklat blieb war damit ein Schlusspunkt unter die Deutsche allerdings aus.25 „Seine Kaiserliche und Königli- Frage gesetzt. Ob das Deutsche Reich die beste che Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch! Hoch! aller möglichen Lösungen darstellte, sei dahinge- Hoch!“26 Unter andauernden Jubelrufen und ei- stellt. Der politische Preis für die Einigung war ner musikalischen Untermalung durch „Heil hoch und sollte in der Zukunft noch bezahlt wer- Dir im Siegerkranz“ umarmte Wilhelm I. seinen den müssen. Sohn, stieg, ohne Bismarck eines Blickes zu wür- digen, vom Podest und nahm die Glückwünsche der Menge entgegen. Nach einer knappen Stunde endete der Festakt. CHRISTIAN BUNNENBERG Damit war das Reich nun auch symbolisch be- ist Juniorprofessor für Didaktik der Geschichte an gründet, wobei die Inszenierung und die gewähl- der Ruhr-Universität Bochum und betreut dort den ten Formulierungen noch einmal bewusst den Masterstudiengang Public History. In seinem Twitter- projekt „Kriegsgezwitscher“ wird die Geschichte des 25 Vgl. Werner (Anm. 2), S. 34. Deutsch-Französischen Krieges unter dem Account 26 Ebd. @Krieg7071 150 Jahre zeitversetzt nacherzählt. 27 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 9. christian.bunnenberg@ruhr-uni-bochum.de 11
APuZ 1–2/2021 EIN REICH FÜR ALLE? Wie das Deutsche Reich innerlich zusammenwuchs Siegfried Weichlein „Wir haben Italien gemacht. Jetzt müssen wir die te es sich um eine Vereinigung vorher getrennter Italiener schaffen“, soll der italienische Politi- Staaten. Bismarck wurde mit Cavour, Preußen ker Massimo d’Azeglio nach der Staatsgründung mit dem Königreich Sardinien-Piemont vergli- 1861 gesagt haben.01 Wenn es auch eine Ex-post- chen. Beide Staaten entstanden nach einem mi- Zuschreibung war, so charakterisierte es doch litärischen Sieg. Die politischen Ordnungen un- gut die Situation. Eine Reihe von kleineren Fürs- terschieden sich jedoch: Während das Deutsche tentümern war im neuen Königreich Italien auf Reich ein monarchischer Bundesstaat war, wurde gegangen. Italien zu einem aus der Hauptstadt straff geführ- Ähnlich lagen die Dinge in Deutschland: Hier ten Zentralstaat.02 zerfiel 1866 der Deutsche Bund. Auch das Kö- Es hat sich heute durchgesetzt, von der nigreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen- deutschen Reichsgründung als einem Ereig- Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie nis zu sprechen, das ein Vorher und ein Nach- Reichsstadt Frankfurt am Main fanden sich nun her kannte: Zuerst gab es kein Kaiserreich, 1871 in Preußen wieder. „Deutsche“ aber waren sie existierte es. Prozessbegriffe wie „Einigung“ dadurch noch nicht. Nach dem Deutsch-Fran- beschreiben dagegen den Vorgang nicht nur zösischen Krieg von 1870/71 kamen die Elsässer für Deutschland, sondern auch für Italien bes- und Lothringer zu Deutschland. Diese Erfahrung ser. Tatsächlich steckte die innere Einigung vol- hatten die Dänen, die in Schleswig wohnten, be- ler Widersprüche, und sie vollzog sich allmäh- reits 1864 gemacht. Die alte Ordnung des Wie- lich, über einen längeren Zeitraum hinweg, von ner Kongresses von 1815 löste sich auf. Würde 1867 bis etwa 1890, wenn nicht darüber hinaus. eine neue Ordnung entstehen? Würde der äuße- Das neue Bürgerliche Gesetzbuch für alle Deut- ren eine innere Reichseinigung folgen? Und wür- schen trat zum Beispiel erst am 1. Januar 1900 de die deutsche Bevölkerung dem neuen Staat ge- in Kraft. 