AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 150 Jahre Reichsgründung - Bundeszentrale ...

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AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 150 Jahre Reichsgründung - Bundeszentrale ...
71. Jahrgang, 1–2/2021, 4. Januar 2021

    AUS POLITIK
UND ZEITGESCHICHTE
     150 Jahre
  Reichsgründung
     Christian Bunnenberg                          Hedwig Richter
    EINE MÖGLICHKEIT                         WARUM SICH EINE
       VON VIELEN                           BESCHÄFTIGUNG MIT
                                           DER REICHSGRÜNDUNG
      Siegfried Weichlein
                                                HEUTE LOHNT
    EIN REICH FÜR ALLE?
                                                     Ulrich Pfeil
       Christoph Nonn
                                            VERSAILLES UND DER
  VON HELDEN, SCHURKEN
                                          DEUTSCH-FRANZÖSISCHE
   UND SONDERWEGEN
                                            KRIEG VON 1870/71

                  ZEITSCHRIFT DER BUNDESZENTRALE
                       FÜR POLITISCHE BILDUNG
              Beilage zur Wochenzeitung
AUS POLITIK UND ZEITGESCHICHTE - 150 Jahre Reichsgründung - Bundeszentrale ...
Inhaltsverzeichnis
                        150 Jahre Reichsgründung
                               APuZ 1–2/2021
CHRISTIAN BUNNENBERG                                HEDWIG RICHTER
EINE MÖGLICHKEIT VON VIELEN                         WARUM SICH EINE BESCHÄFTIGUNG
Die Reichsgründung von 1871 war nur eine            MIT DER REICHSGRÜNDUNG HEUTE LOHNT
Antwort auf die „Deutsche Frage“, die seit dem      Das dunkle Bild von einem repressiven
Untergang des Heiligen Römischen Reiches            Obrigkeitsstaat wird der pluralen Gesellschaft
Deutscher Nation Anfang des 19. Jahrhunderts        des Deutschen Reiches nicht gerecht. Das
im Raum stand. Es hätte auch anders kommen          Kaiserreich bot progressives Potenzial und war
können, schließlich gab es konkrete Alternativen.   damit Teil des internationalen Aufbruchs, der
Seite 04–11                                         Massenpolitisierung und der Demokratisierung.
                                                    Seite 25–29
SIEGFRIED WEICHLEIN
EIN REICH FÜR ALLE?                                 ULRICH PFEIL
Es hat sich durchgesetzt, von der Gründung          VERSAILLES UND DER DEUTSCH-
des Deutschen Reiches als einem Ereignis zu         FRANZÖSISCHE KRIEG VON 1870/71
sprechen, das ein Vorher und ein Nachher hatte.     Der Sieg über Frankreich nahm in den ersten
Tatsächlich steckte die innere Einigung voller      Jahren nach der Reichsgründung einen zentralen
Widersprüche, und sie vollzog sich allmählich,      Platz in der deutschen Erinnerungskultur ein.
über einen längeren Zeitraum hinweg.                Das Schloss Versailles entwickelte sich in den
Seite 12–16                                         folgenden Jahrzehnten zum Kristallisationspunkt
                                                    für die deutsch-französische „Erbfeindschaft“.
                                                    Seite 30–37
CHRISTOPH NONN
VON HELDEN, SCHURKEN
UND SONDERWEGEN
Der Streit um die Deutung der Reichsgründung
begann, bevor der neue Nationalstaat prokla-
miert worden war. Heute stehen Deutungen der
Reichsgründung nebeneinander, die sich vor
allem darin unterscheiden, wie das Verhältnis des
Kaiserreichs zur Moderne beurteilt wird.
Seite 17–24
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EDITORIAL
„Und nun ging in prunklosester Weise und außerordentlicher Kürze das große
historische Ereignis vor sich, das die Errungenschaft des Krieges bedeutete: die
Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches“, so Anton von Werner in seinen
Memoiren über den zeremoniellen Akt der deutschen Reichsgründung. Der
junge Künstler war vom preußischen Kronprinzen beauftragt worden, die
Ereignisse in einem Gemälde festzuhalten. Damit war von Werner einer der
wenigen anwesenden Zivilisten, als am 18. Januar 1871 der preußische König
Wilhelm I. im Schloss von Versailles zum deutschen Kaiser gekrönt wurde.
Gewählte Volksvertreter waren ausgeschlossen – eingeladen waren Prinzen,
aristokratische Militärs und Fürsten.
   Die Inszenierung im Spiegelsaal verdeutlicht den Charakter einer Reichs-
gründung oder Revolution „von oben“. Gleichwohl war die nationale Einigung
auch Hauptanliegen des liberalen Bürgertums und der Revolutionsbewegung
von 1848 gewesen. Der Krieg gegen Frankreich von 1870 bis 1871 einte die
deutschen Staaten vorerst. Nach Kriegsende war jedoch zunächst ungewiss, was
die nationale Identität im Kaiserreich ausmachen würde – und welche exkludie-
renden Effekte die Antwort auf die Frage haben würde, was „deutsch“ ist.
   Seit seiner Gründung wurde der erste deutsche Nationalstaat mit Militarismus,
Großmachtansprüchen, kolonialen Ambitionen und wachsendem Antisemitismus
in Verbindung gebracht – aber auch mit der Ausweitung des Wahlrechts, mit
Erfolgen der Arbeiter- und der Frauenbewegung sowie dem Beginn der Moderne.
Auch 150 Jahre später wird kontrovers darüber gestritten, wie das Kaiserreich
und die damit verbundene gesellschaftliche Ordnung zu bewerten sind.

                                                  Lorenz Abu Ayyash

                                                                              03
APuZ 1–2/2021

           EINE MÖGLICHKEIT VON VIELEN
                Die Reichsgründung und ihre Vorgeschichte
                                      Christian Bunnenberg

Eigentlich hatte der 27-jährige Kunstmaler Anton       prinzen: „Geschichtsmaler v. Werner, Karlsruhe.
von Werner in den ersten Tagen des Jahres 1871         S. K. H. Der Kronprinz läßt Ihnen sagen, daß Sie
keinen Grund, betrübt zu sein. Seit seinem Studi-      hier Etwas Ihres Pinsels Würdiges erleben wür-
um an der Kunstakademie in Karlsruhe galt er als       den, wenn Sie vor dem 18. Januar hier eintreffen
aufstrebendes Talent. Mit dem badischen Großher-       können. Eulenburg, Hofmarschall.“02 Überrascht
zog Friedrich hatte der Nachwuchskünstler einen        ließ Anton von Werner alles stehen und liegen
einflussreichen Förderer gewonnen, in der bürger-      und saß bereits am frühen Nachmittag im nächs-
lichen Kunst- und Literaturszene galt Anton von        ten Zug nach Frankreich. Zwei Tage und Nächte
Werner als gut vernetzt, und auch privat hatte er      dauerte die beschwerliche Bahnfahrt. Die letzten
sein Glück gefunden. Für den Sommer 1871 war           Kilometer legte der Kunstmaler mit der Postkut-
die Hochzeit mit seiner Verlobten geplant, dem         sche zurück, eingezwängt zwischen Mitreisenden
anstehenden Umzug nach Berlin sahen beide mit          und Paketen, auf dem Dach ein bayerischer Sol-
Vorfreude entgegen. Auch das Wetter drückte            dat als Schutz gegen Franktireurs.
nicht auf die Stimmung. Zwar war es in Karlsruhe           In den frühen Morgenstunden des 18. Janu-
Anfang Januar 1871 frostig kalt, doch Anton von        ar traf Anton von Werner gerade noch pünktlich
Werner und seine Braut vergnügten sich häufig          im Hauptquartier ein, im festen Glauben, er solle
beim Schlittschuhlaufen auf zugefrorenen Wiesen.       einem Sturm auf Paris beiwohnen. Der Hofmar-
    Vielmehr sorgte der nicht enden wollende Krieg     schall klärte ihn schließlich auf: Es sei eine Fest-
gegen Frankreich für schlechte Stimmung. Viele         lichkeit geplant, der Maler solle einen Frack anzie-
Deutsche hatten nach dem Sieg in der Schlacht von      hen und sich um 11 Uhr im Schloss zu Versailles
Sedan Anfang September 1870 mit einem schnellen        einfinden. Dort nahm Anton von Werner schließ-
Ende des Feldzuges gerechnet. Doch bisher waren        lich an dem Ereignis teil, das als „Kaiserprokla-
alle Hoffnungen auf Frieden vergebens, denn die        mation“ in die Geschichtsbücher eingehen sollte.
auf den politischen Trümmern des geschlagenen          Und obwohl er später schrieb, dass die Veranstal-
französischen Kaiserreiches gegründete Dritte Re-      tung in „prunklosester Weise und außerordentli-
publik führte den Krieg unbeirrt und erbittert fort.   cher Kürze“ vor sich ging, bezeichnete er die An-
Inzwischen belagerten deutsche Verbände schon          gelegenheit dennoch als das „große historische
seit Wochen Paris. Auch wenn niemand mehr              Ereignis“, als die „Errungenschaft des Krieges“.03
wirklich an einer Niederlage Frankreichs zweifel-          Diesen Eindruck sollten auch seine drei gro-
te, der tatsächliche Ausgang des Krieges blieb wei-    ßen Historiengemälde vermitteln, die jeweils den
terhin ungewiss. Und das zerrte an den Nerven.         Augenblick darstellen wollten, in dem die An-
Anton von Werner hatte, ausgestattet mit einem         wesenden den preußischen König Wilhelm I. als
großherzoglich badischen Empfehlungsschreiben,         deutschen Kaiser hatten hochleben lassen. Bis
im November 1870 selbst einige Zeit im Haupt-          heute prägend für das Bild von der Kaiserprokla-
quartier der 3. Deutschen Armee vor Paris ver-         mation ist die „Friedrichsruher Fassung“ (1885),
bracht, dort den preußischen Kronprinzen Fried-        ein Geschenk Wilhelms I. an Bismarck anläss-
rich Wilhelm kennengelernt und Eindrücke für ein       lich dessen 70. Geburtstags, die im Gegensatz zur
Historiengemälde gesammelt, das „Moltke mit sei-       „Schlossfassung“ (1877) und „Zeughausfassung“
nem Stabe vor Paris“ zeigen sollte.01                  (1882) den Zweiten Weltkrieg überstand und ge-
    Am Vormittag des 15. Januar 1871 erhielt der       genwärtig in der Dauerausstellung der Otto-von-
Künstler ein Telegramm aus Versailles. Absen-          Bismarck-Stiftung in Friedrichsruh unweit von
der war der Hofmarschall des preußischen Kron-         Hamburg präsentiert wird.04 Dabei ist das Gemäl-

