AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE IN PEERGROUPS JUGENDLICHER

Die Seite wird erstellt Hanne Winter
 
WEITER LESEN
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE
IN PEERGROUPS JUGENDLICHER
Peter Rieker

Universität Zürich, Institut für Erziehungswissenschaft
E-Mail: prieker@ife.uzh.ch
URL: https://www.ife.uzh.ch/de/research/abe/mitarbeitende2/riekerpeter.html

Zitationsvorschlag:

Rieker, Peter (2020): Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse in Peergroups Ju-
gendlicher. In: Gesellschaft – Individuum – Sozialisation (GISo). Zeitschrift für Sozialisati-
onsforschung 1 (1). DOI: 10.26043/GISo.2020.1.3

Link zum Artikel:

https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3

                    Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen
                    Bedingungen 4.0 International Lizenz.
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

AUSHANDLUNGS- UND ENTSCHEIDUNGSPROZESSE
IN PEERGROUPS JUGENDLICHER1
Peter Rieker
Abstract: Peers gelten im Jugendalter als wichtige Sozialisationsinstanz, da mit ihnen gleichrangige Be-
ziehungen unterhalten werden und somit, anders als mit Eltern oder anderen Erwachsenen, reziproke
Formen der Partizipation möglich sind. Allerdings fehlt es an Erkenntnissen dazu, welche Partizipations-
formen sich zwischen Peers zeigen und welche Relevanz diese für die Sozialisation Jugendlicher haben.
Im vorliegenden Beitrag wird dieser Frage in Hinblick auf Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse in
Peergroups Jugendlicher nachgegangen, wobei sich auf ethnografische Beobachtungen in drei Peerkon-
texten bezogen wird. Dabei können kontextspezifische Ausprägungen von Entscheidungsprozessen so-
wie verschiedene Varianten von Aushandlungen identifiziert werden, die in Hinblick auf Entscheidungen
festzustellen sind. Außerdem können unterschiedliche Verläufe von Entscheidungsprozessen rekonstru-
iert und auch im längsschnittlichen Zusammenhang interpretiert werden. Schließlich werden auch die im
Peerkontext festzustellenden Ungleichheiten in ihrer Relevanz für Entscheidungsprozesse untersucht
und diskutiert.

Keywords: Jugend, Peergroup, Sozialisation, Aushandlungen, Entscheidungsprozesse

Den Peers wird generell ein großer Stellenwert                Beteiligung an Entscheidungen, die das eigene
für die Sozialisation im Kindes- und Jugendalter              Leben und das Leben in der Gemeinschaft be-
beigemessen. Aus entwicklungspsychologischer                  treffen, in der man lebt (Hart 1992: 5). In ihren
Perspektive wird betont, dass Erwachsene Her-                 Erzählungen unterscheiden Heranwachsende
anwachsenden Vorgaben machen und ihnen                        zwischen erwachsenendominierten Kontexten
beibringen, was richtig ist, während mit gleich-              und Peergroups. Speziell für die Partizipation im
rangigen Peers gemeinsam Lösungen entwickelt                  Kontext der Peers beschreiben sie verschiedene
und ausgehandelt werden können (Youniss                       Varianten der Entscheidungsfindung, die sich
1980). Die symmetrischen Beziehungen zu                       von den Praktiken unterscheiden, die sich in er-
Peers bieten gemäß dieser These besondere                     wachsenenzentrierten Zusammenhängen fest-
Qualitäten der Partizipation. Das Erleben von                 stellen lassen (Rieker im Erscheinen).
Partizipation durch Kinder und Jugendliche kann
dabei als Notwendigkeit und Rahmen für soziali-               Der vorliegende Beitrag fokussiert die Aushand-
satorische Entwicklungen sowie für den Erwerb                 lungen im Rahmen von Entscheidungsprozessen
der Voraussetzungen zu einer späteren sozialen                in Peergroups und nimmt damit einen speziellen
Teilhabe angesehen werden (Bühler-Niederber-                  Aspekt von Partizipation in den Blick. Dabei wird
ger 2015; Grundmann 2015).                                    untersucht, welche Entscheidungspraktiken sich
                                                              in Peergroups von Kindern und Jugendlichen er-
Partizipation wird in diesem Beitrag im engen                 kennen lassen und wie hier Entscheidungspro-
Sinne als „Mitbestimmung“ verstanden, die von                 zesse verlaufen. Dafür wird sich auf
Roland Reichenbach als „Einbindung von Indivi-                Beobachtungsprotokolle aus verschiedenen
duen in Entscheidungs- und Willensbildungs-                   Peerkontexten bezogen, die im Projekt „Peer-
prozesse“ gefasst wird (Reichenbach 2006: 54).                spezifische Sozialisationsprozesse im Jugendal-
Roger Hart spricht diesbezüglich von der                      ter“ erstellt wurden.2 Gefragt wird außerdem

1
  Ich danke den anonymen Gutachtenden und dem GISo-Herausgeber*innenteam für wichtige Anregungen zu einer
früheren Fassung dieses Beitrages.
2
  Das Projekt „Peerspezifische Sozialisationsprozesse im Jugendalter“ wird seit 2018 am Institut für Erziehungswis-
senschaft der Universität Zürich durchgeführt und durch den Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziell

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                  Seite 1
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

danach, inwieweit diese Entscheidungspraktiken               ganz unterschiedlichen Peergroups angehören,
den aus anderen Untersuchungen bekannten                     dass sie ganz verschiedenartige Beziehungen zu
Entscheidungspraktiken entsprechen, die auf der              Peers etablieren und ein breites Spektrum an In-
Grundlage verbaler Interviewdaten oder ethno-                teraktionsformen mit Peers praktizieren (Harring
grafischer Beobachtungen rekonstruiert wurden.               2010: 33 ff.). In Hinblick auf die Teilhabe im Ju-
Auf diese Weise können die Besonderheiten von                gendalter zeigt sich immer wieder, dass vor allem
Ergebnissen, die mittels dieser verschiedenen                Peers Einfluss darauf haben, an welchen sozia-
methodischen Zugänge erzielt wurden, verglei-                len Kontexten partizipiert wird, d.h. Jugendliche
chend in den Blick genommen werden. Dafür                    machen dann mit, wenn auch ihre Peers dabei
werden im Folgenden sowohl Ergebnisse zu                     sind (Böhm-Kasper 2006: 365).
„Kindern“ als auch solche zu „Jugendlichen“ her-
angezogen, da die relevanten Studien sich vor al-            Soziale Beziehungen zu Peers, die prinzipiell als
lem auf die Altersgruppe im Übergang zwischen                Gleichaltrige oder Gleichrangige verstanden
Kindheit und Jugend beziehen, Altersdifferenzen              werden (Ecarius et al. 2011: 113), gelten vielfach
mitunter nur minimal sind und die verschiedenen              als wichtiges Gegengewicht zu den asymmetri-
Untersuchungen keine einheitlichen Alterskate-               schen Beziehungen, die Kinder und Jugendliche
gorien verwenden, sodass z.B. 12- bis 13-Jäh-                zu Erwachsenen unterhalten. Während ihnen
rige mal als Kinder und dann wieder als                      von Erwachsenen Entscheidungen abgenom-
Jugendliche bezeichnet werden. Im Folgenden                  men werden oder die Entscheidungsmacht zu-
werden zunächst der Forschungs- und Diskussi-                gunsten der Erwachsenen asymmetrisch verteilt
onsstand (1.) sowie das methodische Vorgehen                 ist (Youniss 1980: 24 ff.), können in Peerkontex-
(2.) der Untersuchung, auf die wir uns hier bezie-           ten symmetrische Beziehungen etabliert wer-
hen, skizziert. Anschließend werden die Ergeb-               den, in denen Entscheidungen gemeinsam
nisse zu den Entscheidungsprozessen im                       ausgehandelt werden (ebd.: 31 ff.). Peers gelten
Kontext jugendlicher Peer-Kontexte präsentiert               daher als wichtig, um echte Kooperation zu prak-
(3.) und diskutiert (4.).                                    tizieren und zu erlernen (Sturzbecher/Hess
                                                             2005: 46 f.). Allerdings gibt es auch Zweifel da-
1. FORSCHUNGS- UND DISKUSSIONSSTAND                          ran, dass Peers sich tatsächlich als ebenbürtig
                                                             attribuieren (Eckert et al. 2016: 207), und es wird
Zunächst wird der Forschungs- und Diskussi-                  vermutet, dass Peerbeziehungen durch die den
onsstand in Hinblick auf die Besonderheiten so-              sozialen Kontext strukturierenden Differenzkate-
zialer Beziehungen zu Peers skizziert,                       gorien und entsprechende Hierarchien geprägt
anschließend geht es um Entscheidungspro-                    sind (Adler/Adler 1998; Köhler 2016: 106). Dar-
zesse generell sowie um Aushandlungsprozesse                 über hinaus wird auch betont, dass Symmetrie
im Kontext von Peergroups von Kindern und Ju-                und Gleichheit als Leitprinzipien für Peer-Bezie-
gendlichen.                                                  hungen bedeutsam sind, dass sie aber keine
                                                             Kennzeichnung ihrer alltäglichen Realität dar-
Soziale Beziehungen im Kontext der Peers                     stellen (Krappmann/Oswald 1995: 22).

