MULTIFAKTORPRODUKTIVITÄT IN DEN VOLKSWIRTSCHAFTLICHEN GESAMTRECHNUNGEN - Statistisches Bundesamt
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MULTIFAKTORPRODUKTIVITÄT IN DEN VOLKSWIRTSCHAFTLICHEN Peter Kuntze ist Diplom-Volkswirt und leitet das GESAMTRECHNUNGEN Referat „Entstehung des Inlands produkts“ des Statistischen Bundesamtes. Die Tätigkeitsschwer- Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn punkte des Referats liegen bei der Berechnung der Bruttowertschöp- fung nach Wirtschaftsbereichen sowie der Nettogütersteuern. Schlüsselwörter: Arbeitsproduktivität — Multifaktorproduktivität — Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen — Kapitaldienstleistungen — Wirtschaftswachstum ZUSAMMENFASSUNG Die Produktivität einer Volkswirtschaft ist ein Kennzeichen ihrer Wettbewerbsfähig- keit und zugleich ein entscheidender Faktor für den künftigen materiellen Wohlstand. Dabei steht meist die Arbeitsproduktivität im Fokus. Dieser Artikel beleuchtet ein alternatives Produktivitätsmaß, die Multifaktorproduktivität. Diese ist bislang kein Benedikt Kuckelkorn Bestandteil des Veröffentlichungsprogramms der amtlichen Statistik in Deutschland, ist Ökonom und war bis Ende Juni kann jedoch mit den Daten der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen berechnet 2021 wissenschaftlicher Mitar- beiter im Referat „Entstehung des werden. Ausgehend von der theoretischen Herleitung werden zwei verschiedene In- Inlandsprodukts“ des Statistischen dikatoren für die Multifaktorproduktivität vorgestellt und deren Ergebnisse analysiert, Bundesamtes. Seit Juli 2021 ist er sowohl für die Gesamtwirtschaft als auch für wichtige Teilbereiche. wissenschaftlicher Mitarbeiter im Referat „Vermögensrechnung, Internationale VGR Methodik“. Keywords: labour productivity — multifactor productivity — national accounts — capital services — economic growth ABSTRACT The productivity of an economy is an indicator of its performance and at the same time a decisive factor for future material prosperity. Usually, the focus is on labour produc- tivity. This article looks at an alternative productivity measure, multifactor productivity. It is not yet part of the publication programme of official statistics in Germany but can be calculated with national accounts data. Starting from the theoretical derivation, we present two different indicators for multifactor productivity and analyse their results both for the economy as a whole and for important sub-sectors. 64 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen 1 genannten partiellen Produktivitätsmaßen. Kapitel 3 stellt die Berechnung und die verwendeten Daten vor. Dabei liegt besonderes Augenmerk auf der Messung des Einleitung Faktors Kapital, für die es konzeptionell stark voneinan- der abweichende Optionen gibt. In Kapitel 4 werden die Die Produktivitätsentwicklung ist ein wichtiger Indikator Ergebnisse analysiert und durch den Vergleich mit vor- für die Veränderung der Leistungs- und Wettbewerbs- handenen Berechnungen anderer Institutionen in einen fähigkeit. Dies gilt sowohl für im Wettbewerb stehende größeren Kontext gestellt. Der Beitrag schließt mit einer Unternehmen als auch für die Wirtschaft als Ganzes. Zusammenfassung der wichtigsten Erkenntnisse und Die Entwicklung der Produktivität hat darüber hinaus einem Ausblick auf die weiteren Arbeiten. Einfluss auf den lohnpolitischen Verteilungsspielraum und damit letztlich auf den materiellen Wohlstand einer Gesellschaft. 2 Für die makroökonomische Beurteilung der Produktivi- tätsentwicklung stellen die Volkswirtschaftlichen Gesamt- Grundlagen der Produktivitätsmessung rechnungen (VGR) derzeit zwei Indikatoren zur Verfügung: die Arbeitsproduktivität sowie die Kapitalproduktivität. Produktivität wird im Allgemeinen definiert als das Ver- Veröffentlicht werden diese für zehn zusammengefasste hältnis des Outputs zu einem oder mehreren Inputs. Sie Wirtschaftsbereiche sowie die Gesamtwirtschaft. | 1 Die ist ein Maß für die Effizienz der Produktion, das auf der Arbeitsproduktivität wird zudem vierteljährlich sowie auf Ebene einzelner Unternehmen, aber auch gesamtwirt- Stunden- und Personenbasis publiziert. schaftlich von großer Bedeutung ist. Maßgeblich für den vorliegenden Beitrag ist die gesamtwirtschaftliche Pers- Die veröffentlichten Indikatoren für die Arbeits- und die pektive. Kapitalproduktivität haben den Vorteil, dass sie ohne besondere Annahmen zu berechnen und intuitiv ver- Aus der Kombination von Maßen für den Output und für ständlich sind. Die Multifaktorproduktivität dagegen den Input resultiert eine Vielzahl möglicher Produktivi- misst die Effizienz des kombinierten Einsatzes der Pro- tätsindikatoren. Grundsätzlich wird zwischen der (par- duktionsfaktoren und stellt in beiderlei Hinsicht höhere tiellen) Einzelfaktor- und der Multifaktorproduktivität Anforderungen. Das