AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE IN PEERGROUPS JUGENDLICHER
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ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE IN PEERGROUPS JUGENDLICHER Peter Rieker Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft E-Mail: prieker@ife.uzh.ch URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/riekerpeter.html Zitationsvorschlag: Rieker, Peter (2020): Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse in Peergroups Ju- gendlicher. In: Gesellschaft – Individuum – Sozialisation (GISo). Zeitschrift für Sozialisati- onsforschung 1 (1). DOI: 10.26043/GISo.2020.1.3 Link zum Artikel: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE IN PEERGROUPS JUGENDLICHER1 Peter Rieker Abstract: Peers gelten im Jugendalter als wichtige Sozialisationsinstanz, da mit ihnen gleichrangige Be- ziehungen unterhalten werden und somit, anders als mit Eltern oder anderen Erwachsenen, reziproke Formen der Partizipation möglich sind. Allerdings fehlt es an Erkenntnissen dazu, welche Partizipations- formen sich zwischen Peers zeigen und welche Relevanz diese für die Sozialisation Jugendlicher haben. Im vorliegenden Beitrag wird dieser Frage in Hinblick auf Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse in Peergroups Jugendlicher nachgegangen, wobei sich auf ethnografische Beobachtungen in drei Peerkon- texten bezogen wird. Dabei können kontextspezifische Ausprägungen von Entscheidungsprozessen so- wie verschiedene Varianten von Aushandlungen identifiziert werden, die in Hinblick auf Entscheidungen festzustellen sind. Außerdem können unterschiedliche Verläufe von Entscheidungsprozessen rekonstru- iert und auch im längsschnittlichen Zusammenhang interpretiert werden. Schließlich werden auch die im Peerkontext festzustellenden Ungleichheiten in ihrer Relevanz für Entscheidungsprozesse untersucht und diskutiert. Keywords: Jugend, Peergroup, Sozialisation, Aushandlungen, Entscheidungsprozesse Den Peers wird generell ein großer Stellenwert Beteiligung an Entscheidungen, die das eigene für die Sozialisation im Kindes- und Jugendalter Leben und das Leben in der Gemeinschaft be- beigemessen. Aus entwicklungspsychologischer treffen, in der man lebt (Hart 1992: 5). In ihren Perspektive wird betont, dass Erwachsene Her- Erzählungen unterscheiden Heranwachsende anwachsenden Vorgaben machen und ihnen zwischen erwachsenendominierten Kontexten beibringen, was richtig ist, während mit gleich- und Peergroups. Speziell für die Partizipation im rangigen Peers gemeinsam Lösungen entwickelt Kontext der Peers beschreiben sie verschiedene und ausgehandelt werden können (Youniss Varianten der Entscheidungsfindung, die sich 1980). Die symmetrischen Beziehungen zu von den Praktiken unterscheiden, die sich in er- Peers bieten gemäß dieser These besondere wachsenenzentrierten Zusammenhängen fest- Qualitäten der Partizipation. Das Erleben von stellen lassen (Rieker im Erscheinen). Partizipation durch Kinder und Jugendliche kann dabei als Notwendigkeit und Rahmen für soziali- Der vorliegende Beitrag fokussiert die Aushand- satorische Entwicklungen sowie für den Erwerb lungen im Rahmen von Entscheidungsprozessen der Voraussetzungen zu einer späteren sozialen in Peergroups und nimmt damit einen speziellen Teilhabe angesehen werden (Bühler-Niederber- Aspekt von Partizipation in den Blick. Dabei wird ger 2015; Grundmann 2015). untersucht, welche Entscheidungspraktiken sich in Peergroups von Kindern und Jugendlichen er- Partizipation wird in diesem Beitrag im engen kennen lassen und wie hier Entscheidungspro- Sinne als „Mitbestimmung“ verstanden, die von zesse verlaufen. Dafür wird sich auf Roland Reichenbach als „Einbindung von Indivi- Beobachtungsprotokolle aus verschiedenen duen in Entscheidungs- und Willensbildungs- Peerkontexten bezogen, die im Projekt „Peer- prozesse“ gefasst wird (Reichenbach 2006: 54). spezifische Sozialisationsprozesse im Jugendal- Roger Hart spricht diesbezüglich von der ter“ erstellt wurden.2 Gefragt wird außerdem 1 Ich danke den anonymen Gutachtenden und dem GISo-Herausgeber*innenteam für wichtige Anregungen zu einer früheren Fassung dieses Beitrages. 2 Das Projekt „Peerspezifische Sozialisationsprozesse im Jugendalter“ wird seit 2018 am Institut für Erziehungswis- senschaft der Universität Zürich durchgeführt und durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziell Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 1
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG danach, inwieweit diese Entscheidungspraktiken ganz unterschiedlichen Peergroups angehören, den aus anderen Untersuchungen bekannten dass sie ganz verschiedenartige Beziehungen zu Entscheidungspraktiken entsprechen, die auf der Peers etablieren und ein breites Spektrum an In- Grundlage verbaler Interviewdaten oder ethno- teraktionsformen mit Peers praktizieren (Harring grafischer Beobachtungen rekonstruiert wurden. 2010: 33 ff.). In Hinblick auf die Teilhabe im Ju- Auf diese Weise können die Besonderheiten von gendalter zeigt sich immer wieder, dass vor allem Ergebnissen, die mittels dieser verschiedenen Peers Einfluss darauf haben, an welchen sozia- methodischen Zugänge erzielt wurden, verglei- len Kontexten partizipiert wird, d.h. Jugendliche chend in den Blick genommen werden. Dafür machen dann mit, wenn auch ihre Peers dabei werden im Folgenden sowohl Ergebnisse zu sind (Böhm-Kasper 2006: 365). „Kindern“ als auch solche zu „Jugendlichen“ her- angezogen, da die relevanten Studien sich vor al- Soziale Beziehungen zu Peers, die prinzipiell als lem auf die Altersgruppe im Übergang zwischen Gleichaltrige oder Gleichrangige verstanden Kindheit und Jugend beziehen, Altersdifferenzen werden (Ecarius et al. 2011: 113), gelten vielfach mitunter nur minimal sind und die verschiedenen als wichtiges Gegengewicht zu den asymmetri- Untersuchungen keine einheitlichen Alterskate- schen Beziehungen, die Kinder und Jugendliche gorien verwenden, sodass z.B. 12- bis 13-Jäh- zu Erwachsenen unterhalten. Während ihnen rige mal als Kinder und dann wieder als von Erwachsenen Entscheidungen abgenom- Jugendliche bezeichnet werden. Im Folgenden men werden oder die Entscheidungsmacht zu- werden zunächst der Forschungs- und Diskussi- gunsten der Erwachsenen asymmetrisch verteilt onsstand (1.) sowie das methodische Vorgehen ist (Youniss 1980: 24 ff.), können in Peerkontex- (2.) der Untersuchung, auf die wir uns hier bezie- ten symmetrische Beziehungen etabliert wer- hen, skizziert. Anschließend werden die Ergeb- den, in denen Entscheidungen gemeinsam nisse zu den Entscheidungsprozessen im ausgehandelt werden (ebd.: 31 ff.). Peers gelten Kontext jugendlicher Peer-Kontexte präsentiert daher als wichtig, um echte Kooperation zu prak- (3.) und diskutiert (4.). tizieren und zu erlernen (Sturzbecher/Hess 2005: 46 f.). Allerdings gibt es auch Zweifel da- 1. FORSCHUNGS- UND DISKUSSIONSSTAND ran, dass Peers sich tatsächlich als ebenbürtig attribuieren (Eckert et al. 2016: 207), und es wird Zunächst wird der Forschungs- und Diskussi- vermutet, dass Peerbeziehungen durch die den onsstand in Hinblick auf die