"Global Warming Ready": Ein postmodernes Sprachspiel
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Tilman Rhode-Jüchtern (Stand: 30.7.09) „Global Warming Ready”: Ein postmodernes Sprachspiel Kann man Kinder und Jugendliche über diese Welt aufklären, indem man ihnen ständig Katastrophen, jedenfalls Schlüsselprobleme vorführt? Oder machen sie dann in emotionaler und sachlicher Überforderung irgendwann dicht? Oder kehren sie den Spieß um in eine Anklage gegen ihre Vorfahren, die das alles angerichtet haben? Oder ist jedenfalls Schule ein ungeeigneter Ort und Kontext, weil deren Code lautet: „Zensuren gut/schlecht“? Oder gibt es längst andere Agenten, die das Nachdenken stärker anregen, etwa die neuen Medien und Blogs und Werbung? Was bleibt dann noch für den Schulunterricht? Aufklärung durch Schock? Beginnen wir das Nachdenken über die Chancen und Vergeblichkeiten einer schulischen Aufklärung mit einem attraktiven Format, nämlich der Werbung. Aus der Bilderfülle von einer schönen und heilen Werbewelt ragte vor einiger Zeit eine Kampagne heraus: „UNITED COLOURS OF BENETTON“. Die Motive führten in der höchsten Verdichtung jeweils eines einzelnen Meister-Fotos alle epochaltypischen Schlüsselprobleme vor und hoben sie in ganz Deutschland auf ungezählte Plakatwände. Fotos Benetton Container und Peace&Food (Mann mit Patronen, Frau) Man wundert sich, weil in dieser Kampagne nicht Glanz und Glamour als die gewohnten Regeln der Werbung zu gelten scheinen. Schock als Werbung für Markenklamotten, wie passt das zusammen, wie soll man das verstehen? Zwei Lesarten auf höchster Ebene: Aufmerksamkeitswerbung oder Pressefreiheit? Das passt gar nicht zusammen, meinte die „Zentrale zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs e.V.“; sie hatte ein Verbot des Abdrucks in Illustrierten erwirkt. Der Bundesgerichtshof (BGH) hatte dazu entschieden, dass Bildmotive wie eine ölverschmutzte Ente, Kinderarbeit, Aids, jeweils mit dem Logo der Firma Benetton unterlegt, die Menschenwürde verletzen und deshalb nicht veröffentlicht werden dürften. Die Benetton-Anzeigen wurden als sittenwidrig bewertet, will mit der Darstellung schweren Leids von Mensch und Tier Gefühle des Mitleids erweckt und dieses Gefühl ohne sachliche Veranlassung zu Wettbewerbszwecken ausgenützt würden. Sittenwidrig sei dies vor allem deshalb, weil die Stigmatisierung HIV-Infizierter als gesellschaftlicher Missstand keine sozialkritische Meinungsäußerung sei, sondern einen eigennützigen Werbezweck verfolge. Die Bilder seien zudem eine intensive Belästigung, weil zwischen den mit suggestiver Kraft wirkenden Bildern und den beworbenen Produkten kein Zusammenhang bestehe. Aufmerksamkeitswerbung, die das Elend der Betroffenen zum eigenen kommerziellen Vorteil als Reizobjekt ausbeute, sei mit Art. 1 Abs. 1 GG nicht vereinbar. Die Zeitschrift „stern“ legte dagegen Verfassungsbeschwerde ein und bekam beim Bundesverfassungsgericht (BVG) insoweit recht, als der Fall zurück verwiesen wurde. Der BGH bestätigte aber seine Sicht der Dinge, und auch das BVG blieb bei seiner Sicht: Der Abdruck einer Meinungsäußerung falle unter den Schutzbereich der Pressefreiheit, auch wenn dies kommerziell geschieht, und auch bei mehrdeutigen Bildern. Zwar sollen Wettbewerbshandlungen nicht gegen die guten Sitten verstoßen, aber das Grundrecht gelte absolut. Gemeinwohlbelange seien nicht betroffen, weil Werbung, die inhumane Zustände 1