Im Jugendalter gelten Peers als wichtiger sozialer           Entscheidungsprozesse
Kontext und als Sozialisationsinstanz, der seit
den 1960er-Jahren zunehmend Bedeutung zu-                    Theoretische Konzepte zu Entscheidungen im
geschrieben wird (Ecarius et al. 2011: 113). In-             Gruppenkontext liegen aus unterschiedlichen
zwischen geben die meisten Jugendlichen an,                  Disziplinen und thematischen Kontexten vor und
einer Peergroup anzugehören, und die Peers                   beziehen sich auf diverse Aspekte, z.B. ihre
werden zusammen mit Familienangehörigen von                  Grundlagen, ihre Zielsetzungen und ihre Qualität.
Jugendlichen als wichtigste Bezugspersonen be-               Im Folgenden werden einige dieser Überlegun-
nannt (Böhm-Kasper 2006: 366; Ecarius et al.                 gen skizziert, die für die Aushandlungen in
2011: 114). Dabei zeigt sich, dass Jugendliche

unterstützt. In dem Projekt sind Giovanna Hartmann Schaelli und Silke Jakob als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen
tätig und auch als Forscherinnen im Feld aktiv, die Projektleitung liegt bei Peter Rieker.

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                 Seite 2
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

Gruppen von Kindern und Jugendlichen relevant                zwölfjährigen Kindern konnten drei Strategien
sein könnten.                                                bzw. Muster ermittelt werden: 1) Zwang, Miss-
                                                             achtung, Unterwerfung; 2) Anfrage, Antwort; 3)
Für Kollektiventscheidungen – im Vergleich zu In-            Argumentation,         Begründung          (Krapp-
dividualentscheidungen – haben die Orientie-                 mann/Oswald 1995: 95). Am häufigsten wurde
rung an allgemein akzeptierten Wertmaßstäben                 bei den Kindern das zweite Muster beobachtet,
sowie an den vorgesehenen Verfahrensregeln                   d.h. sie wählten Strategien, die es dem Gegen-
größeren Stellenwert (Glatzmeier/Hilgert 2015:               über ermöglichten, durch Anfragen und Antwor-
14 f.). Die formale Einhaltung gültiger Verfah-              ten eigene Relevanzsetzungen einzubringen.
rensregeln gilt als Voraussetzung für die Legiti-            Argumentative Muster zeigten sich nur sehr sel-
mität von Entscheidungen (Luhmann 2001).                     ten, während Strategien, die mit Zwangsaus-
Zudem gelten klare Zielsetzungen als empfeh-                 übung verbunden waren, in knapp der Hälfte der
lenswert, um geeignete Wege zur Zielerreichung               Aushandlungen festzustellen waren (ebd.: 96).
erkennen und deren Qualität beurteilen zu kön-               Nur in etwa der Hälfte der Aushandlungspro-
nen (van Ophuysen et al. 2015: 175). Empirische              zesse konnte eine von allen Beteiligten akzep-
Untersuchungen zu Entscheidungen im Grup-                    tierte Lösung erzielt werden, während ansonsten
penkontext zeigen allerdings, dass die Zielerrei-            ein Kind dem anderen seinen Willen aufzwang
chung, ungeachtet klarer Zielsetzung, mit                    oder man ohne Resultat auseinanderging (ebd.:
Unsicherheiten behaftet ist, da sich Rahmenbe-               97). Allerdings zeigte sich auch, dass die von den
dingungen ändern oder sich unvorhergesehene                  Kindern praktizierten Aushandlungen von der Art
Wechselbeziehungen ergeben können (ebd.).                    der jeweiligen Beziehung abhängen: „Beste
                                                             Freunde wandten öfter Strategien des zweiten
Darüber hinaus wird deutlich, dass das Ideal ra-             und dritten Musters an und fanden öfter noch zu
tionaler Entscheidungsprozesse, für die mög-                 einer akzeptierten Lösung als Nicht-Freunde“
lichst alle relevanten Informationen systematisch            (ebd.: 104).
berücksichtigt werden (Hellmann/Kopietz 2015:
75), de facto nicht erreicht wird. Entscheidungen            In einem Projekt zur „Partizipation von Kindern
werden vielmehr auf der Basis von Heuristiken                und Jugendlichen“ (Rieker et al. 2016) zeigte
getroffen, für die nur wenige Informationen be-              sich, dass im Kontext der Peers wichtige Impulse
rücksichtigt werden und bei denen Intuition und              für die Teilhabe und die Mitbestimmung Heran-
Bauchgefühl hohen Stellenwert haben (ebd.: 75                wachsender gegeben werden. Die in Interviews
f.; van Ophuysen et al. 2015: 176). Vor allem                befragten zehn- bis zwölfjährigen Mädchen und
dann, wenn Entscheidungen durch soziale Hie-                 Jungen berichteten, dass sie in ihren Peergroups
rarchien und Gruppendruck geprägt sind (Asch                 verschiedene Formen der Mitbestimmung prak-
1951; Janis 1971), gilt ihre Qualität als vermin-            tizieren, die sich von denen unterscheiden, die sie
dert (Glatzmeier 2015: 200). Positive Einflüsse              in erwachsenendominierten Kontexten erleben.
auf die Entscheidungskommunikation verspricht                Dabei werden vor allem folgende Varianten be-
man sich dagegen von der Vermeidung asym-                    schrieben (Rieker im Erscheinen):
metrischer Konstellationen, von der Partizipation
aller Beteiligten und von Transparenz im Ent-                -   Ausführliche Verhandlung: Skizziert werden
scheidungsprozess (van Ophuysen et al. 2015:                     umfassende Prozeduren der Entscheidungs-
188). Es wäre zu prüfen, inwieweit sich diese                    findung, die sich über einen längeren Zeit-
Überlegungen zu Entscheidungsprozessen auf                       raum erstrecken, verschiedene Akteur*innen
die Aushandlungen in Peergroups von Kindern                      einbinden und mitunter verschiedene Ent-
und Jugendlichen beziehen lassen und ob hier                     scheidungsschritte umfassen. Dabei entsteht
Besonderheiten zu beachten sind.                                 der Eindruck, dass der Prozess der Entschei-
                                                                 dungsfindung selbst wichtiger ist als das, wo-
Aushandlungsprozesse in Peergroups von Kin-                      rüber entschieden wird.
dern und Jugendlichen
                                                             -   Spielerische Entscheidungsfindung: Be-
In einer ethnografischen Untersuchung zu Aus-                    schrieben werden dabei auch verschiedene
handlungsprozessen       unter    neun-   bis                    spielerische Entscheidungsvarianten, bei

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                               Seite 3
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