Besonderheiten so- sozialen Kontext strukturierenden Differenzkate- zialer Beziehungen zu Peers skizziert, gorien und entsprechende Hierarchien geprägt anschließend geht es um Entscheidungspro- sind (Adler/Adler 1998; Köhler 2016: 106). Dar- zesse generell sowie um Aushandlungsprozesse über hinaus wird auch betont, dass Symmetrie im Kontext von Peergroups von Kindern und Ju- und Gleichheit als Leitprinzipien für Peer-Bezie- gendlichen. hungen bedeutsam sind, dass sie aber keine Kennzeichnung ihrer alltäglichen Realität dar- Soziale Beziehungen im Kontext der Peers stellen (Krappmann/Oswald 1995: 22). Im Jugendalter gelten Peers als wichtiger sozialer Entscheidungsprozesse Kontext und als Sozialisationsinstanz, der seit den 1960er-Jahren zunehmend Bedeutung zu- Theoretische Konzepte zu Entscheidungen im geschrieben wird (Ecarius et al. 2011: 113). In- Gruppenkontext liegen aus unterschiedlichen zwischen geben die meisten Jugendlichen an, Disziplinen und thematischen Kontexten vor und einer Peergroup anzugehören, und die Peers beziehen sich auf diverse Aspekte, z.B. ihre werden zusammen mit Familienangehörigen von Grundlagen, ihre Zielsetzungen und ihre Qualität. Jugendlichen als wichtigste Bezugspersonen be- Im Folgenden werden einige dieser Überlegun- nannt (Böhm-Kasper 2006: 366; Ecarius et al. gen skizziert, die für die Aushandlungen in 2011: 114). Dabei zeigt sich, dass Jugendliche unterstützt. In dem Projekt sind Giovanna Hartmann Schaelli und Silke Jakob als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen tätig und auch als Forscherinnen im Feld aktiv, die Projektleitung liegt bei Peter Rieker. Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 2
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Gruppen von Kindern und Jugendlichen relevant zwölfjährigen Kindern konnten drei Strategien sein könnten. bzw. Muster ermittelt werden: 1) Zwang, Miss- achtung, Unterwerfung; 2) Anfrage, Antwort; 3) Für Kollektiventscheidungen – im Vergleich zu In- Argumentation, Begründung (Krapp- dividualentscheidungen – haben die Orientie- mann/Oswald 1995: 95). Am häufigsten wurde rung an allgemein akzeptierten Wertmaßstäben bei den Kindern das zweite Muster beobachtet, sowie an den vorgesehenen Verfahrensregeln d.h. sie wählten Strategien, die es dem Gegen- größeren Stellenwert (Glatzmeier/Hilgert 2015: über ermöglichten, durch Anfragen und Antwor- 14 f.). Die formale Einhaltung gültiger Verfah- ten eigene Relevanzsetzungen einzubringen. rensregeln gilt als Voraussetzung für die Legiti- Argumentative Muster zeigten sich nur sehr sel- mität von Entscheidungen (Luhmann 2001). ten, während Strategien, die mit Zwangsaus- Zudem gelten klare Zielsetzungen als empfeh- übung verbunden waren, in knapp der Hälfte der lenswert, um geeignete Wege zur Zielerreichung Aushandlungen festzustellen waren (ebd.: 96). erkennen und deren Qualität beurteilen zu kön- Nur in etwa der Hälfte der Aushandlungspro- nen (van Ophuysen et al. 2015: 175). Empirische zesse konnte eine von allen Beteiligten akzep- Untersuchungen zu Entscheidungen im Grup- tierte Lösung erzielt werden, während ansonsten penkontext zeigen allerdings, dass die Zielerrei- ein Kind dem anderen seinen Willen aufzwang chung, ungeachtet klarer Zielsetzung, mit oder man ohne Resultat auseinanderging (ebd.: Unsicherheiten behaftet ist, da sich Rahmenbe- 97). Allerdings zeigte sich auch, dass die von den dingungen ändern oder sich unvorhergesehene Kindern praktizierten Aushandlungen von der Art Wechselbeziehungen ergeben können (ebd.). der jeweiligen Beziehung abhängen: „Beste Freunde wandten öfter Strategien des zweiten Darüber hinaus wird deutlich, dass das Ideal ra- und dritten Musters an und fanden öfter noch zu tionaler Entscheidungsprozesse, für die mög- einer akzeptierten Lösung als Nicht-Freunde“ lichst alle relevanten Informationen systematisch (ebd.: 104). berücksichtigt werden (Hellmann/Kopietz 2015: 75), de facto nicht erreicht wird. Entscheidungen In einem Projekt zur „Partizipation von Kindern werden vielmehr auf der Basis von Heuristiken und Jugendlichen“ (Rieker et al. 2016) zeigte getroffen, für die nur wenige Informationen be- sich, dass im Kontext der Peers wichtige Impulse rücksichtigt werden und bei denen Intuition und für die Teilhabe und die Mitbestimmung Heran- Bauchgefühl hohen Stellenwert haben (ebd.: 75 wachsender gegeben werden. Die in Interviews f.; van Ophuysen et al. 2015: 176). Vor allem befragten zehn- bis zwölfjährigen Mädchen und dann, wenn Entscheidungen durch soziale Hie- Jungen berichteten, dass sie in ihren Peergroups rarchien und Gruppendruck geprägt sind (Asch verschiedene Formen der Mitbestimmung prak- 1951; Janis 1971), gilt ihre Qualität als vermin- tizieren, die sich von denen unterscheiden, die sie dert (Glatzmeier 2015: 200). Positive Einflüsse in erwachsenendominierten Kontexten erleben. auf die Entscheidungskommunikation verspricht Dabei werden vor allem folgende Varianten be- man sich dagegen von der Vermeidung asym- schrieben (Rieker im Erscheinen): metrischer Konstellationen, von der Partizipation aller Beteiligten und von Transparenz im Ent- - Ausführliche Verhandlung: Skizziert werden scheidungsprozess (van Ophuysen et al. 2015: umfassende Prozeduren der Entscheidungs- 188). Es wäre zu prüfen, inwieweit sich diese findung, die sich über einen längeren Zeit- Überlegungen zu Entscheidungsprozessen auf raum erstrecken, verschiedene Akteur*innen die Aushandlungen in Peergroups von Kindern einbinden und mitunter verschiedene Ent- und Jugendlichen beziehen lassen und ob hier scheidungsschritte umfassen. Dabei entsteht Besonderheiten zu beachten sind. der Eindruck, dass der Prozess der Entschei- dungsfindung selbst wichtiger ist als das, wo- Aushandlungsprozesse in Peergroups von Kin- rüber entschieden wird. dern und Jugendlichen - Spielerische Entscheidungsfindung: Be- In einer ethnografischen Untersuchung zu Aus- schrieben werden dabei auch verschiedene handlungsprozessen unter neun- bis spielerische Entscheidungsvarianten, bei Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 3