Statistische Bundesamt arbeitet (auch Totale Faktorproduktivität genannt) unterschie- derzeit an einem von der Europäischen Kommission den. Im ersten Fall wird die Ausbringungsmenge auf kofinanzierten Projekt, das die Weiterentwicklung der einen einzelnen Produktionsfaktor – wie Arbeit, Kapital Produktivitätsmessung in den VGR zum Ziel hat. Hierzu oder Energie – bezogen. Das bekannteste Einzelfaktor- zählt die erstmalige Berechnung der Multifaktorpro- Produktivitätsmaß ist die Arbeitsproduktivität. Sie ist duktivität durch die amtliche Statistik. Indikatoren definiert als Output (in der Regel gemessen durch das sollen möglichst vollständig auf Basis veröffentlichter Bruttoinlandsprodukt für die Gesamtwirtschaft oder die VGR-Daten und mit wenigen zusätzlichen Annahmen Bruttowertschöpfung für einzelne Wirtschaftsbereiche) zu berechnen sein, damit die Ergebnisse bei einer mög- geteilt durch den Arbeitseinsatz: lichen Veröffentlichung für die Nutzerinnen und Nutzer ܱݐݑݐݑ leicht nachvollziehbar sind. Im vorliegenden Beitrag (1) ݐ¡ݐ݅ݒ݅ݐ݇ݑ݀ݎݏݐܾ݅݁ݎܣൌ ݖݐܽݏ݊݅݁ݏݐܾ݅݁ݎܣ werden diese Indikatoren vorgestellt. Der Arbeitseinsatz kann über die Anzahl der Erwerbs- Kapitel 2 erläutert zunächst das theoretische Fundament tätigen oder die Anzahl der geleisteten Arbeitsstunden der Produktivitätsmessung sowie die Unterschiede der Erwerbstätigen gemessen werden. Die letztgenannte zwischen der Multifaktorproduktivität und den zuvor Größe ist zielgenauer, vor allem aufgrund der ange- stiegenen Bedeutung der Teilzeitarbeit in Deutschland 1 Die Ausgangsdaten zur Berechnung der Produktivität werden auf (Chalupa/Mai, 2018) oder der aktuell stark erhöhten deutlich tieferer Ebene (64 Wirtschaftsbereiche der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 [WZ 2008]) veröffentlicht. Daher Kurzarbeit aufgrund der Corona-Pandemie. können Nutzerinnen und Nutzer Produktivitätsentwicklungen für eine Vielzahl weiterer Wirtschaftszweige selbst berechnen. Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 65
Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn Eine Vielzahl an Faktoren beeinflusst die Arbeitsproduk- rende Gewerbe und ausgewählte Dienstleistungsberei- tivität. Dazu zählen der technologische Fortschritt, die che begrenzt. | 3 Werden die genannten Annahmen als Ausbildung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, erfüllt angesehen, erfolgt die Entlohnung der Produk- die Kapazitätsauslastung, organisatorische Aspekte tionsfaktoren Kapital und Arbeit mit ihrem jeweiligen und im Besonderen der Einsatz der anderen Produk- Grenzprodukt | 4. Als Folge dessen lässt sich die Produk- tionsfaktoren Kapital und Vorleistungen. Indikatoren tionselastizität des Faktors Arbeit als Anteil des Arbeit- der Multifaktorproduktivität setzen den Output nicht nehmerentgelts an der Bruttowertschöpfung messen. in Relation zu einem einzelnen Produktionsfaktor, son- dern zum kombinierten Einsatz der Produktionsfaktoren Anders als die Arbeitsproduktivität, deren absolute Arbeit und Kapital. | 2 Der resultierende Indikator reflek- Größe eine recht verständliche Maßeinheit hat, eignet tiert – abseits von Kapital, Arbeitseinsatz und Vorleis- sich das Niveau der Multifaktorproduktivität nicht für tungen – den kombinierten Einfluss der übrigen zuvor eine Interpretation. Relevant ist vielmehr deren Verän- genannten Faktoren auf den Output. Seine langfristige derung. Daher wird die Wachstumsrate der Multifaktor- Entwicklung wird häufig als Maß für den technologi- produktivität direkt berechnet als: schen Fortschritt interpretiert. ο ܣȟܻ ȟܮ ȟܭ (3) ܹܴெி ൌ ൌ െߙ െ ሺͳ െ ߙሻ Um den kombinierten Faktoreinsatz zu bestimmen, sind ܣ ܻ ܮ ܭ jedoch zusätzliche Annahmen zu treffen. Zentral ist das Die Wachstumsrate der Multifaktorproduktivität ergibt Konzept einer Produktionsfunktion, die den Zusammen- sich als Residuum, also den Teil des Output-Wachstums, hang zwischen dem Output und den Produktionsfakto- der nicht durch das Wachstum des Arbeitseinsatzes ren beschreibt. Im Folgenden wird eine Cobb-Douglas- und das des Kapitaleinsatzes erklärt werden kann. Zwi- Produktionsfunktion betrachtet. Der Output Y ergibt sich schen Multifaktorproduktivität und Arbeitsproduktivität als multiplikative Funktion des Arbeitseinsatzes L, des besteht ein direkter Zusammenhang. Durch Umformen Kapitaleinsatzes K sowie der Multifaktorproduktivität A. der Produktionsfunktion ergibt sich folgende Gleichung für die Arbeitsproduktivität: (2) ܻ ൌ ܣή ܮఈ ή ܭሺଵିఈሻ ܻ ܭଵିఈ Die Koeffizienten α und 1–α bezeichnen die Produk- (4) ൌ ܣή൬ ൰ ܮ ܮ tionselastizitäten der Faktoren Arbeit und Kapital. Das bedeutet, dass der Output um α % ansteigt, wenn der Die Entwicklung der Arbeitsproduktivität ist abhängig Arbeitseinsatz um 1 % erhöht wird, während der Kapi- vom Wachstum der Multifaktorproduktivität und dem taleinsatz konstant bleibt. Die Annahme, dass