    denen die Entscheidung entweder der Ge-                  wie Entscheidungsprozesse im Rahmen von
    schicklichkeit der Beteiligten oder dem Zufall           Peergroups genau aussehen (Moser 2010: 323).
    überlassen wird.                                         Darüber hinaus fehlen Erkenntnisse dazu, ob und
                                                             inwieweit unterschiedliche Peer-Konstellationen
-   Die gute Idee: Betont wird außerdem, dass                und -Kontexte zu jeweils spezifischen Ausprä-
    sich bei der Entscheidungsfindung jeweils die            gungen von Entscheidungen beitragen. Relevant
    beste Idee durchsetzt, wobei dann, wenn ver-             sein könnten dabei die jeweiligen Geschlechter-
    schiedene gute Vorschläge geäußert werden,               konstellationen, da Peergroups für die Identitäts-
    mitunter darüber abgestimmt wird, welches                entwicklung von Mädchen und Jungen
    nun die beste Idee ist.                                  unterschiedliche Funktionen zuerkannt werden
                                                             (King 2013: 259) bzw. Jungen und Mädchen
-   Ambivalente Hierarchien: Beschrieben wer-                Freundschaften unterschiedlich gestalten (Rein-
    den teilweise auch Ansätze hierarchischer                ders/Mangold 2005), sowie Peer-Konstellatio-
    Strukturen, wobei einzelne Kinder in be-                 nen,     die      sich    durch     je     eigene
    stimmten Fragen Entscheidungsbefugnis er-                Organisationsformen und thematische Fokussie-
    halten. Allerdings wird deutlich, dass diese             rungen auszeichnen (Harring 2010; Scherr
    Entscheidungsbefugnis vorsichtig und im Be-              2010: 75 f.). Im vorliegenden Beitrag wird diesen
    wusstsein ausgeübt wird, dass die Interessen             Fragen in Hinblick auf Praktiken der Entschei-
    der anderen berücksichtigt werden müssen.                dungsfindung nachgegangen, die in Peergroups
    Vereinzelt wird dann auch Ungehorsam und                 Jugendlicher beobachtet werden konnten.
    Verweigerung gegenüber solch hierarchisch
    legitimierten Entscheidungen deutlich.                   2. UNTERSUCHUNGSGRUPPEN UND ME-
                                                             THODISCHES VORGEHEN
Zusammen genommen entsteht damit der Ein-
druck, dass Kinder in ihren Peer-Kontexten vor               Für die Analyse von Entscheidungsprozessen in
allem darum bemüht sind, bei ihren Entscheidun-              Peergroups Jugendlicher wird sich im Folgenden
gen Interessen auszubalancieren, die Entste-                 auf das empirische Material der Studie „Peerspe-
hung von Ungleichheiten zu vermeiden und                     zifische Sozialisationsprozesse im Jugendalter“
Meinungsverschiedenheiten durch Kompro-                      bezogen, wobei die Beobachtungsprotokolle
misse beizulegen. Aus erwachsenendominierten                 herangezogen werden, die im Rahmen ethno-
Kontexten berichten sie dagegen, dass Entschei-              grafischer Feldforschung in verschiedenen Kon-
dungen formalisiert erfolgen (z.B. per Mehrheits-            texten erstellt wurden. Berücksichtigt werden
entscheid), dass sie unter Zeitdruck getroffen               dafür drei Peergroups bzw. Peer-Kontexte, in de-
werden müssen, dass einmal gefällte Entschei-                nen die beiden Forscherinnen über einen Zeit-
dungen nicht mehr revidiert werden können und                raum von mehreren Monaten häufiger präsent
dass es Gewinner*innen und Verlierer*innen                   waren: eine Mädchenband, eine Jungenband so-
gibt, z.B. nach einer Abstimmung (Rieker et al.              wie ein offener Jugendtreff. Diese werden im Fol-
2016: 126 ff.). Vor diesem Hintergrund können                genden kurz vorgestellt:
Entscheidungsprozesse im Kontext der Peers als
Kompensation und als Gegengewicht zu den in                  -   Der Mädchenband gehören in dem zweimo-
der Erwachsenenwelt erlebten Einseitigkeiten                     natigen Beobachtungszeitraum fünf Mäd-
verstanden werden.                                               chen im Alter zwischen 12 und 13 Jahren an,
                                                                 die bereits seit zwei Jahren zusammen Musik
Die skizzierten Ergebnisse machen deutlich, dass                 machen und von einem erwachsenen Musi-
die Beziehungen zu Peers große Bedeutung für                     ker gecoacht werden. Bei zwei der Mädchen
die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen                     wird ein Migrationshintergrund thematisiert.
haben, die sie dabei unterstützen, die Herausfor-                Die Forscherin war sowohl bei den Proben
derungen des Aufwachsens zu bewältigen und                       der Band als auch bei einem Auftritt präsent
in für sie relevanten sozialen Kontexten zu parti-               und hat zeitweise auch selbst verschiedene
zipieren (Adler/Adler 1998). Obwohl diese Be-                    Instrumente gespielt. Sowohl die Proben als
deutung der Peers unbestritten ist, gibt es nur                  auch der Auftritt der Band fanden in einem
wenig Forschung, die Aufschluss darüber gibt,                    Schulhaus in der Stadt Zürich statt.

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                              Seite 4
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

-   Die Jungenband besteht während der einjäh-               Die beiden Forscherinnen nahmen während der
    rigen Beobachtung aus fünf Jungen im Alter               mehrmonatigen Beobachtungszeiträume regel-
    zwischen 12 und 16 Jahren, die zeitweise von             mäßig, z.B. einmal in der Woche für mehrere
    einem erwachsenen Musiker gecoacht wer-                  Stunden, am Gruppengeschehen teil. Bis auf den
    den, dann aber über mehrere Monate hinweg                ersten Termin im offenen Jugendtreff nahm je-
    ohne dessen Begleitung musizieren. Vier die-             weils nur eine Forscherin an einer Beobachtung
    ser fünf Jungen berichten von einem Migrati-             teil – bei den Bands war immer die gleiche For-
    onshintergrund. Die Forscherin hat vor allem             scherin anwesend und im Jugendtreff waren
    die Proben der Band beobachtend begleitet,               beide Forscherinnen präsent, wenn auch nicht
    war hier am Musik machen nicht beteiligt, hat            immer gleichzeitig. Die Beobachtung war als teil-
    aber umfangreiche Unterstützungsleistungen               nehmende Beobachtung angelegt, wobei der
    für die Band erbracht. Die Proben fanden zu-             Zweck der Forscherinnen-Präsenz allen Beteilig-
    nächst an einer Schule, später dann in einem             ten offen gelegt wurde (Breidenstein et al. 2013:
    privaten Probenraum sowie im Rahmen einer                71 ff.). Die Beobachterinnen wurden durch Er-
    Retraite in einem Tagungshaus statt.                     wachsene, die als Bezugspersonen für die Ju-
                                                             gendlichen fungierten, in die Beobachtungs-
-   Der offene Jugendtreff wird von Jugendlichen             kontexte eingeführt, haben dann aber zuneh-
    ab zwölf Jahren frequentiert, wobei sich die             mend eigenständige Kontakte und Interaktionen
    Alterspanne der Besucher*innen bis ins junge             mit den Jugendlichen etabliert (Rieker et al. im Er-
    Erwachsenenalter erstreckt. Bei verschiede-              scheinen). Die Beobachterinnen ließen sich offen
    nen der Jugendlichen werden in den Be-                   auf die Beobachtungskontexte und die ihnen er-
    obachtungen Migrationshintergründe zum                   möglichten Beteiligungen ein, sodass ihre Be-
    Thema. Die Besucher*innen wechseln stän-                 obachtungen, in Abhängigkeit von kontext- und
    dig und ihre Anwesenheit ist sehr unregelmä-             situationsspezifischen Möglichkeiten, durch ganz
    ßig. Verschiedene pädagogische Fachkräfte                unterschiedliche Teilnahme-Konstellationen ge-
    sind in der Einrichtung als Ansprechpart-                prägt waren. Einzelne Aushandlungssequenzen
    ner*innen anwesend. Die beiden Forscherin-               konnten von den Forscherinnen mit Audioauf-
    nen sind in der Einrichtung für ca. neun                 nahmen festgehalten und anschließend transkri-
    Monate präsent.                                          biert werden, ansonsten verfassten sie
                                                             ausführliche Protokolle auf der Grundlage ihrer
Unterschiede zwischen diesen Beobachtungs-                   Feldnotizen. Gegen Ende der Feldaufenthalte
kontexten zeigen sich einerseits in Hinblick auf             wurden zudem Interviews mit den Beteiligten
die Einbindung und den Status der Forscherin-                geführt, die sich am Konzept des problem-
nen: Während sie im Jugendtreff vor allem die                zentrierten Interviews orientierten (Witzel 2000),
Rolle der Beobachterinnen einnahmen und sich                 und es wurden Netzwerkkarten (Holl-
ansonsten auf kleine Unterstützungsleistungen                stein/Strauss 2006) eingesetzt.
und Gespräche sowie die Beteiligung an ge-
meinsamen Spielen beziehen, waren sie bei den                Grundlage der folgenden Analysen sind die Be-
Bands stärker als Unterstützung eingebunden –                obachtungsprotokolle, in die die Transkriptionen
bei den Mädchen war die Forscherin zeitweise                 der Audioaufnahmen ausgewählter Aushand-
sogar vollwertige Teilnehmerin. Andererseits dif-            lungen eingefügt wurden. Berücksichtigt wurden
ferieren die Kontexte auch hinsichtlich ihrer Ver-           insgesamt 20 Beobachtungsprotokolle aus den
bindlichkeit: Der offene Jugendtreff war für die             drei genannten Kontexten. In diesen Protokollen
Jugendlichen ein eher unverbindlicher Treffpunkt,            wurden solche Passagen identifiziert, die für Ent-
dementsprechend war die Fluktuation hoch und                 scheidungsprozesse relevant sind, wobei so-
die Verweildauer der einzelnen Jugendlichen                  wohl Äußerungen oder Aktivitäten einzelner
ganz unterschiedlich; die Bands waren durch                  Jugendlicher als auch komplexere Interaktions-
den Anspruch einer regelmäßigen Teilnahme                    verläufe zwischen verschiedenen Jugendlichen
und gemeinsame Zielsetzungen gekennzeich-                    miteinbezogen wurden. Berücksichtigt wurden
net, wobei die Jungen in ihrer Band sich erkenn-             nur Interaktionen zwischen Jugendlichen, bzw.
bar stärker aufeinander und auf gemeinsame                   solche, an denen Erwachsene nicht bzw. nicht
Konzepte bezogen als die Mädchen.                            entscheidend beteiligt waren. Im Rahmen