04
150 Jahre Reichsgründung APuZ

de, das als eine der zentralen Bildikonen der deut-                   kannte“.07 Diese Erzählung gründete in der als
schen Geschichte bezeichnet werden kann, aber                         notwendig erachteten Legitimation des Deut-
mitnichten ein Abbild der Ereignisse in Versailles,                   schen Reiches und wurde später in dieser Traditi-
sondern vielmehr eine künstlerische Repräsentati-                     on fortgeschrieben.
on des symbolischen Gründungs­aktes.05                                    Doch wie lässt sich die Geschichte der Reichs-
    Diese Reichsgründung „von oben“, von zeit-                        gründung, des vermeintlich langen Weges nach
genössischen Historikern zu einem Werk „großer                        Versailles, erzählen, ohne dem kritisierten Ge-
Männer“ hochstilisiert, lässt sich aber nicht, wie                    schichtsbild aufzusitzen? Abhilfe kann ein Per-
in der Historiografie und den Historiengemälden                       spektivwechsel schaffen, mit dem der 18. Januar
angelegt, ausschließlich auf das Wollen und Han-                      1871 nicht mehr als Endpunkt einer zwangläu-
deln einiger weniger Akteure – Wilhelm I., Otto                       fig auf ihn zulaufenden Entwicklung beschrieben
von Bismarck, Helmuth von Moltke, Albrecht                            wird, sondern als eine Möglichkeit von vielen,
von Roon – zurückführen. Sie war „keine his-                          die letztlich zur Gründung des Deutschen Rei-
torische Notwendigkeit“, „sie war nicht alterna-                      ches führte – denn konkrete Alternativen hatte es
tivlos“.06 Vielmehr war die Reichsgründung von                        durchaus gegeben.08
1871 nur eine Lösung für die sogenannte „Deut-                            Die Vorgeschichte der Reichsgründung setzt
sche Frage“, die seit dem Untergang des Heiligen                      gemeinhin bei der Französischen Revolution von
Römischen Reiches Deutscher Nation Anfang                             1789 ein, in der viele aufklärerische Ideen – von der
des 19. Jahrhunderts im Raum stand: die Frage                         Volkssouveränität über die Gewaltenteilung bis zur
nach der Gründung und Ausgestaltung eines ge-                         Formulierung von Menschen- und Bürgerrechten –
einten deutschen Staatswesens.                                        verwirklicht wurden und die auf Zeit­ge­noss*­innen
                                                                      ebenso Faszination ausübten, wie die jakobinischen
        GENESE DER DEUTSCHEN FRAGE                                    Auswüchse abschreckten. In den Napoleonischen
                                                                      Kriegen zeigte sich bald das große Mobilisierungs-
Die Vorgeschichte der Reichsgründung von 1871                         potenzial der Ideen von Nation und Nationalstaat-
ist lange Zeit einseitig erzählt worden. Der His-                     lichkeit. Mit der Levée en masse, der Aushebung
toriker Eckart Conze wies unlängst darauf hin,                        von Massenheeren, zog nun nicht mehr der Unter-
dass „Generationen von – deutschen – Histori-                         tan, sondern der citoyen soldat in den Krieg, und
kern (…) Generationen von Deutschen ein Ge-                           in seinem Gepäck hatte er die revolutionären Ide-
schichtsbild vermittelt [haben], das die deutsche                     en von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“.09
Geschichte der ersten siebzig Jahre des 19. Jahr-                         Als die napoleonischen Armeen durch Europa
hunderts auf die nationale Einigung unter preu-                       zunächst von Sieg zu Sieg eilten, bildete sich 1806
ßischer Führung hinauslaufen ließ; ein Ge-                            unter französischem Einfluss der Rheinbund aus
schichtsbild, das in der Nationalstaatsbildung                        den deutschen Mittelstaaten, die zugleich ih-
den historischen Fortschritt schlechthin und im                       ren Austritt aus dem Heiligen Römischen Reich
Nationalstaat, in einer nationalstaatlichen Ord-                      Deutscher Nation erklärten. Angesichts dieser
nung die Normalform politischer Existenz er-                          politischen Entwicklung und auf Druck Napole-
                                                                      ons legte der habsburgische Kaiser Franz II. nur
                                                                      wenige Tage später die deutsche Kaiserkrone nie-
01 Anton von Werner, Moltke mit seinem Stabe vor Paris,
1873, Öl auf Leinweind, 190 × 316 cm, Kunsthalle Kiel.
                                                                      der. Nach fast 900 Jahren zerfiel das Römisch-
02 Ders., Erlebnisse und Eindrücke 1870–1890, Berlin 1913, S. 31.     Deutsche Reich.
03 Vgl. ders. (Anm. 1), S. 33.                                            Während in den durch Säkularisierung und
04 Ders., Die Proklamierung des Deutschen Kaiserrei-                  Mediatisierung vergrößerten süddeutschen Staa-
ches („Friedrichsruher Fassung“), 1885, Öl auf Leinwand,
                                                                      ten Baden, Württemberg, Hessen-Darmstadt und
167 × 202 cm, Bismarck-Museum Friedrichsruh.
05 Vgl. Charlotte Bühl-Gramer, Anton von Werner: Die Pro-
klamierung des Deutschen Kaiserreichs 1871, in: Susanne Popp/         07 Ebd., S. 23 f.
Michael Wolbring (Hrsg.), Der Europäische Bildersaal. Europa          08 Vgl. das Gedankenexperiment von Dieter Langewiesche, Die
und seine Bilder. Analyse und Interpretation zentraler Bildquellen,   Glorreiche Deutsche Revolution von 1848/49, in: Christoph Nonn/
Schwalbach/Ts. 2014, S. 86–97; Thomas W. Gaethgens, Anton             Tobias Winnerling (Hrsg.), Eine andere deutsche Geschichte
von Werner: Die Proklamierung des Deutschen Kaiserreiches. Ein        1517–2017. Was wäre wenn …, Paderborn 2017, S. 120–139.
Historienbild im Wandel preußischer Politik, Frank­furt/M. 1990.      09 Tobias Arand, 1870/71. Die Geschichte des Deutsch-Fran-
06 Eckart Conze, Schatten des Kaiserreichs. Die Reichsgrün-           zösischen Krieges erzählt in Einzelschicksalen, Hamburg 2018,
dung von 1871 und ihr schwieriges Erbe, München 2020, S. 23.          S. 36.