1871 wurden lediglich die Weichen ge- genüber loyal sein? stellt, die zur inneren Gründung des Reiches Probleme, die bei der Staatsgründung nicht führen sollten. gelöst wurden, konnten langfristige Folgen ha- ben. Das hatte sich in den Vereinigten Staaten ge- GRUNDKONFLIKTE zeigt. Dort war die Sklavenfrage in der Verfas- DER REICHSEINIGUNG sung von 1787 ausgeklammert worden; sie kehrte im Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 mit Ge- Mehrere Grundkonflikte waren zwischen 1867 walt zurück. In Italien rächte sich, dass der Pi- und 1871 sichtbar geworden, die den Prozess der emontese Camillo Benso von Cavour sein eini- inneren Einigung prägten. Was war das Reich ges Italien 1861 über die Köpfe der Bewohner des überhaupt, ein Bund der Fürsten oder eine auf Südens hinweg gezimmert hatte, anstatt sich ih- Verfassung und Parlament gestützte Ordnung? rer Loyalität zu versichern. Eine dringend nöti- Wie würde sich das große Preußen mit seinem ge Landreform unterblieb, verarmte Bauern und Militarismus gegenüber dem Rest des Reiches ehemalige Soldaten bekämpften daraufhin als verhalten? Konnte aus der Gemeinsamkeit im Briganten in den Wäldern die Grundbesitzer und Krieg gegen einen äußeren Feind ein friedliches die neue Obrigkeit aus dem Norden. Der Süden Miteinander entstehen? Die innere Einheit des wurde faktisch vom Norden besetzt. Reiches gründete nicht auf Gleichheit, sondern Schon Zeitgenossen wiesen auf die Gemein- allein auf der Loyalität der Bevölkerung, gerade samkeiten der Nationalstaatsgründungen in Itali- auch der Unterlegenen von 1866 und der beige- en und Deutschland hin. In beiden Fällen handel- tretenen Süddeutschen. Nationale Einheit bedeu- 12
150 Jahre Reichsgründung APuZ tete also nicht Homogenität, sondern beruhte auf könnte, wenn man nicht beitrat. Schon deswegen dem Entschluss, zusammenzubleiben und Kon- war eine Vereinigung richtig, lautete nun die Lo- flikte untereinander zu regeln. gik vieler Patrioten. Am 21. Januar 1871 erreich- Alle Sieger des Reichseinigungskrieges gegen ten die Vertreter dieser Richtung ganz knapp die Frankreich erhielten ihre symbolische Anerken- nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament.05 nung: In Bayern feierte man die Schlacht bei Wei- Das Argument der bayerischen Patrioten galt ßenburg, in Sachsen die bei Gravelotte als eigenen auch für andere Landesfürsten: Wollten sie ihre Triumph und Beitrag zur Gründung. Diese Er- Stellung wahren, mussten sie einen monarchi- folge fanden ebenso Eingang in Schulbücher und schen deutschen Bundesstaat unter preußischer Gedenkkalender wie der Sieg bei Sedan durch Führung akzeptieren. Auch in den übrigen süd- preußische Truppen.03 So wurde die Erzählung deutschen Staaten setzte sich diese Überzeugung gestärkt, dass die Bundesstaaten und ihre Arme- durch: Die Selbstständigkeit ließ sich nicht mehr en, letztlich also die Fürsten, das Reich gegrün- gegen den Norddeutschen Bund, sondern nur im det hatten. Entstanden war es nach dieser Lesart Deutschen Reich sichern – durch Mitarbeit im durch Verträge zwischen souveränen Staaten – Bundesrat und durch Parteien, welche die eige- wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe Bismarcks, nen Interessen vertraten. der beim Kaiserbrief die Feder führte und auch War es bei der Wiedervereinigung 1990 so viel sonst mit Drohungen, Lockungen oder, wenn anders? Auch den fünf ostdeutschen Ländern, nichts mehr half, mit Geld den Vorgang beschleu- die wie im Fall Sachsens zum Teil sehr viel älter nigte, wie beim chronisch klammen Ludwig II. waren als die westdeutschen, ging es darum, ihre aus Bayern. Selbstständigkeit in einer föderalen Bundesrepu- Im Landtag in München stellte sich allerdings blik zu wahren. Ähnliches wiederholte sich auf die Patriotenpartei, die über die Mehrheit der Sit- europäischer Ebene: Für viele Polen oder Ungarn ze verfügte, zuerst gegen eine von Preußen ange- zum Beispiel garantierte in den politischen und führte Reichseinigung. Unter den Abgeordneten ökonomischen Stürmen nach 1990 nur der Bei- entbrannte eine Diskussion: Würde Bayern seine tritt zur Europäischen Union die Fortexistenz Selbstständigkeit retten, indem es nicht beitrat – des eigenen Landes.06 oder sicherte nur ein Beitritt sein Fortbestehen? Der bayerische Außenminister Otto Graf von STAATSPOLITISCHE Bray-Steinburg hatte schon am 30. März 1870 be- MODERNISIERUNG kannt: „Wir wollen Deutsche, aber auch Bayern sein.