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                Seite 5
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

offener Kodierungen wurden diese Sequenzen                   Schlagzeuger will einen neuen Takt proben. Da-
zunächst systematisiert und interpretativ er-                für schaut er sich ein Tutorial auf seinem iPad an
schlossen; anschließend wurde nach Mustern                   und spielt es nach. Diese Übung wiederholt er ei-
und Zusammenhängen zwischen einzelnen Se-                    nige Male. Als er trotz der Anwesenheit der an-
quenzen gesucht (Strauss 2007: 101 ff.).                     deren nicht aufhört, reagiert der Gitarrist genervt.
                                                             Er macht ihn darauf aufmerksam, dass sie eine
3. ERGEBNISSE                                                Band seien und die anderen auch noch da seien.
                                                             „Nur zwei Minuten“, bettelt der Schlagzeuger.
Im Folgenden wird zunächst ein vergleichender                Der Gitarrist beginnt ebenfalls laut zu spielen.
Blick auf die verschiedenen Untersuchungskon-                Daraufhin wirft der Schlagzeuger ihm einen ge-
texte geworfen, wobei deutlich wird, dass diese              nervten Blick zu, da er gerade das Tutorial auf
sich in Hinblick auf den hier relevanten Fokus vor           seinem iPad anhören wollte. (J4, S. 3)
allem in Bezug auf die Verbindlichkeit der be-
obachtbaren wechselseitigen Bezugnahme un-                   Mit Verweis auf den kollektiven Charakter ihres
terscheiden (3.1). Anschließend werden                       gemeinsamen Spiels wird hier eine zweistufige
verschiedene Varianten und Aspekte skizziert,                Sanktion gegen eine als störend wahrgenom-
die in entscheidungsrelevanten Aushandlungen                 mene Einzelaktion deutlich: Nachdem die verbale
deutlich werden (3.2), bevor die Verläufe von                Ermahnung nicht wirkt, erfolgt eine massive
Entscheidungsprozessen betrachtet werden                     akustische Intervention, die es dem Schlagzeu-
(3.3). Abschließend geht es um den Stellenwert               ger verunmöglicht, sein Vorhaben auszuführen.
von Ungleichheiten und Hierarchien für die hier              Diese Intervention ist durch das Commitment der
betrachteten Aushandlungen (3.4).3                           Gruppe offenbar gedeckt, denn sie führt im wei-
                                                             teren Verlauf dazu, dass die Band wieder zusam-
3.1 Verschiedene Untersuchungskontexte                       men spielt.

In den Peergroups der beiden Bands, die auf ein              Während unkoordinierte Einzelaktionen in der
gemeinsames Ziel hinarbeiten und in denen                    Jungenband häufiger als bei den Mädchen zum
Handlungen miteinander koordiniert werden                    Gegenstand expliziter Aushandlungen werden,
müssen, zeigt sich eine größere Aushandlungs-                führt die Organisation der Mädchenband dazu,
dichte als in dem offenen Jugendtreff. Während               dass hier spezifische Aushandlungen notwendig
die Bands beispielsweise entscheiden müssen,                 werden, die sich bei den Jungen nur selten zei-
welche Lieder in welcher Reihenfolge in welcher              gen. Diese Aushandlungen sind notwendig, da
Weise gespielt werden, kann im Jugendtreff häu-              die Mädchen keine dauerhafte Verteilung der In-
figer ein Nebeneinander verschiedener, nicht                 strumente vereinbart haben. Dementsprechend
aufeinander bezogener Aktivitäten festgestellt               wird bei jedem Lied erneut verhandelt, wer wel-
werden. Wenn sich in einer der Bands Aktivitä-               chen Part übernimmt. Bei einer der Proben no-
ten Einzelner ohne Bezugnahme auf die Anderen                tiert     die     Forscherin      entsprechende
beobachten lassen, dann handelt es sich in der               Aushandlungen bei verschiedenen Gelegenhei-
Regel um Aktionen von begrenzter Dauer oder                  ten: „Wieder wird diskutiert, wer wo mitsingt“
diese werden zum Gegenstand von Aushand-                     (M7, Z. 112); „Es wird weiter diskutiert, wer was
lungen. Während solche Einzelaktionen in der                 macht. Alle scheinen unsicher zu sein, wer wel-
Mädchenband nahezu an der Tagesordnung                       che Instrumente spielt“ (M7, Z. 162); „Es scheint
sind und häufig toleriert werden, werden sie in              ein Markenzeichen dieser Band zu sein, dass im-
der Jungenband seltener geduldet.                            mer diskutiert werden muss, wer was bei wel-
                                                             chem Lied spielt“ (M7, Z. 245). Bei einigen dieser
Im Übungsraum probt der Schlagzeuger. Der                    Aushandlungen entsteht der Eindruck, dass es
Sänger kommt hinzu und bald folgen auch die                  den Mädchen darum geht, ihre eigenen
anderen. Sie beginnen zu spielen. Der

3
  Im Folgenden werden Zitate und Verweise aus unserer Untersuchung präsentiert, wobei in Klammern jeweils ange-
geben wird, auf welches Protokoll Bezug genommen wird. Die Angaben beziehen sich auf den Kontext und die Pro-
tokollnummer (J – Jungenband, M – Mädchenband, O – offener Jugendtreff) sowie die Seiten- oder Zeilennummer im
jeweiligen Protokoll.

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                Seite 6
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

Interessen durchzusetzen, bei anderen Gelegen-               Melody widerspricht und schlägt vor, alle Lieder
heiten scheinen sie durch eine allgemeine Orien-             mit Klavier einmal durchzusingen und dann das
tierungslosigkeit notwendig zu werden. Es kann               zu machen, was Netta vorgeschlagen hat. Netta
hier festgehalten werden, dass je nach Situation             ist damit einverstanden und fragt noch etwas
sowohl der Verstoß gegen Vereinbarungen als                  nach. Melody schlägt vor Lied 1 und Lied 2 zu
auch das Fehlen fester Regeln oder zugewiese-                üben. Die Gruppe ist damit einverstanden. (M4,
ner Rollen in Peergroups Jugendlicher Aushand-               Z. 182)
lungs- und Entscheidungsprozesse notwendig
machen können.                                               Es wird deutlich, dass Fragen und Vorschläge,
                                                             die offen formuliert sind oder auf ein bestimmtes
3.2 Varianten der Aushandlung und Entschei-                  Ergebnis abzielen, geeignete Mittel sind, um eine
dungsfindung                                                 Entscheidung herbeizuführen oder im eigenen
                                                             Sinne zu beeinflussen. Verschiedentlich müssen
Durch die Datenanalyse konnten in den unter-                 allerdings erst Gegenargumente entkräftet oder
suchten Settings diverse Varianten der Entschei-             überstimmt bzw. Kompromisse gefunden wer-
dungsfindung identifiziert werden.                           den, bevor ein Einverständnis erreicht werden
                                                             kann. Dabei zeigt sich, dass die Chancen, die ge-
Vorschläge, Fragen und argumentative Aus-                    wünschte Entscheidung zu erreichen, in den
handlungen                                                   Peergroups in etwa gleich verteilt sind, d.h. dass
                                                             nicht die Vorschläge der einen häufiger als die
Aushandlungen sind zum Teil diskursiv organi-                der anderen zu einer Entscheidung beitragen –
siert und bedienen sich argumentativer Strate-               allerdings gab es in allen Kontexten Jugendliche,
gien.     Auch       Jugendliche     weisen       im         die häufig Vorschläge machten, und solche, die
Zusammenhang mit Entscheidungsprozessen                      dies selten taten.
auf die Bedeutung guter Argumente hin (Rieker
im Erscheinen). Dementsprechend lassen sich                  Einzelaktion
Elemente solch diskursiver Strategien auch im
Kontext von Peergroups beobachten. In allen un-              Immer wieder werden Entscheidungen dadurch
tersuchten Gruppen werden Entscheidungen                     herbeigeführt, dass ein*e Jugendliche*r eine Ak-
häufiger dadurch vorbereitet, dass Vorschläge o-             tion startet, die auch andere betrifft, ohne dies
der Fragen formuliert werden. „Melody schaltet               zuvor mit den Betroffenen abzuklären. Im offe-
sich ein und fragt, ob sie ein anderes Lied spielen          nen Jugendtreff zeigt sich dies regelmäßig in
können“ (M2, Z. 338); „‚Was mache ma?‘ fragt                 Hinblick auf die Musik, mit der der gesamte Raum
der Gitarrist“ (J1, S. 2); „Der Keyboarder fragt, ob         mitunter sehr laut beschallt wird. Häufiger wird
sie noch was spielen wollen“ (J1, S. 2). Solche              durch das Anspielen eines Liedes das zuvor ge-
Vorschläge ziehen in den beobachteten Sequen-                spielte Lied unterbrochen und ein ganz anderer
zen ganz unterschiedliche Entscheidungspro-                  Musikstil ins Spiel gebracht. Auch die Aktivitäten
zesse nach sich. In einigen Fällen werden sie                anderer Jugendlicher werden dadurch beein-
verbal bestätigt und dann umgesetzt oder – falls             trächtigt oder verunmöglicht:
sie eine konkrete Aktion anregen – auch gleich
umgesetzt; in anderen Fällen werden sie igno-                Nun ertönt auf einmal recht laut andere Musik.
riert oder zurückgewiesen. Dabei wird deutlich,              Der Junge mit den Locken hebt seine Hände an
dass Vorschläge, die darauf abzielen, für sich               die Ohren und zieht seine Schultern nach oben.
selbst etwas zu erreichen, eher auf wenig be-                […] Ich frage ihn, ob er sich erschreckt hat. Er be-
geisterte und zögerliche Reaktionen stoßen:                  jaht und sagt, dass es ganz schön laut ist. Auch
„Nach dem Dialog sagt der Schlagzeuger zum                   das Klavierspiel des anderen Jungen wird nun
Gitarristen gewandt: ‚Darf ich mal anfangen?‘ Der            übertönt. (O3, S. 2)
Gitarrist zuckt mit den Achseln und nickt“ (J1, S.
3). Demgegenüber erreichen Vorschläge, die die               Deutlich wird in dieser Passage, dass das neue
Positionen anderer berücksichtigen, in der Regel             Lied in das Wohlbefinden und die Aktivitäten an-
höhere Akzeptanz:                                            derer Jugendlicher eingreift, so wie dies auch
                                                             durch die Taktprobe des Schlagzeugers im oben