                                                                                                                                  05
APuZ 1–2/2021

Bayern nun an Frankreich und den französischen                  Dies war vor allem angesichts des preu-
Modellstaaten im Rheinbund orientierte Prozesse             ßisch-österreichischen Dualismus ein zentra-
staatlicher Modernisierung angestoßen wurden,               ler Punkt. War Österreich im Alten Reich die
musste Preußen von Napoleon erst militärisch                stärkste Macht, entwickelte sich Preußen seit dem
geschlagen werden, bevor man sich auch dort ge-             18. Jahrhundert zu einem ernstzunehmenden Ri-
nötigt sah, Reformen anzugehen: Ab 1807 wur-                valen mit Großmachtsambitionen. Daher un-
de zur Vermeidung eines Umsturzes von unten                 terstützte Preußen zunächst auch die Idee eines
eine Revolution von oben vorangetrieben – mit               deutschen Bundesstaates unter gemeinsamer Füh-
zahlreichen Reformen in vielen sozialen und ge-             rung mit Österreich. Dieses Anliegen fand bei den
sellschaftlichen Bereichen, in der Verwaltung, der          deutschen Mittelstaaten, dem sogenannten Drit-
Bildung und dem Militär.                                    ten Deutschland, jedoch keine Anhänger, ver-
                                                            suchten diese doch ihre Unabhängigkeit von den
            FAULER KOMPROMISS …                             beiden Großmächten zu wahren. Für Österreich
                                                            als Vielvölkerstaat war ein deutscher Bundesstaat
Die politischen Maßnahmen brachten viele Deut-              ebenfalls keine erstrebenswerte Lösung, da es eine
sche, wenn auch in unterschiedlicher Intensität,            Debatte um die Rolle und den letztlichen Verbleib
in Berührung mit Ideen von nationaler Einheit               seiner nichtdeutschen Gebiete zu vermeiden such-
und Freiheit, was letztlich zu einer antinapoleo-           te. Und auch die europäischen Großmächte zeig-
nischen Mobilisierung in den Befreiungskriegen              ten kein Interesse an einem potenten deutschen
ab 1813 beitrug. Nach dem Sieg über Napoleon                Nationalstaat, der eine Gefahr für das empfindli-
hegten die Anhänger der jungen deutschen Nati-              che Mächtegleichgewicht dargestellt hätte.
onalbewegung große Erwartungen an die territo-
riale und politische Neuordnung; eine Massenbe-                      … ODER ERFOLGSMODELL?
wegung war sie indes aber nicht.10
    Mit den Forderungen nach einem einheitlichen            Am Ende der Verhandlungen gründete sich mit
Deutschland verbanden sich auch liberale und de-            dem Deutschen Bund ein lockerer Staatenbund,
mokratische Hoffnungen auf bürgerliche Mitbe-               dem die deutschen Staaten und freien Städte als
stimmung – dies war aber nicht im Sinne der ver-            souveräne Mitglieder angehörten. Ein als Bundes-
handelnden Mächte, die nach den Napoleonischen              versammlung bezeichneter ständiger Gesandten-
Kriegen auf dem Wiener Kongress eine neue Ord-              kongress unter der Präsidialmacht Österreich wies
nung für Europa entwarfen. Diese sahen in den re-           zwar bundesstaatliche Merkmale auf, war in seinen
volutionären Ereignissen in Frankreich vielmehr             Möglichkeiten und Kompetenzen aber stark ein-
das ausschlaggebende Moment für fast ein Vier-              geschränkt. Das gesamte Konstrukt war daher eine
teljahrhundert Krieg und setzten auf die Wieder-            deutliche Absage an die liberalen und nationalen
herstellung vorrevolutionärer Zustände und eine             Hoffnungen auf einen einheitlichen Nationalstaat.
strenge Überwachung aufrührerischer Tendenzen                   Auf Demonstrationen für eine nationale Ein-
zur Vermeidung erneuter ­Umstürze.                          heit wie dem Wartburgfest 1817 und das politisch
    Bei den Verhandlungen über die politische               motivierte Attentat des Studenten Karl Ludwig
Zukunft eines Deutschlands galt es dabei mehre-             Sand auf den Schriftsteller August von Kotzebue
re Aspekte zu berücksichtigen. Eine Neuauflage              im März 1819 wurde mit den polizeistaatlichen
des Heiligen Römischen Reiches stand nicht zur              Maßnahmen der Karlsbader Beschlüsse reagiert.
Debatte, da die noch bestehenden 41 deutschen               Die Fürsten suchten mit Zensur, Einschränkung
Staaten und freien Städte auf ihrer Souveränität            von Meinungs- und Pressefreiheit, Verbot von
beharrten. Vielmehr bemühten sich die Abge-                 Burschenschaften und Überwachung der Uni-
sandten um eine ausgleichende und friedenswah-              versitäten alle nationalen, liberalen oder demo-
rende Lösung in den Grenzen des Alten Reiches,              kratischen Tendenzen sowie Proteste gegen die
die sowohl Sicherheit nach innen wie außen ge-              reaktionäre Politik und Kleinstaaterei des Deut-
währleisten und revolutionäre oder expansive Be-            schen Bundes einzugrenzen, um damit revoluti-
strebungen unterdrücken und ausschließen sollte.            onäre Bestrebungen im Keim zu ersticken. Wäh-
                                                            rend Literaten wie Georg Büchner und Heinrich
10 Vgl. Michael Epkenhans, Der Deutsch-Französische Krieg   Heine oder Journalisten wie Karl Marx ins Exil
1870/1871, Stuttgart 2020, S. 14.                           gingen, sollte die Flucht weiter Teile des Bürger-

06
150 Jahre Reichsgründung APuZ

tums ins idyllisch verklärte Private in der Retro-            ner Nationalversammlung. Im Mai 1848 traten in
spektive mit dem kulturhistorischen Begriff der               Frankfurt am Main die gewählten Abgeordneten
Biedermeierzeit beschrieben werden.                           erstmals zusammen, um die Verfassung für einen
    Erst mit der französischen Julirevolution er-             geeinten deutschen Nationalstaat zu erarbeiten.
hielten nationale und liberale Bewegungen 1830                Die Debatte um die großdeutsche oder kleindeut-
in ganz Europa wieder Auftrieb. Im Deutschen                  sche Verfasstheit des Staatsgebietes entschied sich
Bund gab es in einigen Mitgliedstaaten gewalttäti-            letzten Endes an der Frage der ungeklärten natio-
ge Unruhen und Forderungen nach liberalen Re-                 nalen Zugehörigkeiten. Österreich war nicht be-
formen. Im Mai 1832 versammelten sich 20 000 bis              reit, seine nichtdeutschen Gebiete zugunsten ei-
30 000 Menschen am Hambacher Schloss, wo an-                  ner großdeutschen Lösung in den Grenzen des
gesichts des polnischen Freiheitskampfes und der              Deutschen Bundes aufzugeben. Auch der Vor-
bürgerlichen Revolution in Belgien ein europäi-               schlag eines Doppelbundes – zugleich deutscher
scher Völkerfrühling beschworen wurde und auch                Bundesstaat ohne Österreich und Staatenbund
für die deutschen Länder der Ruf nach Einigung                mit Österreich – fand keine Zustimmung, sodass
und Freiheit erscholl – wenngleich die völkerver-             es letztlich auf eine kleindeutsche Lösung ohne
bindenden Parolen bei gleichzeitiger Betonung des             Beteiligung Österreichs hinauslief.12 Im März
Nationalismus mit seinen Abgrenzungstendenzen                 1849, die revolutionäre Stimmung war bereits
von einer gewissen Janusköpfigkeit zeugten.11                 abgeflaut und die monarchisch-konservativen
    Trotz staatlicher Repressionen läutete das of-            Kräfte wieder erstarkt, beschloss die National-
fen zur Schau gestellte liberale, nationale und de-           versammlung, dem preußischen König die Kai-
mokratische Aufbegehren den Übergang von der                  serwürde anzutragen. Mit einer Ablehnung ihres
sogenannten Restaurationszeit in den Vormärz                  Anliegens brüskierte Friedrich Wilhelm IV. die
ein. Französische Forderungen nach einer Rhein-               entsandten Abgeordneten; nur von „seinesglei-
grenze sorgten während der Rheinkrise von 1840                chen“ und nicht aus den Händen des Volkes woll-
für eine national erregte Stimmung in den west-               te er die deutsche Kaiserkrone annehmen.
und süddeutschen Ländern, die sich auch in                        Die Absage des preußischen Königs galt vor-
den zeitgleich entstandenen Liedern „Wacht am                 nehmlich einer Nationalstaatsgründung von un-
Rhein“ oder „Das Lied der Deutschen“ äußerte.                 ten, jedoch nicht einer kleindeutschen Lösung
In diesem Zuge entdeckten auch einzelne deut-                 der Deutschen Frage. Im Gegenteil: Zeitgleich
sche Staaten den Nationalismus als politisches                zur blutigen Niederschlagung der letzten Auf-
Mittel zum Zweck, was sich in der Folgezeit vor               stände gab es im Sommer 1849 den preußischen
allem auf den preußisch-österreichischen Dualis-              Vorstoß, eine Nationalstaatsgründung von oben
mus auswirken sollte.                                         mit einer konservativen Version der Reichsver-
                                                              fassung voranzutreiben – hatten doch mehrere
           ABGELEHNTE KAISERKRONE                             deutsche Mittelstaaten dem ursprünglichen Ver-
                                                              fassungstext und damit der Idee eines von Preu-
Nachdem im Februar 1848 erneut eine Revolu-                   ßen dominierten deutschen Nationalstaates be-
tion Frankreich erschütterte, erfasste die revolu-            reits zugestimmt. Als Gegenentwurf zur von
tionäre Stimmung rasch ganz Europa. Auch im                   Preußen initiierten Erfurter Union warb Öster-
Deutschen Bund mehrten sich Forderungen nach                  reich für ein Großösterreich. Einer drohenden
Volksbewaffnung, Presse- und Versammlungs-                    militärischen Auseinandersetzung mit Österreich
freiheit. Nach nur halbherzigen Zugeständnis-                 in der Herbstkrise 1850 konnte sich Preußen nur
sen des preußischen Königs kam es im März 1848                durch die Zustimmung der Wiederherstellung des
in Berlin zu Barrikadenkämpfen. Friedrich Wil-                Deutschen Bundes entziehen – eine als schmach-
helm IV. kündigte einlenkend an, dass Preußen in              voll wahrgenommene politische Niederlage.13
Deutschland aufgehen werde, und hisste (wenn
auch widerwillig) die schwarz-rot-goldene Fah-                12 Michael Epkenhans, Die Reichsgründung 1870/71, München
ne der Revolution. Auf Aufstände in den deut-                 2020, S. 15.
                                                              13 Vgl. Maik Ohnezeit, Der Deutsch-Französische Krieg
schen Ländern folgten schließlich Wahlen zu ei-
                                                              1870/71. Vorgeschichte, Ursachen und Kriegsausbruch, in: Jan
                                                              Ganschow/Olaf Haselhorst/Maik Ohnezeit (Hrsg.), Der Deutsch-
11 Vgl. Conze (Anm. 6), S. 9. Siehe hierzu auch den Beitrag   Französische Krieg 1870/71. Vorgeschichte, Verlauf, Folgen,
von Hedwig Richter in dieser Ausgabe (Anm. d. Red.).          Graz 2009, S. 19.

