ÜBER POLARISIERUNG UND ECHOKAMMERN - SCHLAGLICHTER AUF KERNBEGRIFFE IM KONTEXT DIGITALER DEMOKRATIEFEINDLICHKEIT - FODEX

Die Seite wird erstellt Nepomuk Lindner
 
WEITER LESEN
Über
                                                                                                   Polarisierung
                                                                                                   und Echokammern
                                                                                                   Schlaglichter auf
                                                                                                   Kernbegriffe im Kontext
                                                                                                   digitaler Demokratiefeindlichkeit

                                                                                                   Christopher Schmitz

    D
                              ie Debatte, ob und inwie-                                   der „Polarisierung“ einzelner Debatten oder
                              fern das Internet zunächst                                  ganzer Diskurse oder andererseits auf der
                              Prozesse gesellschaftlicher                                 „Radikalisierung“ von Individuen oder gesell-
                              „Polarisierung“ und „Radi-                                  schaftlichen Gruppen; wobei im Begriff „Radi-
                              kalisierung“ begünstige und
                              dadurch sodann Entwick-
                              lungen katalysiere, welche
                              die liberale, rechtsstaatliche
        Demokratie zu unterminieren drohten, ist eine
        gegenwärtig rege diskutierte Frage, die mit                                             nierter Hasskampagnen im Netz, London 2018;
        viel Forschungsaufwand und schließlich auch                                             Ipsen, Flemming / Wörner-Schappert, Michael / Ei-
        empirischem Forschungsmaterial unterfüttert                                             sentraut, Steffen: Rechtsextreme Medienstrategi-
        wird.1 Ihr Fokus liegt einerseits entweder auf                                          en. Inszenierung von Radikalität im Social Web
                                                                                                und ihre Attraktivität für Jugendliche, in: Hohn-
                                                                                                stein, Sally / Herding, Marita (Hg.): Digitale Medien
                                                                                                und politisch-weltanschaulicher Extremismus im
        1     Vgl. Fielitz, Maik et al.: Hassliebe: Muslimfeindlich-                            Jugendalter. Erkenntnisse aus Wissenschaft und
              keit, Islamismus und die Spirale gesellschaftlicher                               Praxis, Halle (Saale) 2017, S. 17–38; Kudlacek, Dominic
              Polarisierung, Jena / London, Berlin 2018; Kreißel,                               et al.: Radikalisierung im digitalen Zeitalter. Risi-
              Philip et al.: Hass auf Knopdfruck. Rechtsext-                                    ken, Verläufe und Strategien der Prävention, in:
              reme Trollfabriken und das Ökosystem koordi-                                      forum kriminalprävention, H. 3 (2017), S. 23–32.

Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

                                                                                                                                                                                         9
Demokratie-Dialog 3-2018

              kalisierung“ oft sogleich ein Demokratiegefähr-                                    als aber auch soziale Netzwerke im Beson-
              dung implizierender Unterton mitschwingt.2                                         deren mittlerweile im Alltag vieler Menschen
                                                                                                 haben, sicherlich relevant. Allerdings ist es
              Um den Faktor soziale Medien ergänzt, ergibt                                       nicht zielführend, wenn die Debatte mit einer
              sich zusammengenommen mit politischer                                              Erregung geführt wird, die dem Thema mitun-
              Polarisierung und der Art und Weise von                                            ter nicht angemessen ist, denn: Sicherlich gibt
              Informationsverbreitung, -wahrnehmung und                                          es Entwicklungen in sozialen Netzwerken, die
              -verarbeitung ein Dreieck, dessen Eckpunkte                                        aus normativer, rechtlicher und auch demokra-
              Auswirkungen auf die Qualität oder - bewusst                                       tietheoretischer Perspektive bedenklich oder
              neutraler gesprochen - auf den gegenwärtigen                                       sogar hochgradig problematisch sind. Gleich-
              Zustand der Demokratie haben.3                                                     zeitig sind die Begriffe, die gebraucht wer-
                                                                                                 den, um diese Entwicklungen zu beschreiben,
              Diese Frage ist, auch aufgrund der Bedeu-                                          selbst durchaus Gegenstand intensiver Debat-
              tung, die sowohl das Internet im Allgemeinen                                       ten und ihre suggerierte Eindeutigkeit lässt
                                                                                                 nach, sobald man ihre Vielschichtigkeit ernst
                                                                                                 nimmt. Wenn also von negativen Auswirkun-
              2      Einer der zahlreichen Definitionsversuche von
                                                                                                 gen der sozialen Medien auf die Qualität von
                     McCauley und Moskalenko unterscheidet zwar zwi-                             Demokratien die Rede ist, dann dominieren
                     schen einer funktionalen und einer deskriptiven Di-                         Topoi des Zerfalls: Das demokratiegefährdende
                     mension von politischem Radikalismus, hat jedoch                            oder gar demokratiefeindliche Potenzial des
                     die staatsgefährdende Perspektive durch Verweis                             Internets wird als Protagonist einer Tragödie
                     auf den Terrorismusbegriff inkorporiert: Funktional                         interpretiert, die unausweichlich sei, weil ihre
                     ginge es um die gestiegene Bereitschaft für und
                                                                                                 wesentlichen Bestandteile in die Struktur des
                     Vorbereitung auf Auseinandersetzungen zwischen
                                                                                                 Internets eingeschrieben seien. Im Kontrast zu