“04 Selbst bei jenen bayerischen Abgeordne- Staatspolitisch führte die Einigung von 1870/71 zu ten, die eingefleischte Preußenfeinde waren, reg- einer Modernisierung: Die norddeutsche Verfas- ten sich langsam Zweifel am Separatismus. Die sung wurde umgebaut, den süddeutschen Staaten bayerische Patriotenpartei spaltete sich über die- mehr Mitsprache gewährt. Das Kaiserreich war se Frage. Eine Gruppe um den Augsburger Verle- insgesamt föderaler als der Norddeutsche Bund, ger Max Huttler befürchtete, dass die linksrheini- weil der Bundesrat das politische Entscheidungs- sche Pfalz und auch Franken den Bayern verloren zentrum bildete und Preußen hier keine Mehrheit gehen und der Staat der Wittelsbacher zerbrechen besaß. Eine Koalition der süddeutschen Staaten konnte jederzeit ihr Veto gegen Verfassungsände- 01 Franz J. Bauer, Nation und Moderne im geeinten Italien rungen einlegen. Das entschärfte die Spannungen (1861–1915), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht zwischen dem politischen Machtzentrum Berlin 1/1995, S. 16–31. und den neu hinzugekommenen Staaten. Im neu- 02 Vgl. Daniel Ziblatt, Structuring the State: The Formation of en monarchischen Bundesstaat musste Preußen Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006; Lucy Riall, Risorgimento: The History of Italy from Napoleon to verhandeln und andere Regierungen überzeugen. Nation State, New York 2009; Francesco Traniello/Gianni Sofri (Hrsg.), Der lange Weg zur Nation: Das italienische Risorgimento, 05 Vgl. Dirk Götschmann, Der Funktionswandel des Föderalis- Stuttgart 2012. mus im Kaiserreich am Beispiel Bayerns, in: Gerold Ambrosius/ 03 Vgl. Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte in Bayern im Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalis- 19. Jahrhundert, München 1992; Siegfried Weichlein, Nation und mus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 6: Integrieren Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 20062. durch Regieren, Baden-Baden 2018, S. 243–260. 04 Michael Doeberl, Bayern und die Bismarckische Reichsgrün- 06 Vgl. Alan Steele Milward, The European Rescue of the dung, München–Berlin 1925, S. 88. Nation-State, London 1992. 13
APuZ 1–2/2021 Dieses Prinzip, das 1871 festgeschrieben wur- Entscheidung. Preußens Einfluss reichte bis in de, spurte sogar noch das ausgedehnte föderale die Organisation von Universitäten und Schulen, Verhandlungssystem der Bundesrepublik nach klassischen Domänen der Länder. 1949 vor.07 Zwischen 1867 und 1871 entstand eine Dennoch bestand ein Dualismus zwischen zentrale föderale Institution, die von erstaunli- Preußen und dem Reich: Gerade die Anhänger cher Dauer sein sollte: der Bundesrat, in dem die eines spezifischen preußischen Staatsbewusst- Stimmen bis heute nach Bevölkerungszahl ge- seins blieben skeptisch bis ablehnend gegenüber wichtet werden und der die Vertretung der Län- Bismarcks Politik.11 Ihr Horrorszenario war, dass derexekutiven ist, nicht der Landtage. Anders als Preußen einmal in Deutschland aufgehen könnte. der Reichs- und heute der Bundestag mit seinen „Der Bismarck ruiniert noch den ganzen preußi- Legislaturperioden war und ist der Bundesrat ein schen Staat“, war unter Beamten zu hören.12 Am kontinuierliches Gremium. schärfsten kritisierten ostelbische Rittergutsbesit- Der Staatsrechtler Paul Laband beschrieb das zer den Reichskanzler, denn dieser bedrohte mit Reich als Bundesstaat, bei dem die Souveräni- der preußischen Kreisreform 1872 deren loka- tät beim Gesamtstaat lag, und grenzte es so vom le Vormachtstellung, um sie gefügig zu machen. Deutschen Bund als einem Staatenbund mit sou- Die Zollgesetzgebung schuf von 1879 an die Ba- veränen Einzelstaaten ab.08 Juristen diskutierten sis für eine neue Zusammenarbeit zwischen der mit einer gewissen Obsession ebendiese Souverä- Reichsführung und den Konservativen in Indus- nität: Sie erörterten die „Kompetenzen setzende trie und Landwirtschaft. Sie wurde gern als Ko- Kompetenzkompetenz“ oder die „Bundestreue“, alition von „Roggen und Eisen“ oder „Rittergut die stets als Treue der Einzelstaaten gegenüber und Hochofen“ bezeichnet. Nach 1871 