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Damit misslangen alle Versuche zur Gründung           dem liberalen preußischen Abgeordnetenhaus.
eines deutschen Nationalstaates sowohl von un-        Der vom König 1862 neu berufene Ministerprä-
ten als auch von oben gleichermaßen, und weder        sident Otto von Bismarck sollte diese Krise im
Preußen noch Österreich hatten aus den revoluti-      Sinne der Krone lösen. Bismarck war als preu-
onären Wirren einen wirklichen politischen Vor-       ßischer Gesandter beim Bundestag in Frankfurt
teil ziehen können.                                   bereits vehement für die preußische Sache ein-
                                                      getreten und stand für eine Politik des „Borus-
               BISMARCKS POLITIK                      sia First“. Innenpolitisch setzte er die Heeresre-
              DES „BORUSSIA FIRST“                    form ohne gebilligten Haushalt und damit gegen
                                                      das Parlament durch und arbeitete außenpolitisch
Auch wenn die Revolution von 1848/49 als ge-          zugleich an einer Stärkung Preußens im Deut-
scheitert galt, ließ sich die Idee eines geeinten     schen Bund. Zur Schwächung der Position Ös-
Deutschlands nicht mehr von der politischen           terreichs machte er sich dabei auch die deutsche
Agenda tilgen. Zunächst wurden in der nun ein-        Nationalbewegung zu eigen, ordnete deren Ziele
setzenden Reaktionsära im Deutschen Bund viele        aber stets preußischen Interessen unter. So kon-
Errungenschaften der Revolution rückgängig ge-        terte Preußen einen österreichischen Reformvor-
macht, was Preußen und Österreich wieder zu-          schlag 1863 mit der Forderung nach einem deut-
sammenarbeiten ließ, zahlreiche aktive Liberale       schen Nationalparlament, verfolgte damit aber
und Demokraten aus Sorge vor politischer Ver-         weniger liberale Ziele, sondern die Vermeidung
folgung aber zur Auswanderung bewegte. Auf            eigener Machteinbußen im Deutschen Bund.
europäischer Ebene bekam die auf dem Wiener
Kongress beschlossene politische Ordnung mit                     PREU ẞ ENS KRIEGE MIT
dem Krim-Krieg Mitte der 1850er Jahre erheb-                    UND GEGEN ÖSTERREICH
liche Risse. Russland und Österreich entzweiten
sich, und Frankreich stieg zur Hegemonialmacht        Als die dänische Regierung im November 1863
auf, beides brachte das Mächtegleichgewicht er-       durch eine neue Verfassung das Herzogtum Schles-
heblich in Schieflage.                                wig stärker an das Königreich binden wollte, fachte
    Als der preußische Prinz Wilhelm 1858 die         das den 1852 mit dem Londoner Protokoll beige-
Regentschaft von seinem schwer erkrankten Bru-        legten Konflikt um die komplizierte Frage der na-
der Friedrich Wilhelm IV. übernahm und poli-          tionalen Zugehörigkeit der Herzogtümer Schles-
tische Reformen sowie die Unterstützung des           wig, Holstein und Sachsen-Lauenburg erneut an.
Einheitsgedankens ankündigte, galt das vielen         National motivierten Rufen nach einem „up ewig
Zeit­ge­noss*­innen nach einem Jahrzehnt der Läh-     ungedeelten“ Schleswig-Holstein erteilte Bis-
mung als Beginn einer Neuen Ära – „die große          marck allerdings zunächst eine Absage, ein deut-
Mehrheit der Bevölkerung versprach sich von           scher Nationalkrieg gegen Dänemark lag nicht in
dem Regierungswechsel sowohl mehr innere              preußischem Interesse, da es Chancen zur Erwei-
Freiheit als auch eine Lösung der ‚nationalen Fra-    terung seines Einflusses im norddeutschen Raum
ge‘“.14 Diese politische Aufbruchsstimmung fand       sah. Durch diese Haltung konnte allerdings Öster-
1859, flankiert durch die Erfolge der italienischen   reich – das wiederum kein Interesse an einer inten-
Unabhängigkeitsbewegung, ihren Niederschlag           siven Diskussion der nationalen Frage hatte – auf
in Vereinsgründungen und den mit nationalem           die Seite Preußens gezogen werden. Gemeinsam
Pathos aufgeladenen Feiern zum 100. Geburtstag        gingen sie unter Ausschluss der deutschen Mit-
des „Freiheitsdichters“ Friedrich Schiller. Dem       telstaaten und beobachtenden Zurückhaltung der
ebenfalls neu gegründeten Deutschen National-         europäischen Mächte militärisch gegen Dänemark
verein gehörten bald mehrere tausend Mitglieder       vor und schlugen die dänische Armee vernichtend
an, die für die Idee eines liberalen kleindeutschen   in der Belagerung bei den Düppeler Schanzen.
Staates unter der Führung Preußens eintraten.             Dänemark musste die Herzogtümer an Öster-
    In Preußen geriet Wilhelm I. nach seiner Krö-     reich und Preußen abtreten, die über Fragen der
nung 1861 über Fragen einer Heeresreform in           gemeinsamen Verwaltung wieder in ihre Rivalität
einen innenpolitischen Verfassungskonflikt mit        zurückfielen. Die Situation spitzte sich zu, als die
                                                      preußische Regierung den deutschen Staaten An-
14 Epkenhans (Anm. 12), S. 22.                        fang Juni 1866 einen Bundesreformplan für einen

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150 Jahre Reichsgründung APuZ