                     Gruppen, während deskriptiv von einem Wandel
                     von Überzeugungen, Gefühlen und Verhalten in
                                                                                                 dieser pessimistischen Perspektive ist es nicht
                     eine Richtung auszugehen sei, die Gewalt zwischen                           nur hilfreich, sondern auch dringend geboten,
                     Gruppen und Opfer für die eigene Gruppierung                                die verwendeten Begriffe und ihre Schattierun-
                     rechtfertige; vgl. McCauley, Clark / Moskalenko, Soph-                      gen, wenn auch nicht zu überwinden, so doch
                     ia: Mechanisms of Political Radicalization: Pa-                             zumindest aufzubrechen, zu diskutieren und
                     thways Toward Terrorism, in: Terrorism and Political                        zu aktualisieren.
                     Violence, Jg. 20 (2008), H. 3, S. 415–433, hier S. 416.
                     Peter Neumann betont die Prozesshaftigkeit von
                     Radikalisierung und verweist auf eine „drastische
                     Abwendung von den geltenden gesellschaftlichen
                     Verhältnissen und die Errichtung eines anderen                              Polarisierung: ein vielschichtiger Begriff
                     politischen Systems“ als begriffshistorischen Kern.
                     Beiden Definitionen ist die systemverändernde                               So ist bspw. der Begriff der Polarisierung, ähn-
                     Komponente gemein, wobei die Variante Neumanns                              lich wie jener der Radikalisierung, keinesfalls
                     immerhin nicht ausschließt, dass diese aus einer                            eindeutig definiert. Grundsätzlich lässt sich
                     emanzipatorischen Motivation resultieren könnte;
                                                                                                 allerdings festhalten, dass sich Polarisierung
                     vgl. Neumann, Peter: Radikalisierung, Deradikalisie-
                                                                                                 als Begriff immer auf Gruppenphänomene zu
                     rung und Extremismus, in: Aus Politik und Zeitge-
                     schichte, Jg. 63 (2013), H. 29–31, S. 3–10, hier S. 3–4.
                                                                                                 beziehen scheint und einen Gegenpol braucht,
                                                                                                 um zu funktionieren. Wenn von Polarisierung
              3      Vgl. Tucker, Joshua A. et al.: Social Media,
                                                                                                 die Rede ist, meint dies also die Konfrontation
                     Political Polarization and Political Disinformation:
                                                                                                 von Gegensätzen und Unterschieden in über-
                     A Review of the Scientific Literature, Hewlett
                     Foundation 2018, URL: https://hewlett.org/wp-
                                                                                                 individuellen sozialen Zusammenhängen.
                     content/uploads/2018/03/Social-Media-Political-
                     Polarization-and-Political-Disinformation-Literature-                       Jenseits dieser grundsätzlichen Definiti-
                     Review.pdf [eingesehen am 30.07.2018], S. 3 f.                              on weist der Staatswissenschaftler Laurenz

 Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

10
Christopher Schmitz  |  Über Polarisierung und Echokammern

        Ennser-Jedenastik darauf hin, dass in einer                                       „themenbezogener Polarisierung“, bei der sich
        unpräzisen Begriffsverwendung nicht genug                                         die Leute zu extremeren Ausprägungen von
        zwischen ideologischer Polarisierung, bei der                                     politischen Positionen bewegten, und „verhal-
        sich Einstellungen bei politischen Eliten und                                     tensbezogener Polarisierung“, die sich durch
        dem Elektorat veränderten und verhärteten,                                        vertiefte Gräben zwischen Parteien, Aktivismus
        und affektiver Polarisierung, bei der sich die                                    und Ärger auszeichne.7 Diese Debatte findet
        Haltung gegenüber anderen sozialen Gruppen                                        jedoch bspw. in einer der einschlägigsten
        oder politischen Lagern zuspitze, unterschie-                                     Studien der Bunderepublik zum Thema gesell-
        den würde. Denn sowohl für die Gesellschaft                                       schaftliche Polarisierung, der neuesten „Mit-
        als auch für die Wissenschaft macht es einen                                      te-Studie“ von Andreas Zick, Beate Küpper und
        Unterschied, ob sich Polarisierungsprozesse                                       Daniela Krause, keine explizite Erwähnung.8
        gesamtgesellschaftlich grundsätzlich auf einer
        Ebene der politischen Haltungen und Einstel-                                      Dabei ist diese Frage durchaus relevant: Eine
        lungen, also ideologisch, vollziehen; oder ob                                     akute affektive oder verhaltensbezogene Po-
        es sich vielmehr um einen eher oberfläch-                                         larisierung ließe sich so deuten, dass bereits
        lichen Zuordnungsprozess handelt, bei dem                                         vorhandene themenbezogene Einstellungs-
        sich Wählerinnen und Wähler aus einem Affekt                                      muster nunmehr im Wahlverhalten sichtbar
        heraus entlang von politischen Lagern neu                                         werden. Ob sich die Gesellschaft dadurch
        ausrichten, „verschiedene Gruppen in ihren                                        insgesamt ideologisch polarisiert hat und zu
        Haltungen gegenüber politischen Akteuren                                          extremeren inhaltlichen Positionen tendiert,
        oder sozialen Gruppen auseinandergehen“4,                                         ließe sich daraus jedoch noch nicht zwangs-
        ohne, dass dies Auswirkungen auf politische                                       läufig ableiten.
        Einstellungen haben müsste.5
                                                                                          Dass hierzulande eine Unterscheidung in der
        In den USA gibt es bspw. eine lebhafte Aus-                                       Form wenig getroffen wird, kann natürlich auch
        einandersetzung darüber, wie die Polarisie-                                       daran liegen, dass die politische Landschaft in
        rung der dortigen politischen Landschaft zu                                       der Bundesrepublik (noch) völlig anders struk-
        beschreiben ist:6 Der Streit betrifft nicht nur                                   turiert ist als in den USA, wo die Dominanz
        das Ausmaß der Polarisierung, sondern auch                                        von zwei Parteien im Parteiensystem andere
        die Frage nach korrekten Begrifflichkeiten.                                       Voraussetzungen und Notwendigkeiten schafft,
        So schlagen hier einige Forscherinnen und                                         die Frage nach einer Polarisierung der Gesell-
        Forscher eine Unterscheidung vor zwischen                                         schaft zu stellen. Und dies eben bereits seit
                                                                                          mehreren Jahrzehnten und nicht erst seit der
                                                                                          Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten, mit
                                                                                          dem das Thema im breiten bundesrepublikani-
        4     Ennser-Jedenastik, Laurenz: Die Polarisierung
                                                                                          schen Bewusstsein angekommen ist.9
              nimmt zu – sie ist aber nicht ideologisch,
              sondern affektiv, in: derStandard.at, URL: https://
              derstandard.at/2000083831787/Die-Polarisierung-
              nimmt-zu-sie-ist-aber-nicht-ideologisch-                                    7     Vgl. Mason, Lilliana: The Rise of Uncivil
              sondern [eingesehen am 24.07.2018].                                               Agreement, in: American Behavioral Scien-
                                                                                                tist, Jg. 57 (2012), H. 1, S. 140–159, hier S. 141.
        5     Vgl. ebd.
                                                                                          8     Vgl. Zick, Andreas / Küpper, Beate / Krause, Daniela:
        6     Vgl. Klar, Samara / Krupnikov, Yanna / Ryan,
                                                                                                Gespaltene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsext-
              John B.: Affective Polarization or Partisan Dis-
                                                                                                reme Einstellungen in Deutschland 2016, Bonn 2016.
              dain?, in: Public Opinion Quarterly Jg. 82 (2018),
              H. 2, S. 379–390; Webster, Steven W. / Abramowitz,                          9     Vgl. Mason, Lilliana: „I Disrepectfully Agree“: The
              Alan I.: The Ideological Foundations of Affective                                 Differential Effects of Partisan Sorting on Social
              Polarization in the U. S. Electorate, in: American                                and Issue Polarization, in: American Journal of
              Politics Research, Jg. 45 (2017), H. 4, S. 621–647.                               Political Science, Jg. 59 (2015), H. 1, S. 128–145.

Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

                                                                                                                                                                                         11
Demokratie-Dialog 3-2018

              Echokammern:                                                                       len und sich dadurch verfestigen – ein Über-
              Selbstbestätigung im eigenen Saft                                                  bietungswettbewerb von Meinungen, Haltungen
                                                                                                 und Positionen, die sich gegenseitig hoch-
              Dies- und jenseits des Atlantiks wirft das die                                     schaukeln.
              Frage auf, ob und inwiefern soziale Medien bei
              dieser Polarisierung eine Rolle spielen. Zwei                                      Beiden Begriffen ist gemein, dass ihre Se-
              Begriffe werden vornehmlich ins Feld geführt,                                      mantik nicht den Prozess abbildet, den sie
              um den Einfluss sozialer Medien auf Polarisie-                                     beschreiben möchten: Filterblasen und Echo-
              rungsprozesse zu beschreiben: die Filterblase,                                     kammern, so die Logik ihrer Erzählpräsentation,
              ein Begriff geprägt durch den Netzaktivisten Eli                                   führen von einem gedachten gemeinsamen
              Pariser;10 und die Echokammer, ein Begriff, der                                    Begegnungsraum der Gesellschaft weg, sie
              in Bezug auf das Internet vor allem von Cass                                       streben auseinander. Die berühmte Agora, der
              Sunstein forciert wurde.11                                                         Platz der demokratischen Auseinandersetzung,
                                                                                                 würde durch diese Drift so leer wie die Innen-
              Beide Begriffe dienen zur Illustration (grup-                                      städte in der ländlichen Provinz – verwaiste
              pen-)dynamischer Prozesse, die vornehmlich                                         Ladenzeilen dominieren die Szenerie; Trubel,
              die Bewegung eines Individuums hin zu einer                                        Geschäftigkeit und Lebendigkeit sind ver-
              sich immer wieder erneuernden Perpetuierung                                        schwunden. Im übertragenen Sinne: Das demo-
              von politischen und weltanschaulichen Mei-                                         kratische Zentrum wird entleert. Doch wo Leere
              nungen und Haltungen beschreiben. Falls es                                         herrscht, kann gerade keine Auseinanderset-
              sich bei dieser Entwicklung um ein Phänomen                                        zung stattfinden, die sich in Zirkel und Kreise
              handelt, das eher auf ein Individuum begrenzt                                      verlagert hat, die ihre eigenen Spezialdiskurse
              ist, scheint der Begriff der Filterblase passen-                                   führen und sich damit auch, weil sie nichts
              der, der sich an einem einfachen Beispiel ver-                                     außer der eigenen Perspektive haben, auf diese
              anschaulichen lässt: Jeder Einkauf bei Amazon                                      verengen und sie monokulturalisieren.
              bspw. funktioniert nach ähnlichen Prinzipien.
              Basierend auf den zuletzt angesehenen Arti-                                        Indes: Eine inhaltliche Eintönigkeit von Mei-
              keln werden ähnliche Produkte präsentiert, die                                     nungen muss nicht zwangsläufig dazu führen,
              andere Kundinnen und Kunden ebenfalls ge-                                          dass die Monokultur im Anschluss mit viel
              kauft haben. Im politischen und weltanschau-                                       Verve zurück in die zuvor verwaisten Debat-
              lichen Sinne sind es dann keine Produkte wie                                       tenarenen zurückschwappt und dann, durch
              Schuhe oder Kopfhörer, die sortiert werden,                                        die stärker vollzogene Zuspitzung, den demo-
              sondern es geht um den Mechanismus, der                                            kratischen Austausch erschwert. Oder anders:
              Inhalte vorsortiert und widerstreitende Deu-                                       Die Echokammer allein polarisiert noch nicht
              tungen und Weltentwürfe zurückdrängt. Eine                                         den demokratischen Diskurs, führt noch nicht
              Echokammer funktioniert anders: Der Begriff                                        zu einer Radikalisierung der Gesellschaft,
              umschreibt vor allem den Vorgang der ge-                                           geschweige denn zu einer Spirale der Demo-
              genseitigen, intersubjektiven und interaktiven                                     kratiegefährdung. Begrifflich und konzeptionell
              Zuspitzung von Inhalten, bei dem homogene                                          klafft also gerade an der Verbindungsstelle
              Positionen in geschlossenen Zirkeln widerhal-                                      zwischen Echokammer und Polarisierung des
                                                                                                 demokratischen Diskurses eine Lücke.

              10     Vgl. Pariser, Eli: Filter Bubble. Wie wir im In-                            Ein Weg, diese Kluft perspektivisch zu über-
                     ternet entmündigt werden, München 2012.                                     winden, könnte darin bestehen, zu akzep-
              11     Vgl. Sunstein, Cass R.: Echo Chambers: Bush v.
                                                                                                 tieren, dass Echokammern zwar durchaus
                     Gore, Impeachment, and Beyond, Princeton and                                reale empirische Phänomene sind, sie aber
                     Oxford 2001; Sunstein, Cass R.: Going to Extremes.                          eben – auch und gerade online – keineswegs
                     How Like Minds Unite and Divide, New York 2009.                             omnipräsent oder unumgänglich sind: Nicht

 Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

12
Christopher Schmitz  |  Über Polarisierung und Echokammern

        jede Diskussion in den sozialen Netzwerken                                        plex. Eine Polarisierung der Debatte lässt sich
        ist Teil einer Echokammer. Auch hier ist ein                                      einerseits, gerade im Kontext sozialer Medien,
        Blick in die USA hilfreich, um relativ rasch zu                                   eigentlich kaum ohne den Begriff der Echo-
        erkennen, dass Echokammern eher selten und                                        kammer denken; auch und gerade weil die
        damit eher die Ausnahme denn die Regel sind.                                      Logik der Plattformen solche Prozesse mitunter
        Ein wesentlicher Punkt ist der soziomediale                                       forciert – und das im Grunde seit den Anfän-
        Raum, das digitale Umfeld, in dem sich die                                        gen des WorldWideWeb.13 In einer einseitigen
        Nutzerinnen und Nutzer konkret bewegen: Die                                       Selbstbestätigung geht es gar nicht so sehr
        Wahrscheinlichkeit, in den Kommentarspalten                                       darum, unliebsamen, widerstreitenden Informa-
        der Accounts von Parteien und Politikerinnen                                      tionen gezielt auszuweichen, sondern vielmehr
        Echokammern zu finden, ist ungleich höher als                                     darum, selbstbestätigende Inhalte zu suchen.
        bei eher unpolitischen Accounts oder Themen,                                      Allerdings, so wurde aufgezeigt, fehlt anderer-
        bspw. Sportereignissen oder Schauspielern.                                        seits zwischen Echokammer und Polarisierung
        Dies heißt im Umkehrschluss jedoch nicht,                                         eine Brücke, die zufriedenstellend erklären
        dass die zunächst noch als Begegnungsort für                                      kann, wann, wo und wieso sich Debatten zu-
        divergierende und kontrastreiche Meinungen                                        spitzen, ob sie aktiv dorthin getrieben werden
        und Haltungen fungierenden Orte sich nicht                                        oder sich eher zufällig in eine Richtung entwi-
        doch polarisieren und in abgeschlossene Dis-                                      ckeln.
        kussionszirkel entwickeln, also gewissermaßen
        abdriften, können.12 Ein Blick in die Kom-                                        Demzufolge kann es auch keine einfachen
        mentarspalten von politischen Parteien oder                                       Antworten auf die Frage geben, ob und inwie-
        Protestereignissen lässt folglich viel eher die                                   fern das Internet zu einer Polarisierung ge-
        Existenz von Echokammern erwarten und man                                         sellschaftlicher Auseinandersetzungen beiträgt
        wird diese dort vermutlich auch eher finden:                                      – auch, weil ein wesentlicher Punkt oftmals gar
        eine klassische selbsterfüllende Prophezeiung                                     nicht thematisiert wird: der normative Hin-
        dort, wo man vielmehr weniger nach dem Ob                                         tergrund, vor dem die Polarisierungsdebatte
        der Selbstbestätigungszirkel und Polarisierung                                    abläuft. Denn: Die Frage danach, ob und wie
        fragen sollte als vielmehr nach dem Wie, da                                       Menschen verstärkt Zirkeln der Selbstbestäti-
        der eigentliche Prozess des Meinungsdrifts                                        gung verhaftet bleiben, statt sich mit politisch
        an dieser Stelle schon oft vollzogen ist und                                      anderslautenden Meinungen auseinanderzu-
        Prozesse der Selbstbestätigung dominant                                           setzen, und welche Auswirkungen dies auf
        sind. Denn die Frage nach dem Ob verliert die                                     die Demokratie hat, setzt dreierlei voraus: Das
        Auswirkungen auf die demokratische Ausein-                                        Wissen um die Grenzen des Politischen, die
        andersetzung aus dem Blick; diese werden in                                       zielsichere Identifikationsmöglichkeit widerstrei-
        anderen Arenen diskutiert.                                                        tender Meinungen als letztlich unversöhnlich
                                                                                          und schließlich auch die Gewissheit, dass Pola-
                                                                                          risierung und ihre Auswirkungen auf die Demo-
                                                                                          kratie eine normative Dimension haben, aus der
        Gesellschaftliche Folgen                                                          heraus sie betrachtet und bewertet werden. Im
                                                                                          Mittelpunkt steht die Sorge um die Qualität der
        Die Kommunikationsstrukturen in den sozi-                                         demokratischen Auseinandersetzung, für deren
        alen Medien sind also kompliziert und kom-                                        Begutachtung und Bewertung die deliberative

        12    Vgl. Barberá, Pablo et al.: Tweeting From Left
              to Right: Is Online Political Communication                                 13    Vgl. Harper, Christopher: The Daily Me, American
              More than an Echo Chamber?, in: Psychologi-                                       Journalism Review 1997, URL: http://ajrarchive.org/
              cal Science, Jg. 26 (2015), H. 10, S. 1531–1542.                                  Article.asp?id=268 [eingesehen am 02.08.2018].

Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

                                                                                                                                                                                     13
Demokratie-Dialog 3-2018

              Diskurstheorie Jürgen Habermasʼ Pate steht.14                                      sein können.16 Gesellschaft und Wissenschaft
              Diese normative Perspektive artikuliert einen                                      haben erst jüngst noch einmal lernen müs-
              demokratischen Idealzustand, der als oftmals                                       sen, dass gesellschaftliches Engagement nicht
              implizite Vergleichsfolie dient.15 Mit ihr ein-                                    per se demokratiestabilisierend sein muss
              her geht eine Scheingewissheit über Begriffe                                       – die „schmutzige Seite der Zivilgesellschaft“
              und Zusammenhänge, die zumindest einmal                                            ist durchaus aktiv und mitnichten auf eine
              als solche thematisiert werden sollten, bevor                                      Stabilisierung der Demokratie aus.17 Ähnliches
              sie – und dafür gibt es sehr gute Gründe - zur                                     gilt auch für digitale zivilgesellschaftliche Pro-
              Grundlage wissenschaftlichen und alltagsprak-                                      zesse: Diese sind nicht per se problematisch
              tischen Handelns werden.                                                           oder demokratiegefährdend, können es aber
                                                                                                 natürlich sein. Ob und wo eine Polarisierung
              Zugleich würde eine Thematisierung die Auf-                                        stattfindet und wie das mit Echokammern zu-
              hebung von Automatismen ermöglichen. Sind                                          sammenhängt, die womöglich das Fundament
              diese einmal infrage gestellt, führen Echo-                                        der Demokratie aushöhlen, als Resultat eine
              kammern nicht länger zwangsläufig zu Po-                                           „Radikalisierung“ hervorbringen: All das sind
              larisierung, sondern sie sind dann komplexe                                        relevante Fragen, die ein semantisch treffendes
              soziale Phänomene, deren Ursachen, Folgen                                          Begriffsinstrumentarium erfordern, um sie jen-
              und Auswirkungen hochgradig ambivalent                                             seits von Pauschalität beantworten zu können.

              14     Vgl. Tucker et al., S. 9.                                                   16    So sind bspw. Onlineforen für sexuelle Minderhei-
                                                                                                       ten zunächst auch nichts weiter als Echokammern,
              15     Vgl. Schmitz, Christopher: Stilbruch als Stilmit-                                 aber zugleich auch safe spaces, in denen über-
                     tel. Über die Transformation und Herausforderung                                  haupt erst eine freie Entfaltung möglich wird.
                     einer Diskurskultur – Eine Debatte mit blinden
                     Flecken?, in: INDES. Zeitschrift für Politik und                            17    Vgl. Geiges, Lars / Marg, Stine / Wal-
                     Gesellschaft, Jg. 7 (2018), H. 2, im Erscheinen.                                  ter, Franz: Pegida. Die schmutzige Sei-
                                                                                                       te der Zivilgesellschaft?, Bielefeld 2015.

              Christopher Schmitz M. A.,
              ist Politikwissenschaftler
              und wissenschaftlicher Mit-
              arbeiter am Göttinger Insti-
              tut für Demokratieforschung.
              Seine Forschungsschwer-
              punkte sind historische und
              kulturelle Grundlagen des
              Internets sowie Protest- und
              politische Kulturforschung.

 Schmitz, Christopher (2018): Über Polarisierung und Echokammern. Schlaglichter auf Kernbegriffe im Kontext digitaler Demokratiefeindlichkeit. In: Demokratie Dialog 3 (2018), S. 9-14.

14
Sie können auch lesen