Beitrag: Putschversuch in der Türkei-Manuskript
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Manuskript Beitrag: Putschversuch in der Türkei – Die Nacht auf der Bosporus-Brücke Sendung vom 26. Januar 2021 von Erk Acarer und Can Dündar Anmoderation: Der türkische Präsident Recep Erdogan sucht neuerdings die Nähe zu Europa. „Wir sehen uns nicht woanders, sondern in Europa zusammen aufzubauen“, säuselte er kürzlich. Es ist derselbe Erdogan, der noch vor wenigen Wochen dem französischen Präsidenten empfahl, sich in „psychiatrische Behandlung“ zu begeben. Derselbe Erdogan, der gegen Europa im Streit um die Flüchtlingskrise keilte. Auch der Einmarsch türkischer Soldaten in Nordsyrien trug und trägt wenig zur Befriedung bei. Erdogan hetzt immer wieder gegen europäische Politiker: O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, am 11.3.2017: Sie haben keine Ahnung von internationaler Politik und Diplomatie. Sie sind nervös und feige. Sie sind Nachkommen der Nazis, sie sind Faschisten. Doch vor allem regiert der türkische Präsident das Land immer repressiver. Menschrechtsaktivisten werden und wurden verhaftet - zum Beispiel Peter Steudtner. Der saß fast vier Monate in türkischer Haft. Vorwurf: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Unliebsame Journalisten lässt Erdogan er einsperren. Dem WELT-Korrespondenten Deniz Yücel wurde Terrorpropaganda vorgeworfen – er kam erst nach 290 Tagen Einzelhaft wieder frei. Und auf einen der bekanntesten Journalisten der Türkei – Can Dündar – wurde ein Attentat verübt. Nach seiner Flucht wurde Dündar wegen angeblicher Spionage zu 27 Jahren Haft in Abwesenheit verurteilt. Dündar lebt im Exil in Deutschland. Für das ZDF hat er jetzt aufgearbeitet, was in der Nacht des 15. Juli 2016 in Istanbul geschah. Damals, vor knapp fünf Jahren, scheiterte ein Putschversuch gegen den Präsidenten Erdogan. Dündars Film dokumentiert die ungeheure Brutalität einer lauen Sommernacht und beleuchtet die Folgen für die Türkei, die das Land bis heute
spalten. Text: Die Bosporus-Brücke. Seit 47 Jahren verbindet sie Asien und Europa. Sie ist die Lebensader von Istanbul. Doch in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 wird die Brücke Schauplatz eines Massakers. Ein Putschversuch erschüttert die Türkei. Alles beginnt mit einer Handvoll Soldaten, die die Brücke besetzen. Doch Zivilisten stellen sich der Waffengewalt entgegen. Zehn Stunden dauert der blutige Kampf. 18 Sicherheitskameras haben aus allen erdenklichen Perspektiven jedes Detail festgehalten. Für diesen Film wurden Hunderte Stunden Videomaterial gesichtet, Augenzeugen befragt und interne Dokumente ausgewertet. Die Recherchen zeigen die Gräuel eines gescheiterten Putschversuchs. 15. Juli 2016, in der Nähe der Bosporus-Brücke. Das Militärgymnasium Kuleli. Hier verrichtet auch Burak Dinler, ein Junge aus Anatolien seinen Dienst. Kurz vor 21 Uhr wird Alarm ausgelöst. Burak und 77 weitere Soldaten greifen zu den Waffen. Von einem Putschversuch ahnen sie nichts. Um 21.45 Uhr erreicht ein Militärkonvoi die Bosporus-Brücke und blockiert den Verkehr auf die europäische Seite. Burak Dinler ist unter den Soldaten, aufgereiht stehen sie nebeneinander. O-Ton Fadime Yeltepe, Schwester von Burak Dinler: Ich habe mir damals die Aufnahmen von der Brücke angesehen. Die Soldaten hatten den Verkehr blockiert. Mir kam gar nicht in den Sinn, dass auch Burak unter ihnen sein könnte. Augenzeugen-Videos dokumentieren die Siegesgewissheit einiger Putschisten: "Die Streitkräfte haben die Macht übernommen. Kein Tayyip Erdogan mehr. Tage voller Sonne stehen uns bevor." Marmaris, 600 Kilometer südlich von Istanbul. Präsident Erdogan weilt im Urlaub. Vom Umsturzversuch erfährt er angeblich erst durch seinen Schwager, so behauptet er es später. O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, am 30.7.2016, Quelle: ATV: Ich habe den Chef des Nachrichtendienstes angerufen und habe ihn nicht erreicht, dann den Generalstabschef - und auch ihn habe ich nicht erreicht. Fest steht: Der türkische Generalstabschef war da längst ein Gefangener der Putschisten. Gegen Mitternacht überfallen die