und Umweltverschmutzung anprangert, nicht Verrohungs- oder Abstumpfungstendenzen in unserer Gesellschaft fördere. Schon das bloße Anprangern eines Missstandes stehe unter dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG. Der BGH hatte das Motiv „HIV-Positive“ für einen groben Verstoß gegen die Menschenwürde erklärt, indem es Infizierte und Kranke als abgestempelt und damit als aus der menschlichen Gesellschaft ausgegrenzt darstelle. Es stehe aber keineswegs fest, dass die Anzeige in diesem Sinne zu verstehen sei. Mindestens genauso nahe liegend sei nämlich eine Deutung, wonach mit der Anzeige gerade auf die befürchtete oder stattfindende Ausgrenzung Infizierter anklagend hingewiesen werden solle. Der Werbezweck verwandele sie nicht in eine Botschaft, die den gebotenen Respekt vermissen ließe, indem sie etwa die Betroffenen verspottet, verhöhnt oder erniedrigt oder das dargestellte Leid verharmlost, befürwortet oder in einen lächerlichen oder makabren Kontext stellt. Allein der Aufmerksamkeitswerbezweck rechtfertige den schweren Vorwurf einer Menschenwürdeverletzung nicht. Eine Zeitungsanzeige mag als befremdlich empfunden oder für ungehörig gehalten werden, ein Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1 GG liege jedoch nicht vor. Die Menschenwürde gilt absolut und ist mit keinem Einzelgrundrecht abwägungsfähig. Die Grundrechte sind insgesamt Konkretisierungen des Prinzips der Menschenwürde 1. Widersprüche als Lern- und Nachdenkgelegenheit Nicht nur die Bildmotive selbst, auch der Kontext der Werbung, und schließlich die zwei widersprechenden Lesarten der Verfassung und der Sache selbst durch die obersten Bundesgerichte verwundern den Bürger. Ein Anlass, sich mit alledem zu befassen, ist es allemal. Im Unterricht würden wir also nicht einfach Ölverschmutzung oder Kinderarbeit thematisieren und – vermutlich – kritisieren. Wir befassen uns vielmehr mit der Frage, ob eine solche Werbekampagne aufklärerisch wirken könne bei einem Thema, das ja bereits aufgeklärt sein dürfte; und wenn ja, in welcher Hinsicht und in welche Richtung hier provokative Impulse gesetzt werden. Der Widerspruch/ die Widersprüchlichkeit selbst geben Anlass zur Diskussion und werden selbst zum Thema. Diese Diskussion braucht Raum und Regeln, und die kann die Schule bieten. Fazit wird sein: Nicht der Inhalt der Bilder selbst, also Umweltverschmutzung, Armut, Migration etc., sind das reizvolle Thema, sondern der Kontext und die Absicht der Bilder und deren Wirkung, auf den Einzelnen, in der Gruppe, in der Gesellschaft. Dafür stehen als Leittexte die zwei mal zwei gegensätzlichen Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts zur Verfügung; sie stehen jenseits des Stammtischverdachts, zwei Musterbeispiele für die Mehrdeutigkeit von scheinbar klaren Regelungen, sogar in der Verfassung und bei den höchsten Richtern. Gründlicher und sachkundiger kann in unserer Gesellschaft wohl nicht nachgedacht werden, jedenfalls nicht im Kontext der Rechtssprechung. Das ist eine lohnende didaktische Provokation: Perspektivität der Beobachtung, Unterschiedlichkeit der Maßstäbe, Konfliktlinien, Spannung/ Neugier/ kognitive Dissonanz. Lehrer und Schüler werden schließlich im Perspektivenwechsel bzw. im Wechsel der Maßstäbe ein eigenes Urteil und eine eigene Bewertung finden müssen, das kann ihnen nämlich nicht einmal BGH und BVG abnehmen: „Habe Mut, die Deines eigenen Verstandes zu bedienen“ (Immanuel Kant: Was ist Aufklärung?). 1 (BVG- Benetton-Entscheidungen I und II, verkündet 8.11.2000/ 11.März 2003. www.bverfg.de/entscheidungen/rs 20001212 bzw. /rs20030311, v gl. http://de. Wikipedia.org/wiki/Benetton- Entscheidungen) 2
