BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept

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BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Betriebspraxis &
    Arbeitsforschung
    Zeitschrift für angewandte Arbeitswissenschaft                  Ausgabe 238 | Februar 2020

                                                                                      w:
                                                                           Intervie
                                                                                    drich
                                                                          Carl Frie
                                                                                   n n zu r
                                                                          Gethma
                                                                                         r
                                                                             Ethik de
                                                                                   s ie r ung
                                                                          Digitali

Projekte zur Digitalisierung: AWA – neue Belastungsfaktoren;
AnGeWaNt – Entwicklung hybrider Geschäftsfelder
Benchmarking: Verdienststatistik NRW; M+E Benchmark Bayern
Prozessorganisation: der MITO-Organisation 4.0-Ansatz
ifaa-Publikation: Checkliste zur individuellen und organisationalen Resilienz
Start-ups: Plattform für passgenaue Teams
Normung: die DIN EN ISO 45001 und ihre Anforderungen an das Arbeitsschutzmanagement
ifaa-Plattform: der interaktive Weg zu mehr Diversity und neuen Fachkräften
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

die erste Ausgabe der Betriebspraxis und Arbeitsforschung
im neuen Jahr leite ich nachdenklich ein. Anlass dazu gibt
mir unter anderem der im Januar veröffentlichte Konjunk­
turbericht der F.A.Z. »Auch zum Jahreswechsel trüben noch
immer dunkle Wolken den Konjunkturhimmel«, schrieb das
Blatt und verwies auf schwache Auftragszahlen im verar­
beitenden Gewerbe. Nachdem im Vorjahr bereits zahlreiche
Institute ihre Wachstumsprognosen 2020 nach unten kor­
rigiert hatten, kommt die Prophezeiung konjunkturell här­
terer Zeiten auch in der Realität vieler Unternehmen und
ihrer Beschäftigten an. Ich bin unabhängig davon optimis­
tisch, dass wir diese Herausforderung gemeinsam meistern
können, wenn wir weiter konsequent an der Wettbewerbs­
fähigkeit unserer Betriebe arbeiten. Wir Arbeitswissen­
schaftler unterstützen sie dabei auf vielen Feldern. Ein Be­
leg dafür sind auch die Beiträge in dieser Ausgabe der B+A.
       Ein entscheidender Wettbewerbsfaktor ist die Ent­       bezogene Verdienststatistik NRW. Gemeinsam mit Joshua
wicklung smarter Geschäftsmodelle. Damit beschäftigt           Wagener und Volker Leinweber beschreibt Andreas
sich das vom BMBF geförderte Forschungsprojekt »AnGe­          Feggeler den M+E Benchmark Bayern, der umfassende
WaNt — Arbeit an geeichten Waagen für hybride Wiege­           Vergleichsinformationen zu Betriebskennzahlen bayeri­
leistungen an Nutzfahrzeugen«, an dem das ifaa beteiligt       scher M-E-Unternehmen bietet.
ist. Michael Guth, Heike Hoffzimmer und Michael Guth                  Als Institut für angewandte Arbeitswissenschaft ge­
stellen es vor. Die Hybridisierung, also die erfolgreiche      ben wir Unternehmen immer wieder alltagstaugliche Ins­
Kombination von Produkten mit digitalen Dienstleistun­         trumente an die Hand, um sich voranzubringen. Dazu zählt
gen, ist mitentscheidend für unsere zukünftige Wettbe­         die Resilienzcheckliste, die Nora Johanna Schüth und
werbsfähigkeit der deutschen Industriebranchen. Neben          Catharina Stahn vorstellen. Dieses leicht handhabbare
einem erfolgreichen Geschäftsmodell bleibt die Prozess­        Ins­trument ist im Zuge des BMBF-geförderten Vorhabens
organisation auch in der Digitalisierung ein wichtiger         »STÄRKE — starke Beschäftigte und starke Betriebe durch
Faktor für den Unternehmenserfolg. Hartmut F. Binner           Resilienz« entstanden. Es geht darum, Stellschrauben zu
stellt seinen Ansatz zur Organisation 4.0 vor.                 identifizieren, die für die Förderung der Resilienz im Unter­
       Die deutsche Wirtschaft benötigt innovative Ideen,      nehmen wichtig sein können. Anika Peschl stellt eine inter­
überzeugende Geschäftsmodelle und aufstrebende Start-          aktive Informa­tionsplattform vor. Sie unterstützt Unter­
ups. Mit dieser Ausgabe der B+A starten wir mit einer neu­     nehmen bei Fachkräftesicherung und Innovationsfähigkeit
en Serie über interessante Start-Ups. Auftaktartikel ist der   mit Blick auf Vielfalt und Diversity. Sie wurde im Rahmen
Aufsatz von Nicole Ottersböck über das Tech-Start-up-          der Initiative Neue Qualität der Arbeit (INQA) entwickelt.
Unternehmen Tandemploy. Eine mit smarten Algorithmen                  Arbeitswissenschaft ist eine Querschnittsdisziplin —
betriebene Plattform ermöglicht Mitarbeiter*innen Jobro­       unser Aktionsradius reicht von ingenieurwissenschaftlichen
tation und das Finden passender Weiterbildungsangebote.        Themen bis zur Psychologie. In dieser Ausgabe erweitern
       Amelia Koczy, Catharina Stahn und Veit Hartmann         wir unser Spektrum um die Philosophie. Ihrer Aufmerksam­
beschäftigt ein Megathema: Sie beschreiben das Projekt         keit empfehle ich das Interview, das Carsten Seim mit dem
»AWA — Arbeitsaufgaben im Wandel zur Untersuchung              Philosophen Carl Friedrich Gethmann, Mitglied im Deut­
der Veränderung von Anforderungs- und Belastungsfak­           schen Ethikrat, über Chancen und Risiken von Big Data
toren durch die Digitalisierung« . Es geht dabei um Fragen,    führte. Auch Ängste, dass intelligente Maschinen irgend­
wie wir die Kompetenzen ermitteln, mit denen die               wann einmal den Menschen ablösen könnten, waren The­
Beschäftigten erfolgreich den Weg zu neuen Techno­             ma. Ethiker Gethmann zu solchen Utopien: »Computer und
logieanwendungen meistern können.                              intelligente Maschinen werden auch in Zukunft von Men­
       Diese Ausgabe informiert natürlich auch über klassi­    schen entwickelt, produziert und geführt werden müssen.
sche Themen der Arbeitswissenschaft. Ein zentrales Feld ist    Sie können nicht von selbst aus dem Boden wachsen und
der Arbeitsschutz. Eckhard Metze und Stephan Sandrock          sich auch nicht im organischen Sinne fortpflanzen.«
informieren über Anforderungen der DIN EN ISO 45001 an                Die Arbeitswelt 4.0 und folgende, das ist auch meine
die Organisation des Arbeits- und Gesundheitsschutzes.         Überzeugung, wird menschlich bleiben. In diesem Sinne
       Benchmarking ist ein wichtiges Instrument zur           wünsche ich Ihnen allen ein erfolgreiches 2020.
Standortbestimmung und ein Fundament für gutes
Management. Mikko Börkircher, Jörn Thielen und unser           Herzlichst
Mitarbeiter Andreas Feggeler präsentieren die aufgaben­        Sascha Stowasser