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG denen die Entscheidung entweder der Ge- wie Entscheidungsprozesse im Rahmen von schicklichkeit der Beteiligten oder dem Zufall Peergroups genau aussehen (Moser 2010: 323). überlassen wird. Darüber hinaus fehlen Erkenntnisse dazu, ob und inwieweit unterschiedliche Peer-Konstellationen - Die gute Idee: Betont wird außerdem, dass und -Kontexte zu jeweils spezifischen Ausprä- sich bei der Entscheidungsfindung jeweils die gungen von Entscheidungen beitragen. Relevant beste Idee durchsetzt, wobei dann, wenn ver- sein könnten dabei die jeweiligen Geschlechter- schiedene gute Vorschläge geäußert werden, konstellationen, da Peergroups für die Identitäts- mitunter darüber abgestimmt wird, welches entwicklung von Mädchen und Jungen nun die beste Idee ist. unterschiedliche Funktionen zuerkannt werden (King 2013: 259) bzw. Jungen und Mädchen - Ambivalente Hierarchien: Beschrieben wer- Freundschaften unterschiedlich gestalten (Rein- den teilweise auch Ansätze hierarchischer ders/Mangold 2005), sowie Peer-Konstellatio- Strukturen, wobei einzelne Kinder in be- nen, die sich durch je eigene stimmten Fragen Entscheidungsbefugnis er- Organisationsformen und thematische Fokussie- halten. Allerdings wird deutlich, dass diese rungen auszeichnen (Harring 2010; Scherr Entscheidungsbefugnis vorsichtig und im Be- 2010: 75 f.). Im vorliegenden Beitrag wird diesen wusstsein ausgeübt wird, dass die Interessen Fragen in Hinblick auf Praktiken der Entschei- der anderen berücksichtigt werden müssen. dungsfindung nachgegangen, die in Peergroups Vereinzelt wird dann auch Ungehorsam und Jugendlicher beobachtet werden konnten. Verweigerung gegenüber solch hierarchisch legitimierten Entscheidungen deutlich. 2. UNTERSUCHUNGSGRUPPEN UND ME- THODISCHES VORGEHEN Zusammen genommen entsteht damit der Ein- druck, dass Kinder in ihren Peer-Kontexten vor Für die Analyse von Entscheidungsprozessen in allem darum bemüht sind, bei ihren Entscheidun- Peergroups Jugendlicher wird sich im Folgenden gen Interessen auszubalancieren, die Entste- auf das empirische Material der Studie „Peerspe- hung von Ungleichheiten zu vermeiden und zifische Sozialisationsprozesse im Jugendalter“ Meinungsverschiedenheiten durch Kompro- bezogen, wobei die Beobachtungsprotokolle misse beizulegen. Aus erwachsenendominierten herangezogen werden, die im Rahmen ethno- Kontexten berichten sie dagegen, dass Entschei- grafischer Feldforschung in verschiedenen Kon- dungen formalisiert erfolgen (z.B. per Mehrheits- texten erstellt wurden. Berücksichtigt werden entscheid), dass sie unter Zeitdruck getroffen dafür drei Peergroups bzw. Peer-Kontexte, in de- werden müssen, dass einmal gefällte Entschei- nen die beiden Forscherinnen über einen Zeit- dungen nicht mehr revidiert werden können und raum von mehreren Monaten häufiger präsent dass es Gewinner*innen und Verlierer*innen waren: eine Mädchenband, eine Jungenband so- gibt, z.B. nach einer Abstimmung (Rieker et al. wie ein offener Jugendtreff. Diese werden im Fol- 2016: 126 ff.). Vor diesem Hintergrund können genden kurz vorgestellt: Entscheidungsprozesse im Kontext der Peers als Kompensation und als Gegengewicht zu den in - Der Mädchenband gehören in dem zweimo- der Erwachsenenwelt erlebten Einseitigkeiten natigen Beobachtungszeitraum fünf Mäd- verstanden werden. chen im Alter zwischen 12 und 13 Jahren an, die bereits seit zwei Jahren zusammen Musik Die skizzierten Ergebnisse machen deutlich, dass machen und von einem erwachsenen Musi- die Beziehungen zu Peers große Bedeutung für ker gecoacht werden. Bei zwei der Mädchen die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen wird ein Migrationshintergrund thematisiert. haben, die sie dabei unterstützen, die Herausfor- Die Forscherin war sowohl bei den Proben derungen des Aufwachsens zu bewältigen und der Band als auch bei einem Auftritt präsent in für sie relevanten sozialen Kontexten zu parti- und hat zeitweise auch selbst verschiedene zipieren (Adler/Adler 1998). Obwohl diese Be- Instrumente gespielt. Sowohl die Proben als deutung der Peers unbestritten ist, gibt es nur auch der Auftritt der Band fanden in einem wenig Forschung, die Aufschluss darüber gibt, Schulhaus in der Stadt Zürich statt. Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 4
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG - Die Jungenband besteht während der einjäh- Die beiden Forscherinnen nahmen während der rigen Beobachtung aus fünf Jungen im Alter mehrmonatigen Beobachtungszeiträume regel- zwischen 12 und 16 Jahren, die zeitweise von mäßig, z.B. einmal in der Woche für mehrere einem erwachsenen Musiker gecoacht wer- Stunden, am Gruppengeschehen teil. Bis auf den den, dann aber über mehrere Monate hinweg ersten Termin im offenen Jugendtreff nahm je- ohne dessen Begleitung musizieren. Vier die- weils nur eine Forscherin an einer Beobachtung ser fünf Jungen berichten von einem Migrati- teil – bei den Bands war immer die gleiche For- onshintergrund. Die Forscherin hat vor allem scherin anwesend und im Jugendtreff waren die Proben der Band beobachtend begleitet, beide Forscherinnen präsent, wenn auch nicht war hier am Musik machen nicht beteiligt, hat immer gleichzeitig. Die Beobachtung war als teil- aber umfangreiche Unterstützungsleistungen nehmende Beobachtung angelegt, wobei der für die Band erbracht. Die Proben fanden zu- Zweck der Forscherinnen-Präsenz allen Beteilig- nächst an einer Schule, später dann in einem ten offen gelegt wurde (Breidenstein et al. 2013: privaten Probenraum sowie im Rahmen einer 71 ff.). Die Beobachterinnen wurden durch Er- Retraite in einem Tagungshaus statt. wachsene, die als Bezugspersonen für die Ju- gendlichen fungierten, in die Beobachtungs- - Der offene Jugendtreff wird von Jugendlichen kontexte eingeführt, haben dann aber zuneh- ab zwölf Jahren frequentiert, wobei sich die mend eigenständige Kontakte und Interaktionen Alterspanne der Besucher*innen bis ins junge mit den Jugendlichen etabliert (Rieker et al. im Er- Erwachsenenalter erstreckt. Bei verschiede- scheinen). Die Beobachterinnen ließen sich offen nen der Jugendlichen werden in den Be- auf die Beobachtungskontexte und die ihnen er- obachtungen Migrationshintergründe zum möglichten Beteiligungen ein, sodass ihre Be- Thema. Die Besucher*innen wechseln stän- obachtungen, in Abhängigkeit von kontext- und dig und ihre Anwesenheit ist sehr unregelmä- situationsspezifischen Möglichkeiten, durch ganz ßig. Verschiedene pädagogische Fachkräfte unterschiedliche Teilnahme-Konstellationen ge- sind in der Einrichtung als Ansprechpart- prägt waren. Einzelne Aushandlungssequenzen ner*innen anwesend. Die beiden Forscherin- konnten von den Forscherinnen mit Audioauf- nen sind in der Einrichtung für ca. neun nahmen festgehalten und anschließend transkri- Monate präsent. biert werden, ansonsten verfassten sie ausführliche Protokolle auf der Grundlage ihrer Unterschiede zwischen diesen Beobachtungs- Feldnotizen. Gegen Ende der Feldaufenthalte kontexten zeigen sich einerseits in Hinblick auf wurden zudem Interviews mit den Beteiligten die Einbindung und den Status der Forscherin- geführt, die sich am Konzept des problem- nen: Während sie im Jugendtreff vor allem die zentrierten Interviews orientierten (Witzel 2000), Rolle der Beobachterinnen einnahmen und sich und es wurden Netzwerkkarten (Holl- ansonsten auf kleine Unterstützungsleistungen stein/Strauss 2006) eingesetzt. und Gespräche sowie die Beteiligung an ge- meinsamen Spielen beziehen, waren sie bei den Grundlage der folgenden Analysen sind die Be- Bands stärker als Unterstützung eingebunden – obachtungsprotokolle, in die die Transkriptionen bei den Mädchen war die Forscherin zeitweise der Audioaufnahmen ausgewählter Aushand- sogar vollwertige Teilnehmerin. Andererseits dif- lungen eingefügt wurden. Berücksichtigt wurden ferieren die Kontexte auch hinsichtlich ihrer Ver- insgesamt 20 Beobachtungsprotokolle aus den bindlichkeit: Der offene Jugendtreff war für die drei genannten Kontexten. In diesen Protokollen Jugendlichen ein eher unverbindlicher Treffpunkt, wurden solche Passagen identifiziert, die für Ent- dementsprechend war die Fluktuation hoch und scheidungsprozesse relevant sind, wobei so- die Verweildauer der einzelnen Jugendlichen wohl Äußerungen oder Aktivitäten einzelner ganz unterschiedlich; die Bands waren durch Jugendlicher als auch komplexere Interaktions- den Anspruch einer regelmäßigen Teilnahme verläufe zwischen verschiedenen Jugendlichen und gemeinsame Zielsetzungen gekennzeich- miteinbezogen wurden. Berücksichtigt wurden net, wobei die Jungen in ihrer Band sich erkenn- nur Interaktionen zwischen Jugendlichen, bzw. bar stärker aufeinander und auf gemeinsame solche, an denen Erwachsene nicht bzw. nicht Konzepte bezogen als die Mädchen. entscheidend beteiligt waren. Im Rahmen Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 5
