Berlinale 2020 Hochwertiges Filmprogramm ohne Starkult - TV Diskurs

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Berlinale 2020 Hochwertiges Filmprogramm ohne Starkult - TV Diskurs
Berlinale 2020

Hochwertiges Filmprogramm ohne Starkult

Lisa Heike Adler/Werner C. Barg

Die 70. Filmfestspiele Berlin machten zehn Tage lang Berlin wieder zur Hauptstadt des Welt-
kinos. Die Berlinale fand erstmals unter Leitung der neuen Doppelspitze Mariette Rissenbeek
und Carlo Chatrian statt. Am 29. Februar wurden die Preise verliehen. Eine Bilanz.

Der Berlinale-Gewinner: Es gibt kein Böses
Freitag, 28. Februar 2020, Berlinale-Palast, abends: Der rote Vorhang senkt sich über den
iranischen Film Es gibt kein Böses (Sheytan vojud nadarad/There Is No Evil). Schon seit der
Abspann läuft, applaudiert und jubelt das Publikum. Auch jetzt, als das Licht im Saal angeht,
bricht der Beifall nicht ab. Das Publikum ist begeistert, so begeistert wie noch bei keinem Film
im diesjährigen Wettbewerb. Die Menschen geben Standing Ovations. Noch minutenlang
applaudieren sie dem Team des beeindruckenden Films, der in vier Episoden von Menschen
erzählt, die direkt oder indirekt in das Hinrichtungssystem der Islamischen Republik Iran invol-
viert sind. Leise und intensiv erzählt der Film. Laut und aufbrausend ist die Reaktion der Zu-
schauer. Das Filmteam steht – eine Neuerung im Festival – nicht auf der Bühne, sondern ne-
ben ihren Plätzen inmitten des Publikums im Parkett. Der euphorische Applaus ist
Ermunterung für ihren Mut, den Mut der Filmemacher, gegen die iranischen Machthaber un-
abhängiges und gesellschaftskritisches Kino durchzusetzen, während die Revolutionswächter
von einem islamischen Propagandakino träumen (Peitz 2020).

Für den Kampf um freie Meinungsäußerung im Iran stehen Regisseure wie Jafar Panahi, des-
sen Filme auch schon auf der Berlinale liefen und ausgezeichnet wurden, und eben Moham-
mad Rasoulof, der Es gibt kein Böses geschrieben und inszeniert hat. Sein Sitzplatz im Berli-
nale-Palast ist leer. Das Regime hat ihm schon 2017 den Pass abgenommen. Er darf das Land
nicht verlassen und kann nicht zur Vorführung seines Films in Berlin sein. Wie Panahi ist auch
Rasoulof im Iran für seine Filmkunst mit Gefängnishaft bedroht. So ist der Applaus des Publi-
kums auch ein politischer Appell an das iranische Regime, die Freiheit der Kunst, des Films
und ihrer Macher zu achten.

Nicht wenige im Berlinale-Palast hofften, den zukünftigen Preisträgerfilm gesehen zu haben.
Und so kam es dann auch: Am Samstagabend, einen Tag später, erklärte die Jury tatsächlich
Es gibt kein Böses zum Besten Film des Festivals. Im Rahmen der festlichen Preisverleihung
nahm Baran Rasoulof, die Tochter des Regisseurs, im Namen ihres Vaters den Goldenen Bä-
ren aus den Händen des Jurypräsidenten Jeremy Irons entgegen. Baran Rasoulof lebt mit

Erstellt: 04.03.2020
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ihrer Mutter seit einigen Jahren in Hamburg. Mohammad Rasoulof hat seine Familie nach
Deutschland in Sicherheit gebracht, ist nun aber seit 2017 von ihr getrennt.

In seinem Film, der zudem den Preis der Ökumenischen Jury und den „Gilde Filmpreis“ ge-
wonnen hat, thematisiert der Regisseur auch diese komplizierte Familiensituation. In der vier-
ten Episode spielt seine Tochter Baran eine junge Iranerin, die in Deutschland lebt und bei
einem Besuch im Iran einen starken Konflikt wegen des Vaters durchleben muss.