                                                                                  ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020   3
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

                                        Digitalisierung und Big Data –
                                        Chancen und Risiken
                                        Philosoph Carl Friedrich Gethmann im Gespräch
                                        mit Betriebspraxis & Arbeitsforschung.

                                        Univ.-Prof. Dr. phil. habil. Dr. phil. h. c. Carl   Es gibt Utopien, nach denen sich Roboter und
                                        Friedrich Gethmann ist ein deutscher Philo-         Algorithmen intelligenter Maschinen irgend­
                                        soph. Gethmann lehrte an der Universität            wann selbst reproduzieren könnten. Diese Be­
                                        Duisburg-Essen. Er war Direktor der Europä­         hauptungen speisen sich aber aus dem Kate­
                                        ischen Akademie zur Erforschung von Folgen          gorienfehler, dass nicht mehr zwischen beleb­
                                        wissenschaftlich-technischer Entwicklungen          ter Natur und dem anorganischen Bereich
                                        in Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH und ist              unterschieden wird. Es gibt funktionalistische
                                        aktuell Professor für »Wissenschaftsethik«          Anthropologien, die vertreten, dass es auf die
                                        am Forschungskolleg »Zukunft menschlich             physische Realisierung überhaupt nicht an­
                                        gestalten« der Universität Siegen. Professor        komme. Ich gehöre nicht zu den Anhängern
    Carsten Seim                        Gethmann ist seit 2013 Mitglied im Deut-            solcher Visionen.
    avaris | konzept                    schen Ethikrat und ordentliches Mitglied der               Kann es Computer geben, deren »Intelli­
                                        Akademie der Technikwissenschaften, aca-            genz« sich von der des Menschen nicht mehr
                                        tech. Seine Schwerpunkte sind Sprachphilo-          unterscheiden lässt? Dieser Frage ist man be­
                                        sophie, Argumentationstheorie, Logik, Phä-          reits im Turing-Test nachgegangen. Bis heute
                                        nomenologie sowie angewandte Philosophie.           ist die Prophezeiung von Alan Turing, dass
                                        Mit Carsten Seim sprach er über Chancen             Menschen irgendwann in bestimmten Fällen
                                        und Risiken der Digitalisierung.                    nicht mehr erkennen können, ob sie mit
                                                                                            ihresgleichen oder eine Maschine kommuni­
                                                                                            zieren, nicht in Erfüllung gegangen.
    1
     Rafael Capurro, geboren in
                                        Herr Professor Gethmann, unser Gespräch                    Computer und intelligente Maschinen
    Uruguay, ist Philosoph und          möchte ich einleiten mit einem Zitat von            werden auch in Zukunft von Menschen ent­
    war bis 2009 Professor für          Rafael Capurro1: »Was mit der Digitalisierung       wickelt, produziert und geführt werden
    Informationswissenschaft im         ... stattfindet, ist eine neue anthropologische     müssen. Sie können nicht von selbst aus
    Studiengang Wirtschaftsin­
    formatik an der Hochschule
                                        und kulturelle globale Revolution, ... . Da-        dem Boden wachsen und sich auch nicht
    der Medien Stuttgart.               durch verändert sich die Frage nach Freiheit        im organischen Sinne fortpflanzen.
                                        und Autonomie, wie sie in der Neuzeit be-                  Thematisiert werden muss hier kein an­
    2
     Yuval Noah Harari ist ein
                                        züglich der Abhängigkeit von staatlicher und        thropologisches, sondern ein Problem der po­
    israelischer Historiker. Er
    lehrt seit 2005 an der Hebrä­       kirchlicher Fremdbestimmung sowie von der           litischen Philosophie. Es kann sein, dass wir
    ischen Universität Jerusalem.       Fremdbestimmung einer als deterministisch           eine gesellschaftliche Differenzierung erleben
                                        verstandenen Natur gestellt wurde.« Und bei         werden — auf der einen Seite einige wenige,
    3
     In der Handlungstheorie ist        einer Veranstaltung des Deutschen Ethikrates        die über Software und Algorithmen herr­
    das Subjekt der Urheber der
    Handlungen.
                                        in 2018 hat der israelische Historiker Yuval        schen, und auf der anderen Seite die digitalen
                                        Noah Harari2 die Gefahr beschworen, dass            Habenichtse. Zukunftspessimisten könnten
                                        Menschen durch Algorithmen ersetzt und              entsprechend der marxistischen Gesell­
    Turing-Test                         damit »nutzlos« werden könnten? Teilen              schaftsanalyse zu dem Schluss kommen, dass
                                        Sie solche Einschätzungen?                          wenige Besitzer der nun digitalen Produk­
    Dessen Urheber Alan Turing
                                                                                            tionsmittel den Rest der Gesellschaft aus­
    war 1950 davon ausgegan­
    gen, dass Computer im Jahr          Gethmann: Das kann so nicht richtig sein,           beuten könnten. Das müssen wir diskutieren.
    2000 so programmiert wer­           weil die Algorithmen weiterhin von Menschen
    den können, dass ein                gemacht werden. Es wird hier wenigstens             Stehen wir also vor einer wachsenden
    Mensch höchstens eine               einige Menschen geben, die Urheber ihrer            Gerechtigkeitslücke?
    70-prozentige Chance ha­
    ben werde, in der Kommuni­
                                        Handlungen bleiben. Wir werden es also
    kation einen Computer von           weiterhin mit Handlungsurhebern zu tun              Gethmann: Das sehe ich nicht so. Wir haben
    einem Menschen zu unter­            haben — der Mensch bleibt auch in der Digi­         aktuell wenige international operierende Un­
    scheiden. Das Verfahren ist         talisierung Subjekt3 und wird nicht generell        ternehmen, die auf diesem Feld aktiv sind. Es
    als Blindtest ausgelegt
                                        zum bloßen Objekt.                                  gibt Menschen, die ihre Souveränität dadurch

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BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

beeinträchtigt sehen, aber am Ende davon
profitieren und nicht aufbegehren. Einige tun
es doch. Diese Situation ist aber nicht neu. Sie
materialisiert sich aber auf andere Weise. Wir
brauchen für die Digitalisierung keine neue
Ethik, wir müssen unsere ethischen Prinzipien
auf eine neue Umgebung ausrichten. Szenari­
en wie jene von Capurro und Hariri beziehen
sich durchaus auf reale Veränderungen, sind
jedoch maßlose Übertreibungen hinsichtlich
der Gefahren, denen wir ausgesetzt sind.

In einer digitalisierten Welt werden mit KI
ausgerüstete Maschinen zum Beispiel in
Fertigungsprozessen, bei denen Mensch und
Maschine interagieren, Entscheidungen vor-
schlagen und später möglicherweise auch
übernehmen. Werden sich Mensch und Ge-
sellschaft dadurch verändern?