die Pro- der Kapitalintensität. Diese Vorgehensweise, die soge- duktionselastizitäten von Arbeit und Kapital sich zu nannte Wachstumszerlegung (englisch: growth account- eins addieren, impliziert konstante Skalenerträge. Dies ing), geht zurück auf Arbeiten von Jan Tinbergen (1942) bedeutet, dass sich der Output verdoppelt, wenn alle und Robert Solow (1957). Inputs verdoppelt werden. Weiterhin wird angenommen, dass die Unternehmen kostenminimierend und profit- maximierend auf kompetitiven Güter- und Arbeitsmärk- ten agieren. Obwohl diese Bedingungen in der Praxis nicht zwangs- läufig erfüllt sind, bieten sie eine vernünftige Annähe- rung für viele Märkte. Kritisch sind die Annahmen in Wirtschaftsbereichen, in denen der Anteil der Sektoren 3 Die Analyse des Dienstleistungssektors beschränkt sich auf die Staat und Private Organisationen ohne Erwerbszweck Abschnitte G bis N der WZ 2008. Diese umfassen Handel, Verkehr, Gastgewerbe, Information und Kommunikation, Finanz- und Versi- an der Produktion besonders hoch ist. Die disaggre- cherungsdienstleister, das Grundstücks- und Wohnungswesen sowie gierte Analyse in Kapitel 4 ist daher auf das Produzie- Unternehmensdienstleister. Das Produzierende Gewerbe umfasst die Abschnitte B bis F (Bergbau, Verarbeitendes Gewerbe, Energie- und Wasserversorgung sowie das Baugewerbe). 2 Vorleistungen müssen als weiterer Produktionsfaktor berücksichtigt 4 Grenzprodukt bezeichnet den Zuwachs der Produktion, der durch den werden, falls der Output durch den Produktionswert gemessen wird. Einsatz einer weiteren Einheit des Produktionsfaktors erzielt wird. 66 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen 3 das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Rahmen der Arbeitszeitrechnung berechnet. Hierbei wird implizit die Annahme getroffen, dass jede Stunde Berechnung der Arbeit den gleichen Beitrag zur Produktion liefert, unab- Multifaktorproduktivität hängig vom Qualifikationsniveau. Um dieses berück- sichtigen zu können, müsste der Arbeitseinsatz um die Das folgende Kapitel erläutert die gewählte Vorgehens- Qualität der Arbeitsstunden korrigiert werden. Hierfür weise zur Berechnung der Multifaktorproduktivität und wäre die Verlinkung von Mikrodaten der Arbeitskräfte- beschreibt die verwendeten Daten. Ziel des Projekts ist erhebung mit VGR-Daten erforderlich. Eurostat veröffent- es, Indikatoren für die Multifaktorproduktivität zu entwi- licht einen Indikator für diesen qualitätsangepassten ckeln, die so weit wie möglich auf veröffentlichten Daten Arbeitseinsatz (englisch: Quality Adjusted Labour Input der VGR basieren. | 5 oder QALI) als experimentelle Statistik. | 6 Unter der Maß- gabe, dass möglichst nur veröffentlichte VGR-Angaben Der Output Y wird gemessen durch das Bruttoinlands- Verwendung finden sollen, wird vorerst auf diese Anpas- produkt für die Gesamtwirtschaft und die Bruttowert- sung verzichtet. schöpfung, also dem Saldo aus Produktionswert und Vorleistungen, für einzelne Wirtschaftsbereiche. Die Pro- Der Kapitaleinsatz K kann mit zwei sehr unterschied- duktionselastizität des Faktors Arbeit α wird gemessen lichen Methoden gemessen werden. Der erste Ansatz als Anteil des Arbeitseinkommens an der Bruttowert- nutzt das Nettoanlagevermögen. Dies hat den Vor- schöpfung abzüglich sonstiger Nettoproduktionsabga- teil, dass veröffentlichte Zahlen der VGR ohne weitere ben. Da allerdings auch Selbstständige Arbeitseinkom- Berechnungen verwendet werden können. Konzeptionell men beziehen, muss das in den VGR ausgewiesene ist das Nettoanlagevermögen allerdings nicht uneinge- Arbeitnehmerentgelt angepasst werden. Wir treffen dazu schränkt zur Produktivitätsmessung geeignet. Das Netto- die – in der Literatur übliche – Annahme, dass Selbst- anlagevermögen wird berechnet, indem verschiedene ständige die gleiche durchschnittliche Entlohnung wie Vermögensgüter mit ihren Wiederbeschaffungspreisen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im selben Wirt- aggregiert werden und ist daher ein Maß für den Markt- schaftsbereich erhalten (OECD, 2001). Der Einkom- wert des vorhandenen Kapitals eines Wirtschaftsberei- mensanteil des Faktors Arbeit ergibt sich dann wie folgt: ches oder einer Volkswirtschaft. Der Marktwert eines Vermögensguts hängt ab von allen künftigen Beiträgen (5) ݁݃݅ݐ¡ݐݏܾݎ݁ݓݎܧ݈݄ܽݖ݊ܣ zur Produktion. Für die Produktivitätsmessung ist aller- ݐ݈݁݃ݐ݊݁ݎ݄݁݉݁݊ݐܾ݅݁ݎܣή ߙൌ ݎ݄݁݉݁݊ݐܾ݅݁ݎܣ݈݄ܽݖ݊ܣ dings der Beitrag des Kapitals innerhalb einer Beobach- ݄ܿݏݐݎ݁ݓݐݐݑݎܤÚ ݃݊ݑ݂െ ܾܾܵ݊݁ܽ݃ܽݏ݊݅ݐ݇ݑ݀ݎݐݐ݁ܰ݁݃݅ݐݏ݊ tungsperiode besser geeignet. Relativ kurzlebige Vermö- gensgüter, wie Computerhardware, können im Vergleich Die gewählte Methode liefert einen relativ stabilen zu langlebigen Anlagen, wie Gebäuden, nur für einen Einkommensanteil für den Faktor Arbeit. Im Beobach- tungszeitraum von 1993 bis 2018 liegt dieser gesamt- geringeren