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                Seite 7
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

skizzierten Beispiel zu beobachten war. Nur sel-             zusammen die Probe früher verlässt (M2, Z.
ten lassen sich im Jugendtreff dann allerdings               487). Anweisungen, Befehle und Drohungen be-
Reaktionen beobachten, in denen explizit auf die             einflussen die Aushandlungs- und Entschei-
Gruppe und das gemeinsame Wohl verwiesen                     dungsprozesse Jugendlicher maßgeblich, da sie
wird. Zumeist werden solche Einzelaktionen ge-               zumeist befolgt werden. Lediglich offenkundig
duldet bzw. entziehen Jugendliche sich durch                 unbegründete Befehle, werden ignoriert: „Tanya
das Verlassen des Raums der Situation oder                   befiehlt Fannie, ihren Pullover auszuziehen; auf
ihnen wird mit Verweis auf eigene Interessen                 ihre Frage ‚Warum?‘ erhält sie keine Antwort und
verbal oder nonverbal entgegengetreten – indem               ignoriert den Befehl in der Folge“ (M5, Z. 206).
z.B. darum gebeten wird, die Musik leiser zu ma-
chen, oder versucht wird, andere Musik noch lau-             Spielerische Entscheidungsvarianten
ter zu machen. Bemerkenswert erscheint, dass
solche Einzelaktionen relativ erfolgreich sind und           In Situationen, in denen eine Entscheidung ge-
zumindest für einen gewissen Zeitraum das Ge-                troffen werden soll (z.B. über das nächste zu
schehen bestimmen.                                           spielende Lied), zeigen sich nicht immer die oben
                                                             skizzierten Varianten, sondern es werden teil-
Anweisungen, Befehle und Drohungen                           weise Nebenschauplätze eröffnet, über die dann
                                                             spielerisch Entscheidungen getroffen werden.
Vergleichsweise selten lässt sich beobachten,                Mitunter macht das Geschehen auf diesem Ne-
dass Jugendliche solch massive Interventionen in             benschauplatz den Beteiligten erkennbar Spaß,
ihren    Aushandlungen      verwenden.     Ver-              wird in die Länge gezogen und die anstehende
schiedentlich scheinen sie Ausdruck ungleicher               Entscheidung gerät in den Hintergrund. In eini-
Macht- oder Kräfteverhältnisse zu sein oder sie              gen Fällen dient diese Nebenaktivität erkennbar
werden eingesetzt, um eine soziale Hierarchie zu             der spielerischen Entscheidungsfindung in Hin-
etablieren oder zu bestätigen. In den Aufzeich-              blick auf die offizielle Aktivität, d.h. die Band-
nungen findet sich eine Szene, die eine physi-               probe. In anderen Fällen verliert die anstehende
sche Drohung beinhaltet:                                     Entscheidungsfindung ihre Relevanz, besonders
                                                             dann, wenn sich Rollenspiele entwickeln, die sich
Es gibt nur noch zwei frei Stühle im Raum. Andi              in den beobachteten Settings verschiedentlich
und Bernd setzen sich auf diese Stühle. Viktor               beobachten ließen.
steht und sagt immer wieder zu Andi „Verpiss
Dich.“ – er sagt das mehrere Male und kommt                  Netta läutet die Glocke, die auf dem Pult steht.
Andi dabei körperlich sehr nahe. Andi steht auf,             Sie würde jetzt mal den Herr XY (Name des Leh-
Viktor setzt sich. Andi und Bernd gehen aus dem              rers) spielen. „Ruhe bitte!“ ruft Tanya mit hoher
Büro, Viktor folgt nach einiger Zeit. (O4, S. 1)             Stimme. […] Netta beginnt den Lehrer nachzuma-
                                                             chen und geht dafür zum Lehrpersonenpult.
Der Verlauf dieser Interaktion legt nahe, dass es            Tanya singt laut, wobei sie von Yaron mit einem
hier vor allem darum ging, die ungleichen Kräfte-            „Schhhht!“ unterbrochen wird. Netta würde nun
verhältnisse zu bestätigen, und weniger um den               den Herrn Meier nachmachen, kommentiert er.
Sitzplatz. Auch in anderen Situationen, in denen             Netta klingelt an der Tischglocke und ruft die
Anweisungen oder Befehle gegeben werden,                     Schülerschaft zur Ruhe. Dabei erklärt sie, wenn
befolgen die adressierten Jugendlichen diese zu-             zweimal geklingelt wird, sei die Pause oder
meist, auch wenn sie massiv in ihre Autonomie                Stunde fertig, und wenn der Lehrer einmal klin-
eingreifen. So wird einer der Musiker, der die               gelt, ist gemeint, dass sie ruhig sein sollen. Die
Bandprobe früher verlassen will, angewiesen, bis             anderen amüsieren sich. Netta setzt noch einen
zum Schluss der Probe dabei zu bleiben. Er leis-             drauf und sagt nun mit tiefer lauter Stimme: „Also
tet dieser Anweisung schließlich Folge, obgleich             jetzt für die restlichen zehn Minuten ist Stillarbeit!
seine kleine Schwester unbeaufsichtigt zuhause               Ich möchte keine Zwischengespräche mehr se-
ist (J3, S. 9). Und eine der Musikerinnen der Mäd-           hen. So!“ (M4, Z. 71)
chenband wird von ihrer Freundin zunächst ver-
bal aufgefordert und schließlich am Arm gepackt              Indem eines der Mädchen die Rolle der Lehrper-
und von der Bühne gezogen, damit sie mit ihr                 son übernimmt und dies mit dem Läuten der

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                                  Seite 8
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