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG offener Kodierungen wurden diese Sequenzen Schlagzeuger will einen neuen Takt proben. Da- zunächst systematisiert und interpretativ er- für schaut er sich ein Tutorial auf seinem iPad an schlossen; anschließend wurde nach Mustern und spielt es nach. Diese Übung wiederholt er ei- und Zusammenhängen zwischen einzelnen Se- nige Male. Als er trotz der Anwesenheit der an- quenzen gesucht (Strauss 2007: 101 ff.). deren nicht aufhört, reagiert der Gitarrist genervt. Er macht ihn darauf aufmerksam, dass sie eine 3. ERGEBNISSE Band seien und die anderen auch noch da seien. „Nur zwei Minuten“, bettelt der Schlagzeuger. Im Folgenden wird zunächst ein vergleichender Der Gitarrist beginnt ebenfalls laut zu spielen. Blick auf die verschiedenen Untersuchungskon- Daraufhin wirft der Schlagzeuger ihm einen ge- texte geworfen, wobei deutlich wird, dass diese nervten Blick zu, da er gerade das Tutorial auf sich in Hinblick auf den hier relevanten Fokus vor seinem iPad anhören wollte. (J4, S. 3) allem in Bezug auf die Verbindlichkeit der be- obachtbaren wechselseitigen Bezugnahme un- Mit Verweis auf den kollektiven Charakter ihres terscheiden (3.1). Anschließend werden gemeinsamen Spiels wird hier eine zweistufige verschiedene Varianten und Aspekte skizziert, Sanktion gegen eine als störend wahrgenom- die in entscheidungsrelevanten Aushandlungen mene Einzelaktion deutlich: Nachdem die verbale deutlich werden (3.2), bevor die Verläufe von Ermahnung nicht wirkt, erfolgt eine massive Entscheidungsprozessen betrachtet werden akustische Intervention, die es dem Schlagzeu- (3.3). Abschließend geht es um den Stellenwert ger verunmöglicht, sein Vorhaben auszuführen. von Ungleichheiten und Hierarchien für die hier Diese Intervention ist durch das Commitment der betrachteten Aushandlungen (3.4).3 Gruppe offenbar gedeckt, denn sie führt im wei- teren Verlauf dazu, dass die Band wieder zusam- 3.1 Verschiedene Untersuchungskontexte men spielt. In den Peergroups der beiden Bands, die auf ein Während unkoordinierte Einzelaktionen in der gemeinsames Ziel hinarbeiten und in denen Jungenband häufiger als bei den Mädchen zum Handlungen miteinander koordiniert werden Gegenstand expliziter Aushandlungen werden, müssen, zeigt sich eine größere Aushandlungs- führt die Organisation der Mädchenband dazu, dichte als in dem offenen Jugendtreff. Während dass hier spezifische Aushandlungen notwendig die Bands beispielsweise entscheiden müssen, werden, die sich bei den Jungen nur selten zei- welche Lieder in welcher Reihenfolge in welcher gen. Diese Aushandlungen sind notwendig, da Weise gespielt werden, kann im Jugendtreff häu- die Mädchen keine dauerhafte Verteilung der In- figer ein Nebeneinander verschiedener, nicht strumente vereinbart haben. Dementsprechend aufeinander bezogener Aktivitäten festgestellt wird bei jedem Lied erneut verhandelt, wer wel- werden. Wenn sich in einer der Bands Aktivitä- chen Part übernimmt. Bei einer der Proben no- ten Einzelner ohne Bezugnahme auf die Anderen tiert die Forscherin entsprechende beobachten lassen, dann handelt es sich in der Aushandlungen bei verschiedenen Gelegenhei- Regel um Aktionen von begrenzter Dauer oder ten: „Wieder wird diskutiert, wer wo mitsingt“ diese werden zum Gegenstand von Aushand- (M7, Z. 112); „Es wird weiter diskutiert, wer was lungen. Während solche Einzelaktionen in der macht. Alle scheinen unsicher zu sein, wer wel- Mädchenband nahezu an der Tagesordnung che Instrumente spielt“ (M7, Z. 162); „Es scheint sind und häufig toleriert werden, werden sie in ein Markenzeichen dieser Band zu sein, dass im- der Jungenband seltener geduldet. mer diskutiert werden muss, wer was bei wel- chem Lied spielt“ (M7, Z. 245). Bei einigen dieser Im Übungsraum probt der Schlagzeuger. Der Aushandlungen entsteht der Eindruck, dass es Sänger kommt hinzu und bald folgen auch die den Mädchen darum geht, ihre eigenen anderen. Sie beginnen zu spielen. Der 3 Im Folgenden werden Zitate und Verweise aus unserer Untersuchung präsentiert, wobei in Klammern jeweils ange- geben wird, auf welches Protokoll Bezug genommen wird. Die Angaben beziehen sich auf den Kontext und die Pro- tokollnummer (J – Jungenband, M – Mädchenband, O – offener Jugendtreff) sowie die Seiten- oder Zeilennummer im jeweiligen Protokoll. Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 6
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Interessen durchzusetzen, bei anderen Gelegen- Melody widerspricht und schlägt vor, alle Lieder heiten scheinen sie durch eine allgemeine Orien- mit Klavier einmal durchzusingen und dann das tierungslosigkeit notwendig zu werden. Es kann zu machen, was Netta vorgeschlagen hat. Netta hier festgehalten werden, dass je nach Situation ist damit einverstanden und fragt noch etwas sowohl der Verstoß gegen Vereinbarungen als nach. Melody schlägt vor Lied 1 und Lied 2 zu auch das Fehlen fester Regeln oder zugewiese- üben. Die Gruppe ist damit einverstanden. (M4, ner Rollen in Peergroups Jugendlicher Aushand- Z. 182) lungs- und Entscheidungsprozesse notwendig machen können. Es wird deutlich, dass Fragen und Vorschläge, die offen formuliert sind oder auf ein bestimmtes 3.2 Varianten der Aushandlung und Entschei- Ergebnis abzielen, geeignete Mittel sind, um eine dungsfindung Entscheidung herbeizuführen oder im eigenen Sinne zu beeinflussen. Verschiedentlich müssen Durch die Datenanalyse konnten in den unter- allerdings erst Gegenargumente entkräftet oder suchten Settings diverse Varianten der Entschei- überstimmt bzw. Kompromisse gefunden wer- dungsfindung identifiziert werden. den, bevor ein Einverständnis erreicht werden kann. Dabei zeigt sich, dass die Chancen, die ge- Vorschläge, Fragen und argumentative Aus- wünschte Entscheidung zu erreichen, in den handlungen Peergroups in etwa gleich verteilt sind, d.h. dass nicht die Vorschläge der einen häufiger als die Aushandlungen sind zum Teil diskursiv organi- der anderen zu einer Entscheidung beitragen – siert und bedienen sich argumentativer Strate- allerdings gab es in allen Kontexten Jugendliche, gien. Auch Jugendliche weisen im die häufig Vorschläge machten, und solche, die Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen dies selten taten. auf die Bedeutung guter Argumente hin (Rieker im Erscheinen). Dementsprechend lassen sich Einzelaktion Elemente solch diskursiver Strategien auch im Kontext von Peergroups beobachten. In allen un- Immer wieder werden Entscheidungen dadurch tersuchten Gruppen werden Entscheidungen herbeigeführt, dass ein*e Jugendliche*r eine Ak- häufiger dadurch vorbereitet, dass Vorschläge o- tion startet, die auch andere betrifft, ohne dies der Fragen formuliert werden. „Melody schaltet zuvor mit den Betroffenen abzuklären. Im offe- sich ein und fragt, ob sie ein anderes Lied spielen nen Jugendtreff zeigt sich dies regelmäßig in können“ (M2, Z. 338); „‚Was mache ma?