Gethmann: Ja. Aber das wird nicht in Form
eines harten Umbruchs stattfinden. In be­
stimmten Bereichen der Automobilindustrie
hat die Gesellschaft bereits akzeptiert, dass
dort in der Produktion flächendeckend Robo­
ter eingesetzt werden, die in einem gewissen
Sinne auch immer intelligenter werden. Die
große Arbeitsplatz-Katastrophe, die vor 30
Jahren vorausgesagt wurde, ist dadurch nicht
eingetreten. Es hat freilich Umschichtungen
gegeben: Diejenigen, die arbeitslos wurden,
waren nicht die, die die neuen, anspruchsvol­
len Arbeitsplätze erhielten.
      Wenn wir der Digitalisierung richtig be­     technischen Umgebungen betrifft, in denen               Professor Gethmann
gegnen und die Menschen durch Bildung auf          wir uns bewegen. Es werden mit Blick auf die            im Interview mit
den Weg mitnehmen, werden wir auch in Zu­          Zurückgebliebenen im digitalen Wandel sozia­            Carsten Seim
kunft keine Katastrophe erleben. Durch die         le Kosten entstehen, die wir aus der gesteiger­
Entwicklung Abgehängte müssen durch sozi­          ten Wertschöpfung zu bezahlen haben. Ich
ale Maßnahmen aufgefangen werden.                  teile hier den Standpunkt des amerikanischen
      Auf der anderen Seite hat der tech­          Gerechtigkeitstheoretiker John Rawls4. Dieser
nisch-digitale Fortschritt auch enorme huma­       meint sogar, dass die weniger Begünstigten im
nitäre Gewinne gebracht. Bestimmte beson­          Vergleich zur Gesamtgesellschaft am stärksten
ders schädliche Formen von Arbeit wie zum          profitieren müssen. Wie das ausgestaltet wer­
Beispiel das Lackieren von Autos erledigen         den muss, ist Sache der Politik.
heute Roboter. Hier ist es gut, dass diese Ar­           Allzu oft wird hierzulande allerdings
beitsplätze verschwunden sind. Die Menschen,       Gerechtigkeit mit Gleichheit verwechselt. Das
die das früher gemacht haben, sind heute           ist Unsinn. Beispielsweise erhalten Sie in der
vielfach besser ausgebildet und in gesünderen      Krankenversicherung nicht Ihren proportiona­
Arbeitsbereichen beschäftigt.                      len Anteil an der Gesamtsumme aller Einzah­
      Ich bin deshalb gegen zu pessimistische      lungen. Verteilungsgerechtigkeit bedeutet
Szenarien. Auf der anderen Seite sehe ich          hier, dass Sie das bekommen, was Sie brau­
                                                                                                           4
                                                                                                            Der Philosoph John Rawls,
durchaus Handlungsbedarf im digitalen Wan­         chen. Wenn Sie nicht krank sind, heißt das,
                                                                                                           1921 bis 2002, lehrte an der
del. Das betrifft den Einzelnen, der seinen Kin­   dass Sie nichts bekommen. Und wenn Men­                 Harvard University. Sein
dern beispielsweise entsprechende Bildungs­        schen besonders schutzbedürftig sind, weil sie          Werk »A Theory of Justice
angebote ermöglichen und auch sich selbst          in Zukunft möglicherweise digital abgehängt             zählt zu den einflussreichs­
                                                                                                           ten philosophischen Werken
weiterbilden muss. Das betrifft aber auch So­      sind, dann haben sie auch einen besonderen
                                                                                                           des 20. Jahrhunderts.
zialstrukturen und Politik insgesamt, was die      Anspruch auf Unterstützung.

                                                                                   ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020    5
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