kleindeutschen Bundesstaat mit einem National-           Noch während der Belagerung von Paris be-
parlament unter Ausschluss Österreichs vorleg-      gannen Verhandlungen über die Aufnahme der
te und gleichzeitig das österreichisch verwaltete   süddeutschen Staaten in den Norddeutschen Bund.
Holstein besetzte. Österreich erwirkte eine Bun-    Im November 1870 einigten sich zunächst das bei-
desexekution gegen Preußen, das daraufhin den       trittswillige Baden und Hessen, dann das auf Son-
Deutschen Bund für aufgelöst erklärte. Die Nie-     derkonditionen pochende Bayern und schließlich
derlage Österreichs und seiner mittel- und süd-     auch das zögerliche Württemberg mit dem Nord-
deutschen Verbündeten im nun folgenden Deut-        deutschen Bund auf die Gründung eines Deut-
schen Krieg besiegelte das Ende des Deutschen       schen Bundes mit Wirkung zum 1. Januar 1871.
Bundes. Aus dem ehemaligen Staatenbund gin-              Gemeinsam mit dem Bundesrat des Nord-
gen Preußen gestärkt, Österreich geschwächt und     deutschen Bundes beschlossen die vier süd-
die süddeutschen Staaten, nur noch wirtschaftlich   deutschen Beitrittskandidaten die Bezeichnung
durch den 1834 gegründeten Zollverein mit dem       „Deutsches Reich“ und boten dem preußischen
Norden verbunden, ohne den Schutz eines Staa-       König mit dem von Bismarck aufgesetzten Kai-
tenbundes hervor.                                   serbrief die Krone des Deutschen Kaisers an.15
    Bereits während des Feldzuges hatte Preu-       Der norddeutsche Reichstag stimmte den getrof-
ßen mit nord- und mitteldeutschen Staaten ein       fenen Vereinbarungen ebenfalls zu und entsand-
Bündnis geschlossen, das die Gründung eines         te Anfang Dezember 1870 eine Kaiserdeputati-
kleindeutschen Bundesstaates nördlich des Mains     on aus Abgeordneten nach Versailles, um dort
vorsah und 1867 mit dem Norddeutschen Bund          Wilhelm I. die Kaiserwürde anzutragen. Dieser
umgesetzt wurde. Mit den süddeutschen Staa-         wusste um die Symbolik des Zusammentreffens,
ten Bayern, Württemberg, Baden und etwas spä-       die auch im Zusammenhang mit der Abweisung
ter auch Hessen handelte Preußen während der        der Paulskirchenabgeordneten durch seinen Bru-
Friedensgespräche Schutz- und Trutzbündnisse        der 1849 gesehen werden musste. Diesmal gelang
aus, die gegenseitigen militärischen Beistand im    eine beiderseitig gesichtswahrende Begegnung,
Kriegsfalle vorsahen.                               wenngleich auch die Kaiserdeputation von 1870
                                                    letztlich eine Zurückweisung ihres Anliegens
          NATIONALKRIEG GEGEN                       ­erfuhr.16
               FRANKREICH
                                                                  FESTAKT IN VERSAILLES
Im Juli 1870 eskalierte ein diplomatischer Streit
um die spanische Thronfolge zwischen Frank-         Mit der am 31. Dezember 1870 im Bundesgesetz-
reich und Preußen. Beide Staaten riskierten so-     blatt abgedruckten und am Folgetag in Kraft ge-
wohl aus innen- wie außenpolitischen Erwägun-       tretenen Verfassung des Deutschen Bundes, der
gen bewusst einen Krieg. Auf die Kriegserklärung    sogenannten Novemberverfassung, wurde die
Frankreichs folgten beidseitig des Rheins die Mo-   von Bismarck angestoßene Reichsgründung von
bilmachungen. Obwohl zunächst zögerlich ab-         oben zwar verfassungsrechtlich Wirklichkeit, es
wartend, schlossen sich die süddeutschen Arme-      fehlte aber noch eine Proklamation als symboli-
en dem preußischen Aufmarsch an. In mehreren        scher Akt. Der preußische Kronprinz Friedrich
blutigen Grenzschlachten unterlagen die fran-       Wilhelm drängte Ende 1870 darauf, „Kaiser und
zösischen Soldaten den deutschen Truppen. Bei       Reich“ in einer Zeremonie am Neujahrstag 1871
dem elsässischen Städtchen Woerth siegten am        verkünden zu lassen.
6. August 1870 preußische und süddeutsche Ver-          Doch die Umstände konnten nicht ungüns-
bände unter der Führung des preußischen Kron-       tiger sein. Die Belagerung von Paris dauerte an,
prinzen Friedrich Wilhelm – in der Deutung der      und die im deutschen Hauptquartier in Versailles
Zeit wurde hier der „Blutkitt“ der folgenden na-    versammelten preußischen Entscheidungsträger
tionalen Einigung angerührt. Der Krieg gegen das
kaiserliche Frankreich und die französische Re-
                                                    15 Vgl. Michael Kotulla, Entstehung der Reichsverfassung, in:
publik, die nach der Schlacht von Sedan und der
                                                    Wolfgang Mährle (Hrsg.), Nation im Siegesrausch. Württemberg
Gefangennahme Napoleon III. den Kampf wei-          und die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71, Stuttgart
terführte, galt in der deutschen Wahrnehmung als    2020, S. 151–163, hier S. 156.
Nationalkrieg.                                      16 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 12.

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waren sich uneins. Wilhelm I. wollte zunächst                 drängten sich bereits mehrere hundert „Fürs-
die noch ausstehende bayerische Zustimmung                    ten, Generale, Offiziere und Unteroffiziere, Di-
zum Verfassungstext abwarten, Bismarck war er-                plomaten und Angehörige des Hofes“ im Saal.20
krankt und konnte vom Kronprinzen nur mit viel                Hinzu kamen weitere Künstler wie der Kriegs-
Überredungskunst für den 18. Januar als mög-                  zeichner Fritz Schulz, der Hoffotograf Heinrich
lichen Termin erwärmt werden – an diesem Tag                  Schnaebeli oder der Journalist William Howard
war 1701 Friedrich I. zum König in Preußen ge-                Russell (Abbildung).
krönt worden.17 „Wir beschließen also das Jahr                    Nicht geladen, aber Zutritt verschafften sich
1870 mit der unwürdigen Tatsache,“ so vertrau-                neben wenigen „Herren in Zivilkleidern“ auch
te Friedrich Wilhelm seinem Tagebuch am Sil-                  eine Handvoll junger Diakonissinnen, die als
vesterabend an, „unser Volk zu belügen, indem                 Krankenpflegerinnen im Schloss die Verwunde-
wir zwar die Verfassung geben, aber aus Rück-                 ten versorgten – sehr wahrscheinlich die einzigen
sicht auf Bayern sie nicht ausführen, indem wir               anwesenden Frauen.21 Auch Anton von Werner
wohl einen Kaiser, dem Wortlaut eines Paragra-                wurde während der Veranstaltung bedrängt, was
phen entsprechend, erhalten, diesen selbst aber               er als „Zivilist hier zu suchen“ habe.22 Von der ei-
verschweigen.“18                                              gentlichen Zeremonie bekam der Künstler aller-
    Auch unmittelbar vor der letztlich dann doch              dings kaum etwas mit, da er eifrig mit dem Anfer-
für den 18. Januar geplanten Zeremonie der Kai-               tigen von Skizzen beschäftigt war. Einer „mehr
serproklamation blieb der vom Kronprinzen be-                 politisch-vaterländisch als religiöse[n] Predigt“
klagte Mangel an Entschlussfähigkeit bestehen.                des Hofpredigers Bernhard Rogge, in der die Kai-
Erst am 15. Januar, an diesem Tag erhielt Anton               serproklamation als Erfüllung einer seit den Be-
von Werner das Telegramm aus Versailles, erklär-              freiungskriegen anhaltenden Sehnsucht nach der
te sich Wilhelm I. bereit, teilzunehmen und sich              Wiederherstellung des Deutschen Reiches gedeu-
zum Kaiser proklamieren zu lassen. Mit seiner                 tet wurde, folgte der von allen Anwesenden mit-
Forderung, dabei aber als „Kaiser von Deutsch-                gesungene Choral „Nun danket alle Gott“, bevor
land“ statt als „Deutscher Kaiser“ ausgerufen                 Wilhelm I., die Fürsten sowie Regimentsfahnen
werden zu wollen, verband sich die Sorge, die                 tragende Soldaten eine mehrstufige Empore be-
süddeutschen Fürsten zu brüskieren, von denen                 stiegen und sich für den weltlichen Schlussakt der
die Könige aus Bayern und Württemberg ohne-                   Zeremonie aufstellten.23
hin ihre Haltung durch Abwesenheit ausdrück-                      Wilhelm I. wandte sich von der Menge im Saal
ten. Selbst ein hitziges Gespräch zwischen Wil-               ab und den neben ihm versammelten Fürsten zu
helm I., dem Kronprinzen und Bismarck am                      und erklärte, dass er die ihm angetragene Kaiser-
Vortag der geplanten Zeremonie brachte kei-                   würde anzunehmen gedenke. Im Anschluss ver-
ne Lösung – zu sehr sorgte sich der König um                  las Bismarck die Proklamation „An das Deut-
die politische Zukunft Preußens. Erst am Mor-                 sche Volk!“, mit der Wilhelm I. bekundete, „es
gen des 18. Januar konnte der Großherzog von                  als eine Pflicht gegen das gemeinsame Vaterland“
Baden, nachdem Bismarck ihm eindringlich den                  zu betrachten, den „Ruf der verbündeten deut-
Sachverhalt dargelegt hatte, den preußischen Kö-              schen Fürsten und Städte folge zu leisten und
nig in einem Vieraugengespräch von einer Teil-                die deutsche Kaiserwürde anzunehmen“.24 Einen
nahme überzeugen.19                                           Moment der Stille abwartend, riss der badische
    Ungeachtet dieser Querelen gingen der Pro-                Großherzog den Arm empor und setzte zur Er-
klamation Tage der Vorbereitung voraus. Ange-                 leichterung Bismarcks und des Kronprinzen zu
sichts der militärischen Lage fand die Zeremo-                einem dreifachen Hoch auf „Kaiser Wilhelm“ an.
nie in Frankreich statt. Der Spiegelsaal im Schloss
von Versailles, tags zuvor noch Lazarett, wurde               20 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 8.
für die Veranstaltung hergerichtet. Als Anton von             21 Was eine Neuendettelsauer Diakonisse von der Kaiserpro-
Werner schließlich die große Spiegelgalerie betrat,           klamation in Versailles gesehen hat, in: Der Armen- und Kran-
                                                              kenfreund. Eine Zeitschrift für die Diakonie der evangelischen
                                                              Kirche, Januar 1911, S. 17–20.
17 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 535 f.                             22 Vgl. Werner (Anm. 2), S. 33.
18 Heinrich Otto Meisner (Hrsg.), Kaiser Friedrich III. Das   23 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 563 f.
Kriegstagebuch von 1870/71, Berlin–Leipzig 1926, S. 300.      24 Ernst Deuerlein, Die Gründung des Deutschen Reiches
19 Vgl. Arand (Anm. 9), S. 559–566.                           1870/71 in Augenzeugenberichten, Gerlingen 2011, S. 299.