‘ fragt Hinblick auf die Musik, mit der der gesamte Raum der Gitarrist“ (J1, S. 2); „Der Keyboarder fragt, ob mitunter sehr laut beschallt wird. Häufiger wird sie noch was spielen wollen“ (J1, S. 2). Solche durch das Anspielen eines Liedes das zuvor ge- Vorschläge ziehen in den beobachteten Sequen- spielte Lied unterbrochen und ein ganz anderer zen ganz unterschiedliche Entscheidungspro- Musikstil ins Spiel gebracht. Auch die Aktivitäten zesse nach sich. In einigen Fällen werden sie anderer Jugendlicher werden dadurch beein- verbal bestätigt und dann umgesetzt oder – falls trächtigt oder verunmöglicht: sie eine konkrete Aktion anregen – auch gleich umgesetzt; in anderen Fällen werden sie igno- Nun ertönt auf einmal recht laut andere Musik. riert oder zurückgewiesen. Dabei wird deutlich, Der Junge mit den Locken hebt seine Hände an dass Vorschläge, die darauf abzielen, für sich die Ohren und zieht seine Schultern nach oben. selbst etwas zu erreichen, eher auf wenig be- […] Ich frage ihn, ob er sich erschreckt hat. Er be- geisterte und zögerliche Reaktionen stoßen: jaht und sagt, dass es ganz schön laut ist. Auch „Nach dem Dialog sagt der Schlagzeuger zum das Klavierspiel des anderen Jungen wird nun Gitarristen gewandt: ‚Darf ich mal anfangen?‘ Der übertönt. (O3, S. 2) Gitarrist zuckt mit den Achseln und nickt“ (J1, S. 3). Demgegenüber erreichen Vorschläge, die die Deutlich wird in dieser Passage, dass das neue Positionen anderer berücksichtigen, in der Regel Lied in das Wohlbefinden und die Aktivitäten an- höhere Akzeptanz: derer Jugendlicher eingreift, so wie dies auch durch die Taktprobe des Schlagzeugers im oben Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 7
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG skizzierten Beispiel zu beobachten war. Nur sel- zusammen die Probe früher verlässt (M2, Z. ten lassen sich im Jugendtreff dann allerdings 487). Anweisungen, Befehle und Drohungen be- Reaktionen beobachten, in denen explizit auf die einflussen die Aushandlungs- und Entschei- Gruppe und das gemeinsame Wohl verwiesen dungsprozesse Jugendlicher maßgeblich, da sie wird. Zumeist werden solche Einzelaktionen ge- zumeist befolgt werden. Lediglich offenkundig duldet bzw. entziehen Jugendliche sich durch unbegründete Befehle, werden ignoriert: „Tanya das Verlassen des Raums der Situation oder befiehlt Fannie, ihren Pullover auszuziehen; auf ihnen wird mit Verweis auf eigene Interessen ihre Frage ‚Warum?‘ erhält sie keine Antwort und verbal oder nonverbal entgegengetreten – indem ignoriert den Befehl in der Folge“ (M5, Z. 206). z.B. darum gebeten wird, die Musik leiser zu ma- chen, oder versucht wird, andere Musik noch lau- Spielerische Entscheidungsvarianten ter zu machen. Bemerkenswert erscheint, dass solche Einzelaktionen relativ erfolgreich sind und In Situationen, in denen eine Entscheidung ge- zumindest für einen gewissen Zeitraum das Ge- troffen werden soll (z.B. über das nächste zu schehen bestimmen. spielende Lied), zeigen sich nicht immer die oben skizzierten Varianten, sondern es werden teil- Anweisungen, Befehle und Drohungen weise Nebenschauplätze eröffnet, über die dann spielerisch Entscheidungen getroffen werden. Vergleichsweise selten lässt sich beobachten, Mitunter macht das Geschehen auf diesem Ne- dass Jugendliche solch massive Interventionen in benschauplatz den Beteiligten erkennbar Spaß, ihren Aushandlungen verwenden. Ver- wird in die Länge gezogen und die anstehende schiedentlich scheinen sie Ausdruck ungleicher Entscheidung gerät in den Hintergrund. In eini- Macht- oder Kräfteverhältnisse zu sein oder sie gen Fällen dient diese Nebenaktivität erkennbar werden eingesetzt, um eine soziale Hierarchie zu der spielerischen Entscheidungsfindung in Hin- etablieren oder zu bestätigen. In den Aufzeich- blick auf die offizielle Aktivität, d.h. die Band- nungen findet sich eine Szene, die eine physi- probe. In anderen Fällen verliert die anstehende sche Drohung beinhaltet: Entscheidungsfindung ihre Relevanz, besonders dann, wenn sich Rollenspiele entwickeln, die sich Es gibt nur noch zwei frei Stühle im Raum. Andi in den beobachteten Settings verschiedentlich und Bernd setzen sich auf diese Stühle. Viktor beobachten ließen. steht und sagt immer wieder zu Andi „Verpiss Dich.“ – er sagt das mehrere Male und kommt Netta läutet die Glocke, die auf dem Pult steht. Andi dabei körperlich sehr nahe. Andi steht auf, Sie würde jetzt mal den Herr XY (Name des Leh- Viktor setzt sich. Andi und Bernd gehen aus dem rers) spielen. „Ruhe bitte!“ ruft Tanya mit hoher Büro, Viktor folgt nach einiger Zeit. (O4, S. 1) Stimme. […] Netta beginnt den Lehrer nachzuma- chen und geht dafür zum Lehrpersonenpult. Der Verlauf dieser Interaktion legt nahe, dass es Tanya singt laut, wobei sie von Yaron mit einem hier vor allem darum ging, die ungleichen Kräfte- „Schhhht!“ unterbrochen wird. Netta würde nun verhältnisse zu bestätigen, und weniger um den den Herrn Meier nachmachen, kommentiert er. Sitzplatz. Auch in anderen Situationen, in denen Netta klingelt an der Tischglocke und ruft die Anweisungen oder Befehle gegeben werden, Schülerschaft zur Ruhe. Dabei erklärt sie, wenn befolgen die adressierten Jugendlichen diese zu- zweimal geklingelt wird, sei die Pause oder meist, auch wenn sie massiv in ihre Autonomie Stunde fertig, und wenn der Lehrer einmal klin- eingreifen. So wird einer der Musiker, der die gelt, ist gemeint, dass sie ruhig sein sollen. Die Bandprobe früher verlassen will, angewiesen, bis anderen amüsieren sich. Netta setzt noch einen zum Schluss der Probe dabei zu bleiben. Er leis- drauf und sagt nun mit tiefer lauter Stimme: „Also tet dieser Anweisung schließlich Folge, obgleich jetzt für die restlichen zehn Minuten ist Stillarbeit! seine kleine Schwester unbeaufsichtigt zuhause Ich möchte keine Zwischengespräche mehr se- ist (J3, S. 9). Und eine der Musikerinnen der Mäd- hen. So!“ (M4, Z. 71) chenband wird von ihrer Freundin zunächst ver- bal aufgefordert und schließlich am Arm gepackt Indem eines der Mädchen die Rolle der Lehrper- und von der Bühne gezogen, damit sie mit ihr son übernimmt und dies mit dem Läuten der Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 8