    5
     Henning Kagermann war
                                        Halten Sie es für denkbar, dass Menschen       tausende Verkehrstote wegfallen, wenn Stufe
    bis 2009 Vorstandssprecher          durch Algorithmen, wie es Harari formuliert,   5, also das autonom von Maschinen gesteuer­
    bei SAP und ist seit 2010           »nutzlos« werden könnten?                      te Fahren, kommen würde. Ich hielt ihm ent­
    Leiter der Nationalen Platt­                                                       gegen, dass es neue Tote durch maschinelles
    form Elektromobilität;
    er ist Mitglied des Hightech
                                        Gethmann: Nein. Aber ich halte es für denk­    Fahren geben kann, wenn die entsprechenden
    Forums und war dort                 bar, dass manche Menschen durch die Digita­    Devices versagen. Er argumentierte, dass
    Sprecher des Fachforums             lisierung Nachteile erleiden könnten. Diese    deren Zahl bei Stufe 5 deutlich geringer
    »Autonome Systeme«,                 müssen wir sozial auffangen, wie ich schon     sein werde.
    dessen Abschlussbericht
                                        ausgeführt habe. Pauschal auf alle Menschen          Aus ethischer und auch aus rechtlicher
    im März 2017 erschien.
                                        bezogen halte ich diese Aussage für unan­      Sicht ist eine solche Bilanzierung unzulässig.
                                        gemessen und übertrieben.                      Denn das Leben eines Einzelnen ist keine öko­
                                                                                       nomische Größe. Der Betreiber eines autono­
                                        Beim autonomen Fahren wird diskutiert,         men Autos muss für eine Todesfall, den seine
                                        ob man den dafür genutzten Fahrzeugen          Maschine verursacht hat, verantwortlich
                                        ethische Regeln einprogrammieren kann. Ist     bleiben. Das völlig autonome Fahren ohne
                                        eine maschinelle Ethik überhaupt denkbar?      menschliche Einflussmöglichkeit muss eine
                                                                                       (falsche) Utopie bleiben.
                                        Gethmann: Maschinen sollen und können
                                        auch in Zukunft keine ethischen Entscheidun­   Wer haftet bei falschen Entscheidungen
                                        gen treffen. Ich bin ein Kritiker der Kager­   künstlich intelligenter Maschinen oder
                                        mann5-Stufe 5, dem vollständig dem Einfluss    beispielsweise auch bei Behandlungs-
                                        des Fahrers entzogenen Fahren. Ich glaube,     beziehungsweise Fertigungsfehlern durch
                                        dass das Ende der Autonomisierung im Auto      fehlerhaft arbeitende Maschinen?
                                        bei der Kagermann-Stufe 4, also dem Fahren
                                        mit hocheffektiven Assistenzsystemen mit       Gethmann: Das beschäftigt Juristen bereits
                                        menschlicher Interventionsmöglichkeit, er­     seit Jahren — zum Beispiel Eric Hilgendorf7
                                        reicht ist. Die große Masse der Konsumenten    und seine Schülerin Susanne Beck. Es geht in
    6
     In Anlehnung an: https://          wird Autos der Kagermann-Stufe 5 nach          Ethik und Jurisprudenz immer um die Frage
    bit.ly/2Op9WSN [zuge­               meiner Einschätzung nicht kaufen.              des Verursachers. Es ist schwerer, darauf Ant­
    griffen am 15.11.2019]                    Der Physiker Henning Kagermann, der      worten zu finden, als Laien annehmen. Laien
    Quelle: ADAC
                                        diese Stufen entwickelt hat, führt an, dass    gehen oft davon aus, dass der Verursacher
                                                                                       derjenige ist, ohne dessen Existenz beispiels­
                                                                                       weise ein Unfall gar nicht eingetreten wäre.
                                                                                       Das nennt man Konditionaltheorie der Kausa­
         Erstes Level: assistiertes Fahren6                                            lität. In schnell erreichten komplexen Situa­
         ■■ Der Fahrer beherrscht ständig sein Fahrzeug und muss den                   tionen führt diese Theorie jedoch zu wider­
            Verkehr ständig im Blick behalten.                                         sinnigen Konsequenzen. Wer haftet? Der
                                                                                       Informatiker, der den Algorithmus entwickelt
         Zweites Level: teilautomatisiertes Fahren                                     hat, der zu maschinellem Fehlverhalten ge­
         ■■ Der Fahrer beherrscht ständig sein Fahrzeug; unter definierten             führt hat? Er wird möglicherweise einwenden,
            Bedingungen hält das Fahrzeug die Spur, bremst und beschleunigt.           nicht gewusst zu haben, wofür seine Software
                                                                                       gedacht war. Der Maschinenkonstrukteur
         Drittes Level: hochautomatisiertes Fahren                                     wird argumentieren, er habe die Software
         ■■ Der Fahrer darf sich vorübergehend von Fahraufgabe und                     extern gekauft — er sei Maschinenbauer und
            Verkehr abwenden; in vom Hersteller vorgegebenen Anwen­                    könne nicht wissen, was in der Software
            dungsfällen fährt der Pkw selbstständig.                                   drinsteckt und so weiter.
                                                                                              Die Suche nach dem Verursacher eines
         Viertes Level: vollautomatisiertes Fahren                                     maschinellen Fehlverhaltens ist also sehr
         ■■ Der Fahrer kann die Fahrzeugführung komplett abgeben und                   schwierig. Hier ist der Gesetzgeber gefordert,
            wird zum Passagier. Das Fahrzeug bewältigt Fahrten auf be­                 festzulegen, wie die Verursacher-Frage zu
            stimmten Strecken (z. B. Autobahn, Parkhaus) völlig selbst­                klären ist. Das ist eine normative Frage, die
            ständig. Es darf dann auch ohne Insassen fahren.                           im Zuge der Digitalisierung und wachsenden
                                                                                       Automatisierung beim Fahren und auch in der
         Fünftes Level: autonomes Fahren                                               Industrie zu klären ist. Zurück zur Frage, wer
         ■■ Es gibt nur noch Passagiere ohne Fahraufgabe. Fahrten ohne                 haftet: Betreiber, Eigentümer, Entwickler oder
            Insassen sind möglich.                                                     Bediener? Ich wünsche mir hier europäische
                                                                                       Regeln.