Zeitraum genutzt werden. Daher müssen die wirtschaftlich zwischen 60 und 65 %. Alternative Berech- jährlichen Beiträge zur Produktion relativ zum Marktwert nungen haben gezeigt, dass der Einkommensanteil α größer sein. zwar auf die getroffenen Annahmen reagiert, die Auswir- Der zweite Ansatz folgt diesem Gedanken. Er misst den kungen auf die Entwicklung der Multifaktorproduktivität Produktionsbeitrag des Kapitals als die von Unterneh- aber vernachlässigbar sind. men bezogenen Kapitaldienstleistungen (englisch: capi- Der Arbeitseinsatz L wird gemessen durch die tatsäch- tal services). Deren Wert und Volumen können jedoch lich geleisteten Arbeitsstunden der Erwerbstätigen, die in der Regel nicht direkt beobachtet werden, da Nutzer und Besitzer der Assets häufig identisch sind. Es gibt 5 Mit Ausnahme des Nettoanlagevermögens ist dies, gegliedert nach also keine Zahlungsströme, die erfasst werden könnten. Wirtschaftsbereichen und Vermögensarten, auch möglich. Dieses Daher müssen die Kapitaldienstleistungen geschätzt wird zur Berechnung des Kapitaleinsatzes benötigt. Das Nettoanla- gevermögen ist bei Interesse ebenfalls für Nutzerinnen und Nutzer werden. Dies erfolgt über den Ansatz der Nutzungs- verfügbar, da es Teil des Lieferprogramms des Europäischen Systems Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen ist und vom Statistischen Amt der Europäischen Union (Eurostat) veröffentlicht wird. 6 Mehr Informationen und Daten zu QALI unter ec.europa.eu Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 67
Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn kosten des Kapitals (Jorgenson, 1963). Verschiedene Die Nutzungskosten werden berechnet für die sieben Vermögensarten werden aggregiert zum gesamten Kapi- Vermögensarten Wohnbauten, Nichtwohnbauten, Aus- taleinsatz, indem sie mit dem jeweiligen Anteil ihrer Nut- rüstungen und militärische Waffensysteme, Fahrzeuge, zungskosten an den Gesamtnutzungskosten gewichtet Nutztiere und Nutzpflanzungen, Forschung und Entwick- werden (siehe den Exkurs). Dazu werden für jede Vermö- lung sowie Software und Datenbanken. gensart in jedem Wirtschaftsbereich die Nutzungskos- ten u wie folgt geschätzt: Die Abschreibungsrate ergibt sich aus den VGR-Veröf- fentlichungen der Abschreibungen und des Nettoanlage- ǡ ǡ ǡ ǡ vermögens. Da die Abschreibungen für die genannten (6) ݑ௧ ൌ ݍ௧ ή ൫ݎ௧ ݀௧ ൯ െ ሺݍ௧ െ ݍ௧ିଵ ሻ Vermögensarten nur für die Gesamtwirtschaft veröf- Hierbei sind die Nutzungskosten uti, j die Kosten, die für fentlicht werden, wird vereinfachend angenommen, die Nutzung der Vermögensart j im Wirtschaftsbereich i je dass die Abschreibungsraten der verschiedenen Vermö- Periode t anfallen. qti, j ist der Marktwert des Nettoanlage- gensarten über die Wirtschaftsbereiche identisch sind. vermögens der Vermögensart j im Wirtschaftsbereich i, Kapitalgewinne und -verluste ergeben sich aus Preisän- dtj ist die Abschreibungsrate der Vermögensart j und r ti derungen der jeweiligen Klasse und dem Volumen des ist ein Maß für die Finanzierungskosten im Wirtschafts- Nettoanlagevermögens. bereich i. Für die Bestimmung der Zinsrate gibt es zwei grund- Exkurs sätzlich unterschiedliche Ansätze. Erstens kann eine exogene Zinsrate angenommen werden. Diese Methode Den Unterschied zwischen beiden Ansätzen soll ein ein- wird beispielsweise vom Sachverständigenrat zur Begut- faches Beispiel verdeutlichen, das zwei unterschiedliche achtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2017) Investitionsgüter betrachtet: zum einen einen Laptop im angewandt. Die Zinsrate wird in diesem Fall gemessen Wert von 3 000 Euro und einer Nutzungsdauer von 3 Jah- durch die Umlaufsrendite von Inhaberschuldverschrei- ren, zum anderen eine Produktionsanlage im Wert von bungen abzüglich der von Consensus Economics | 7 erho- 20 000 Euro und einer Nutzungsdauer von 20 Jahren. benen Inflationserwartungen (Deutsche Bundesbank, Finanzierungs- und Opportunitätskosten sowie Preis- 2012). Der Zins ist in diesem Fall für alle Vermögens- änderungen seien hier vernachlässigt. Bei Nutzung des arten und Wirtschaftsbereiche identisch. Nettoanlagevermögens – hier vereinfacht angesehen als Summe der Marktwerte in Höhe von 23 000 Euro – spielt Die zweite Methode nimmt eine endogene Zinsrate der Laptop eine vergleichsweise geringe Rolle. Beim an, die sich aus VGR-Daten berechnen lässt. Dazu wird Konzept der Kapitaldienstleistungen dagegen stehen angenommen, dass sich die gesamte Bruttowertschöp- die Nutzungskosten im Vordergrund. Bei der unterstell- fung aufteilt in Arbeits- und Kapitaleinkommen. Das ten Nutzungsdauer und linearer Abschreibung betragen Kapitaleinkommen entspricht dem gesamten Wert der diese für beide Güter 1 000 Euro. Die relative Bedeutung Kapitaldienstleistungen und lässt sich bestimmen aus des Investitionsgutes Laptop ist also um ein Vielfaches der Differenz