Dekonstruktion von Halben Wahrheiten Wenn man unzufrieden damit sein sollte, dass der Unterricht „nur noch“ beobachtend und reflexiv arbeiten könnte, kann man von Fall zu Fall auch in die Sache selbst einsteigen, z.B.über eine Anzeige von VW oder Daimler zur Umweltverträglichkeit von Autos oder die Rettbarkeit des tropischen Regenwaldes durch einen Biersponsor.. Autoanzeige VW . Hier geht es um die Sachanalyse, z.B. um die Problematik von klimaschädlichen Emissionen oder die Ausgleichbarkeit von Eingriffen in den Naturhaushalt, oder auch um die trickreiche Eingrenzung der Systeme, in denen eine bestimmte Aussage gerade eben gültig ist, schließlich um die emotionale Besetzung und Bedeutungszuweisung. Kurzum: Hier steht neben der Sachanalyse die Dekonstruktion von Weltbildern im Fokus der Aufmerksamkeit (die natürlich stets mit Übungen im Umkonstruieren von Texten, Grafiken, Aufgabenstellungen etc. verbunden werden kann). Auch die Dekonstruktion braucht aber zuvor einen lohnenden Gegenstand, und der muss durch Aufmerksamkeit und kritisches Urteil erst einmal entdeckt werden. Die bisherigen Stichworte lauten also: Schlüsselprobleme, Widersprüche, Verwunderung, Sachanalyse, Dekonstruktion und Konstruktion, Beurteilen und Bewerten. Die Schüler befassen sich mit Gegenständen in variablen Kontexten, ihre Rolle verändert sich in die des sachkundigen Beobachters und De-Konstrukteurs von – relationalen – Sichtweisen. Sprachspiele im Kontext Kommen wir nun zu einem weiteren Gedanken, der die Lehrer und Schüler aktiv in der Sache und im Prozess macht: Sprache als Handlung und im Kontext. Der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein (1889-1951) nennt die Sprache als Handlung in einem bestimmten Lebenskontext ein Sprachspiel. Die Sprecher wissen, in welchem Kontext welche Regeln gelten; ohne Kenntnis der verschiedenen Regelsysteme könnte die Sprache keine Bedeutung in der Verständigung gewinnen. Die Verwendungsformen von Sprache können – entsprechend den Lebensformen/ Kontexten – z.B. sein: Erklären, Fragen, Begrüßen, Schule/ Krankenhaus/ Kaserne, Festlichkeiten, Familie etc.. Sprache, Handeln und Gesellschaft stehen im Zusammenhang. Wer das Sprachspiel beherrscht, kann in einer Situation sprachlich „richtig“ handeln. Die Bedeutung eines Wortes oder einer Rede ist nicht wie ein feststehender Gegenstand definiert, sondern Ausdruck einer jeweiligen Lebensform der Menschen; diese sind vielfältig, also ist auch die Bedeutung der sprachlichen Zeichen vielfältig. „Meine Überzeugungen bilden ein System, ein Gebäude.“ (Wittgenstein 1970, § 102, 35) „Das Kind lernt eine Menge glauben. D.h. es lernt nach diesem Glauben handeln. Es bildet sich nach und nach ein System von Geglaubtem heraus, und darin steht manches unverrückbar fest, manches ist mehr oder weniger beweglich. Was feststeht, tut dies nicht, weil es an sich offenbar oder einleuchtend ist, sondern es wird von dem, was darum herumliegt, festgehalten.“ (ebd. § 144, 146), im Dogmatismus der alltäglichen Hintergrundannahmen und –fertigkeiten, „im Modus der Selbstverständlichkeiten, in dem die Lebenswelt als präreflexiver Hintergrund präsent ist“ (Habermas 1995, I 451) Aber die Sprachspiele sind nicht als letzte Größen in der Verständigung zu betrachten; sonst bliebe man in der Relativität gefangen: „Ich sehe etwas so, also ist es für mich so – Du siehst 3