Farzad Pak und Kaveh Farnam, die Produzenten des Films, betonten in ihren bewegenden
Dankesreden die hohe symbolische Bedeutung der Bärenauszeichnung für den Kampf gegen
die Zensur und um die Menschenrechte in ihrem Land.

Doch es ist keineswegs nur die klare, authentisch vorgetragene politische Botschaft, die
Rasoulofs Film auszeichnet, es ist auch die sehr gelungene dramaturgische und ästhetische
Gestaltung, mit der der Regisseur das Thema Todesstrafe in den Geschichten seiner vier
Zentralfiguren umkreist und hierbei immer neue, sehr persönliche Perspektiven gewinnt. Sie
verdichten sich in seinem Film zu einem klaren Plädoyer gegen jede staatliche Tötungsma-
schinerie, nicht nur im Iran. Ein stilles Meisterwerk, das die Jury zu Recht ausgezeichnet hat
und hoffentlich bald im Kino zu sehen sein wird.

Deutliche filmische Botschaften waren rar
Neben Es gibt kein Böses waren nur wenige Filme mit klaren Botschaften im Festivalpro-
gramm zu sehen. Andrew Levitas’ spannend und sensibel inszenierter Film Minamata, der in
der Sektion „Berlinale Gala“ präsentiert wurde, ist ein klarer Appell gegen Umweltsünden
großer Konzerne und für den mutigen Kampf um angemessene Opferentschädigung.

Der Fotograf W. Eugene Smith (Johnny Depp), der mit seinen Fotos für das „Life“-Magazin
und die Fotoagentur „Magnum“ berühmt geworden ist, wird 1971 von der jungen japani-
schen Umweltaktivistin Aileen (Minami) überredet, die furchtbaren Folgen von Quecksilber-
vergiftungen zu fotografieren, die ein Chemiekonzern in der Region Minamata verursacht. Die
Fotos des berühmten Kriegsfotografen sollen die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit auf
Minamata lenken und damit den Konzern zum Umdenken bewegen.

Levitas inszeniert die wahre Geschichte als spannenden Politthriller mit leisem Humor und
psychologisch interessanten Figuren. Johnny Depp spielt den in sich zerrissenen Fotografen
Smith ebenso intensiv wie nuanciert. In der Pressekonferenz appellierte Depp an die Verant-
wortung eines jeden Einzelnen. Anhand des Bildes „Die Macht des Kleinen“ aus dem I Ging
(Buch der Wandlungen) erläuterte er, dass jeder ein wenig dafür sorgen könne, die Welt zu
einem umweltfreundlicheren Ort zu machen.

Demgegenüber ließ der französisch-kambodschanische Wettbewerbsbeitrag Irradiés (Irradi-
ated), der den Silbernen Bären als Bester Dokumentarfilm gewann, das Publikum mit einem
zwiespältigen Gefühl zurück. Überwiegend im Split-Screen-Verfahren durch eine Teilung der

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Leinwand in drei Bilder, die oft parallel, manchmal auch kontrastierend eingesetzt werden,
zeigt der Film in dokumentarischen Archivaufnahmen die Gräueltaten, die Menschen anderen
Menschen in den Kriegen des 20. Jahrhunderts antaten. Regisseur Rithy Panh subsumiert die
Grausamkeiten vom Holocaust bis zu den US-Napalm-Angriffen in Vietnam allesamt unter
„das Böse“, dem er im verbalen Schlusskommentar des Films, gesprochen von André Wilms
und Rebecca Marder, sowie durch vereinzelnd eingeschnittene szenische Darstellungen des
Butoh-Künstlers Bion eine menschliche „Unschuld“ entgegensetzt, die durch das „Böse“
nicht antastbar sei. Dieser rein phänomenologische Blick auf die menschliche Bestialität in der
jüngeren Historie relativiert Geschichte und grenzt – trotz der ohne Zweifel gut gemeinten
Absichten – die politischen und sozialen Kontexte der Kriege des vergangenen Jahrhunderts
aus. Trotz klarer moralischer Botschaft fehlt Irradiés die analytische Schärfe.