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Glocke unterstreicht, signalisiert sie den An- Einfache vs. komplexe Entscheidung spruch, über die Gestaltung der Situation zu ent- scheiden. Einerseits amüsieren die anderen Während mitunter ein Vorschlag, eine Aktion o- Beteiligten sich über diese Rollenübernahme, an- der eine Anweisung zeitnah akzeptiert und um- dererseits akzeptieren sie sie nicht nur, sondern gesetzt wird, zeigen sich in anderen Situationen bestätigen sie durch Ermahnungen, leise zu sein. mehrstufige Entscheidungsprozesse. Beispiels- Obgleich in dieser Gruppe Entscheidungen und weise muss ein Vorschlag mehrfach wiederholt Entscheidungskompetenzen immer wieder neu werden, weil er zuvor nicht gehört oder ignoriert verhandelt werden, wird hier die mit der Rolle der wurde, oder die Zurückweisung eines Vorschla- Lehrperson assoziierte Entscheidungskompe- ges erfordert eine argumentative Unterfütterung, tenz nicht angezweifelt. Erst später bricht ein bevor dieser Akzeptanz findet oder durchgesetzt Streit darüber aus, wer eigentlich die Lehrperson werden kann. Dabei können ausführliche Argu- sei und entscheiden dürfe. Während der Vor- mentationen und Gegenargumentationen entwi- schlag zu diesem Rollenspiel sowie die in der ckelt werden, in deren Ergebnis entweder einer Rolle des Lehrers geäußerten Anweisungen be- der Vorschläge akzeptiert, ein Kompromiss ge- reitwillig akzeptiert werden, kommt es dann zum funden oder gar keine Entscheidung getroffen Streit, als Netta ihre Entscheidungsbefugnis auf wird, indem die Aufmerksamkeit z.B. auf ein an- die Gestaltung des Bandgeschehens zu übertra- deres Thema gelenkt wird. gen versucht, d.h. die aus dem Geschehen auf dem Nebenschauplatz resultierende Position Einbeziehung anderer kann nicht immer auf einen anderen Kontext übertragen werden. Vielfach werden Entscheidungen, die die ge- samte Gruppe betreffen, durch zwei Akteur*in- 3.3 Konstellationen von Entscheidungsprozes- nen ausgehandelt und dann durch die Gruppe sen bestätigt oder umgesetzt. Es ließ sich aber auch beobachten, dass sich im Verlauf des Aushand- In den Beobachtungsprotokollen finden sich ver- lungsprozesses andere Akteur*innen einmi- schiedene Konstellationen von Aushandlungen schen und dass sich durch diese Einmischung die zur Entscheidungsfindung, denen allerdings ge- Kräfteverhältnisse verändern. Dies kann im Rah- meinsam ist, dass sich die Gruppen schließlich men einer sachlichen Argumentation geschehen auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Unter- – „Sloan geht sofort auf ihren Vorschlag ein und schiede finden sich in verschiedener Hinsicht: unterstützt ihn“ (M3, Z. 167) – oder in emotional hoch aufgeladener Weise: Implizite vs. explizite Einigung Der Sänger […] schaut das Handy an und fragt In einigen Fällen sind in den Protokollen keine ex- dann in Richtung Gitarrist, ob es hier keinen pliziten Bestätigungen einer Entscheidung zu Empfang gäbe. „Kollege, das ist nicht wichtig“, finden, sondern diese Entscheidungen scheinen mault ihn der Schlagzeuger an. Der Sänger wehrt einfach einseitig getroffen, werden von einer an- sich und schaut weiterhin verzweifelt auf sein deren Seite aber nicht in Frage gestellt und damit Handy. Dann hebt er es Richtung Decke. „Tu‘s implizit bestätigt („Der Schlagzeuger hört auf zu weg“, schreit jetzt der Schlagzeuger. „Es könne spielen, die anderen Bandmitglieder hören da- aber wichtig sein“, sagt der Sänger. Fast im Chor raufhin ebenfalls auf“; J2, 2). Allerdings kann nicht schreien ihn die anderen an: „Tu‘s Handy weg!“ ausgeschlossen werden, dass diese Entschei- (J3, S. 8) dungen durch nonverbale Signale bestätigt wur- den („der Bassist nickt“; J2, 4), die nicht in jedem In dieser Sequenz beziehen die anderen durch Fall notiert wurden. In anderen Fällen ist ein Ein- ihre Einmischung vehement Stellung zur Position verständnis deutlich sichtbar, z.B. durch verbale des Schlagzeugers und schaffen damit ein Über- Bestätigung, und im Protokoll entsprechend no- gewicht in Bezug auf dessen Haltung, die vor al- tiert. lem durch die Lautstärke und die Entschiedenheit der Äußerung die Situation entscheidend prägt. Mitunter werden andere auch explizit Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 9
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG aufgefordert, sich einzumischen, da man sich von 3.4 Ungleichheiten und Hierarchien in Entschei- ihnen eine Unterstützung der eigenen Position dungsprozessen erhofft: „Laut und genervt dreht sich nun Tanya um und brüllt zu Yaron: ‚Mann, sag doch was!‘“ Die Jugendgruppen, die im Rahmen der vorlie- (M4, Z. 214). genden Untersuchung beobachtet wurden, sind durch mannigfaltige Ungleichheiten gekenn- Fortsetzung folgt zeichnet, die sich in ihren Entscheidungsprozes- sen widerspiegeln. In allen beobachteten Durch den längsschnittlichen Untersuchungsan- Kontexten zeigen sich dabei Konstellationen, die satz ist es möglich, zu erkennen, dass der Verlauf als Ausdruck verfestigter Unterschiede gedeutet von Aushandlungsprozessen mitunter erst vor werden können: dem Hintergrund früherer Aushandlungen ver- ständlich wird. Die auf den ersten Blick erstaun- - Die Mädchenband wird durch zwei Freundin- liche Vehemenz, mit der dem Gitarristen in der nenpaare dominiert, bei denen jeweils eine oben zitierten Sequenz der Gebrauch seines dominant ist und Entscheidungen häufiger Handys untersagt wird – sind doch Handys und vorgibt, während die andere sich vor allem als deren Gebrauch auch in dieser Gruppe allgegen- Unterstützerin der Freundin präsentiert. wärtig –, erschließt sich durch die Einbeziehung vorangegangener Passagen. Häufiger war der - Die Jungenband zeichnet sich durch eine Hie- Sänger zuvor bereits durch verbale oder nonver- rarchie aus, die sich stark an der Geschichte bale Zeichen an seine Einsätze erinnert worden, der Band orientiert. Während diejenigen, die während er mit seinem Handy beschäftigt war. schon länger dabei sind, häufiger eine Vor- Eine ähnliche Vorgeschichte lässt sich auch in machtstellung für sich in Anspruch nehmen Hinblick auf einen anderen Vorfall bei der Jun- und auch Entscheidungen beeinflussen, be- genband erkennen: anspruchen diejenigen mit kürzerer Bandge- schichte seltener Entscheidungsmacht bzw. Zwei aufeinanderfolgende Proben werden durch sie werden in ihren Bemühungen eher „gede- den Sänger beendet, indem er dem Bassisten ckelt“. bedeutet, dass sie nun gehen müssen. Bei der ersten dieser Gelegenheiten wird der frühzeitige - Im offenen Jugendtreff zeigen sich in Hinblick Abbruch der Probe von den anderen stillschwei- auf Entscheidungsprozesse ebenfalls Un- gend hingenommen, beim zweiten Mal zeigt der gleichgewichte zwischen den beteiligten Ju- Schlagzeuger seine Unzufriedenheit: „Der gendlichen, allerdings kommen diese in den Schlagzeuger meckert. Warum sie schon gehen Protokollen weniger verfestigt zum Ausdruck müssen, will er wissen“ (J2, S. 6). Zwei Wochen – was mit der in diesem Kontext hohen Fluk- später wird der Abbruch einer weiteren Probe tuation von Jugendlichen zusammenhängen nicht mehr geduldet. Nach einer aufgeregten dürfte. Diskussion wird vom Gitarristen abschließend verfügt: „Dann kannst du jetzt nicht einfach ab- In allen drei Kontexten zeigen sich in Hinblick auf hauen, du gehst um acht!“ – was vom Sänger und die Einbindung in Entscheidungsprozesse indivi- vom Gitarristen auch akzeptiert wird. (J3, S. 9) duelle Unterschiede, die jeweils nur in spezifi- schen Situationen relevant werden. Diese Auch in anderen Situationen und Kontexten zeigt Differenzen lassen sich mit der unterschiedlichen sich immer wieder, dass im Rahmen von Aus- Ressourcenausstattung der Beteiligten in Ver- handlungsprozessen auf Vergangenes Bezug bindung bringen. Eine Ressource in diesem genommen wird, sei es um bestimmte Entschei- Sinne kann die Verfügungsgewalt über einen dungen auf diese Weise zu legitimieren, sei es – Schlüssel sein, die ein Bandmitglied deswegen wie oben deutlich wurde –, um einen Ausgleich hat, da es den Übungsraum über den eigenen für wahrgenommene Einseitigkeiten zu errei- Bruder organisiert hat. Auch die jeweiligen musi- chen. kalischen Fähigkeiten können in den Bandkon- texten als Ressource zur Verfügung stehen. In altersgemischten Kontexten wirkt mitunter ein Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 10