6       ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

Wer hat im positiven und im negativen Sinn         ja nicht, dass mir der Verein gehört. »Mein«             7
                                                                                                             Professor Dr. Dr. Eric
künftig (auch monetär) die Ergebnisverant-         bedeutet hier lediglich, dass ich mich dem               Hilgendorf ist Inhaber des
wortung, wenn Menschen im Team mit                 Verein zugehörig fühle. Eigentum wird bei                Lehrstuhls für Strafrecht,
künstlich-intelligenten Robotern gemein-           Daten häufig falsch interpretiert. Wenn Ih­              Strafprozessrecht, Rechts­
                                                                                                            theorie, Informationsrecht
sam Arbeitsergebnisse erbringen?                   nen das Finanzamt einen Bescheid schickt,
                                                                                                            und Rechtsinformatik an
                                                   können Sie sich ja auch nicht darauf beru­               der Universität Würzburg.
Gethmann: Es gibt kollektive Urheberschaft         fen, dass die Daten Ihr Eigentum sind und                Diese unterhält eine For­
und rechtlich auch die kollektive Haftung.         deshalb nicht verwendet werden dürfen.                   schungsstelle Robotrecht.
Das ist aus ethischer Sicht auch richtig. Wenn     Ich habe allerdings, und das gilt für Staat              Publikation beispielsweise:
es beispielsweise um die Frage geht, ob ein        und Unternehmen gleichermaßen, einen                     Juristische Herausforderun­
Streik rechtlich zulässig ist, haftet der gesam­   Anspruch darauf, dass meine Privatsphäre                 gen im Kontext der Indust­
                                                                                                            rie 4.0 — Benötigt die vierte
te Vorstand einer Gewerkschaft. Wenn eine          geschützt wird.                                          industrielle Revolution ei­
Gruppe von Menschen gemeinsam mit Ma­                    Dies gilt übrigens auch für Gesundheits­           nen neue Rechtsrahmen?
schinen arbeitet, wird sie im Positiven wie im     daten. Diese sind in ihrer Gesamtheit Gemein­            Hilgendorf E (Hrsg.) Robotik
Negativen auch für das erbrachte Ergebnis          gut, weil ihre Erhebung der Allgemeinheit                im Kontext von Recht und
                                                                                                            Moral, Nomos
verantwortlich sein. Denn die Mitarbeiter          dient. Wir brauchen mehr davon, um zum
nehmen ja auch den Nutzen mit, wenn                Beispiel die Epidemiologie etwa mit Blick auf
Mensch-Maschine-Interaktion zu einer höhe­         die Krebsforschung voranzubringen. Und
ren Produktivität beziehungsweise zu einem         wenn Unternehmen Daten zur Optimierung
besseren Ergebnis führt.                           von Arbeitsplätzen erheben, profitieren nicht
                                                   nur sie selbst, sondern auch die Arbeitnehmer
Intelligente Maschinen sind bereits heute in       insgesamt davon — zum Beispiel dadurch,
der Lage, Arbeitsabläufe sowie das Verhal-         dass ihr Unternehmen damit wettbewerbsfä­
ten von Menschen zu überwachen und ent-            higer werden kann. Unter Umständen können
sprechende Daten zu sammeln. Unterneh-             erhobene Daten zur Arbeitsleistung von Mit­
men brauchen diese, um Arbeitsabläufe zu           arbeitern dazu führen, dass Unternehmen Ar­
optimieren und beispielsweise Belastungs-          beitnehmern für sie geeignetere Stellen oder
grenzen von Menschen zu erkennen. Auf              eine Fortbildung anbieten. Auch davon kön­
der anderen Seite entsteht hier auch ein           nen Mitarbeiter profitieren, weil sie beispiels­
riesiger Datenpool über die Mitarbeiter.           weise nicht länger mit einer Aufgabe überfor­
Wie sollen wir damit umgehen?
                                                                                                            Nach dem Interview traf
Gethmann: Hier fordern viele mehr Daten­
                                                                                                            sich Professor Gethmann
schutz. Das halte ich für einen Irrweg. Die er­                                                             im ifaa mit den Wissen-
hobenen Daten sind nicht das Eigentum der                                                                   schaftlern Professor
Menschen, sie sind ein Gemeingut, das sinnvoll                                                              Stowasser, Dr. Stephan
genutzt werden sollte und kann. Mir ist aller­                                                              Sandrock, Dr. Frank
dings bewusst, dass meine Position auch im                                                                  LennIngs, Sven Hille und
Deutschen Ethikrat nicht von allen geteilt wird.                                                            Nora Johanna Schüth
                                                                                                            zum akademischen
     Meine Position möchte ich mit einem
                                                                                                            Austausch.