Glocke unterstreicht, signalisiert sie den An-               Einfache vs. komplexe Entscheidung
spruch, über die Gestaltung der Situation zu ent-
scheiden. Einerseits amüsieren die anderen                   Während mitunter ein Vorschlag, eine Aktion o-
Beteiligten sich über diese Rollenübernahme, an-             der eine Anweisung zeitnah akzeptiert und um-
dererseits akzeptieren sie sie nicht nur, sondern            gesetzt wird, zeigen sich in anderen Situationen
bestätigen sie durch Ermahnungen, leise zu sein.             mehrstufige Entscheidungsprozesse. Beispiels-
Obgleich in dieser Gruppe Entscheidungen und                 weise muss ein Vorschlag mehrfach wiederholt
Entscheidungskompetenzen immer wieder neu                    werden, weil er zuvor nicht gehört oder ignoriert
verhandelt werden, wird hier die mit der Rolle der           wurde, oder die Zurückweisung eines Vorschla-
Lehrperson assoziierte Entscheidungskompe-                   ges erfordert eine argumentative Unterfütterung,
tenz nicht angezweifelt. Erst später bricht ein              bevor dieser Akzeptanz findet oder durchgesetzt
Streit darüber aus, wer eigentlich die Lehrperson            werden kann. Dabei können ausführliche Argu-
sei und entscheiden dürfe. Während der Vor-                  mentationen und Gegenargumentationen entwi-
schlag zu diesem Rollenspiel sowie die in der                ckelt werden, in deren Ergebnis entweder einer
Rolle des Lehrers geäußerten Anweisungen be-                 der Vorschläge akzeptiert, ein Kompromiss ge-
reitwillig akzeptiert werden, kommt es dann zum              funden oder gar keine Entscheidung getroffen
Streit, als Netta ihre Entscheidungsbefugnis auf             wird, indem die Aufmerksamkeit z.B. auf ein an-
die Gestaltung des Bandgeschehens zu übertra-                deres Thema gelenkt wird.
gen versucht, d.h. die aus dem Geschehen auf
dem Nebenschauplatz resultierende Position                   Einbeziehung anderer
kann nicht immer auf einen anderen Kontext
übertragen werden.                                           Vielfach werden Entscheidungen, die die ge-
                                                             samte Gruppe betreffen, durch zwei Akteur*in-
3.3 Konstellationen von Entscheidungsprozes-                 nen ausgehandelt und dann durch die Gruppe
sen                                                          bestätigt oder umgesetzt. Es ließ sich aber auch
                                                             beobachten, dass sich im Verlauf des Aushand-
In den Beobachtungsprotokollen finden sich ver-              lungsprozesses andere Akteur*innen einmi-
schiedene Konstellationen von Aushandlungen                  schen und dass sich durch diese Einmischung die
zur Entscheidungsfindung, denen allerdings ge-               Kräfteverhältnisse verändern. Dies kann im Rah-
meinsam ist, dass sich die Gruppen schließlich               men einer sachlichen Argumentation geschehen
auf ein gemeinsames Vorgehen einigen. Unter-                 – „Sloan geht sofort auf ihren Vorschlag ein und
schiede finden sich in verschiedener Hinsicht:               unterstützt ihn“ (M3, Z. 167) – oder in emotional
                                                             hoch aufgeladener Weise:
Implizite vs. explizite Einigung
                                                             Der Sänger […] schaut das Handy an und fragt
In einigen Fällen sind in den Protokollen keine ex-          dann in Richtung Gitarrist, ob es hier keinen
pliziten Bestätigungen einer Entscheidung zu                 Empfang gäbe. „Kollege, das ist nicht wichtig“,
finden, sondern diese Entscheidungen scheinen                mault ihn der Schlagzeuger an. Der Sänger wehrt
einfach einseitig getroffen, werden von einer an-            sich und schaut weiterhin verzweifelt auf sein
deren Seite aber nicht in Frage gestellt und damit           Handy. Dann hebt er es Richtung Decke. „Tu‘s
implizit bestätigt („Der Schlagzeuger hört auf zu            weg“, schreit jetzt der Schlagzeuger. „Es könne
spielen, die anderen Bandmitglieder hören da-                aber wichtig sein“, sagt der Sänger. Fast im Chor
raufhin ebenfalls auf“; J2, 2). Allerdings kann nicht        schreien ihn die anderen an: „Tu‘s Handy weg!“
ausgeschlossen werden, dass diese Entschei-                  (J3, S. 8)
dungen durch nonverbale Signale bestätigt wur-
den („der Bassist nickt“; J2, 4), die nicht in jedem         In dieser Sequenz beziehen die anderen durch
Fall notiert wurden. In anderen Fällen ist ein Ein-          ihre Einmischung vehement Stellung zur Position
verständnis deutlich sichtbar, z.B. durch verbale            des Schlagzeugers und schaffen damit ein Über-
Bestätigung, und im Protokoll entsprechend no-               gewicht in Bezug auf dessen Haltung, die vor al-
tiert.                                                       lem durch die Lautstärke und die Entschiedenheit
                                                             der Äußerung die Situation entscheidend prägt.
                                                             Mitunter werden andere auch explizit

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                             Seite 9
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

aufgefordert, sich einzumischen, da man sich von             3.4 Ungleichheiten und Hierarchien in Entschei-
ihnen eine Unterstützung der eigenen Position                dungsprozessen
erhofft: „Laut und genervt dreht sich nun Tanya
um und brüllt zu Yaron: ‚Mann, sag doch was!‘“               Die Jugendgruppen, die im Rahmen der vorlie-
(M4, Z. 214).                                                genden Untersuchung beobachtet wurden, sind
                                                             durch mannigfaltige Ungleichheiten gekenn-
Fortsetzung folgt                                            zeichnet, die sich in ihren Entscheidungsprozes-
                                                             sen widerspiegeln. In allen beobachteten
Durch den längsschnittlichen Untersuchungsan-                Kontexten zeigen sich dabei Konstellationen, die
satz ist es möglich, zu erkennen, dass der Verlauf           als Ausdruck verfestigter Unterschiede gedeutet
von Aushandlungsprozessen mitunter erst vor                  werden können:
dem Hintergrund früherer Aushandlungen ver-
ständlich wird. Die auf den ersten Blick erstaun-            -   Die Mädchenband wird durch zwei Freundin-
liche Vehemenz, mit der dem Gitarristen in der                   nenpaare dominiert, bei denen jeweils eine
oben zitierten Sequenz der Gebrauch seines                       dominant ist und Entscheidungen häufiger
Handys untersagt wird – sind doch Handys und                     vorgibt, während die andere sich vor allem als
deren Gebrauch auch in dieser Gruppe allgegen-                   Unterstützerin der Freundin präsentiert.
wärtig –, erschließt sich durch die Einbeziehung
vorangegangener Passagen. Häufiger war der                   -   Die Jungenband zeichnet sich durch eine Hie-
Sänger zuvor bereits durch verbale oder nonver-                  rarchie aus, die sich stark an der Geschichte
bale Zeichen an seine Einsätze erinnert worden,                  der Band orientiert. Während diejenigen, die
während er mit seinem Handy beschäftigt war.                     schon länger dabei sind, häufiger eine Vor-
Eine ähnliche Vorgeschichte lässt sich auch in                   machtstellung für sich in Anspruch nehmen
Hinblick auf einen anderen Vorfall bei der Jun-                  und auch Entscheidungen beeinflussen, be-
genband erkennen:                                                anspruchen diejenigen mit kürzerer Bandge-
                                                                 schichte seltener Entscheidungsmacht bzw.
Zwei aufeinanderfolgende Proben werden durch                     sie werden in ihren Bemühungen eher „gede-
den Sänger beendet, indem er dem Bassisten                       ckelt“.
bedeutet, dass sie nun gehen müssen. Bei der
ersten dieser Gelegenheiten wird der frühzeitige             -   Im offenen Jugendtreff zeigen sich in Hinblick
Abbruch der Probe von den anderen stillschwei-                   auf Entscheidungsprozesse ebenfalls Un-
gend hingenommen, beim zweiten Mal zeigt der                     gleichgewichte zwischen den beteiligten Ju-
Schlagzeuger seine Unzufriedenheit: „Der                         gendlichen, allerdings kommen diese in den
Schlagzeuger meckert. Warum sie schon gehen                      Protokollen weniger verfestigt zum Ausdruck
müssen, will er wissen“ (J2, S. 6). Zwei Wochen                  – was mit der in diesem Kontext hohen Fluk-
später wird der Abbruch einer weiteren Probe                     tuation von Jugendlichen zusammenhängen
nicht mehr geduldet. Nach einer aufgeregten                      dürfte.
Diskussion wird vom Gitarristen abschließend
verfügt: „Dann kannst du jetzt nicht einfach ab-             In allen drei Kontexten zeigen sich in Hinblick auf
hauen, du gehst um acht!“ – was vom Sänger und               die Einbindung in Entscheidungsprozesse indivi-
vom Gitarristen auch akzeptiert wird. (J3, S. 9)             duelle Unterschiede, die jeweils nur in spezifi-
                                                             schen Situationen relevant werden. Diese
Auch in anderen Situationen und Kontexten zeigt              Differenzen lassen sich mit der unterschiedlichen
sich immer wieder, dass im Rahmen von Aus-                   Ressourcenausstattung der Beteiligten in Ver-
handlungsprozessen auf Vergangenes Bezug                     bindung bringen. Eine Ressource in diesem
genommen wird, sei es um bestimmte Entschei-                 Sinne kann die Verfügungsgewalt über einen
dungen auf diese Weise zu legitimieren, sei es –             Schlüssel sein, die ein Bandmitglied deswegen
wie oben deutlich wurde –, um einen Ausgleich                hat, da es den Übungsraum über den eigenen
für wahrgenommene Einseitigkeiten zu errei-                  Bruder organisiert hat. Auch die jeweiligen musi-
chen.                                                        kalischen Fähigkeiten können in den Bandkon-
                                                             texten als Ressource zur Verfügung stehen. In
                                                             altersgemischten Kontexten wirkt mitunter ein