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG höheres Alter als entscheidungsrelevante Res- die jeweiligen Situationen sowie an das Verhal- source. Im offenen Jugendtreff zeigt sich bei einer ten in diesen Situationen gebunden. Und auch Gelegenheit die Relevanz einer anderen Res- dann, wenn stabilere Ungleichgewichte beo- source. bachtet wurden, zeigte sich immer wieder, dass Entscheidungsmacht in Frage gestellt wurde und Auch Ronny fällt auf. Er ist ein klein wenig grös- dass sich die Kräfteverhältnisse in Aushand- ser, lauter und kräftiger als die anderen. Als wir lungsprozessen veränderten. rein kommen, ist er derjenige, der fragt, wer wir seien. (O1-1, Z. 48) 4. DISKUSSION UND FAZIT Ronny schrie einmal quer durch den Raum, ein Die vorgestellte Untersuchung zu Aushand- Junge solle ihm den Apfel holen – und aus dem lungs- und Entscheidungsprozessen, die hier als Augenwinkel sehe ich, wie ein Junge daraufhin spezielle Aspekte von Partizipation verstanden sich in die Richtung der Obstschale, die auf dem werden, bestätigt vorliegende Befunde hinsicht- Bartresen steht, bewegt. (O1-2, Z. 36) lich verschiedener Varianten solcher Prozesse in Peergroups Heranwachsender. Entscheidungen In diesen Beobachtungen erweist sich bei Ronny werden demnach durch Fragen und Vorschläge, eine gewisse Extrovertiertheit in Kombination mit im Rahmen von Argumentationen mit Verweis körperlicher Stärke als wichtige Voraussetzung auf gute Gründe sowie durch Anweisungen und dafür, dass ein anderer Junge bereit ist, ihm einen Befehle und auch im Rahmen spielerischer Ent- Apfel zu bringen. Während wir im offenen Ju- scheidungsprozesse beeinflusst und herbeige- gendtreff auch bei anderer Gelegenheit (s.o.) ge- führt (Krappmann/Oswald 1995; Rieker im sehen haben, dass körperliche Stärke in Erscheinen). Über solch verbale Aushandlungen Aushandlungsprozessen relevant gesetzt wird, hinaus ließ sich ebenfalls beobachten, dass Ent- zeigte sich dies in den Bandkontexten nicht – scheidungen nonverbal herbeigeführt werden, wohl auch deswegen, da man in diesen Kontex- indem eine der Akteur*innen einfach handelt und ten auf andere Ressourcen zurückgreifen konnte. damit entscheidungsrelevante Tatsachen schafft. Mitunter werden Entscheidungen auch Neben diesen Ressourcen wirken sich offenbar dadurch herbeigeführt, dass Druck oder Zwang auch das soziale Engagement und die Bereit- auf Einzelne ausgeübt wird. Aushandlungen, die schaft, Verantwortung zu übernehmen, auf die durch einseitige Aktivitäten geprägt sind, werden Stellung einer Person in entscheidungsrelevan- von Heranwachsenden in Interviews ebenso ten Aushandlungsprozessen aus. Nicht verwun- wenig genannt, wie die mit Zwang und Befehlen derlich erscheint, dass bei der Mädchenband assoziierten Varianten (Rieker im Erscheinen). häufig Melody eine besondere Entscheidungs- macht zuerkannt wird (z.B. wenn es um das Pro- Im Vergleich mit anderen Untersuchungen müs- gramm der Band beim nächsten Auftritt geht), sen allerdings die durch das Datenmaterial impli- schließlich ist sie es, die konstruktive Vorschläge zierten Möglichkeiten und Einschränkungen macht, dabei die Interessen der anderen im Blick berücksichtigt werden. Ethnografische Beobach- hat und auch bereit ist, unliebsame Aufgaben zu tungsprotokolle beschränken sich auf die den übernehmen (M5, Z. 467). Und bei den Vorberei- Beobachtenden zugänglichen Eindrücke und tungen zu einem Fest des offenen Jugendtreffs lassen nicht immer direkte Rückschlüsse auf die wird Sara die Position einer Chefin zuerkannt, subjektiven Orientierungen der Akteur*innen zu. wohl auch deswegen, da sie sich ohne Unterlass Dem gegenüber ermöglichen sie einen Zugang engagiert und anstehende Arbeiten übernimmt zu den sozialen Praktiken und mitunter auch zu (O1, Z. 102). den wechselseitigen Bezugnahmen, die diese prägen. Wenn Beobachtungen – wie in der vor- Es ist nun allerdings nicht so, dass die beobach- liegenden Untersuchung – über längere Zeit- teten Aushandlungsprozesse durch die skizzier- räume realisiert werden können, verfügen wir ten Ungleichheiten bzw. hierarchischen damit über verlässliche Hinweise auf soziale Elemente determiniert wären. In einigen Fällen Konstellationen, aus denen heraus soziale Prak- sind ungleiche Entscheidungskompetenzen an tiken gestaltet werden. Sie beschränken sich Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 11
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG nicht auf die im Bewusstsein präsenten und ex- Aushandlungen und solche, die nur durch Zwang plizit mitgeteilten Aspekte und dürften auch we- zustande kommen, seltener sind. Der höhere An- niger durch soziale Erwünschtheit geprägt sein teil einvernehmlicher Entscheidungen lässt sich als z.B. Interviewäußerungen. Dies deutet darauf dabei nicht nur durch Freundschaft erklären hin, dass wir auf ethnografische Beobachtungen (ebd.: 104), sondern er scheint ebenfalls Aus- angewiesen sind, um implizite und auch sozial druck der Verbindlichkeit zu sein, die in beiden weniger akzeptierte Aushandlungsvarianten zu Gruppen – wenn auch unterschiedlich – ausge- erkennen. prägt ist: Im Unterschied zur offenen Jugendar- beit, wo für die Jugendlichen gemeinsame Allgemein zeigt sich, dass Jugendliche ganz ver- Wertmaßstäbe und Verfahrensregeln (Glatz- schiedenen Peergroups angehören und dass meier/Hilgert 2015: 14 f.) nur begrenzt relevant diese Gruppen unterschiedliche Bedeutungen sind, haben die Bands Vereinbarungen zum Ort, für die Beteiligten haben (Harring 2010). In den zur Dauer und zum Ziel ihrer Treffen getroffen, beobachteten Kontexten bzw. Jugendgruppen und auch die Frage, wer hier Zugang hat, ist klar zeigten sich sowohl Differenzen in Hinblick auf geregelt. Allerdings ist auch zu beobachten, dass den ethnisch-kulturellen Hintergrund als auch Aushandlungen, z.B. durch spielerische Aktivitä- auf das Geschlecht der Beteiligten. Es erscheint ten, auf eine andere Ebene verschoben werden. allerdings unzulässig, die beobachteten Aus- Aus der Perspektive zielstrebig denkender Er- handlungs- und Entscheidungsprozesse vor al- wachsener erscheint dies als ergebnislose Aus- lem auf diese sozialen Zugehörigkeitskategorien handlung, während dies aus Sicht der zurückzuführen (Adler/Adler 1998; Köhler 2016) Heranwachsenden auch anders gedeutet wer- und z.B. die Differenzen zwischen Mädchen- den kann: Genau genommen verschieben Kinder und Jungenband