Beispiel begründen: Wenn ich sage, dass
mein Verein Borussia Dortmund ist, heißt das

                                                                                    ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020     7
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

    Im Gespräch mit Carsten             dert sind. Es darf aber nicht sein, dass jemand    Sind Kehrseiten digitaler Überwachung in
    Seim wandte sich Pro-               persönliche Daten online stellt oder am            Deutschland denkbar, wie wir sie in China
    fessor Gethmann gegen               Schwarzen Brett aushängt.                          erleben? Hier werden Daten erhoben, die
    Schwarzmalerei in
                                              Für diesen Standpunkt werde ich von          am Ende zu Punkte-Scores für soziales
    Zusammenhang mit
                                        manchen Datenschützern attackiert. Aber            Wohlverhalten führen.8
    der Digitalisierung.
    Die Chancen für                     die Wissenschaft — auch die Arbeitswissen­
    Deutschland seien                   schaft — braucht diese Daten. Des ungeachtet       Gethmann: Das geht weit über vertretbare
    größer als die Risiken.             müssen Eigentumsrechte an technischen Ent­         ethische Grenzen hinaus. In unserem Land
                                        wicklungen, wie Patente, geschützt bleiben,        gäbe es einen politischen Aufstand, wenn so
                                        damit Erfinder weiterhin motiviert bleiben,        etwas gemacht würde. Das ist nur in Dikta­
                                        den Fortschritt voranzutreiben.                    turen möglich. Wir können froh sein, dass wir
                                                                                           in einer Demokratie leben. Das Beobachten
                                        Sie halten also Ängste vor der Sammlung            von Menschen ist ja erst einmal etwas Des­
    »Die Politik ist gefor-
                                        großer Datenmengen für unbegründet?                kriptives. Ich habe keine Probleme damit,
    dert, einen klaren
                                                                                           digital einen Bahnhofsvorplatz zu überwa­
    Gesetzesrahmen
                                        Gethmann: Es gibt durchaus begründete Be­          chen, damit sich dort beispielsweise niemand
    (für den Umgang mit
                                        fürchtungen. Diese muss man ernst nehmen,          mit einer Waffe bewegt. Aber das Präskrip­
    Daten) zu schaffen,
                                        darf dabei aber die Chancen nicht aus dem          tive, das heißt, dass sich jemand so verhalten
    am besten auf euro-
                                        Blick verlieren. Die Politik ist hier sicher ge­   soll, wie es die Machthaber wollen, das ist ein
    päischer Ebene.«
                                        fordert, einen für alle Seiten klaren Gesetzes­    Schritt, der deutlich zu weit geht. Hier genau
    Carl Friedrich Gethmann             rahmen zu schaffen, am besten auf euro­            liegt die Grenzüberschreitung.
                                        päischer Ebene.
                                              Allgemein zeichnet sich die deutsche         Was entgegnen Sie Menschen, die infolge
                                        Wirtschaft sowie der Umgang zwischen               der Digitalisierung um den Verlust von
                                        Sozial­partnern und Betriebsparteien durch         Freiheit fürchten?
                                        ein Klima des Vertrauens aus. Professor Spath,
                                        acatech, hob im Interview mit diesem Blatt         Gethmann: Wir haben auch Grenzfälle in
                                        den sozialen Frieden in Deutschland hervor.        Deutschland. Nehmen wir beispielsweise das
                                        Wie kann beziehungsweise wird uns dies auf         Phänomen der sogenannten »Stratifizierung«.
                                        dem Weg in die Digitalisierung nutzen?             Wenn Sie in Deutschland in einer Straße
                                        Gethmann: Ich stimme diesem Befund zu,             wohnen, in der zufällig mehrere Personen
                                        und das ist auch ein Verdienst unserer Ge­         eine Privatinsolvenz erlebt haben, bekommen
                                        werkschaften. Vor allem im industriellen Be­       Sie möglicherweise Probleme bei einem
    8
     Vergleiche: China schafft          reich ist der Organisationsgrad gut, in kreati­    Kreditantrag, weil Algorithmen die in Ihrer
    digitales Punktesystem für          ven Berufen zum Beispiel weniger gut. Der          Adresse registrierten Insolvenzen einbeziehen,
    den »besseren« Menschen —           Dialog zwischen den Sozialpartnern hilft,          obwohl Sie mit den insolvent gegangenen
    Quelle: Heise [https://bit.         Misstrauen abzubauen und den Weg für               Personen gar nichts zu tun haben. Niemand
    ly/2PZSt5R]
                                        sinnvolle Datenerhebung zu öffnen.                 darf nur deshalb, weil er lediglich zufällig