wuchsen dem Reich verstanden wurde, nie umgekehrt. die deutschen Staaten tatsächlich zusammen. Man Wenn von „innerer Einheit“ die Rede war, war nicht mehr entweder Bayer oder Deutscher, meinte dies meist, dass andere deutsche Staa- sondern man war Deutscher, weil man Bayer war ten nachahmten, was Preußen vormachte. Der (und man war Bayer, weil man Nürnberger war). stärkste Staat im Bund wirkte durch seine schiere Heimat war nichts Exklusives mehr, sondern je- Größe und die Erfahrung seiner Verwaltung uni- der Deutsche besaß seine Heimat und seinen tarisierend.09 Der Föderalismus schloss den Uni- Bundesstaat.13 tarismus also gerade nicht aus, sondern schien ihn voranzutreiben. Bis zum Ende des 19. Jahr- INTEGRATION DURCH hunderts war es die preußische Verwaltung, die DEMOKRATIE Gesetzentwürfe für den Reichstag ausarbeitete, nicht der Bundesrat. Der württembergische Mi- Die zweite Erzählung der Einheit kreiste um nister Hermann von Mittnacht meinte 1872 im Volk, Reichstag und Verfassung. Das Reich be- Reichstag, „dass die Rechtsanschauungen und ruhte demnach auf der Souveränität des deut- die Rechtsbildung eines Staates [Preußen] doch schen Volkes. Entsprechend bot der Reichstag, vorzugsweise bestimmt sind, nationales Recht vertreten durch seinen Präsidenten Eduard Sim- zu werden“.10 Wenn Preußen und Bayern über- son, Wilhelm I. die Kaiserkrone an. Simson hat- einstimmten, war dies eine vorweggenommene te dies bereits 1849 bei Wilhelms Bruder Fried- rich Wilhelm IV. versucht, ohne Erfolg. Diesmal 07 Vgl. Gerhard Lehmbruch, Der Entwicklungspfad des deut- nahm der König zwar an, jedoch nur, weil ihm schen Bundesstaats – Weichenstellungen und Krisen, in: Gerold auch die deutschen Fürsten die Krone angetra- Ambrosius/Christian Henrich-Franke (Hrsg.), Föderalismus in gen hatten. Als offiziellen Reichsgründungsakt historisch vergleichender Perspektive, Bd. 2: Föderale Systeme: Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden- Baden 2015, S. 327–370. 11 Vgl. Hans-Peter Goldberg, Bismarck und seine Gegner: Die 08 Vgl. Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat. politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag, Düsseldorf 1998. Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staats- 12 Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen rechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frankfurt/M. 1997. Bund: 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 433 ff. 09 So schon Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und 13 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Nation – Region – Stadt. Struktur- die Teilung Preussens, Bonn 1949. merkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmals- 10 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat. kulturen, in: Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der 1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext, Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1998, S. 63. Köln 1997, S. 54–84. 14
150 Jahre Reichsgründung APuZ feierten die Deutschen jährlich die Proklamation ßen gekommenen Gebieten, in Sachsen und in durch die Fürsten und Könige am 18. Januar 1871 Süddeutschland: In Bayern etwa lag sie 1871 mit im Spiegelsaal von Versailles – darum hatten die 60 Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt Sozialdemokraten allen Grund für bissige Kritik: von knapp 53 Prozent. Überall stieg die Wahlbe- Das Kaiserreich sei ein Fürstenstaat, kein Volks- teiligung, was auch den ausgeprägten Konflikten staat. Und dennoch, auch wenn sie in den De- im Reich geschuldet war. Der Kulturkampf ge- zember- und Januartagen 1870/71 in der zweiten gen die katholische Kirche nach 1872 schuf Ge- Reihe hatten stehen müssen, entfalteten Reichs- meinsamkeiten zwischen dem Passauer und dem tag, Parteien und Wahlen eine integrative Kraft.14 ermländischen, dem Aachener und dem schlesi- Der Reichstag vereinheitlichte Münzen, Maße schen Katholiken: Sie alle wehrten sich, indem und Gewichte, führte ein neues Handelsgesetz- sie die katholische Zentrumspartei wählten. 