das anders, also ist es für dich anders“. Sie sind vielmehr selbst, wie die Lebensformen und Handlungen auch, unter den Gesichtspunkten Wahrheit, Wirksamkeit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit kritisierbar; oftmals sind sie „nicht wahrheitsfähig, und gleichwohl gültig oder ungültig“ (Habermas 1995, I 423, auch 147, 399, II 31-47) Wenn etwa ein Lehrer mit seinen Schülern spricht, ist dies bereits ein bestimmter Kontext, nämlich Schule/ Unterricht/ Leistungskontrolle. Das entsprechende Regelwerk kann sich beschränken z.B. auf die Benennung eines Gegenstandes durch ein Wort (hinweisendes Lernen) oder durch das Nachsprechen (reproduzierendes Lernen). Verstehen heißt dabei nicht, dass der Schüler etwas tiefergehend versteht, sondern dass er innerhalb des Sprachspiels die richtige Reaktion zeigt. Das kann man beim Benennen von Gegenständen zunächst noch unmittelbar nachvollziehen. Was aber ist z.B. mit Gefühlen, mit Erlebnissen, mit Wertungen? Im Sprachspiel muss gelernt werden, auch über andere Zeichen einen Begriff zu erkennen und zuzuordnen, z.B. Freude oder Schmerz. Auch hier gilt die situative „Richtigkeit“ der Sprachverwendung. Und was ist, wenn der Kontext uneigentlich ist, wie z.B. in der Lüge, der Halbwahrheit oder in der Ironie? Wenn es z.B. heißt: „Atomstrom ist billig“ und nicht dazu gesagt wird: „Aber/ denn die Endlagerung zahlt größtenteils der Steuerzahler“. Oder wenn z.B. die Werbung von einem „Null-Emissions-Auto“ spricht, und nicht dazu sagt, dass dieses Attribut natürlich nur ohne die Rohstoffe, die Produktion, die Entsorgung des Autos und ohne die gesamte Auto-Infrastruktur gilt. Die Werbung ist dann „nicht wahrheitsfähig, gleichwohl gültig“. Welche Regeln gelten dann und verhelfen einer Aussage zu ihrer – scheinbaren – Gültigkeit? Tabuisierung, Überwältigung, Verdrängung, Ahnungslosigkeit und mangelhafte Urteilskraft? Schlüsselproblem „Klimawandel“ im Sprachspiel Schüler dürften z.B. den Klimawandel als eines der epochaltypischen Schlüsselprobleme identifizieren mitsamt dem dazugehörigen Vokabular: Meeresspiegelanstieg, Wirbelstürme, Polkappenschmelze, Dürre, Überschwemmungen etc. Sie werden in der Schule das Leitbild der Nachhaltigkeit kennen gelernt haben als etwas Gutes, göttliche Schöpfung und menschliche Umwelt Bewahrendes. Dazu gibt es die aufklärerische Rede Al Gores im Oscar- gekrönten Film „Eine Unbequeme Wahrheit“ oder die Katastrophenbeschwörung in „The Day After Tomorrow“ (2004, nach dem Roman „The Coming Global Superstorm“). Man versteht dies als passend und richtig im Kontext „Benennen“, „Beschreiben“, „Erklären“, „Beurteilen“ und „Bewerten“. Dazu gehören auch die Handlungsorientierungen wie CO2 - Verminderung, Energieeffizienz, Risikovorsorge etc. Das Sprachspiel stiftet kontextuell richtige Bedeutungszuweisungen und Verständigung. Was aber nun, wenn eine Aussage diesen Regeln und der „richtigen“ Verständigung gänzlich widerspricht? Wenn der Klimawandel etwa nicht verdichtet und inszeniert in Gestalt eines meterdick vereisten Manhattan incl. der Public Library oder im überfluteten Vanuatu daherkommt, sondern in Gestalt von knackigen Partygästen in Diesel-Jeans auf dem Dach der Wolkenkratzer? Oder wenn der Klimawandel offenbar dafür gesorgt hat, dass statt der grauen Tauben nun farbenprächtige Aras auf dem Markusplatz in Venedig das Bühnenbild bestimmen, zusätzlich zu den auch hier knackigen Diesel-Jeans? Bild Diesel-Anzeige Venedig Was wäre denn hier der Kontext des Sprachspiels, in dem man sich verständigen könnte? 4