Gelungen ist dagegen Bettina Böhlers Dokumentarfilm Schlingensief – In das Schweigen hin-
einschreien. Der Film, der in der Reihe „Panorama Dokumente“ zu sehen war, geht dem Werk
des 2010 verstorbenen Film- und Theaterregisseurs nach, der zuletzt als politischer Aktions-
künstler durch seine provokanten Kampagnen auf zunehmende rechtsradikale Tendenzen in
der deutschen und österreichischen Gesellschaft aufmerksam machen wollte. Ganz dem Leit-
satz seines Vaters, eines Apothekers, folgend, Krankheiten auch mit kleinen Dosen von Gift
bekämpfen und heilen zu können, nutzte Schlingensief bei seinen Aktionen den provokanten
Einsatz von Parolen und Symbolen der sich formierenden Neuen Rechten, um die sich aus-
breitende Hass-Krankheit in der Gesellschaft zu bekämpfen. Böhlers Film macht deutlich, wie
sehr der Apothekersohn heute fehlt. Mittlerweile hat das Gift von Hass und Rassismus sich
tatsächlich immer tiefer in unsere Gesellschaft eingefressen.

Wie schwer es ist, dem gesellschaftlichen Mechanismen der strukturellen Gewalt heutzutage
eine humane Haltung entgegenzusetzen, zeigte der französische Beitrag Police (Night
Shift/Bis an die Grenze), der als „Berlinale Gala“ präsentiert wurde. Der Film von Anne Fon-
taine mit Virginie Efira, Omar Sy und Grégory Gadebois in den Hauptrollen erzählt von dem
Versuch dreier Polizisten, die Abschiebung eines politisch Verfolgten zu vereiteln.

Mehr Fragen als Antworten
Viele Festivalbeiträge lieferten eindringliche Beschreibungen und Studien zur Lage menschli-
cher Gesellschaften rund um den Erdball. Die Mehrzahl der Filme stellten allerdings mehr
Fragen an heutige Lebenssituationen, als dass sie Antworten geben konnten oder wollten.
Die Ratlosigkeit, die manche Filmemacher angesichts komplexer gesellschaftlicher Zeitläufte
umfängt, teilen sie über ihre Filme mit dem Publikum.

Im südkoreanischen Wettbewerbsbeitrag The Woman Who Ran (Domangchin yeoja/Die Frau,
die rannte) verbergen sich hinter dem Wortschwall der jungen Gamhee (Kim Minhee), die
während einer Geschäftsreise ihres Mannes drei frühere Freundinnen besucht, persönliche

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Entfremdung, seelische Abgründe und Frustrationen, die auf die Situation von Frauen in asi-
atischen Gesellschaften verweisen. Regisseur Hong Sangsoo erhielt für seine sensible Insze-
nierung seiner Frauenfiguren den Silbernen Bären für die Beste Regie.

Favolacce (Bad Tales), was so viel heißt wie: „Schlechte Geschichten“, erzählt am Beispiel
zweier Mittelschichtsfamilien, die am Rande Roms in einer anonymen Vorortsiedlung wohnen,
von der zunehmenden Frustration und Gewaltbereitschaft in der Mitte der Gesellschaft. Die
Regisseure, die Brüder Damiano und Fabio D’Innocenzo, wurden mit dem Silbernen Bären
für das Beste Drehbuch ausgezeichnet.

Alte Mythen neu erzählt
Ein weiterer Trend, den das Berlinale-Programm für das Kino 2020 zeigte, ist die Rückbesin-
nung auf überlieferte Erzähltraditionen, auf Mythen, Märchen und andere erfolgreiche Erzähl-
muster in Literatur und Film.