der Bruttowertschöpfung (abzüglich sons- höher, wenn Güter nicht mit dem Wert, sondern dem tiger Nettoproduktionsabgaben) und dem angepassten Anteil an den Nutzungskosten gewichtet werden. Arbeitseinkommen (siehe oben). Mithilfe der Abschrei- bungsrate d, den Kapitalgewinnen oder -verlusten π, und Die Nutzungskosten setzen sich also zusammen aus dem Nettoanlagevermögen KN lässt sich die Zinsrate r im Wirtschaftsbereich i dann residual bestimmen als: > den Finanzierungskosten (falls die Assets fremdfinan- ziert sind) oder den Opportunitätskosten (die entste- � ��� ������������������� � ∑� �� � ��� � ∑� �� � ��� hen, weil Kapital nicht anderweitig eingesetzt werden (7) ��� � ∑� ����� kann), � > dem durch Abschreibungen gemessenen Wertverlust und > Kapitalgewinnen oder -verlusten (die sich durch Preis- änderungen der Assets ergeben). 68 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Die Zinsrate ist identisch für die verschiedenen Vermö- Die betrachteten Abschnitte B bis N erzeugen zusam- gensarten, unterscheidet sich aber zwischen den Wirt- men durchschnittlich 77,4 % der gesamten Bruttowert- schaftsbereichen. Aus diesem Grund und weil diese schöpfung | 8. Vorgehensweise keine externen Finanzmarktdaten benötigt, wird diese Methode bevorzugt. Vergleichsrech- nungen zeigen außerdem nur minimale Unterschiede im 4.1 Kapitaleinsatz resultierenden Wachstum der Multifaktorproduktivität. Grafik 1 auf Seite 70 zeigt die Entwicklung des Nachdem Zinsrate, Abschreibungsrate sowie Kapi- Kapitaleinsatzes für die Gesamtwirtschaft, gemessen talgewinne und -verluste bestimmt sind, können die als Veränderungsrate des Nettoanlagevermögens bezie- Kapitalnutzungskosten der einzelnen Vermögensarten hungsweise der Kapitaldienstleistungen. Zu Beginn berechnet werden. Die Wachstumsrate der gesamten des Beobachtungszeitraums sind die Kapitaldienstleis- bezogenen Kapitaldienstleistungen KD im Wirtschafts- tungen mit einer etwas niedrigeren Rate als das Netto- bereich i ergibt sich als Törnqvist-Index der mit ihrem anlagevermögen gewachsen. Ab dem Jahr 1998 stiegen Anteil an den gesamten Kapitalnutzungskosten gewich- die Kapitaldienstleistungen deutlich stärker an als das teten realen Wachstumsraten des Nettoanlagevermö- Nettoanlagevermögen. Dies lässt sich auf die steigende gens der Vermögensarten: Bedeutung von relativ kurzlebigen immateriellen Ver- ��� ��� mögensgütern und Ausrüstungen der Informations- und 1 � � Kommunikationstechnik zurückführen. Aufgrund der (8) ����� � � � � ��� � � �� � � ������� � 2 ���� �� � höheren Abschreibungsrate werden sie bei der Aggre- � gation mit Nutzungskosten stärker gewichtet als bei Berechnet werden die Kapitaldienstleistungen für 21 der Gewichtung mit dem Wiederbeschaffungspreis, um Wirtschaftsbereiche. den relativ höheren jährlichen Beitrag zur Produktion zu reflektieren. 4 In beiden Fällen ist ein Einbruch der Wachstumsrate zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu beobachten, der sich im Fall der Kapitaldienstleistungen gegen Ende des Ergebnisse Betrachtungszeitraums wieder erholt. Dies geht auf die stark steigenden Investitionen in Forschung und Ent- Im Folgenden werden die Ergebnisse für die Berechnung wicklung, Software und Datenbanken und das ebenfalls des Kapitaleinsatzes und der Multifaktorproduktivität in wieder höhere Wachstum der Ausrüstungsinvestitionen beiden Varianten präsentiert und mit bereits veröffent- zurück. lichten Indikatoren verglichen. Grafik 2 auf Seite 71 zeigt die Entwicklung des Über die gesamtwirtschaftlichen Ergebnisse hinaus Kapitaleinsatzes im Produzierenden Gewerbe und in werden das Produzierende Gewerbe (Abschnitte B bis F den Dienstleistungsbereichen. Die Trends, die für die der Wirtschaftszweigklassifikation) und ausgewählte Gesamtwirtschaft beobachtet werden können, gelten Dienstleistungsbereiche (Abschnitte G bis N) für den Zeit- für beide zusammengefasste Wirtschaftsbereiche in raum 1993 bis 2018 separat analysiert. Die Abschnitte vergleichbarer Weise. Nettoanlagevermögen und Kapi- O bis T werden nicht näher betrachtet, da aufgrund des taldienstleistungen sind im Produzierenden Gewerbe relativ hohen Anteils der Sektoren Staat und Private zunächst mit ähnlichen Raten gewachsen. Mit steigender Organisationen ohne Erwerbszweck die Annahmen von Bedeutung neuer Technologien ist allerdings ein deut- kompetitiven Märkten und kostenminimierender bezie- lich stärkeres Wachstum der Kapitaldienstleistungen zu hungsweise profitmaximierender Unternehmen nicht erfüllt sind (siehe Kapitel 2). Der Abschnitt A – Land- und Forstwirtschaft, Fischerei – wird in dieser Analyse unter 8 Der durchschnittliche Anteil an der gesamten Bruttowertschöpfung anderem deshalb nicht betrachtet, weil Output und in der Marktproduktion beträgt im Beobachtungszeitraum 87 %. Der Anteil des Produzierenden Gewerbes an der gesamten Bruttowert- der Folge die Produktivitätsentwicklung zu einem gro- schöpfung beträgt 30,5 %, der der gewählten Dienstleistungsberei- ßen Teil durch Umweltbedingungen bestimmt werden. che 47 %. Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 69
Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn Grafik 1 Kapitaleinsatz der Gesamtwirtschaft Veränderungsrate in % 3,0 2,5 2,0 1,5 1,0 0,5 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Kapitaldienstleistungen Nettoanlagevermögen Quelle: Eigene Berechnungen 2021 - 0274 beobachten. Deren durchschnittliche jährliche Wachs- tumsrate ist mit 0,93 % deutlich höher als die des Netto- anlagevermögens (0,15 %). Ebenfalls ist ein Einbruch der Wachstumsrate beider Indikatoren um die Jahrtausend- wende mit anschließender Erholung speziell der Kapital- dienstleistungen festzustellen. Im Dienstleistungsbereich zeigen sich ebenfalls Unter- schiede zwischen der Wachstumsrate des Nettoanlage- vermögens und der Kapitaldienstleistungen. Die Kapi- taldienstleistungen haben jahresdurchschnittlich um 2 % zugenommen, das Nettoanlagevermögen dagegen lediglich um 1,6 %. Beide Indikatoren für den Kapitalein- satz sind seit der Jahrtausendwende nicht mehr so stark gestiegen, im Gegensatz zum Produzierenden Gewerbe und der Gesamtwirtschaft ist allerdings kein nennens- werter Aufholprozess zu beobachten. Zusammenfassend lassen sich deutlich sichtbare Unter- schiede zwischen den Entwicklungen des Nettoanlage- vermögens und den Kapitaldienstleistungen erkennen. Da das Nettoanlagevermögen den Marktwert des Kapi- tals und nicht den jährlichen Beitrag zur Produktion misst, unterschätzt es mit steigender Bedeutung kurz lebiger neuer Technologien die Zunahme des Kapitalein- satzes in der Produktion systematisch. Weiterhin sind deutliche Unterschiede in der Dynamik zwischen sekun- därem und tertiärem Sektor zu sehen. 70 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Grafik 2 Kapitaleinsatz des Produzierenden Gewerbes und der Dienstleistungsbereiche Veränderungsrate in % Produzierendes Gewerbe (B–F) 4 3 2 1 0 -1 -2 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Dienstleistungsbereiche (G–N) 4 3 2 1 0 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Nettoanlagevermögen Kapitaldienstleistungen Wirtschaftsabteilungen der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 (WZ 2008). Quelle: Eigene Berechnungen 2021 - 0275 4.2 Multifaktorproduktivität mit einer durchschnittlichen Rate von 0,9 %, die Arbeits- produktivität wächst durchschnittlich um 1,2 %. Im Grafik 3 auf Seite 72 zeigt die jährlichen Verände- Produzierenden Gewerbe verhält sich die Produktivität rungsraten der „Basis“-Multifaktorproduktivität, deren dynamischer, die Wachstumsraten sind deutlich grö- Berechnung das Nettoanlagevermögen als Maß für den ßer. Der Zuwachs der Multifaktorproduktivität beträgt Kapitaleinsatz zugrunde liegt, und der Multifaktorpro- durchschnittlich 1,5 % (Basis-Indikator: 1,7 %), das duktivität mit Kapitaldienstleistungen. Zudem wird die Wachstum der Arbeitsproduktivität 2,0 %. In den Dienst- Entwicklung der Arbeitsproduktivität gegenübergestellt. leistungsbereichen ist das Wachstum geringer, die Gezeigt werden wiederum Ergebnisse für die Gesamt- jährliche Wachstumsrate der Multifaktorproduktivität wirtschaft sowie für das Produzierende Gewerbe und beträgt 0,6 % (Basis-Indikator: 0,8 %), die der Arbeits- ausgewählte Dienstleistungsbereiche. produktivität 1,2 %. Der Basis-Indikator überschätzt das Wachstum der Multifaktorproduktivität, da das Netto Im Beobachtungszeitraum beträgt das jahresdurch- anlagevermögen, wie oben ausgeführt, den Kapitalein- schnittliche Wachstum der Multifaktorproduktivität satz unterschätzt. basierend auf Kapitaldienstleistungen 0,7 % für die ge- samte Wirtschaft. Der Basis-Indikator wächst hingegen Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 71
Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn Grafik 3 Arbeits- und Multifaktorproduktivität Veränderungsrate in % Gesamtwirtschaft 4 2 0 -2 -4 -6 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Produzierendes Gewerbe (B–F) 16 14 12 10 8 6 4 2 0 -2 -4 -6 -8 -10 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Dienstleistungsbereiche (G–N) 6 4 2 0 -2 -4 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 17 2018 Multifaktorproduktivität Basis-Multifaktorproduktivität Arbeitsproduktivität Wirtschaftsabteilungen der Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 (WZ 2008). Quelle: IAB, eigene Berechnungen 2021 - 0276 72 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen Im Gegensatz zur Arbeitsproduktivität, deren Wachstum torproduktivität erklären, sondern wird durch Rückgänge sich zunehmend abschwächt, ist dies bei der Multifak- des Wachstums der Kapitalintensität verursacht. torproduktivität weder für die Gesamtwirtschaft noch für das