lediglich als Ausdruck ihrer Ge- und Jugendliche durch solche Aktivitäten ihre schlechtszugehörigkeit zu deuten. Vielmehr zeigt Relevanzsetzungen und können gerade dadurch sich, dass die einzelnen Gruppen jeweils spezifi- auch Entscheidungsprozesse gestalten. sche Aushandlungskulturen ausgeprägt haben, die vor allem mit dem jeweiligen Kontext in Ver- Gezeigt hat sich darüber hinaus aber auch, dass bindung zu stehen scheinen, in denen unter- Entscheidungsprozesse nicht nur an situative schiedliche Grade der Verbindlichkeit in der Faktoren gebunden sind, sondern auf vorange- wechselseitigen Bezugnahme festzustellen sind. gangene Aushandlungen Bezug nehmen und Diese unterschiedlich ausgeprägte Verbindlich- diese bestätigen oder korrigieren können. Um keit dürfte es vor allem sein, die zu den Unter- solche Bezüge zu erkennen, braucht es eine schieden zwischen den Gruppen in Hinblick auf Längsschnittperspektive, d.h. die Begleitung ju- dort jeweils zu beobachtende Aushandlungs- gendlicher Peergroups über einen gewissen und Entscheidungsprozesse beiträgt. Mit ethno- Zeitraum. Teilweise bestätigt werden konnten grafischen Studien, die nur den Kontext einer o- dadurch solche Ergebnisse, die auf den prekären der ähnlicher Gruppen fokussieren, können Charakter von Hierarchien verweisen (Rieker im solche Unterschiede nicht erkannt werden. Erscheinen). Regelmäßig zeigte sich, dass Ju- gendliche sich in ihren Peergroups unterschied- In Hinblick auf Aushandlungen unter Kindern lich in Entscheidungsprozessen einbringen wurde festgestellt, dass diese häufig ohne Er- (können). Aber auch solche Ungleichheitsrelatio- gebnis bleiben bzw. durch Zwang einseitig ent- nen, die sich in verschiedenen Situationen be- schieden werden (Krappmann/Oswald 1995). obachten ließen, konnten durch fluide Vergleichbares zu diesen im Kontext der Schule Beziehungskonstellationen abgelöst werden, in erzielten Ergebnissen zeigt sich in unserer Unter- denen die Entscheidungsmacht variierte und in suchung am ehesten in der offenen Jugendarbeit, denen entscheidungsmächtige Akteur*innen wo die Beteiligten sich aus dem Weg gehen kön- nicht vor Widerstand und Rebellion gefeit waren. nen bzw. ganz weg bleiben können und wo wie- Es waren demnach weniger zementierte Macht- derholt Entscheidungen mittels körperlicher verhältnisse, die zu ungleichen Anteilen an der Dominanz herbeigeführt werden. Demgegen- Entscheidungsmacht beitrugen, sondern wich- über zeigt sich vor allem in den hier untersuchten tige Beiträge zum Gruppenleben sowie Band-Kontexten, dass ergebnislose Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 12
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG Bemühungen um die Einbindung und das Wohl Vorstellungen, die von der Gleichrangigkeit von der anderen Beteiligten. Peers ausgehen (Youniss 1980) müssen aller- dings relativiert werden (Krappmann/Oswald In Hinblick auf die oben skizzierten Konzeptionen 1995). Im Kontext von Peergroups lassen sich von Entscheidungsprozessen verweisen unsere unterschiedliche Positionen beobachten, die mit Ergebnisse auf einige Besonderheiten. Deutlich ungleicher Entscheidungsmacht verbunden sind. wird ein breites Spektrum an Entscheidungsvari- Allerdings erleben Jugendliche, dass etablierte anten, das über die Fokussierung auf rationale Ungleichgewichte in Hinblick auf die Entschei- Entscheidungen in überschaubaren Kontexten dungsmacht in Frage gestellt und erfolgreich ver- hinausweist. Relevant sind, wie auch an anderer ändert werden können. Insofern bestätigen die Stelle mitgeteilt (Hellmann/Kopietz 2015: 75 f.; referierten Ergebnisse die Position interaktionis- van Ophuysen et al. 2015: 176), der hohe Stel- tischer Sozialisationstheorien und unterstreichen lenwert emotionaler Aspekte für Gruppenent- den Aushandlungscharakter und die Variabilität scheidungen. Zudem konnte gezeigt werden, peerspezifischer Sozialisationsprozesse. dass diese Entscheidungen sich über längere Zeiträume aufbauen können und vorangegan- LITERATUR gene Entwicklungen daher mit berücksichtig werden müssen. Schließlich wurde deutlich, Adler, Patricia A./Adler, Peter (1998): Peer dass akzeptierte Wertmaßstäbe und Verfah- Power. Preadolescent Culture and Identity. New rensregeln (Glatzmeier/Hilgert 2015: 14 f.) sowie Brunswick et al.: Rutgers University Press. Zielsetzungen (van Ophuysen et al. 2015) im Asch, Salomon E. (1951): Effects of Group Pres- Kontext informeller Gruppen nicht notwendig sure upon the Modification and Distortion of vorgegeben sind, sondern im Verlauf der Aus- Judgements. In: Guetzkow, Harold (Hrsg.): handlungsprozesse gemeinsam entwickelt und Groups, Leardership, and Men. Pittsburgh: Car- verändert werden können. Wir haben es hier also negie Press, S. 177–190. mit hochdynamischen Prozessen zu tun. Außer- dem hat sich in Interviews mit Jugendlichen ge- Böhm-Kasper, Oliver (2006): Schulische und po- zeigt, dass in Aushandlungs- und Entschei- litische Partizipation von Jugendlichen. Welchen dungsprozessen hierarchisch strukturierte Situa- Einfluss haben Schule, Familie und Gleichaltrige tionen offensichtlich vermieden werden (Rieker auf die politische Teilhabe Heranwachsender? In: im Erscheinen), d.h. solche Konstellationen, die Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 1 (3), sich negativ auf die Entscheidungsqualität aus- S. 353–368. https://doi.org/10.1007/978-3- wirken (Glatzmeier 2015: 200). Inwieweit sich 531-90103-9_3 damit Spezifika von Entscheidungsprozessen bei Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff, Kindern und Jugendlichen zeigen, könnte nur im Herbert/Nieswand, Boris (2013): Ethnografie: Rahmen vergleichender Untersuchungen geklärt Die Praxis der Feldforschung. Stuttgart: UTB. werden. Bühler-Niederberger, Doris (2015): Sozialisation Was zeigen die oben skizzierten Ergebnisse in in der Kindheit. In: Hurrelmann, Klaus/ Bauer, Ul- Hinblick auf die Sozialisation von Jugendlichen? rich/Grundmann, Matthias/Walper, Sabine Bestätigt werden kann der Befund, dass Peers (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung (8. für die Sozialisation Jugendlicher große Bedeu- Auflage). Weinheim/Basel: Beltz, S. 833–849. tung haben (Böhm-Kasper 2006). Das Material Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel/Fuchs, Thors- der vorliegenden Untersuchung gibt Hinweise ten/Walgenbach, Katharina (2011): Jugend und darauf, dass Jugendliche im Kontext von Peer- Sozialisation. Wiesbaden: VS. groups Erfahrungen mit einem breiten Spektrum https://doi.org/10.1007/978-3-531-92654-4 an Aushandlungen machen sowie auf vielfältige Weise Entscheidungen herbeiführen. Dabei ler- Eckert, Roland/Erbeldinger, Patricia/Hilgers, Ju- nen sie, welche Strategien in welchem Kontext dith/Wetzstein, Thomas (2016): Informelle Be- erfolgreich sind, um bei diesen Entscheidungen ziehungen: Cliquen. In: Köhler, Sina-Mareen/ mitzuwirken und welche Ressourcen sich in die- Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (Hrsg.): sen Aushandlungen als hilfreich erweisen. Handbuch Peerforschung. Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3 Seite 13
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