den Staatssender TRT. Es soll ein Kommuniqué verlesen werden. Der auserkorene Kommandant zieht noch eine frische Uniform an, doch dann der Befehl - eine TV-Moderatorin in Zivil soll die Nachricht vom Putsch dem Volk überbringen: "Die türkischen Streitkräfte haben zur Sicherung der nationalen Einheit und des Fortbestands von Nation und Staat die Macht übernommen." O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent 2013-2017: Da dachte ich wirklich, wow, es ist real und es ist vorbei für Erdogan. Dieser Staatsstreich ist geglückt. O-Ton Martin Erdmann, Deutschlands Botschafter in der Türkei 2015-2020: Gegen 23 Uhr hörten wir Panzer vor unserer Haustür verkehren, und zwar Kolonnen von Kampfpanzern. Auch in Istanbul – Panzer. Ihr Ziel: das Privathaus des Staatspräsidenten. Und am Urlaubsort Maramis ist ein Mordkommando auf dem Weg. Kurz nach Mitternacht lässt sich Erdogan bei CNN Türk zuschalten und behauptet, der muslimische Prediger Fethullah Gülen stecke hinter dem Putsch. O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, am 16.7.2016: Lassen Sie uns alle als ganze Nation auf Plätzen, auf Flughäfen versammeln. Diese Minderheitsgruppe soll mit ihren Panzern und Kanonen kommen und dem Volk antun, was sie zu tun gedenken. Der muslimische Prediger Fetullah Gülen. Einst waren er und Erdogan Komplizen. O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent 2013-2017: Es war eine Aufgabenteilung: Erdogan der Populist, der Menschenfänger, der die Mehrheiten organisiert hat - und die Gülen-Bewegung hat hinter den Kulissen die Schmutzarbeit erledigt für Erdogan. 2002 gewinnt Erdogan mit Gülen als Verbündetem die Parlamentswahlen. In der Türkei beginnt der große Austausch. Gülens Gefolgsleute besetzen wichtige Posten in Behörden, Justiz, Polizei und Armee. O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent 2013-2017: Sie wollten immer noch mehr: mehr Einfluss, mehr Macht,
mehr Geld. Und Erdogan ist bekannt als ein Politiker, der Macht nicht gerne teilt, und der irgendwann die Reißleine gezogen hat und der sagte: Hier ist Schluss! 2012 kommt es zum Bruch – Gülen-Vertraute veröffentlichen geheime Telefonmitschnitte: Korruptionsvorwürfe gegen die Familie Erdogans und seine Regierung. O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, im Jahr 2012: Sie sind ein großes Netzwerk von Verrätern. Wir wurden betrogen! Tausende Polizisten, Richter, Staatsanwälte und Journalisten werden verhaftet als angebliche „Mitglieder einer Terrororganisation“. Auch die Armeespitze soll auf Linie gebracht werden. Am 30. August 2016 sollen alle Generäle entlassen werden, denen eine Nähe zu Gülen unterstellt wird. Doch die kommen ihrer Absetzung zuvor. In der Nacht des 15. Juli 2016 stehen sie bewaffnet auf der Bosporus- Brücke. Es sieht so aus, als wäre Erdogan am Ende. Doch der türkische Präsident gibt nicht auf. Er weist die staatliche Religionsbehörde an: Von den Minaretten der Moscheen soll das Volk auf die Straße gerufen werden. Und viele Menschen folgen. O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent 2013-2017: Erdogan besaß natürlich auch die Unverfrorenheit, seine eigenen Bürgerinnen und Bürger auf die Straßen zu schicken, zu sagen: Widersetzt euch den Panzern - und somit ja auch das Leben von Tausenden Menschen zu gefährden, das Leben von Tausenden Menschen aufs Spiel zu setzen, um selbst an der Macht zu bleiben. Um ein Uhr läuft eine Frau ohne jeden Schutz auf die Panzer zu. Die Soldaten fordern sie auf umzukehren. Als sie sich widersetzt, versucht die Menschenmenge durchzubrechen. Um 01.10 Uhr gibt ein Offizier der Putschisten den Befehl: Feuer frei! Diese Bilder zeigen, wie der Polizeichef von Istanbul mit Staatspräsident Erdogan telefoniert. Der gibt den Befehl, zurück zu schießen. Doch die Polizei ist machtlos gegen Panzer und Maschinengewehre. Und so treibt der Polizeichef Zivilisten in die Schusslinie: "Wir gehen zusammen hin und holen sie uns." Um 01.20 Uhr - die ersten Toten:
"Sie schießen ziellos auf jeden. Es gibt viele Verletzte. Ein Mann und sein Sohn sollen am Kopf getroffen sein." Während auf der Brücke geschossen wird, sind die Putschisten anderswo längst besiegt. Gegen fünf Uhr morgens haben Spezialeinheiten das Polizei- Hauptquartier zurückerobert und auch das Sendezentrum von CNN Türk und den Flughafen von Istanbul. Dort tritt der türkische Präsident vor die Kameras: O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, am 16.7.2016: Das ist ein Aufstand, das ist Landesverrat. Sie werden dafür schwer büßen. An der Bosporus-Brücke schweigen die Waffen - nach acht Stunden Kampf der Befehl, sich zu ergeben. Doch es ist nicht vorbei, es beginnt die Stunde der Rache. Eine Flucht von der Brücke – unmöglich: "Vier haben wir schon getötet, jetzt ist der Fünfte dran." Es trifft auch den jungen Kadetten aus Anatolien, Burak Dinler. Er wird gelyncht. Burak wird 20 Jahre alt. O-Ton Fadime Yeltepe, Schwester von Burak Dinler: Mein Bruder ist mit erhobenen Armen auf die Leute zugegangen und hat sich ergeben, zusammen mit den anderen Soldaten. Aber dann warfen ihn ein paar Leute auf den Boden. Und einer von ihnen haut mit einem großen Stein hinter Buraks rechtes Ohr. Die Polizei schaut dem Mob untätig zu. Erst nach 40 Minuten geht sie mit Tränengas dazwischen. Auf der Bosporus-Brücke sterben an diesem Tag zwei Polizisten, acht Soldaten, 32 Zivilisten. Rund 500 Verletzte müssen versorgt werden. Der türkische Präsident macht noch am selben Tag eine erstaunliche Bemerkung: O-Ton Recep Tayyip Erdogan, Präsident Türkei, 16.7.2016: Diese Unternehmung ist ein großes Geschenk Allahs. O-Ton Martin Erdmann, Deutschlands Botschafter in der Türkei 2015-2020: Kann es ein Geschenk Gottes sein, unschuldige Soldaten und unschuldige Zivilisten, die plötzlich sich gegenseitig in Massakern umgebracht haben - kann das ein Geschenk Gottes sein? O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent
2013-2017: Die Nacht selbst also war eine Katastrophe. Aber was aus ihr folgte, ist leider, das muss man in der Rückschau sagen, mindestens genauso schlimm. Fethullah Gülen bestreitet aus dem Exil, dass er oder seine Bewegung hinter dem Putsch stecken. Doch Recep Tayyip Erdogan nutzt das, was er die Gunst der Stunde nennt. Der Präsident ruft im Sommer 2016 den Ausnahmezustand aus – der dauert zwei Jahre. 130.000 Menschen werden aus dem öffentlichen Dienst entlassen. Mehr als 4.500 Richter und Staatsanwälte abgesetzt. 20.000 Soldaten aus der Armee ausgeschlossen. Unzählige Unbeteiligte zahlen einen hohen Preis. O-Ton Martin Erdmann, Deutschlands Botschafter in der Türkei 2015-2020: Wir müssen feststellen, dass die Pressefreiheit ganz wesentlich eingeschränkt ist, dass die Judikative politisiert ist und dass die Eigenständigkeit der Universitäten, der akademischen Welt, sehr stark eingeschränkt ist. O-Ton Maximilian Popp, Der Spiegel, Türkei-Korrespondent 2013-2017: Die türkische Gesellschaft leidet bis heute unter den Folgen dieses Putschversuchs. Und ich glaube, es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis die Wunden, die da gerissen wurden, geheilt sind. 352 Menschen sterben beim Putschversuch. Er hat die Türkei und das Leben von Millionen für immer verändert. Abmoderation: Bevor Brüssel und Berlin wieder auf Erdogan zugehen, sollte er beantworten, wohin das Land bei Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten treibt. Dazu lohnt es, Can Dündars Dokumentation anzuschauen: „Kampf auf der Bosporus-Brücke – Die Türkei und der gescheiterte Putschversuch“. Sie finden den Film jederzeit in der ZDFmediathek. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.
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