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150 Jahre Reichsgründung APuZ

Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 – Ehrenabordnung der deutschen Regimenter im Spiegelsaal
© bpk/H. Schnaebeli

Welche Formulierung dabei genau gewählt wur-                Charakter einer Reichsgründung von oben unter-
de, war bereits unter den teilnehmenden Zeitge-             strichen.27 In den Augen vieler Zeit­ge­noss*­innen
nossen umstritten, der befürchtete Eklat blieb              war damit ein Schlusspunkt unter die Deutsche
allerdings aus.25 „Seine Kaiserliche und Königli-           Frage gesetzt. Ob das Deutsche Reich die beste
che Majestät, Kaiser Wilhelm, lebe hoch! Hoch!              aller möglichen Lösungen darstellte, sei dahinge-
Hoch!“26 Unter andauernden Jubelrufen und ei-               stellt. Der politische Preis für die Einigung war
ner musikalischen Untermalung durch „Heil                   hoch und sollte in der Zukunft noch bezahlt wer-
Dir im Siegerkranz“ umarmte Wilhelm I. seinen               den müssen.
Sohn, stieg, ohne Bismarck eines Blickes zu wür-
digen, vom Podest und nahm die Glückwünsche
der Menge entgegen. Nach einer knappen Stunde
endete der Festakt.                                         CHRISTIAN BUNNENBERG
    Damit war das Reich nun auch symbolisch be-             ist Juniorprofessor für Didaktik der Geschichte an
gründet, wobei die Inszenierung und die gewähl-             der Ruhr-Universität Bochum und betreut dort den
ten Formulierungen noch einmal bewusst den                  Masterstudiengang Public History. In seinem Twitter-
                                                            projekt „Kriegsgezwitscher“ wird die Geschichte des
25 Vgl. Werner (Anm. 2), S. 34.
                                                            Deutsch-Französischen Krieges unter dem Account
26 Ebd.                                                     @Krieg7071 150 Jahre zeitversetzt nacherzählt.
27 Vgl. Epkenhans (Anm. 12), S. 9.                          christian.bunnenberg@ruhr-​uni-​bochum.de

                                                                                                                 11
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                          EIN REICH FÜR ALLE?
         Wie das Deutsche Reich innerlich zusammenwuchs
                                       Siegfried Weichlein

„Wir haben Italien gemacht. Jetzt müssen wir die     te es sich um eine Vereinigung vorher getrennter
Italiener schaffen“, soll der italienische Politi-   Staaten. Bismarck wurde mit Cavour, Preußen
ker Massimo d’Azeglio nach der Staatsgründung        mit dem Königreich Sardinien-Piemont vergli-
1861 gesagt haben.01 Wenn es auch eine Ex-post-      chen. Beide Staaten entstanden nach einem mi-
Zuschreibung war, so charakterisierte es doch        litärischen Sieg. Die politischen Ordnungen un-
gut die Situation. Eine Reihe von kleineren Fürs-    terschieden sich jedoch: Während das Deutsche
tentümern war im neuen Königreich Italien auf­       Reich ein monarchischer Bundesstaat war, wurde
gegangen.                                            Italien zu einem aus der Hauptstadt straff geführ-
    Ähnlich lagen die Dinge in Deutschland: Hier     ten Zentralstaat.02
zerfiel 1866 der Deutsche Bund. Auch das Kö-             Es hat sich heute durchgesetzt, von der
nigreich Hannover, das Kurfürstentum Hessen-         deutschen Reichsgründung als einem Ereig-
Kassel, das Herzogtum Nassau und die Freie           nis zu sprechen, das ein Vorher und ein Nach-
Reichsstadt Frankfurt am Main fanden sich nun        her kannte: Zuerst gab es kein Kaiserreich, 1871
in Preußen wieder. „Deutsche“ aber waren sie         existierte es. Prozessbegriffe wie „Einigung“
dadurch noch nicht. Nach dem Deutsch-Fran-           beschreiben dagegen den Vorgang nicht nur
zösischen Krieg von 1870/71 kamen die Elsässer       für Deutschland, sondern auch für Italien bes-
und Lothringer zu Deutschland. Diese Erfahrung       ser. Tatsächlich steckte die innere Einigung vol-
hatten die Dänen, die in Schleswig wohnten, be-      ler Widersprüche, und sie vollzog sich allmäh-
reits 1864 gemacht. Die alte Ordnung des Wie-        lich, über einen längeren Zeitraum hinweg, von
ner Kongresses von 1815 löste sich auf. Würde        1867 bis etwa 1890, wenn nicht darüber hinaus.
eine neue Ordnung entstehen? Würde der äuße-         Das neue Bürgerliche Gesetzbuch für alle Deut-
ren eine innere Reichseinigung folgen? Und wür-      schen trat zum Beispiel erst am 1. Januar 1900
de die deutsche Bevölkerung dem neuen Staat ge-      in Kraft. 1871 wurden lediglich die Weichen ge-
genüber loyal sein?                                  stellt, die zur inneren Gründung des Reiches
    Probleme, die bei der Staatsgründung nicht       führen ­sollten.
gelöst wurden, konnten langfristige Folgen ha-
ben. Das hatte sich in den Vereinigten Staaten ge-                GRUNDKONFLIKTE
zeigt. Dort war die Sklavenfrage in der Verfas-                  DER REICHSEINIGUNG
sung von 1787 ausgeklammert worden; sie kehrte
im Bürgerkrieg zwischen 1861 und 1865 mit Ge-        Mehrere Grundkonflikte waren zwischen 1867
walt zurück. In Italien rächte sich, dass der Pi-    und 1871 sichtbar geworden, die den Prozess der
emontese Camillo Benso von Cavour sein eini-         inneren Einigung prägten. Was war das Reich
ges Italien 1861 über die Köpfe der Bewohner des     überhaupt, ein Bund der Fürsten oder eine auf
Südens hinweg gezimmert hatte, anstatt sich ih-      Verfassung und Parlament gestützte Ordnung?
rer Loyalität zu versichern. Eine dringend nöti-     Wie würde sich das große Preußen mit seinem
ge Landreform unterblieb, verarmte Bauern und        Militarismus gegenüber dem Rest des Reiches
ehemalige Soldaten bekämpften daraufhin als          verhalten? Konnte aus der Gemeinsamkeit im
Briganten in den Wäldern die Grundbesitzer und       Krieg gegen einen äußeren Feind ein friedliches
die neue Obrigkeit aus dem Norden. Der Süden         Miteinander entstehen? Die innere Einheit des
wurde faktisch vom Norden besetzt.                   Reiches gründete nicht auf Gleichheit, sondern
    Schon Zeitgenossen wiesen auf die Gemein-        allein auf der Loyalität der Bevölkerung, gerade
samkeiten der Nationalstaatsgründungen in Itali-     auch der Unterlegenen von 1866 und der beige-
en und Deutschland hin. In beiden Fällen handel-     tretenen Süddeutschen. Nationale Einheit bedeu-