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                              Seite 10
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

höheres Alter als entscheidungsrelevante Res-                die jeweiligen Situationen sowie an das Verhal-
source. Im offenen Jugendtreff zeigt sich bei einer          ten in diesen Situationen gebunden. Und auch
Gelegenheit die Relevanz einer anderen Res-                  dann, wenn stabilere Ungleichgewichte beo-
source.                                                      bachtet wurden, zeigte sich immer wieder, dass
                                                             Entscheidungsmacht in Frage gestellt wurde und
Auch Ronny fällt auf. Er ist ein klein wenig grös-           dass sich die Kräfteverhältnisse in Aushand-
ser, lauter und kräftiger als die anderen. Als wir           lungsprozessen veränderten.
rein kommen, ist er derjenige, der fragt, wer wir
seien. (O1-1, Z. 48)                                         4. DISKUSSION UND FAZIT

Ronny schrie einmal quer durch den Raum, ein                 Die vorgestellte Untersuchung zu Aushand-
Junge solle ihm den Apfel holen – und aus dem                lungs- und Entscheidungsprozessen, die hier als
Augenwinkel sehe ich, wie ein Junge daraufhin                spezielle Aspekte von Partizipation verstanden
sich in die Richtung der Obstschale, die auf dem             werden, bestätigt vorliegende Befunde hinsicht-
Bartresen steht, bewegt. (O1-2, Z. 36)                       lich verschiedener Varianten solcher Prozesse in
                                                             Peergroups Heranwachsender. Entscheidungen
In diesen Beobachtungen erweist sich bei Ronny               werden demnach durch Fragen und Vorschläge,
eine gewisse Extrovertiertheit in Kombination mit            im Rahmen von Argumentationen mit Verweis
körperlicher Stärke als wichtige Voraussetzung               auf gute Gründe sowie durch Anweisungen und
dafür, dass ein anderer Junge bereit ist, ihm einen          Befehle und auch im Rahmen spielerischer Ent-
Apfel zu bringen. Während wir im offenen Ju-                 scheidungsprozesse beeinflusst und herbeige-
gendtreff auch bei anderer Gelegenheit (s.o.) ge-            führt (Krappmann/Oswald 1995; Rieker im
sehen haben, dass körperliche Stärke in                      Erscheinen). Über solch verbale Aushandlungen
Aushandlungsprozessen relevant gesetzt wird,                 hinaus ließ sich ebenfalls beobachten, dass Ent-
zeigte sich dies in den Bandkontexten nicht –                scheidungen nonverbal herbeigeführt werden,
wohl auch deswegen, da man in diesen Kontex-                 indem eine der Akteur*innen einfach handelt und
ten auf andere Ressourcen zurückgreifen konnte.              damit     entscheidungsrelevante        Tatsachen
                                                             schafft. Mitunter werden Entscheidungen auch
Neben diesen Ressourcen wirken sich offenbar                 dadurch herbeigeführt, dass Druck oder Zwang
auch das soziale Engagement und die Bereit-                  auf Einzelne ausgeübt wird. Aushandlungen, die
schaft, Verantwortung zu übernehmen, auf die                 durch einseitige Aktivitäten geprägt sind, werden
Stellung einer Person in entscheidungsrelevan-               von Heranwachsenden in Interviews ebenso
ten Aushandlungsprozessen aus. Nicht verwun-                 wenig genannt, wie die mit Zwang und Befehlen
derlich erscheint, dass bei der Mädchenband                  assoziierten Varianten (Rieker im Erscheinen).
häufig Melody eine besondere Entscheidungs-
macht zuerkannt wird (z.B. wenn es um das Pro-               Im Vergleich mit anderen Untersuchungen müs-
gramm der Band beim nächsten Auftritt geht),                 sen allerdings die durch das Datenmaterial impli-
schließlich ist sie es, die konstruktive Vorschläge          zierten Möglichkeiten und Einschränkungen
macht, dabei die Interessen der anderen im Blick             berücksichtigt werden. Ethnografische Beobach-
hat und auch bereit ist, unliebsame Aufgaben zu              tungsprotokolle beschränken sich auf die den
übernehmen (M5, Z. 467). Und bei den Vorberei-               Beobachtenden zugänglichen Eindrücke und
tungen zu einem Fest des offenen Jugendtreffs                lassen nicht immer direkte Rückschlüsse auf die
wird Sara die Position einer Chefin zuerkannt,               subjektiven Orientierungen der Akteur*innen zu.
wohl auch deswegen, da sie sich ohne Unterlass               Dem gegenüber ermöglichen sie einen Zugang
engagiert und anstehende Arbeiten übernimmt                  zu den sozialen Praktiken und mitunter auch zu
(O1, Z. 102).                                                den wechselseitigen Bezugnahmen, die diese
                                                             prägen. Wenn Beobachtungen – wie in der vor-
Es ist nun allerdings nicht so, dass die beobach-            liegenden Untersuchung – über längere Zeit-
teten Aushandlungsprozesse durch die skizzier-               räume realisiert werden können, verfügen wir
ten     Ungleichheiten     bzw.    hierarchischen            damit über verlässliche Hinweise auf soziale
Elemente determiniert wären. In einigen Fällen               Konstellationen, aus denen heraus soziale Prak-
sind ungleiche Entscheidungskompetenzen an                   tiken gestaltet werden. Sie beschränken sich

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                            Seite 11
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