Produzierende Gewerbe der Fall. Im Gegensatz dazu sinkt das Wachstum der Multifaktorproduktivität 4.3 Vergleich mit anderen Ergebnissen im Dienstleistungsbereich im Beobachtungszeitraum leicht. Der Rückgang ist allerdings nicht so stark ausge- Um die Qualität der vorliegenden Ergebnisse zu über- prägt wie bei der Arbeitsproduktivität. Die Entwicklung prüfen, werden diese mit zwei anderen Berechnungen der beiden Indikatoren ist auf allen drei Aggregations- zur Multifaktorproduktivität verglichen. ebenen dennoch sehr ähnlich, dies zeigt sich auch in Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamt- einer sehr starken Korrelation zwischen den Maßen. Aus wirtschaftlichen Entwicklung berechnet im Rahmen der diesem Grund eignet sich der Basis-Indikator trotz der Mittelfristprojektion als Teil seines Jahresgutachtens konzeptionellen Schwächen zur Analyse der Entwick- Indikatoren der Multifaktorproduktivität für die deutsche lung der Multifaktorproduktivität. Volkswirtschaft. In der Regel wird lediglich deren Trend- Da sich die Arbeitsproduktivität direkt aus Multifaktorpro- wachstum veröffentlicht, was einen direkten Vergleich duktivität und Kapitalintensität ableiten lässt, erlauben mit den hier vorliegenden Ergebnissen ausschließt. diese Ergebnisse zwei Schlussfolgerungen: Zum einen ist Die letzte Veröffentlichung unbereinigter Schätzungen die Multifaktorproduktivität der Haupttreiber des Wachs- des jährlichen Wachstums der Multifaktorproduktivität tums der Arbeitsproduktivität. Gesamtwirtschaftlich liegt stammt aus dem Jahresgutachten 2015/16 (SVR, 2015). ihr Beitrag zu deren Wachstum bei durchschnittlich 60 %, Der Kapitaleinsatz wurde mit dem Bruttoanlagevermö- im Produzierenden Gewerbe sogar bei 68 %. Zum ande- gen gemessen. Diese Ergebnisse werden hier zum Ver- ren lässt sich das nachlassende Wachstum der Arbeits- gleich genutzt. produktivität nicht durch die Entwicklung der Multifak- Grafik 4 Multifaktorproduktivität der Gesamtwirtschaft Veränderungsrate in % 4 3 2 1 0 -1 -2 -3 -4 -5 -6 1993 94 95 96 97 98 99 2000 01 02 03 04 05 06 07 08 09 10 11 12 13 14 15 16 2017 Basis-Multifaktorproduktivität Multifaktorproduktivität Sachverständigenrat EU KLEMS|1 1 EU KLEMS ist ein Forschungsprojekt zur Produktivitätsmessung innerhalb der Europäischen Union. Quelle: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2015), Stehrer und andere (2019), eigene Berechnungen 2021 - 0277 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 73
Peter Kuntze, Benedikt Kuckelkorn Finanziert durch die Generaldirektion Wirtschaft und Effizienzsteigerungen und technologischen Fortschritt in Finanzen der Europäischen Kommission, veröffentlicht der Produktion. das Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsverglei- che (wiiw) im Rahmen des EU KLEMS-Projekts Schät- Ausgehend von den zwei vorgestellten Optionen zur zungen zur Multifaktorproduktivität für die 27 EU-Mit- Messung des Kapitaleinsatzes (Nettoanlagevermögen gliedstaaten, das Vereinigte Königreich, die Vereinigten und Kapitaldienstleistungen) wurden zwei Maße für die Staaten und Japan (wiiw, 2019). | 9 Methodische Unter- Multifaktorproduktivität präsentiert und deren Ergeb- schiede finden sich bei der Schätzung des Kapitaleinsat- nisse analysiert. Beide Varianten zeigen, dass das zes sowie bei der Wahl des Maßes für den Arbeitsein- Wachstum der Multifaktorproduktivität – im Gegensatz satz. Die aktuelle Veröffentlichung deckt den Zeitraum zu dem der Arbeitsproduktivität – nicht spürbar zurück- 1996 bis 2017 ab. geht. Produzierendes Gewerbe und Dienstleister unter- scheiden sich in der Entwicklung nicht wesentlich, Grafik 4 stellt die Ergebnisse des Sachverständigen- jedoch liegen die Veränderungsraten im Produzierenden rats und von EU KLEMS den hier vorgelegten gegenüber. Gewerbe höher. Die Nutzung der Kapitaldienstleistun- gen in der Berechnung führt zu systematisch niedrigeren Trotz der methodischen Differenzen liefern die betrach- Veränderungsraten der Multifaktorproduktivität. teten Ansätze sehr ähnliche Ergebnisse. Die durch- schnittliche Differenz unserer Ergebnisse zu denen des Die vorgestellten Berechnungen basieren ausschließlich Sachverständigenrats beträgt 0,3 Prozentpunkte und auf veröffentlichten VGR-Daten. Sie folgen einer aner- die Differenz zu EU KLEMS 0,4 Prozentpunkte. Der Korre- kannten Methodik und erfordern relativ wenige Annah- lationskoeffizient liegt bei 0,93 und 0,96. men. Der Abgleich mit bisherigen Veröffentlichungen bestätigt die Ergebnisse. Damit sind die Grundlagen für Wachstumsraten der Kapitaldienstleistungen sind eben- eine Erweiterung des Veröffentlichungsprogramms des falls Teil der EU KLEMS-Veröffentlichung. Die durch- Statistischen Bundesamtes um diesen wichtigen Pro- schnittliche Differenz zu unserer Schätzung beträgt 0,3 duktivitätsindikator gelegt. Prozentpunkte. Die Indikatoren