12
150 Jahre Reichsgründung APuZ

tete also nicht Homogenität, sondern beruhte auf                    könnte, wenn man nicht beitrat. Schon deswegen
dem Entschluss, zusammenzubleiben und Kon-                          war eine Vereinigung richtig, lautete nun die Lo-
flikte untereinander zu regeln.                                     gik vieler Patrioten. Am 21. Januar 1871 erreich-
    Alle Sieger des Reichseinigungskrieges gegen                    ten die Vertreter dieser Richtung ganz knapp die
Frankreich erhielten ihre symbolische Anerken-                      nötige Zweidrittelmehrheit im Parlament.05
nung: In Bayern feierte man die Schlacht bei Wei-                       Das Argument der bayerischen Patrioten galt
ßenburg, in Sachsen die bei Gravelotte als eigenen                  auch für andere Landesfürsten: Wollten sie ihre
Triumph und Beitrag zur Gründung. Diese Er-                         Stellung wahren, mussten sie einen monarchi-
folge fanden ebenso Eingang in Schulbücher und                      schen deutschen Bundesstaat unter preußischer
Gedenkkalender wie der Sieg bei Sedan durch                         Führung akzeptieren. Auch in den übrigen süd-
preußische Truppen.03 So wurde die Erzählung                        deutschen Staaten setzte sich diese Überzeugung
gestärkt, dass die Bundesstaaten und ihre Arme-                     durch: Die Selbstständigkeit ließ sich nicht mehr
en, letztlich also die Fürsten, das Reich gegrün-                   gegen den Norddeutschen Bund, sondern nur im
det hatten. Entstanden war es nach dieser Lesart                    Deutschen Reich sichern – durch Mitarbeit im
durch Verträge zwischen souveränen Staaten –                        Bundesrat und durch Parteien, welche die eige-
wenn auch unter tatkräftiger Mithilfe Bismarcks,                    nen Interessen vertraten.
der beim Kaiserbrief die Feder führte und auch                          War es bei der Wiedervereinigung 1990 so viel
sonst mit Drohungen, Lockungen oder, wenn                           anders? Auch den fünf ostdeutschen Ländern,
nichts mehr half, mit Geld den Vorgang beschleu-                    die wie im Fall Sachsens zum Teil sehr viel älter
nigte, wie beim chronisch klammen Ludwig II.                        waren als die westdeutschen, ging es darum, ihre
aus Bayern.                                                         Selbstständigkeit in einer föderalen Bundesrepu-
    Im Landtag in München stellte sich allerdings                   blik zu wahren. Ähnliches wiederholte sich auf
die Patriotenpartei, die über die Mehrheit der Sit-                 europäischer Ebene: Für viele Polen oder Ungarn
ze verfügte, zuerst gegen eine von Preußen ange-                    zum Beispiel garantierte in den politischen und
führte Reichseinigung. Unter den Abgeordneten                       ökonomischen Stürmen nach 1990 nur der Bei-
entbrannte eine Diskussion: Würde Bayern seine                      tritt zur Europäischen Union die Fortexistenz
Selbstständigkeit retten, indem es nicht beitrat –                  des eigenen Landes.06
oder sicherte nur ein Beitritt sein Fortbestehen?
Der bayerische Außenminister Otto Graf von                                            STAATSPOLITISCHE
Bray-Steinburg hatte schon am 30. März 1870 be-                                       MODERNISIERUNG
kannt: „Wir wollen Deutsche, aber auch Bayern
sein.“04 Selbst bei jenen bayerischen Abgeordne-                    Staatspolitisch führte die Einigung von 1870/71 zu
ten, die eingefleischte Preußenfeinde waren, reg-                   einer Modernisierung: Die norddeutsche Verfas-
ten sich langsam Zweifel am Separatismus. Die                       sung wurde umgebaut, den süddeutschen Staaten
bayerische Patriotenpartei spaltete sich über die-                  mehr Mitsprache gewährt. Das Kaiserreich war
se Frage. Eine Gruppe um den Augsburger Verle-                      insgesamt föderaler als der Norddeutsche Bund,
ger Max Huttler befürchtete, dass die linksrheini-                  weil der Bundesrat das politische Entscheidungs-
sche Pfalz und auch Franken den Bayern verloren                     zentrum bildete und Preußen hier keine Mehrheit
gehen und der Staat der Wittelsbacher zerbrechen                    besaß. Eine Koalition der süddeutschen Staaten
                                                                    konnte jederzeit ihr Veto gegen Verfassungsände-
01 Franz J. Bauer, Nation und Moderne im geeinten Italien           rungen einlegen. Das entschärfte die Spannungen
(1861–1915), in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht          zwischen dem politischen Machtzentrum Berlin
1/1995, S. 16–31.                                                   und den neu hinzugekommenen Staaten. Im neu-
02 Vgl. Daniel Ziblatt, Structuring the State: The Formation of
                                                                    en monarchischen Bundesstaat musste Preußen
Italy and Germany and the Puzzle of Federalism, Princeton 2006;
Lucy Riall, Risorgimento: The History of Italy from Napoleon to
                                                                    verhandeln und andere Regierungen überzeugen.
Nation State, New York 2009; Francesco Traniello/Gianni Sofri
(Hrsg.), Der lange Weg zur Nation: Das italienische Risorgimento,   05 Vgl. Dirk Götschmann, Der Funktionswandel des Föderalis-
Stuttgart 2012.                                                     mus im Kaiserreich am Beispiel Bayerns, in: Gerold Ambrosius/
03 Vgl. Hans-Michael Körner, Staat und Geschichte in Bayern im      Christian Henrich-Franke/Cornelius Neutsch (Hrsg.), Föderalis-
19. Jahrhundert, München 1992; Siegfried Weichlein, Nation und      mus in historisch vergleichender Perspektive, Bd. 6: Integrieren
Region. Integrationsprozesse im Bismarckreich, Düsseldorf 20062.    durch Regieren, Baden-Baden 2018, S. 243–260.
04 Michael Doeberl, Bayern und die Bismarckische Reichsgrün-        06 Vgl. Alan Steele Milward, The European Rescue of the
dung, München–Berlin 1925, S. 88.                                   Nation-State, London 1992.

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    Dieses Prinzip, das 1871 festgeschrieben wur-                 Entscheidung. Preußens Einfluss reichte bis in
de, spurte sogar noch das ausgedehnte föderale                    die Organisation von Universitäten und Schulen,
Verhandlungssystem der Bundesrepublik nach                        klassischen Domänen der Länder.
1949 vor.07 Zwischen 1867 und 1871 entstand eine                       Dennoch bestand ein Dualismus zwischen
zentrale föderale Institution, die von erstaunli-                 Preußen und dem Reich: Gerade die Anhänger
cher Dauer sein sollte: der Bundesrat, in dem die                 eines spezifischen preußischen Staatsbewusst-
Stimmen bis heute nach Bevölkerungszahl ge-                       seins blieben skeptisch bis ablehnend gegenüber
wichtet werden und der die Vertretung der Län-                    Bismarcks Politik.11 Ihr Horrorszenario war, dass
derexekutiven ist, nicht der Landtage. Anders als                 Preußen einmal in Deutschland aufgehen könnte.
der Reichs- und heute der Bundestag mit seinen                    „Der Bismarck ruiniert noch den ganzen preußi-
Legislaturperioden war und ist der Bundesrat ein                  schen Staat“, war unter Beamten zu hören.12 Am
kontinuierliches Gremium.                                         schärfsten kritisierten ostelbische Rittergutsbesit-
    Der Staatsrechtler Paul Laband beschrieb das                  zer den Reichskanzler, denn dieser bedrohte mit
Reich als Bundesstaat, bei dem die Souveräni-                     der preußischen Kreisreform 1872 deren loka-
tät beim Gesamtstaat lag, und grenzte es so vom                   le Vormachtstellung, um sie gefügig zu machen.
Deutschen Bund als einem Staatenbund mit sou-                     Die Zollgesetzgebung schuf von 1879 an die Ba-
veränen Einzelstaaten ab.08 Juristen diskutierten                 sis für eine neue Zusammenarbeit zwischen der
mit einer gewissen Obsession ebendiese Souverä-                   Reichsführung und den Konservativen in Indus-
nität: Sie erörterten die „Kompetenzen setzende                   trie und Landwirtschaft. Sie wurde gern als Ko-
Kompetenzkompetenz“ oder die „Bundestreue“,                       alition von „Roggen und Eisen“ oder „Rittergut
die stets als Treue der Einzelstaaten gegenüber                   und Hochofen“ bezeichnet. Nach 1871 wuchsen
dem Reich verstanden wurde, nie umgekehrt.                        die deutschen Staaten tatsächlich zusammen. Man
    Wenn von „innerer Einheit“ die Rede war,                      war nicht mehr entweder Bayer oder Deutscher,
meinte dies meist, dass andere deutsche Staa-                     sondern man war Deutscher, weil man Bayer war
ten nachahmten, was Preußen vormachte. Der                        (und man war Bayer, weil man Nürnberger war).
stärkste Staat im Bund wirkte durch seine schiere                 Heimat war nichts Exklusives mehr, sondern je-
Größe und die Erfahrung seiner Verwaltung uni-                    der Deutsche besaß seine Heimat und seinen
tarisierend.09 Der Föderalismus schloss den Uni-                  Bundesstaat.13
tarismus also gerade nicht aus, sondern schien
ihn voranzutreiben. Bis zum Ende des 19. Jahr-                                   INTEGRATION DURCH
hunderts war es die preußische Verwaltung, die                                       DEMOKRATIE
Gesetzentwürfe für den Reichstag ausarbeitete,
nicht der Bundesrat. Der württembergische Mi-                     Die zweite Erzählung der Einheit kreiste um
nister Hermann von Mittnacht meinte 1872 im                       Volk, Reichstag und Verfassung. Das Reich be-
Reichstag, „dass die Rechtsanschauungen und                       ruhte demnach auf der Souveränität des deut-
die Rechtsbildung eines Staates [Preußen] doch                    schen Volkes. Entsprechend bot der Reichstag,
vorzugsweise bestimmt sind, nationales Recht                      vertreten durch seinen Präsidenten Eduard Sim-
zu werden“.10 Wenn Preußen und Bayern über-                       son, Wilhelm I. die Kaiserkrone an. Simson hat-
einstimmten, war dies eine vorweggenommene                        te dies bereits 1849 bei Wilhelms Bruder Fried-
                                                                  rich Wilhelm IV. versucht, ohne Erfolg. Diesmal
07 Vgl. Gerhard Lehmbruch, Der Entwicklungspfad des deut-         nahm der König zwar an, jedoch nur, weil ihm
schen Bundesstaats – Weichenstellungen und Krisen, in: Gerold     auch die deutschen Fürsten die Krone angetra-
Ambrosius/Christian Henrich-Franke (Hrsg.), Föderalismus in       gen hatten. Als offiziellen Reichsgründungsakt
historisch vergleichender Perspektive, Bd. 2: Föderale Systeme:
Kaiserreich – Donaumonarchie – Europäische Union, Baden-
Baden 2015, S. 327–370.                                           11 Vgl. Hans-Peter Goldberg, Bismarck und seine Gegner: Die
08 Vgl. Christoph Schönberger, Das Parlament im Anstaltsstaat.    politische Rhetorik im kaiserlichen Reichstag, Düsseldorf 1998.
Zur Theorie parlamentarischer Repräsentation in der Staats-       12 Klaus Erich Pollmann, Parlamentarismus im Norddeutschen
rechtslehre des Kaiserreichs (1871–1918), Frank­furt/M. 1997.     Bund: 1867–1870, Düsseldorf 1985, S. 433 ff.
09 So schon Arnold Brecht, Föderalismus, Regionalismus und        13 Vgl. Wolfgang Hardtwig, Nation – Region – Stadt. Struktur-
die Teilung Preussens, Bonn 1949.                                 merkmale des deutschen Nationalismus und lokale Denkmals-
10 Gerhard Lehmbruch, Parteienwettbewerb im Bundesstaat.          kulturen, in: Gunther Mai (Hrsg.), Das Kyffhäuser-Denkmal
Regelsysteme und Spannungslagen im Institutionengefüge der        1896–1996. Ein nationales Monument im europäischen Kontext,
Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 1998, S. 63.                Köln 1997, S. 54–84.