8       ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020
BetrieBspraxis & arBeitsforschung - avaris-konzept
Interview

einer solchen Datenkohorte angehört, Nach­         muss durch technisch sichere Anonymisierung                       9
                                                                                                                      Den Begriff der »unsichtba­
teile erleiden! Das ist eine Gefahr für die per­   gleichzeitig für die Privatsphäre des Einzelnen                   ren Hand« (invisible hand)
sönliche Souveränität von Menschen. Auch           sorgen. Fachleute müssen nun eruieren, wie                        prägte der schottische Öko­
hier ist der Gesetzgeber gefordert, das zu un­     das konkret geschehen kann. Wir haben diese                       nom und Moralphilosoph
                                                                                                                     Adam Smith. Er meinte:
terbinden. Nach meiner Kenntnis haben die          Experten — zum Beispiel beim BSI. Auch die                        Wenn alle Akteure an ihrem
entsprechenden Fachpolitiker die Probleme          Verschlüsselungstechniken haben enorme                            eigenen Wohl orientiert sei­
adäquat im Blick und sind hier bereits aktiv.      Fortschritte gemacht, um vor Hackern sicher                       en, führe eine angenommene
                                                   zu sein. Auch Unternehmen brauchen mehr                           teilweise oder vollständige
                                                                                                                     Selbstregulierung des Wirt­
Sie haben in diesem Gespräch indirekt              Daten, um ihre Produkte und Prozesse konti­
                                                                                                                     schaftslebens zu einer opti­
schon einiges dazu gesagt — dennoch                nuierlich zu verbessern. Das ist für mich ver­                    malen Produktionsmenge
möchte ich Sie noch einmal fragen, was Sie         nünftig, weil es der Allgemeinheit und dem                        und -qualität und zu einer
unter einer — so wörtlich — vernünftigen           Standort nutzt.                                                   gerechten Verteilung.
Nutzung von Daten verstehen. Und welchen
Nutzen haben wir auch als Wirtschafts-             Unterm Strich: Sehen Sie in der zunehmen-
standort davon?                                    den Digitalisierung im industriellen Sektor
                                                                                                                     Der Deutsche Ethikrat
                                                   eher Risiken? Welche sind das? Oder über-
Gethmann: Das aktuelle Datenschutzrecht in         wiegen die Chancen — und worin liegen                             Mit seinen Stellungnahmen
Deutschland will Daten anonymisieren, mini­        diese aus Ihrer Sicht?                                            und Empfehlungen gibt der
                                                                                                                     Deutsche Ethikrat Orientie­
mieren und ihre Verwendung auf ihre Zweck­                                                                           rung hinsichtlich der neuen
bindung reduzieren. Das ist aus meiner Sicht       Gethmann: Wir müssen die Chancen des                              Handlungsmöglichkeiten
falsch! Wir brauchen mehr und bessere Da­          digitalen Wandels ergreifen und die Risiken                       aufgrund der Fortschritte
ten, als wir in der Vergangenheit hatten, um       abwehren. Das haben die Industrienationen                         der Lebenswissenschaften
                                                                                                                     (einschließlich der Medizin)
beispielsweise im Gesundheitssektor oder im        nach meinem Eindruck erkannt. Insofern gibt                       für die Gesellschaft und die
Verkehrsbereich valide Analysen vornehmen          es für schwarzmalerische Utopien keinen                           Politik. Die Mitglieder wer­
zu können. Im ICE werden Fahrgast-Befra­           Anlass. Pessimisten wie Capurro und Hariri                        den vom Präsidenten des
gungen noch manuell durchgeführt. Kein             stellen sie in den Vordergrund. Das hat seine                     Deutschen Bundestages
                                                                                                                     ernannt.
Mensch überprüft meine Antworten auf               Berechtigung, soweit sie damit eine Diskus­
Plausibilität. Bei Verkehrszählungen sind          sion antreiben.                                                   Der Deutsche Ethikrat hat