1874 buch ein und begann die Arbeit am Bürgerli- erreichte diese fast 28 Prozent aller Stimmen, chen Gesetzbuch. Jeder Deutsche konnte sich neun Prozentpunkte mehr als 1871. Sie errang 91 im Reich niederlassen, wo er wollte, Zuzugsbe- Mandate und wurde erneut zweitstärkste Frak- schränkungen wurden aufgehoben. Für Unter- tion nach den Nationalliberalen. Ähnlich wirk- stützung bei Krankheit und Verarmung war der ten sich die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890 Wohnort zuständig, nicht wie früher der Heimat- auf die Sozialdemokraten aus: 1912 bekamen sie ort. Die Reichsjustizgesetze von 1877, insbeson- fast 35 Prozent der Stimmen und bildeten mit 110 dere das Gerichtsverfassungsgesetz, garantierten Abgeordneten die bei Weitem stärkste Fraktion Rechtsgleichheit für alle Deutschen, ein kaum zu im Reichstag.16 überschätzendes Moment der Egalisierung.15 In Die Parteien aggregierten ähnlich gelager- dieselbe Richtung wirkten die Anfänge der Sozi- te Interessen aus den verschiedenen Teilen des algesetzgebung: die Krankenversicherung 1883, Reiches zu einem einheitlichen Programm. Das die Unfallversicherung 1884, die Alters- und In- traf auf Liberalismus, Konservativismus, politi- validitätsversicherung 1889 und die Rentenversi- schen Katholizismus wie auch den Sozialismus cherung 1891. zu. Auch die nationalen Minderheiten – 2,5 Mil- Das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht lionen Polen, 200 000 Dänen sowie 1,5 Millionen war ebenfalls integrativ: Süddeutsche Gegner Elsässer und Lothringer – waren im Parlament Preußens gingen ebenso zur Wahl wie bayerische vertreten. Der Reichstag wurde zur Arena inner- Patrioten und großdeutsche Demokraten aus deutscher Konflikte, die nicht mehr auf der regi- Württemberg. Ihre Vertreter setzten sich dann im onalen Ebene verblieben, sondern auf nationaler Reichstag für ihre Belange ein. Auf der Hand liegt Ebene ausgehandelt werden konnten. der Vergleich mit 1990, als die Nachfolgepartei Die wachsende Bedeutung der Presse flan- der SED, die PDS, bei den gesamtdeutschen Bun- kierte diesen Prozess: Die meisten Blätter rechne- destagswahlen antrat und in den Bundestag ein- ten sich jeweils einer politischen Richtung zu; die zog. Die KPD hatte das 1919 nicht getan und da- Weltanschauungsparteien versorgten ihre Anhän- mit signalisiert, dass sie ihren Widerspruch gegen ger mit eigenen Nachrichten, die deren Ansichten die Weimarer Republik nicht im Reichstag, son- untermauerten. Die wachsende nationale Partizi- dern gegen ihn erheben würde. pation ging jedoch mit wachsender Ausgrenzung Im jungen Kaiserreich formierte sich ein mehr und Aggression einher. Bismarcks Bündnis mit oder weniger einheitliches Parteiensystem, das den Konservativen durch die Schutzzollgeset- die reichsweiten politisch-sozialen Spannungen ze von 1879 leitete einen konservativen Umbau im Parlament abbildete. Die Integrationswir- des Nationalstaates ein: Den Gegnern der Ideen kung des Reichstags ist ablesbar an der hohen von 1848 gelang es, die Deutungshoheit über al- Wahlbeteiligung, besonders in den neu zu Preu- les Nationale zu gewinnen. Fast vergessen schie- nen die Ideale der Paulskirche. Es ist kein Zufall, 14 Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht: Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890, Düsseldorf 2009. 16 Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt, in: Soziale 15 Vgl. Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch Integration 39/1999, S. 132–143. Das Argument geht schon Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: Christian Starck (Hrsg.), zurück auf Georg Simmel, Der Streit (1908), in: ders./Otthein Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze. Bedingungen, Ziele, Rammstedt (Hrsg.), Soziologie. Untersuchungen über die Formen Methoden, Göttingen 1992, S. 15–41. der Vergesellschaftung, Frankfurt/M. 1992, S. 284–382. 15
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