nicht auf die im Bewusstsein präsenten und ex-               Aushandlungen und solche, die nur durch Zwang
plizit mitgeteilten Aspekte und dürften auch we-             zustande kommen, seltener sind. Der höhere An-
niger durch soziale Erwünschtheit geprägt sein               teil einvernehmlicher Entscheidungen lässt sich
als z.B. Interviewäußerungen. Dies deutet darauf             dabei nicht nur durch Freundschaft erklären
hin, dass wir auf ethnografische Beobachtungen               (ebd.: 104), sondern er scheint ebenfalls Aus-
angewiesen sind, um implizite und auch sozial                druck der Verbindlichkeit zu sein, die in beiden
weniger akzeptierte Aushandlungsvarianten zu                 Gruppen – wenn auch unterschiedlich – ausge-
erkennen.                                                    prägt ist: Im Unterschied zur offenen Jugendar-
                                                             beit, wo für die Jugendlichen gemeinsame
Allgemein zeigt sich, dass Jugendliche ganz ver-             Wertmaßstäbe und Verfahrensregeln (Glatz-
schiedenen Peergroups angehören und dass                     meier/Hilgert 2015: 14 f.) nur begrenzt relevant
diese Gruppen unterschiedliche Bedeutungen                   sind, haben die Bands Vereinbarungen zum Ort,
für die Beteiligten haben (Harring 2010). In den             zur Dauer und zum Ziel ihrer Treffen getroffen,
beobachteten Kontexten bzw. Jugendgruppen                    und auch die Frage, wer hier Zugang hat, ist klar
zeigten sich sowohl Differenzen in Hinblick auf              geregelt. Allerdings ist auch zu beobachten, dass
den ethnisch-kulturellen Hintergrund als auch                Aushandlungen, z.B. durch spielerische Aktivitä-
auf das Geschlecht der Beteiligten. Es erscheint             ten, auf eine andere Ebene verschoben werden.
allerdings unzulässig, die beobachteten Aus-                 Aus der Perspektive zielstrebig denkender Er-
handlungs- und Entscheidungsprozesse vor al-                 wachsener erscheint dies als ergebnislose Aus-
lem auf diese sozialen Zugehörigkeitskategorien              handlung, während dies aus Sicht der
zurückzuführen (Adler/Adler 1998; Köhler 2016)               Heranwachsenden auch anders gedeutet wer-
und z.B. die Differenzen zwischen Mädchen-                   den kann: Genau genommen verschieben Kinder
und Jungenband lediglich als Ausdruck ihrer Ge-              und Jugendliche durch solche Aktivitäten ihre
schlechtszugehörigkeit zu deuten. Vielmehr zeigt             Relevanzsetzungen und können gerade dadurch
sich, dass die einzelnen Gruppen jeweils spezifi-            auch Entscheidungsprozesse gestalten.
sche Aushandlungskulturen ausgeprägt haben,
die vor allem mit dem jeweiligen Kontext in Ver-             Gezeigt hat sich darüber hinaus aber auch, dass
bindung zu stehen scheinen, in denen unter-                  Entscheidungsprozesse nicht nur an situative
schiedliche Grade der Verbindlichkeit in der                 Faktoren gebunden sind, sondern auf vorange-
wechselseitigen Bezugnahme festzustellen sind.               gangene Aushandlungen Bezug nehmen und
Diese unterschiedlich ausgeprägte Verbindlich-               diese bestätigen oder korrigieren können. Um
keit dürfte es vor allem sein, die zu den Unter-             solche Bezüge zu erkennen, braucht es eine
schieden zwischen den Gruppen in Hinblick auf                Längsschnittperspektive, d.h. die Begleitung ju-
dort jeweils zu beobachtende Aushandlungs-                   gendlicher Peergroups über einen gewissen
und Entscheidungsprozesse beiträgt. Mit ethno-               Zeitraum. Teilweise bestätigt werden konnten
grafischen Studien, die nur den Kontext einer o-             dadurch solche Ergebnisse, die auf den prekären
der ähnlicher Gruppen fokussieren, können                    Charakter von Hierarchien verweisen (Rieker im
solche Unterschiede nicht erkannt werden.                    Erscheinen). Regelmäßig zeigte sich, dass Ju-
                                                             gendliche sich in ihren Peergroups unterschied-
In Hinblick auf Aushandlungen unter Kindern                  lich in Entscheidungsprozessen einbringen
wurde festgestellt, dass diese häufig ohne Er-               (können). Aber auch solche Ungleichheitsrelatio-
gebnis bleiben bzw. durch Zwang einseitig ent-               nen, die sich in verschiedenen Situationen be-
schieden werden (Krappmann/Oswald 1995).                     obachten ließen, konnten durch fluide
Vergleichbares zu diesen im Kontext der Schule               Beziehungskonstellationen abgelöst werden, in
erzielten Ergebnissen zeigt sich in unserer Unter-           denen die Entscheidungsmacht variierte und in
suchung am ehesten in der offenen Jugendarbeit,              denen entscheidungsmächtige Akteur*innen
wo die Beteiligten sich aus dem Weg gehen kön-               nicht vor Widerstand und Rebellion gefeit waren.
nen bzw. ganz weg bleiben können und wo wie-                 Es waren demnach weniger zementierte Macht-
derholt Entscheidungen mittels körperlicher                  verhältnisse, die zu ungleichen Anteilen an der
Dominanz herbeigeführt werden. Demgegen-                     Entscheidungsmacht beitrugen, sondern wich-
über zeigt sich vor allem in den hier untersuchten           tige Beiträge zum Gruppenleben sowie
Band-Kontexten,          dass         ergebnislose

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                            Seite 12
ZEITSCHRIFT FÜR SOZIALISATIONSFORSCHUNG

Bemühungen um die Einbindung und das Wohl                    Vorstellungen, die von der Gleichrangigkeit von
der anderen Beteiligten.                                     Peers ausgehen (Youniss 1980) müssen aller-
                                                             dings relativiert werden (Krappmann/Oswald
In Hinblick auf die oben skizzierten Konzeptionen            1995). Im Kontext von Peergroups lassen sich
von Entscheidungsprozessen verweisen unsere                  unterschiedliche Positionen beobachten, die mit
Ergebnisse auf einige Besonderheiten. Deutlich               ungleicher Entscheidungsmacht verbunden sind.
wird ein breites Spektrum an Entscheidungsvari-              Allerdings erleben Jugendliche, dass etablierte
anten, das über die Fokussierung auf rationale               Ungleichgewichte in Hinblick auf die Entschei-
Entscheidungen in überschaubaren Kontexten                   dungsmacht in Frage gestellt und erfolgreich ver-
hinausweist. Relevant sind, wie auch an anderer              ändert werden können. Insofern bestätigen die
Stelle mitgeteilt (Hellmann/Kopietz 2015: 75 f.;             referierten Ergebnisse die Position interaktionis-
van Ophuysen et al. 2015: 176), der hohe Stel-               tischer Sozialisationstheorien und unterstreichen
lenwert emotionaler Aspekte für Gruppenent-                  den Aushandlungscharakter und die Variabilität
scheidungen. Zudem konnte gezeigt werden,                    peerspezifischer Sozialisationsprozesse.
dass diese Entscheidungen sich über längere
Zeiträume aufbauen können und vorangegan-                    LITERATUR
gene Entwicklungen daher mit berücksichtig
werden müssen. Schließlich wurde deutlich,                   Adler, Patricia A./Adler, Peter (1998): Peer
dass akzeptierte Wertmaßstäbe und Verfah-                    Power. Preadolescent Culture and Identity. New
rensregeln (Glatzmeier/Hilgert 2015: 14 f.) sowie            Brunswick et al.: Rutgers University Press.
Zielsetzungen (van Ophuysen et al. 2015) im                  Asch, Salomon E. (1951): Effects of Group Pres-
Kontext informeller Gruppen nicht notwendig                  sure upon the Modification and Distortion of
vorgegeben sind, sondern im Verlauf der Aus-                 Judgements. In: Guetzkow, Harold (Hrsg.):
handlungsprozesse gemeinsam entwickelt und                   Groups, Leardership, and Men. Pittsburgh: Car-
verändert werden können. Wir haben es hier also              negie Press, S. 177–190.
mit hochdynamischen Prozessen zu tun. Außer-
dem hat sich in Interviews mit Jugendlichen ge-              Böhm-Kasper, Oliver (2006): Schulische und po-
zeigt, dass in Aushandlungs- und Entschei-                   litische Partizipation von Jugendlichen. Welchen
dungsprozessen hierarchisch strukturierte Situa-             Einfluss haben Schule, Familie und Gleichaltrige
tionen offensichtlich vermieden werden (Rieker               auf die politische Teilhabe Heranwachsender? In:
im Erscheinen), d.h. solche Konstellationen, die             Diskurs Kindheits- und Jugendforschung 1 (3),
sich negativ auf die Entscheidungsqualität aus-              S. 353–368.        https://doi.org/10.1007/978-3-
wirken (Glatzmeier 2015: 200). Inwieweit sich                531-90103-9_3
damit Spezifika von Entscheidungsprozessen bei               Breidenstein, Georg/Hirschauer, Stefan/Kalthoff,
Kindern und Jugendlichen zeigen, könnte nur im               Herbert/Nieswand, Boris (2013): Ethnografie:
Rahmen vergleichender Untersuchungen geklärt                 Die Praxis der Feldforschung. Stuttgart: UTB.
werden.
                                                             Bühler-Niederberger, Doris (2015): Sozialisation
Was zeigen die oben skizzierten Ergebnisse in                in der Kindheit. In: Hurrelmann, Klaus/ Bauer, Ul-
Hinblick auf die Sozialisation von Jugendlichen?             rich/Grundmann,       Matthias/Walper,    Sabine
Bestätigt werden kann der Befund, dass Peers                 (Hrsg.): Handbuch Sozialisationsforschung (8.
für die Sozialisation Jugendlicher große Bedeu-              Auflage). Weinheim/Basel: Beltz, S. 833–849.
tung haben (Böhm-Kasper 2006). Das Material                  Ecarius, Jutta/Eulenbach, Marcel/Fuchs, Thors-
der vorliegenden Untersuchung gibt Hinweise                  ten/Walgenbach, Katharina (2011): Jugend und
darauf, dass Jugendliche im Kontext von Peer-                Sozialisation.         Wiesbaden:         VS.
groups Erfahrungen mit einem breiten Spektrum                https://doi.org/10.1007/978-3-531-92654-4
an Aushandlungen machen sowie auf vielfältige
Weise Entscheidungen herbeiführen. Dabei ler-                Eckert, Roland/Erbeldinger, Patricia/Hilgers, Ju-
nen sie, welche Strategien in welchem Kontext                dith/Wetzstein, Thomas (2016): Informelle Be-
erfolgreich sind, um bei diesen Entscheidungen               ziehungen: Cliquen. In: Köhler, Sina-Mareen/
mitzuwirken und welche Ressourcen sich in die-               Krüger, Heinz-Hermann/Pfaff, Nicolle (Hrsg.):
sen Aushandlungen als hilfreich erweisen.                    Handbuch                         Peerforschung.

Peter Rieker – DOI: https://doi.org/10.26043/GISo.2020.1.3                                             Seite 13
Sie können auch lesen