Der US-Wettbewerbsbeitrag First Cow von Kelly Reichardt dekonstruiert den Mythos vom
„Wilden Westen“ und erzählt von einem wortkargen Koch und dessen Freundschaft zu einem
chinesischen Emigranten. Gemeinsam entwickeln sie die Idee, Milchbrötchen zu backen und
auf dem Markt einer nahegelegenen Siedlung im Oregon des frühen 19. Jahrhunderts zu ver-
kaufen. Die Donuts kommen gut an. Das Geschäft floriert. Der Haken: Die Milch klauen die
beiden bei der einzigen Kuh im Dorf, die dem Bürgermeister gehört. Als er ihnen draufkommt,
wird der Westen doch noch wild.

Ohne einen Mord geht es auch in Christian Petzolds Undine nicht ab. So wie Petzold schon
in Transit, seiner Verfilmung des gleichnamigen Exilromans von Anna Seghers, die vor zwei
Jahren auf der Berlinale lief, den Erzählstoff aus der Vergangenheit in die Gegenwart verla-
gerte, so aktualisiert er nun in Undine die uralte Sage um die jungfräuliche Nixe, die erst
Mensch sein darf, wenn sie sich vermählt, und die allen Männern den Tod bringt, die ihr untreu
werden. Wie schon in Transit spielt Paula Beer auch im neuen Petzold-Film an der Seite von
Franz Rogowski die Hauptrolle. Als Wassergeist Undine erklärt sie in Gestalt einer promovier-
ten Historikerin ausländischen Delegationen die Stadtentwicklung Berlins, dem Ort am
Sumpf. Sie ertränkt einen Mann, der sie verlässt, und muss einen anderen, den sie unsterblich
liebt, gehen lassen. Für ihre schauspielerische Leistung wurde Paula Beer mit dem Silbernen
Bären als Beste Darstellerin ausgezeichnet.

Bei der Jagd um die begehrten Berlinale-Bären ging Burhan Qurbanis Neuverfilmung des
Alfred-Döblin-Romanklassikers Berlin Alexanderplatz dagegen leer aus, obwohl er – ebenso
wie First Cow – als Bären-Favorit gehandelt wurde. Qurbani und sein Mitautor Martin Behnke
verlegen Döblins Geschichte des Franz Biberkopf, der in einer Welt voller Gemeinheiten gut
sein will, aus den turbulenten Zeiten im Berlin der späten 1920er-Jahre in die Berliner Halb-
welt von heute. Sie ist aber – zumindest in ihrem Film – noch immer wie zu Döblins Zeiten die

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„Hure Babylon“ geblieben, eine Welt voller Brutalität und ohne Mitleid, bevölkert von larmo-
yanten Drogendealern und drogensüchtigen Prostituierten, eloquenten Queer-Lebedamen,
kleinen Ganoven und großen Gangstern. Hier sucht der afrikanische Emigrant Francis (Welket
Bungué) einen Platz, in dem er seine persönliche Integrität bewahren kann, nachdem er der
Hölle der Flucht und dem Stillstand im Flüchtlingsheim entkommen ist. Qurbanis Film greift
die Mythologie des Romans anders auf, als dies Rainer Werner Fassbinder in seiner legendä-
ren Fernsehserie vor mehr als 25 Jahren tat, und entfaltet damit einen Sog des Erzählens, der
in dieser Dynamik nur in wenigen Filmen der Berlinale zu sehen war.

Beziehungsfilme im Fokus
Schließlich machte Berlin Alexanderplatz noch eine weitere Tendenz der diesjährigen Berli-
nale-Filme ganz offenbar: Stärker als im Roman rücken Drehbuch und Regie der Neuverfil-
mung die Beziehung zwischen Francis, der sehr bald Franz genannt wird, und dem psychopa-
thischen Kriminellen Reinhold (Albrecht Schuch) als eine merkwürdig unentschiedene,
homoerotisch angehauchte Männerfreundschaft in den Fokus.