Dass hier etwas konstruiert worden ist, nämlich zunächst einmal fotoshop-mäßig, haben Jugendliche schnell erkannt, sie können dies situativ richtig auch so benennen: Fake! Aber ist auch hier ein tieferes Verstehen gar nicht intendiert? Z.B. mit der Frage: Warum hat hier jemand etwas so konstruiert, ganz anders, als der Film „The Day After Tomorrow“? Und was ist die intendierte Wirkung dieser Konstruktion? Wird vielleicht nur derjenige zum Sprachspiel zugelassen, der die Regeln dieses Kontextes akzeptiert, hier vielleicht die Regeln der Verfremdung oder des Zynismus? Wir unterstellen die Möglichkeit, dass die Bilder gar nicht ikonographisch, also etwa als Symbol oder als Metapher gemeint sind. Auch kann heute niemand darüber Klage führen, dass er von Bildern getäuscht worden sei, weil er ihnen und ihrer Abbild-Wahrheit vertraut habe. Die Firma Diesel jedenfalls behauptet in ihrer Selbstdeutung: „Wir sind nur ein Modelabel, und denken nicht (...), dass wir die Welt retten können, aber wenn unser unkonventioneller Ton und die Reputation unserer Marke es schaffen, die Aufmerksamkeit der Leute ein wenig länger zu halten ...“ Hier kann man das Zitat abbrechen und fragen: Aufmerksamkeit worauf? Auf den Klimawandel? Oder auf die Reaktion der Menschen darauf? Oder einfach auf das Label „Diesel“? Das eine wäre die ökologische Aufklärung über die regionale Differenzierung der Folgen der Erderwärmung von der Sahara über Manhattan bis zum Südpol, von Rio über den Mount Rushmore bis nach Venedig; das andere die soziologische Aufklärung über Verdrängung und das Titanic-Syndrom: „GLOBAL WARMING CAN’T STOP OUR LIVES“. Das ganze in Szene gesetzt, „in a way only Diesel can.“ 2 Im Internet (Fn 2) lässt sich zu dieser Idee der Aufmerksamkeitswerbung und den „uneigentlichen“ Fotos zum „Global Warming“ ein Set von 50 Kommentaren nachlesen. Lehrer und Schüler können daraus die Vielheit der Stimmen und die mögliche Einheit der Vernunft entnehmen, oder sie können diese kritisieren, korrigieren, ergänzen. Was könnte denn ein Zusammenhang zwischen der Klimakrise und den Diesel-Jeans sein? „Klar, du möchtest deine Jeans so lange behalten, bis sie dir von den Hüften fallen. Aber wenn es irgendwann dann doch so weit ist, isoliere doch einfach dein Dachgeschoss mit deinen alten Jeans. Das verringert den Wärmeverlust und senkt den Energieverbrauch. Und: Dein Dachgeschoss sieht erstaunlich hip aus – ganz im Jeans-Look.“ Uneigentliche, aber gültige Kontexte in der Metaperspektive Der Titanic-Effekt kann in der spätmodernen Gesellschaft ziemlich sicher unterstellt werden. Aber er bezieht sich nicht nur auf eine Seifenoper oder kulturkritische Gedankenspielerei, sondern er ist getragen von einem großen Ernstfall, dem Ernstfall der ökologischen Rationalität und dem Ernstfall der wirtschaftlichen Rationalität in einem globalen Markt. Kontexte und Lebensformen werden hier identifizierbar, wenn nach der Gültigkeit auch irritierender Aussagen gesucht wird. Der Zynismus besteht in der Quadratur des Kreises, also der direkten Verbindung von betriebswirtschaftlicher und ökologischer Vernunft. Entweder wird dieser Zynismus dekonstruiert oder er wird als zeitgeistiges Sprachspiel akzeptiert oder gar aktiv gepflegt. Die didaktische Hoffnung ist, dass auch im Zynismus die Gedanken in Bewegung kommen oder in Widerstreit geraten. Wenn daraus dann noch eine Metaperspektive über die Funktionsweise von Werbung und Wirtschaft und Konsumismus entsteht, und wenn diese vielfältig kommuniziert werden kann, wird weiteres Fachwissen mobilisiert und die Analysespinne in den „Bildungsstandards Geographie“ (DGfG 2006, 34) erhält weitere Fäden und Knoten. 2 www.notcot.com/archives/2007/02/global_warming.php 5