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150 Jahre Reichsgründung APuZ

feierten die Deutschen jährlich die Proklamation                   ßen gekommenen Gebieten, in Sachsen und in
durch die Fürsten und Könige am 18. Januar 1871                    Süddeutschland: In Bayern etwa lag sie 1871 mit
im Spiegelsaal von Versailles – darum hatten die                   60 Prozent deutlich über dem Reichsdurchschnitt
Sozialdemokraten allen Grund für bissige Kritik:                   von knapp 53 Prozent. Überall stieg die Wahlbe-
Das Kaiserreich sei ein Fürstenstaat, kein Volks-                  teiligung, was auch den ausgeprägten Konflikten
staat. Und dennoch, auch wenn sie in den De-                       im Reich geschuldet war. Der Kulturkampf ge-
zember- und Januartagen 1870/71 in der zweiten                     gen die katholische Kirche nach 1872 schuf Ge-
Reihe hatten stehen müssen, entfalteten Reichs-                    meinsamkeiten zwischen dem Passauer und dem
tag, Parteien und Wahlen eine integrative Kraft.14                 ermländischen, dem Aachener und dem schlesi-
    Der Reichstag vereinheitlichte Münzen, Maße                    schen Katholiken: Sie alle wehrten sich, indem
und Gewichte, führte ein neues Handelsgesetz-                      sie die katholische Zentrumspartei wählten. 1874
buch ein und begann die Arbeit am Bürgerli-                        erreichte diese fast 28 Prozent aller Stimmen,
chen Gesetzbuch. Jeder Deutsche konnte sich                        neun Prozentpunkte mehr als 1871. Sie errang 91
im Reich niederlassen, wo er wollte, Zuzugsbe-                     Mandate und wurde erneut zweitstärkste Frak-
schränkungen wurden aufgehoben. Für Unter-                         tion nach den Nationalliberalen. Ähnlich wirk-
stützung bei Krankheit und Verarmung war der                       ten sich die Sozialistengesetze von 1878 bis 1890
Wohnort zuständig, nicht wie früher der Heimat-                    auf die Sozialdemokraten aus: 1912 bekamen sie
ort. Die Reichsjustizgesetze von 1877, insbeson-                   fast 35 Prozent der Stimmen und bildeten mit 110
dere das Gerichtsverfassungsgesetz, garantierten                   Abgeordneten die bei Weitem stärkste Fraktion
Rechtsgleichheit für alle Deutschen, ein kaum zu                   im Reichstag.16
überschätzendes Moment der Egalisierung.15 In                           Die Parteien aggregierten ähnlich gelager-
dieselbe Richtung wirkten die Anfänge der Sozi-                    te Interessen aus den verschiedenen Teilen des
algesetzgebung: die Krankenversicherung 1883,                      Reiches zu einem einheitlichen Programm. Das
die Unfallversicherung 1884, die Alters- und In-                   traf auf Liberalismus, Konservativismus, politi-
validitätsversicherung 1889 und die Rentenversi-                   schen Katholizismus wie auch den Sozialismus
cherung 1891.                                                      zu. Auch die nationalen Minderheiten – 2,5 Mil-
    Das allgemeine und gleiche Männerwahlrecht                     lionen Polen, 200 000 Dänen sowie 1,5 Millionen
war ebenfalls integrativ: Süddeutsche Gegner                       Elsässer und Lothringer – waren im Parlament
Preußens gingen ebenso zur Wahl wie bayerische                     vertreten. Der Reichstag wurde zur Arena inner-
Patrioten und großdeutsche Demokraten aus                          deutscher Konflikte, die nicht mehr auf der regi-
Württemberg. Ihre Vertreter setzten sich dann im                   onalen Ebene verblieben, sondern auf nationaler
Reichstag für ihre Belange ein. Auf der Hand liegt                 Ebene ausgehandelt werden konnten.
der Vergleich mit 1990, als die Nachfolgepartei                         Die wachsende Bedeutung der Presse flan-
der SED, die PDS, bei den gesamtdeutschen Bun-                     kierte diesen Prozess: Die meisten Blätter rechne-
destagswahlen antrat und in den Bundestag ein-                     ten sich jeweils einer politischen Richtung zu; die
zog. Die KPD hatte das 1919 nicht getan und da-                    Weltanschauungsparteien versorgten ihre Anhän-
mit signalisiert, dass sie ihren Widerspruch gegen                 ger mit eigenen Nachrichten, die deren Ansichten
die Weimarer Republik nicht im Reichstag, son-                     untermauerten. Die wachsende nationale Partizi-
dern gegen ihn erheben würde.                                      pation ging jedoch mit wachsender Ausgrenzung
    Im jungen Kaiserreich formierte sich ein mehr                  und Aggression einher. Bismarcks Bündnis mit
oder weniger einheitliches Parteiensystem, das                     den Konservativen durch die Schutzzollgeset-
die reichsweiten politisch-sozialen Spannungen                     ze von 1879 leitete einen konservativen Umbau
im Parlament abbildete. Die Integrationswir-                       des Nationalstaates ein: Den Gegnern der Ideen
kung des Reichstags ist ablesbar an der hohen                      von 1848 gelang es, die Deutungshoheit über al-
Wahlbeteiligung, besonders in den neu zu Preu-                     les Nationale zu gewinnen. Fast vergessen schie-
                                                                   nen die Ideale der Paulskirche. Es ist kein Zufall,
14 Vgl. Andreas Biefang, Die andere Seite der Macht:
Reichstag und Öffentlichkeit im „System Bismarck“ 1871–1890,
Düsseldorf 2009.                                                   16 Vgl. Helmut Dubiel, Integration durch Konflikt, in: Soziale
15 Vgl. Michael Stolleis, „Innere Reichsgründung“ durch            Integration 39/1999, S. 132–143. Das Argument geht schon
Rechtsvereinheitlichung 1866–1880, in: Christian Starck (Hrsg.),   zurück auf Georg Simmel, Der Streit (1908), in: ders./Otthein
Rechtsvereinheitlichung durch Gesetze. Bedingungen, Ziele,         Rammstedt (Hrsg.), Soziologie. Untersuchungen über die Formen
Methoden, Göttingen 1992, S. 15–41.                                der Vergesellschaftung, Frank­furt/M. 1992, S. 284–382.

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