Auch in First Cow bildet eine Männerfreundschaft das emotionale Kraftzentrum des Filmdra-
mas, und in Persian Lessons von Vadim Perelman nach der Geschichte „Erfindung einer Spra-
che“ von Wolfgang Kohlhaase wird eine unter dem Zwang der KZ-Bedingungen hergestellte
Verbindung zwischen dem jüdischen Häftling Gilles (Nahuel Pérez Biscayart) und dem SS-
Offizier Koch dargestellt.

Koch, Chef der Lagerküche, möchte nach dem Krieg in Teheran ein Restaurant eröffnen. Des-
halb lässt er unter den Häftlingen nach Menschen fahnden, die persisch sprechen. Um sein
Leben zu retten, gibt sich Gilles als Iraner aus, der fortan dem SS-Mann Persisch beibringt und
sich hierbei einiges einfallen lassen muss, um eine Sprache zu erfinden, die er gar nicht kennt.

Sehr differenziert arbeitet Regisseur Perelman die hierarchischen Befehlsketten im Lager her-
aus. Er zeigt die Wachmänner und -frauen als fanatische Rassisten, die Gilles für einen Betrü-
ger halten und ihn am liebsten sofort zu Tode quälen würden, aber auch als verzweifelte und
frustrierte Liebende, die von den SS-Offizieren als Spielbälle sadistischer Machtspielchen be-
nutzt werden, während sie selbst als zynisch-brutale Karrieristen immer schon an ihr Fortkom-
men nach dem „Endsieg“ denken. Alexander Beyer als SS-Lagerkommandant und Lars Eidin-
ger als SS-Mann Koch spielen diese Typen erschütternd glaubwürdig.

Sowohl im Schweizer Wettbewerbsbeitrag Schwesterlein (My Little Sister), wiederum mit Lars
Eidinger und zudem Nina Hoss in den Hauptrollen, als auch in Sally Potters Wettbewerbsbei-
trag The Roads Not Taken stehen Familienbeziehungen vor dem Hintergrund einer schweren
Krankheit im Mittelpunkt der Handlung. In Potters Film kämpft Tochter Molly (Elle Fanning)
an einem Tag in New York um die Verbesserung der seelischen Gesundheit ihres Vaters Leo
(Javier Bardem). Doch der demenzkranke Schriftsteller ist mehr und mehr in seine eigene Welt
aus Phantasie und Erinnerung abgedriftet. Dort durchdenkt er verschiedene Versionen davon,

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wie sein Leben verlaufen ist oder hätte verlaufen können. Javier Bardems grandioses Spiel ist
der emotionale Anker in Sally Potters melodramatischem Filmrätsel, in dem Leos Gedanken
in verschiedenen Handlungssträngen labyrinthisch miteinander verwoben sind.

Schließlich standen in vielen Festivalbeiträgen auch Frauenbeziehungen im Zentrum. Eliza
Hittmans Coming-of-Age-Film Never Rarely Sometimes Always, der schon beim Sundance
Filmfestival gefeiert wurde und nun – gleichfalls ein Novum – dennoch im Berlinale-Wettbe-
werb laufen durfte, erzählt davon, wie schwer es jungen Frauen in ländlichen Regionen der
USA gemacht wird, eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Gleichzeitig spiegelt er beiläufig
die kleinen und großen alltäglichen sexuellen Übergriffe an Frauen und ist als Roadmovie
inszeniert, dessen junge Protagonistinnen (Sidney Flanigan und Talia Ryder) neben ihrem ver-
wandtschaftlichen Verhältnis eine tiefe, loyale und unterstützende Freundschaft verbindet.
Die ruhig und feinsinnig in Szene gesetzte Geschichte wurde mit dem „Silbernen Bären –
Großer Preis der Jury“ ausgezeichnet.

Sperrige Charaktere
Carlo Chatrian, der neue künstlerische Leiter der Berlinale, fasst die Ausrichtung vieler Berli-
nale-Filme folgendermaßen zusammen:

       „Filme sind eine Aufforderung an die Zuschauer*innen, sich von Gewissheiten zu lösen
       und jemand anderes zu werden, auch wenn dieser Jemand uns befremdet, kein Super-
       held ist oder uns gegen den Strich geht“ (Chatrian 2020, S. 4).