Verwunderung: „So ist es!“ – „Ist es so?“ Wir suchen nicht mehr nach einem einfachen Thema mit entsprechenden Aufgaben, die sich aus Eindeutigkeit, Lehrer-/Schüler-/Schulbuchsicherheit und Abfragbarkeit legitimieren. Probleme werden vielmehr, vor dem Hintergrund des schon Gewussten, selbstständig entdeckt, in authentischen Situationen oder an der Front laufender Diskurse. Wichtige Impulse dabei sind Mehrdeutigkeiten, Widersprüche und offenkundig eingeschränkte Sichtweisen (professionelle Tunnelblicke, Fenster der Weltbeobachtung). Aus einem instruierten Denken wird ein befreites Denken, man muss das gar nicht als „anders“ abgrenzen. „Kreatives Denken ist in erster Linie befreites Denken – nicht gehemmt von Furcht oder Routine oder perfektem Vorbild -, es ist kein anderes Denken“ (VON HENTIG 2000:72). „So ist es!“ – „Ist es so?“ (Mutius 2004, 40f) Der Hauptseminarleiter Volker Schmidtke (Köln) hat das in einer Handreichung über Aufgabenstellungen so formuliert: Formulierungen nicht (nur) in der üblichen Form „Beschreiben Sie ...“/ „Analysieren Sie“/ „Vergleichen Sie“/ „Beurteilen Sie“, sondern auch als Hinweise auf das Einnehmen bestimmter Fragehaltungen, als Aufforderungen zur persönlichen Stellungnahme und zum Problematisieren vermeintlicher ‚Fakten’ und ‚Sachzwänge’, als Aufforderung zum Aufdecken von Interessen und Macht (und deren Durchsetzung), als Impuls für das Einnehmen anderer Perspektiven, als Handlungsanweisungen, als Fragen zum Verständnis, als Aufforderung, die eigene Beobachtung und Perspektive zu beobachten und ich ihrem Zustandekommen zu befragen.“ (vgl. auch Grzesik 1994) Die Lage ist so ernst, ökonomisch und ökologisch und kulturell, dass wir mit einer einfachen schulischen Instruktion und einer einfachen Morallehre nicht mehr landen werden. Am Anfang des Lehrens und Lernens steht also nicht mehr die Klarheit einer fertigen Themenstellung und eines fertigen Ergebnisses, sondern die Irritation, die Spannung zwischen Wissen und Nichtwissen. „Verwunderung war dem Menschen jetzt wie vormals der Anfang des Philosophierens“. „Wer recht erkennen will, muss zuvor in richtiger Weise gezweifelt haben.“, (Aristoteles, Metaphysik I 2, 982 b 11 squ.) 6
Literatur: DEUTSCHE GESELLSCHSCHAFT FÜR GEOGRAPHIE (DGFG)(2006, 5.2009): Bildungsstandards im Fach Geographie für den Mittleren Schulabschluss. Bonn GRZESIK, J. (1994): Unterricht. Der Zyklus von Lehren und Lernen. Stuttgart HABERMAS, JÜRGEN (1981/ 1995): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., Frankfurt/M. HELFERICH, CHRISTOPH (21992): Geschichte der Philosophie. Stuttgart, bes. 382-388 HENTIG, H. VON (2000): Kreativität. Hohe Erwartungen an einen schwachen Begriff. Weinheim, Basel. MUTIUS, BERNHARD VON (Hg)(2004): Die andere Intelligenz. Wie wir morgen denken werden. Stuttgart WITTGENSTEIN, LUDWIG (1960) : Philosophische Untersuchungen. In: Schriften Bd I, Frankfurt/M, S. 279-544 WITTGENSTEIN, LUDWIG (1970) Über Gewissheit. Frankfurt/M 7
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