Studenten manuell mit dem Blöckchen un­                  Insgesamt sehe ich mehr Chancen als                         sich am 11. April 2008 auf
terwegs. Verkehrspolitik findet bei uns auf        Risiken in Deutschland. Unsere Unternehmen                        der Grundlage des Ethikrat­
                                                                                                                     gesetzes konstituiert und die
Grundlage einer völlig unzureichenden              sind inklusive Mitbestimmungsstrukturen ori­                      Nachfolge des im Jahr 2001
Datengrundlage statt!                              entiert am geschäftlichen Erfolg. Hier gilt die                   von der Bundesregierung
      Wenn mein Arzt eine Blutprobe zieht,         einfache Regel, die sich durchaus »neoliberal«                    eingerichteten Nationalen
weil ich beispielsweise unter Schwindelatta­       anhört: Wenn es allen besser geht, geht es                        Ethikrates angetreten. Bis­
                                                                                                                     lang hat der Deutsche Ethik­
cken leide, dann dürfen deren Ergebnisse           auch mir besser. Das erinnert an die »unsicht­                    rat 15 umfangreiche Stel­
nach den geltenden Datenschutzbestimmun­           bare Hand«9. Wenn die Unternehmen inner­                          lungnahmen erarbeitet, un­
gen nur für den vorgesehenen Zweck verwen­         halb des gesteckten Gesetzesrahmens ihren                         ter anderem zu den Themen
det werden. Es wäre jedoch hilfreich, wenn         Geschäftserfolg anstreben, sind sie darauf an­                    Anonyme Kindesabgabe,
                                                                                                                     Intersexualität, Präimplanta­
mein Arzt diese Daten anonymisiert einem           gewiesen, dass es ihren Mitarbeitern gut geht                     tionsdiagnostik, Gendiagnos­
Pharmaunternehmen zur Verfügung stellen            und dass sie sich mit ihrem Unternehmen und                       tik, Patientenwohl und Big
dürfte, dass Medikamente gegen Schwindel           dessen Produkten identifizieren. Denn nur so                      Data. Er hat sich damit große
entwickelt. Hierin läge eine große Chance, ein     sind sie produktiv.                                               Anerkennung als wichtiger
                                                                                                                     und geschätzter Impulsgeber
geeignetes Medikament zu entwickeln. Ano­                Wenn weitgehend alle diese einfache
                                                                                                                     für die Beratung der Politik,
nymisierte Mitarbeiter-Daten könnten in der        Regel beherzigen, dann wird es unserem                            aber auch der breiten
Arbeitswissenschaft dazu dienen, menschen­         Wirtschaftsstandort weiterhin gut gehen.                          Öffentlichkeit verdient.
gerechtere und gleichzeitig produktivere           Analog oder digital: Unternehmen, die ihre
                                                                                                                     [www.ethikrat.org]
Arbeitsumfelder zu entwickeln.                     Belegschaften unterdrücken, werden auf                            Zugegriffen am
      Stratifizierung — Kohortenbildung —          Dauer keinen Erfolg haben. Die Mitbestim­                         9. November 2019
wäre aber eine Zweckentfremdung von Daten,         mung in Deutschland ist jedoch ein starker
die datenschutzrechtlich aktuell zulässig ist.     Faktor, um monarchische Strukturen in Un­
Das möchte ich geändert wissen, weil aus           ternehmen wie vor 1933 zu verhindern. Das
vorgenannten Gründen eine anonymisierte            haben wir im Analogen bereits gelernt. Das
Aggregierung von Daten Chancen bringt. Ein         wird auch den Weg in die Digitalisierung po­                      Autoren-Kontakt
vernünftiger Datenschutz darf die Erhebung         sitiv mitgestalten. Und deshalb glaube ich,                       Carsten Seim
sinnvoller Daten nicht verhindern; er muss         dass wir unterm Strich mehr Nutzen als                            avaris | konzept
                                                                                                                     Tel.: +49 179 2043542
stattdessen erlauben, dass sie Zwecken zu­         Schaden davon haben werden.                                       E-Mail:
kommen, die für uns interessant sind, und er       Interview: Carsten Seim, Fotos: Tania Walck                       c.seim@avaris-konzept.de

                                                                                             ifaa | Betriebspraxis & Arbeitsforschung 238 | 2020     9
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