So werden die Zuschauer in Giorgio Dirittis Hidden Away (Volevo nascondermi) eingeladen,
sich mit einer außergewöhnlichen Künstlerfigur auseinanderzusetzen. Der biografische Film
zeichnet das Leben des Ausnahmekünstlers Antonio Ligabue nach, dessen körperlichen und
geistigen Leiden ihn zeitweilig so weit an den Rand der Gesellschaft drängen, dass er unter
primitivsten Umständen im Wald leben muss. Nur durch die Hilfe anderer Künstler wie dem
Bildhauer Renato Marino Mazzacurati (Pietro Traldi) findet Ligabue zurück ins Leben. Elio Ger-
mano hat dem sperrigen Charakter zwischen Genie und Wahnsinn, Absturz und Anerkennung
eine mehr als intensive und überzeugende Körperlichkeit gegeben. Für seine herausragende
Leistung wurde Germano mit dem „Silbernen Bären“ als Bester Darsteller ausgezeichnet.

Fazit: Die Berlinale ist politisch geblieben, aber prosaischer geworden
Mit den Bären-Entscheidungen wie mit dem Programm der diesjährigen Berlinale insgesamt
hat sich die Berlinale erneut als Filmfestival mit einem stark politischen und gesellschaftskriti-
schen Anspruch profiliert. Es ist der neuen Festivalleitung zu verdanken, dass die internatio-
nale Vielfalt der Filme bei gleichzeitig hoher Qualität der Produktionen größer geworden ist.

Erstellt: 04.03.2020
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Das Festivalpublikum konnte in diesem Jahr einen hervorragenden Überblick über das film-
künstlerische Schaffen im Weltkino gewinnen. Zum Weltkino gehört allerdings auch der Hol-
lywoodfilm, der in diesem Jahr – außer in der Retrospektive mit den Klassikern von King
Vidor – kaum vertreten war.

Der kanadische Berlinale-Eröffnungsfilm My Salinger Year brachte Hollywood-Altstar Sigour-
ney Weaver nach Berlin, und am Tag danach präsentierte US-Star Johnny Depp den Film
Minamata. Ihnen folgten im Laufe der zehn Festivaltage viele prominente internationale Grö-
ßen des Filmgeschäfts: Willem Dafoe, Javier Bardem, Salma Hayek, Elle Fanning, Stellan
Skarsgård, Roberto Benigni, Omar Sy oder die britische Schauspielerin Helen Mirren, die für
ihr Lebenswerk mit einem „Ehrenbären“ ausgezeichnet wurde. Auch Politgrößen wie Hillary
Clinton, die den Dokumentarfilm Hillary von Nanette Burstein präsentierte, sowie viele pro-
minente deutsche Schauspielerinnen und Schauspieler gaben sich die Ehre auf den Roten
Teppichen der diesjährigen Festivalkinos.

Dennoch wollte so recht keine Star-Atmosphäre, kein Star-Appeal aufkommen. Der vormalige
Festivaldirektor Dieter Kosslick hatte im dunklen Livree mit rotem Schal die Stars auf dem
Roten Teppich dirigiert, hatte sie, Männer wie Frauen, als stets charmanter Gastgeber zu ihren
Sitzplätzen geführt und sich im Berlinale-Palast als witziger und gewitzter Zeremonienmeister
präsentiert. Das mag heute manchen als „Old School“ erscheinen, aber Kosslick hatte mit
seiner Eleganz den Auftritt der Stars noch betont.

Die neue Festivalleitung hielt sich dagegen bei ihrer ersten Berlinale eher dezent im Hinter-
grund, vermied jeden Rummel, mochte den Kult um die Auftritte der Stars nicht vergrößern.
So wurde etwa Dame Helen Mirren, später als „Queen of Cinema“ geehrt, zu Beginn der
Ehrenbärenverleihung kein „großer Auftritt“ in den Berlinale-Palast gewährt. Ohne jede An-
kündigung stand sie plötzlich etwas verloren im Aufgang zum Parkett und wurde dann – nach-
dem das Publikum den Star entdeckt hatte – mit einer großen Woge der Sympathie und viel
Jubel zu ihrem Platz geleitet. Die anschließende Verleihung war sehr respektvoll und dank
des britischen Humors der Preisträgerin auch sehr amüsant.