sind mit einem Korrela tionskoeffizienten von 0,96 ebenfalls in der Aussage Bei der Entscheidung für eine der beiden Varianten muss sehr vergleichbar. eine Abwägung erfolgen: Die Basisvariante unter Ver- wendung des Nettoanlagevermögens ist einfacher kon- struiert und damit für Nutzerinnen und Nutzer leichter 5 nachvollziehbar. Die Variante mit den Kapitaldienstleis- tungen ist anspruchsvoller und enthält mehr Annahmen, hat aber gewisse konzeptionelle Vorteile. Die Darstel- Fazit und Ausblick lung der Multifaktorproduktivität auf Grundlage der Der Beitrag untersucht die Multifaktorproduktivität als VGR-Daten wird auch auf europäischer Ebene forciert: mögliche Erweiterung des statistischen Datenangebots So plant Eurostat die Veröffentlichung der Basisvariante der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen. Den im für die 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union als Vergleich zu den Einzelfaktor-Produktivitätsmaßen grö- experimentelle Statistik zum Jahresende 2021. Vor die- ßeren Anforderungen in Bezug auf Berechnung und sem Hintergrund bietet sich als Ergänzung eine weiter- Interpretation steht ein erheblicher zusätzlicher Erkennt- gehende nationale Veröffentlichung auf Basis der Kapi- nisgewinn gegenüber. Die Multifaktorproduktivität misst taldienstleistungen an. jenen Teil des Wirtschaftswachstums, der nicht durch Änderungen der Produktionsfaktoren erklärt werden kann. Sie ist dadurch ein wichtiges Maß für langfristige 9 EU KLEMS ist ein Forschungsprojekt zur Produktivitätsmessung inner- halb der Europäischen Union. KLEMS steht für die Produktionsfakto- ren Kapital (K), Arbeit (L), Energie (E), Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe (M) und Dienstleistungen (S). Daten und zusätzliche Informationen unter euklems.eu 74 Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021
Multifaktorproduktivität in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen LITERATURVERZEICHNIS Chalupa, Johannes/Mai, Christoph-Martin. Entwicklungen am Arbeitsmarkt in Österreich und Deutschland — zwischen Jobwunder und Produktivitätsparadoxon. In: WISTA Wirtschaft und Statistik. Ausgabe 6/2018, Seite 48 ff. Deutsche Bundesbank. Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft – Mittelfristige Perspektiven vor dem Hintergrund demographischer Belastungen. In: Monatsbericht. Ausgabe April 2012, Seite 13 ff. Jorgenson, Dale W. Capital Theory and Investment Behaviour. In: American Economic Association. 1963. Jahrgang 53, Seite 247 ff. OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung). Measure- ment of aggregate and industry-level productivity growth. 2001. OECD Manual. Solow, Robert M. Technical Change and the Aggregate Production Function. In: Review of Economics and Statistics. Jahrgang 39. Ausgabe 3/1957, Seite 312 ff. SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung). Zukunftsfähigkeit in den Mittelpunkt. Jahresgutachten 2015/16. Wiesbaden 2015. SVR (Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung). Für eine zukunftsorientierte Wirtschaftspolitik. Jahresgutachten 2017/18. Wiesbaden 2017. Tinbergen, Jan. Zur Theorie der langfristigen Wirtschaftsentwicklung. In: Zeitschrift des Instituts für Weltwirtschaft an der Universität Kiel. Jahrgang 55. Ausgabe 1942, Seite 511 f. wiiw (Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche). Growth and Productivity Accounts. Release 2019. 2019. [Zugriff am 12. Juli 2021]. Verfügbar unter: euklems.eu Statistisches Bundesamt | WISTA | 4 | 2021 75
ABKÜRZUNGEN D Durchschnitt (bei nicht addierfähigen Größen) Vj Vierteljahr Hj Halbjahr a. n. g. anderweitig nicht genannt o. a. S. ohne ausgeprägten Schwerpunkt Mill. Million Mrd. Milliarde ZEICHENERKLÄRUNG Herausgeber – nichts vorhanden Statistisches Bundesamt (Destatis), Wiesbaden 0 weniger als die Hälfte von 1 in der letzten besetzten Stelle, jedoch mehr als nichts Schriftleitung Dr. Daniel Vorgrimler . Zahlenwert unbekannt oder geheim zu halten Redaktion: Ellen Römer ... Angabe fällt später an Ihr Kontakt zu uns X Tabellenfach gesperrt, weil Aussage nicht sinnvoll www.destatis.de/kontakt I oder — grundsätzliche Änderung innerhalb einer Reihe, die den zeitlichen Vergleich beeinträchtigt Erscheinungsfolge / keine Angaben, da Zahlenwert nicht sicher genug zweimonatlich, erschienen im August 2021 Ältere Ausgaben finden Sie unter www.destatis.de sowie in der Statistischen Bibliothek. () Aussagewert eingeschränkt, da der Zahlenwert statistisch relativ unsicher ist Artikelnummer: 1010200-21004-4, ISSN 1619-2907 Abweichungen in den Summen ergeben sich durch Runden der Zahlen. © Statistisches Bundesamt (Destatis), 2021 Tiefer gehende Internet-Verlinkungen sind in der Online-Ausgabe hinterlegt. Vervielfältigung und Verbreitung, auch auszugsweise, mit Quellenangabe gestattet.
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