Zu einiger Irritation unter langjährigen Festivalbesuchern führte die Entscheidung, Cast und
Crew der Wettbewerbsfilme nach der Premierenvorführung nicht mehr auf die Bühne vor die
Leinwand zu holen, wie es bei jeder Filmpremiere üblich ist. Vielmehr blieben alle am Film
Beteiligten auf ihren Plätzen im Parkett und nahmen von dort aus die Ovationen des Publi-
kums entgegen. Damit auch die Zuschauer in den Rängen das Geschehen im Parkett sehen
konnten, wurde eine Übertragung auf die Leinwand eingerichtet. Die Möglichkeit für die Fil-
memacher, von der Bühne aus ein paar Worte ans Publikum zu richten, wurde abgeschafft.

Vielleicht lag es an diesem neuen, etwas distanzierten Umgang mit den anwesenden Filmgrö-
ßen, vielleicht an der weitgehenden Abwesenheit Hollywoods oder auch an den unglückli-
chen Rahmenbedingungen des diesjährigen Festivals: Die Berlinale ist prosaischer und nüch-
terner geworden.

Erstellt: 04.03.2020
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Im Vorfeld musste die neue Festivalleitung auf die Enthüllungen zur NS-Vergangenheit des
früheren Festivaldirektors Alfred Bauer reagieren, der Festivalauftakt wurde durch das Massa-
ker eines Rechtsradikalen in Hanau überschattet, und während des Festivals sorgte die Aus-
breitung des Coronavirus in Deutschland für Unruhe und ließ die Zuschauerreihen zumindest
im Berlinale-Palast zum Ende des Festivals lichter werden.

Schließlich waren auch die baulichen Umstände am zentralen Festivalort, dem Potsdamer
Platz, alles andere als erbaulich. Das einst wichtige Festivalkino CineStar im Sony-Center ist
geschlossen, die Shoppingmall in den Potsdamer-Platz-Arkaden wird demnächst umgebaut
und bot mit den leeren und verriegelten Ladengeschäften einen Anblick wie aus einer düste-
ren Film-Dystopie. Schließlich war auch noch die U-Bahn-Verbindung zum Potsdamer Platz
halbseitig gelähmt. Die Bahnen hielten nur aus einer Richtung an der Station „Potsdamer
Platz“.

Doch trotz all dieser Widrigkeiten darf abschließend festgestellt werden, dass der neuen Fes-
tivalleitung Rissenbeek & Chatrian und ihren Teams ein sehr erfolgreicher Auftakt ihrer Tätig-
keit gelungen ist: Ihre Jubiläumsberlinale bewahrte die Tradition eines weltoffenen, kritischen
Festivals und setzte mit einem hochwertigen Filmprogramm zugleich neue Akzente.

Literatur
Chatrian, Carlo: Vertrauen Sie Ihren Fragen. In: Berlinale (Hrsg.): Wettbewerb. Katalog. Berlin 2020, S. 4–5
Peitz, Dirk: „Die Revolutionswächter wollen ein islamisches Hollywood“. Interview mit Mohammad Rasoulof. In:
Zeit Online, 28.7.2019. Abrufbar unter https://www.zeit.de (letzter Zugriff: 03.03.2020)

                                                          Dr. Werner C. Barg ist Autor, Produ-
                                                          zent und Dramaturg. An der Martin-
                                                          Luther-Universität Halle-Wittenberg
                   Lisa Heike Adler ist freiberufliche    (MLU) vertritt er im Institut für Musik,
                   Schauspielerin, Schauspiel-Coach,      Medien- und Sprechwissenschaften
                   Autorin und Regisseurin.               die Professur „Audiovisuelle Medien“.

Erstellt: 04.03.2020
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